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Sein Ideal.
Novelle von Bertha Clément

Frau Dornbusch war nach dem Tode ihres Mannes, der Gutsbesitzer gewesen war, nach Breslau gezogen und hatte dort, ihrem Tätigkeitsdrange sowohl, als dem Wunsche, sich nützlich zu machen, folgend, eine Haushaltungsschule für Töchter besserer Stände eröffnet. Sie fühlte sich vollständig in ihrem Elemente, wenn sie unter der jugendlichen Schar stand, die allmorgendlich antrat, um wirtschaftliche Kenntnisse unter ihrer Leitung einzusammeln. Der Haushalt und alles, was damit zusammenhing, war von Jugend auf der Inbegriff großen Interesses für Frau Dornbusch gewesen, darüber hinaus gab es nichts, was sie dauernd hätte fesseln können.

Frau Dornbusch war eine reiche Frau, so konnte sie ganz dem Zuge ihres Herzens und ihrer Neigung folgen. Das hatte sie auch, sobald sie die erste tiefe Trauer um den Gatten überwunden und sich nur einigermaßen in Breslau eingelebt hatte, sofort getan. Um den Armen und Kranken soviel wie möglich zu nützen, trat sie nicht in Vereine, sondern trieb das Wohltun auf ihre eigene Weise, indem sie die jungen Mädchen für ihre bald gefundenen Schützlinge kochen ließ. Damit ihre Zöglinge aber auch die feinere Küche erlernten, speiste sie alleinstehende Damen, die entweder zu ihr kamen oder sich auch das Essen holen ließen.

So war ihre anfangs so stille Häuslichkeit wie durch einen Zauberschlag verwandelt, sehr zur Freude ihrer Töchter Annemarie und Lilli, wenn diese bei beiden auch verschiedener Ursache entsprang. Die blonde, schlanke Annemarie mit den energischen Zügen der Mutter und dem »feldherrngebietenden Blick« ihrer blauen Augen, wie Lilli sagte, hatte die Vorliebe der Mutter für wirtschaftliche Tätigkeit von dieser wohl teils geerbt, teils war sie ihr anerzogen worden. Sie war schon auf dem großen Gute vom frühen Morgen bis zum späten Abend tätig gewesen und hatte nun in den viel kleineren Verhältnissen nicht gewußt, was sie mit ihrer Zeit und ihrer frischen jungen Kraft anfangen sollte. So hatte sie über den Plan der Mutter gejubelt und war ihr behilflich gewesen, das Haus, das Frau Dornbusch zu dem Zwecke kaufte, einzurichten.

Lilli, die sich bisher durchaus nicht für Wirtschaftsangelegenheiten interessiert hatte und jetzt erst auf der Mutter Wunsch anfangen sollte, Kenntnisse in dieser Hinsicht zu sammeln, hatte außer der Trauer um den Vater mit heftigem Heimweh nach dem ungebundenen Landleben und der Sehnsucht nach Pastors Lieschen, ihrer besten Freundin, mit der sie Ostern zusammen eingesegnet war, zu kämpfen. So freute sie sich zwar nicht auf die Lehrzeit, wohl aber auf das Zusammensein mit jungen Mädchen, und als die Mama gar erklärte, daß sie Lieschen nach Breslau nehmen wollte, damit sie mit ihnen gemeinsam lerne, hatte sie in Annemaries Jubel eingestimmt. So war denn Lieschen gekommen, und außer ihr waren Frau Dornbusch junge Mädchen aus der Stadt angemeldet, und die lustige Lehrzeit hatte begonnen. Aber ach, sie war nicht immer lustig geblieben, es hatte manches Versehen und manche Zurechtweisung gegeben, denn Frau Dornbusch war, wenn auch eine gütige, so doch eine strenge Lehrmeisterin, die Unachtsamkeit durchaus nicht duldete. Und darin leisteten Lilli und Lieschen Unglaubliches. Lilli hatte stets eine Schelmerei in dem dunklen Köpfchen, und Lieschen die Gewohnheit, mit offenen Augen zu träumen. Das verrieten dann unangenehmerweise die Speisen, die sie gerade zubereitete.

So war es auch heute. Ganz zerknirscht, mit hochroten Wangen stand Lieschen an einem Tische, auf dem sie auf einem sauberen Brett Teig zu kleinen Kuchen gemangelt und geformt hatte. Statt sie aber in Kristallstreuzucker umzukehren, hatte sie weißen Pfeffer auf einen Teller geschüttet und schon eine Platte mit Kuchen fertig zum Backen neben sich stehen. Da war die Hausfrau gekommen und hatte das Versehen sofort bemerkt und gerügt.

»Schade um die Kuchen, die schon fertig sind,« schloß sie ihre Ermahnung; »wären sie nicht in Ei umgekehrt, hätte man den Pfeffer wohl noch entfernen können. So aber sind sie nicht zu gebrauchen. Schütte sie in den Abfalleimer und reinige die Platte.«

»Sei nicht böse, liebe Tante,« flüsterte Lieschen tief beschämt.

»Nein, Kind, böse bin ich nicht, ich verlange aber Achtsamkeit von dir, du weißt, ich kann dies Träumen nicht leiden. Was du tust, das tue ganz, Halbheit verdirbt alles. Wie kann ein Mädchen je eine gute Hausfrau werden, wenn sie ihre Gedanken nicht beisammen hat. Auch das einfachste Gericht erfordert Sorgfalt und Aufmerksamkeit.«

Sie ging weiter, und seufzend trug Lieschen die verunglückten Kuchen zu dem Eimer, in den alle unbrauchbaren Reste kamen. Da schlug leises Lachen an ihr Ohr, aufsehend blickte sie in Lillis braune Schelmenaugen.

»Daß deine Nase nicht sofort zur Verräterin deiner Untat geworden ist,« sagte sie halblaut, »schade um die schönen – hatschi – Kuchen. Siehst du – hatschi – mir hätte das – hatschi – nicht passieren können.«

»Ich habe doch solchen Schnupfen,« verteidigte sich Lieschen, »die alten dummen Kuchen, mir muß auch immer so etwas passieren. Ich will ja auch gar keine Hausfrau werden; Vater sagt, das wäre ein ganz aussichtsloser Fall, da ich ein ganz armes Mädchen bin.«

Helle Tränen perlten über ihre blühenden Wangen, und Lilli fragte mutwillig:

»Gelten deine Tränen den verunglückten Kuchen oder dem Zukünftigen, der nicht kommen wird?«

»Ach, sei nicht komisch, ich habe ganz was anderes im Sinn, als so was Dummes«, entgegnete Lieschen ärgerlich.

»Nein, Liesel, daß dir das passieren konnte,« rief Annemaries helle Stimme, »mich soll wundern, was du nächstens anstellen wirst. Wenn ich nur wüßte, wie du es anfängst, täglich solch Pech zu haben.«

»Das will ich dir sagen,« versetzte Lieschen hitzig, »ich bin nicht so mit Leib und Seele dabei wie du. Das beste wäre es, Tante schickte mich wieder nach Hause, ich bin ja doch nicht zu gebrauchen.«

»Liesel – Lieschen,« riefen die Schwestern bestürzt und blickten der Freundin erschrocken in das erregte Antlitz.

»Annemarie, Lilli, geht an eure Arbeit,« rief die Mutter von der entgegengesetzten Seite der großen Küche.

»Mein Apfelkompott ist fertig, Mama,« entgegnete Annemarie, »darf ich Lieschen helfen?«

»Wenn du noch rechtzeitig mit dem Spicken und Braten des Hasen fertig wirst, meinetwegen.«

Mit stillem Neid blickte Lieschen auf Annemaries geschickte Hände. Wie flink sie war, und wie anmutig ihre Tätigkeit ihr stand. »Wenn ich doch auch so geschickt wäre wie du,« sagte sie seufzend.

»Du gibst dir aber auch gar keine Mühe, Liesel,« meinte Annemarie mit freundlichem Vorwurf.

Liesel seufzte aus Herzensgrunde und trocknete mit der verkehrten Hand eine Träne von der blühenden Wange. »Doch,« sagte sie, »ganz schreckliche Mühe gebe ich mir, wenigstens nehme ich es mir jeden Morgen ganz ernsthaft vor,« setzte sie kleinlaut hinzu, als sie Annemaries erstaunten Blick auffing.

»Hast du das nötig?« fragte diese. »Kochst und wirtschaftest du denn so ungern?«

Lieschen nickte, und Lilli, die am Seitentische einen Pudding rührte, kam mit ihrer Schüssel so nahe wie möglich und sagte: »Ich hab' es mir auch viel lustiger gedacht. Ich glaubte, mit so vielen Mädchen zusammen könne man ordentlich Unsinn treiben und furchtbar vergnügt sein, aber statt dessen heißt es immer: »Paß auf, hab' deine Gedanken beisammen.«

»Natürlich, wir müssen den fremden Mädchen doch auch mit gutem Beispiel vorangehen,« entgegnete Annemarie.

»Du bist ja ein so leuchtendes Beispiel, da brauchen Liesel und ich uns füglich nicht so anzustrengen,« sagte Lilli halb lachend, halb verdrießlich, »nächstens streiken wir, nicht, Liesel?«

»Ach, Lilli, sprich nicht so, ich muß deiner Mama ja dankbar sein, daß sie sich meiner annimmt. Vater kann ja bei den vielen Geschwistern nichts für mich tun, und die Eltern waren so froh und dankbar, als deine Mama schrieb, ich solle kommen und die Wirtschaft bei ihr lernen, um später in Stellung gehen zu können. Wenn ich nur nicht so ungeschickt wäre,« schloß sie seufzend.

»Wenn du nur den ernsten Willen hast, wirst du schon noch was lernen,« sagte Annemarie tröstend.

Lilli lachte. »Du sprichst so weise wie eine Großmama, Mi, paß auf, du wirst eine alte Jungfer.«

»Mir auch recht, dann führe ich Mamas Werk fort, vielleicht richte ich noch eine Industrieschule dazu ein. O, ich will mir mein Leben schon nach meinem Gefallen gestalten und mich nützlich machen. So, Lieschen, nun schiebe die Platte in den Ofen und paß auf, daß die Kuchen nicht zu braun werden, ich muß jetzt an meinen Hasen denken.«

Zwei Stunden später stand Annemarie in dem großen Eßzimmer und deckte die lange Tafel, an der die jungen Mädchen, welche die Wirtschaft lernten, und Damen, welche zum Speisen kamen, mit Frau Dornbusch und ihren Töchtern zusammen aßen.

Da wird die Tür geöffnet, und ein junger Mann trat ein. »Guten Morgen, Cousinchen,« rief er fröhlich.

»Morgen, Arthur,« entgegnete sie und nickte ihm flüchtig zu, »bist du schon wieder da?«

»Schon wieder?« wiederholte er gedehnt, »das ist ja eine etwas seltsame Begrüßung. Komme ich dir zu oft, Annemarie?«

»Ach bewahre, du mußt das nicht so wörtlich nehmen, ich sagte es so hin, ohne mir etwas dabei zu denken.«

»Natürlich, deine Gedanken werden ja durch eine sehr wichtige Angelegenheit in Anspruch genommen.« Es klang ein leiser Spott aus den Worten, Annemarie schien das aber nicht zu bemerken. Er setzte sich und folgte aufmerksam ihren anmutigen Bewegungen.

Arthur Behrens war ein entfernter Verwandter von Frau Dornbusch, der sich seit zwei Jahren in Breslau als Arzt niedergelassen hatte. Er war stets ein gern gesehener Gast in der Familie, denn er war immer heiter und guter Dinge und hatte sich seiner Tante ganz besondere Sympathie dadurch errungen, daß er für seine armen Patienten, deren Wohl ihm sehr am Herzen lag, häufig deren Hilfe in Anspruch nahm. Da gab es stets gemeinsame Interessen, die auch Annemarie teilte. Ja, sie war ihm eine besonders wirksame Hilfe, da sie auch häufig zu den Kranken ging, sie, wenn sie keine Pflege hatten, umbettete und ihnen Dienstleistungen aller Art tat. Sie scheute weder Ansteckung, noch schreckte sie vor Wunden zurück, sie hatte sogar unter des Vetters Leitung gelernt, einen regelrechten Verband anzulegen.

»Die alte Frau Schade kann nun wohl bald feste Speisen bekommen?« fragte Annemarie.

»Ja, nächste Woche. Aber Kind,« er stand ungeduldig auf, trat an den Tisch und rückte die Frucht- und Kompottschalen, die sie systematisch geordnet hatte, »kannst du deinen Tisch nicht etwas anmutiger, genialer gestalten und nicht so spießbürgerlich schlecht und recht, hier eine Schale, da eine Schale, wie mit dem Zentimetermaß abgemessen? Es muß leichter, gefälliger aussehen, und dann gehört unbedingt ein Mittelschmuck auf eine so große Tafel. Ist hier denn gar nichts im Zimmer?«

Annemarie hatte ihn in wortlosem Staunen angesehen, nun fragte sie entrüstet:

»Du kannst doch nicht verlangen, daß ich Mamas silbernen Tafelaufsatz aufstelle? Wir geben doch keine Gesellschaft.«

»Nein, deshalb kann der Tisch aber doch freundlich und einladend aussehen.«

»Na, erlaube mal,« rief Annemarie, rot vor Unmut, doch Arthur hörte nicht, er war ins Wohnzimmer gegangen und kam triumphierend mit einer hohen Vase zurück, in der sich herbstlich gefärbte Ranken von wildem Wein und Zweige mit Schneebeeren befanden.

»So,« sagte er und stellte die Vase auf die Tafel, »macht sich nun das Ganze nicht hübscher, einladender? Du sollst mal sehen, wie sich die Damen freuen werden.«

Annemarie zuckte die Achseln, und er fragte lächelnd:

»Sag' mal, Cousinchen, hast du eigentlich noch für etwas anderes Sinn, als für Haushaltungsangelegenheiten? Ich meine, ob du irgendeine Liebhaberei hast?«

»Du denkst dabei an die schönen Künste, nicht wahr? Nein, ich habe gar keine Talente, weder für Musik, noch für Zeichnen, Malen, Brennen und was sonst noch alles heute getrieben wird. Ich mache gern Handarbeiten, das ist aber auch alles.«

»Hm, wahrscheinlich liest du gern?«

»Nein, gar nicht. Romane finde ich dumm, und alles andere langweilt mich.«

»Aber, Annemarie, unsere unsterblichen Klassiker –«

Sie hielt sich lachend die Ohren zu und rief: »Ach, geh' doch mit deinen Klassikern; wenn ich noch fünf Minuten zuhöre, hältst du mir den schönsten literarischen Vortrag, und das wäre wirklich schade, da ich ihn doch nicht zu würdigen wüßte. Sage mir lieber, was für eine neue Kranke du hast, für die wir kochen sollen, denn deshalb bist du doch wohl hier?«

»Nein, diesmal wollte ich nur zusehen, wie du die Tafel deckst.«

»Ach, Unsinn!« Sie wandte ihm den Rücken und überblickte den Tisch, an dem aber mit dem besten Willen nichts mehr zu tun war.

»Weißt du, Kind, was du noch lernen mußt?« fragte Arthur.

Annemarie konnte sich nie mehr ärgern, als wenn er sie Kind nannte, sie war doch eine junge Dame von 18 Jahren, die sich solche Benennung nicht mehr gefallen zu lassen brauchte. Eigentlich hätte sie würdevoll das Zimmer verlassen müssen, sie war aber doch zu neugierig, was ihr in seinen Augen noch fehlte. So drehte sie sich halb herum und fragte scheinbar gleichgültig über die Schulter: »Nun, was denn?«

»Die Prosa des Lebens mit der Poesie zu verschönen.«

»Dazu habe ich kein Talent.«

»O, guter Wille würde auch ausreichen. Hast du wirklich keine höheren Interessen, Annemarie? Gehen dir deine Kochtöpfe über alles?«

Sie fuhr herum, und ihre blauen Augen blitzten ihn zornig an. »Ich gehe vollständig in Mamas Streben und Interessen auf; willst du das etwa gering achten?«

»Keineswegs, liebe Cousine, beruhige dich; im Gegenteil, ich schätze das Streben deiner Mutter sehr hoch. Sie könnte sich als reiche, unabhängige Dame ihr Leben ungleich bequemer und behaglicher gestalten, wenn sie nur für sich selbst lebte. Daß sie ihr Geld und ihre Kräfte der Allgemeinheit widmet und vielen Menschen dadurch nützt, muß ihr jeder hoch anrechnen, und ich bin der letzte, der ihr nicht die größte Hochachtung und Bewunderung zollt. Aber, Annemarie, bei dir liegt die Sache etwas anders. Es ist ja schön, daß du so viel Sinn für den Haushalt hast und so treu für meine Kranken sorgst, wirklich, ich wüßte oft nicht, wie ich ohne meinen kleinen Heilgehilfen fertig werden sollte.« Er streckte ihr mit warmem Lächeln die Hand hin, doch Annemarie sah es nicht, sie hatte sich abgewandt, und zwischen den feinen Brauen lag eine tiefe Falte. »Soll ich dir einmal sagen, Kind,« fuhr er fort, »wie ich mir mein Ideal denke?«

»Das interessiert mich gar nicht,« rief sie schnell, »überdies habe ich auch keine Zeit mehr. Jedenfalls wird sie ganz schrecklich gelehrt sein müssen, so gelehrt, daß gewöhnliche Sterbliche überhaupt nicht mit ihr verglichen werden können.«

Er sah lächelnd in ihr gerötetes Antlitz und entgegnete schalkhaft: »Ja, weißt du, Kind, Sinn für das Höhere muß sie haben, wenigstens muß sie gelegentlich ein kleines Gedicht verfassen können.«

Annemarie sah ihn starr an, dann drehte sie sich kurz um und sagte:

»Ich bedauere, meine Zeit ist abgelaufen.«

»Aber, Annemarie – ich wollte dir doch mein Ideal beschreiben, so warte doch – Annemarie –«

Sie war jedoch verschwunden, und der junge Mann mußte sich entschließen, seinen Besuch für abgetan anzusehen.

Mit hochroten Wangen kehrte Annemarie in die Küche zurück.

»Wo bist du so lange geblieben, Kind?« fragte die Mutter.

»War Besuch da?« rief Lilli.

»Nur Arthur,« war die kurze Antwort.

»Ach, der will wohl wieder Krankensuppen haben?«

»Nein, heute nicht.«

»Darf Maurer Flut bald Braten bekommen?«

»Ich weiß nicht, Mama, Arthur hat nichts davon gesagt, und ich habe vergessen, danach zu fragen.«

»Aber Kind, wie ist das möglich? Darf die kleine Felten denn heute aufstehen?«

Annemarie ward dunkelrot. »Ich weiß nicht, Mama,« stotterte sie verwirrt, »wir haben nicht darüber gesprochen.«

Frau Dornbusch sah ihre Tochter voller Staunen an und fragte: »Worüber habt ihr denn in aller Welt gesprochen, Kind?«

»O – von allerlei; Arthur fand, daß ich den Tisch nicht zierlich genug deckte, er hat die große Vase aus der Wohnstube darauf gestellt.«

»So? Ich wundere mich, daß er dafür Sinn hat, er hätte dir lieber über die Kranken Bescheid sagen sollen.«

Annemarie schwieg, und Lilli stieß Lieschen an und flüsterte lachend:

»Du, das muß eine merkwürdige Unterhaltung zwischen den beiden gewesen sein, wenn sie nicht von Suppen und Kranken geredet haben.«

»Vielleicht hat er ihr einen Vortrag über Literatur gehalten, das ist ja sein Steckenpferd.«

»Aber was hat der Blumenstrauß damit zu tun? Sieh nur, Annemarie ist sichtlich noch ganz benommen von der Unterhaltung; sie starrt ihren Hasen an, als wüßte sie nicht recht, was sie damit anfangen soll.«

Annemarie ward durch das leise Lachen der Backfischchen darauf aufmerksam, daß sie beobachtet ward, und nahm sich zusammen. Eigentlich ging es sie ja auch nichts an, wie Arthur sich sein Ideal dachte, mochte seine Zukünftige täglich drei Gedichte schreiben oder noch mehr, wenn sie Vergnügen daran fand, sie selbst hatte ja eine nutzbringende Tätigkeit, die sie vollkommen befriedigte. Damit war für sie die Sache abgetan, sie wollte nicht mehr daran denken, doch seltsam, immer wieder wähnte sie des Vetters Worte zu hören: »Ein kleines Gedicht muß sie wenigstens verfassen können.«

»Aber, Annemarie, du rührst ja die Rübchen zu Mus,« tönte der Mutter Stimme in ihre Gedanken. »Kind, was ist in dich gefahren?«

Heiß vor Schreck und Beschämung blickte das junge Mädchen in das Gericht, das sie so kräftig bearbeitet hatte, und stotterte einige Worte der Entschuldigung. Sämtliche Mädchen sahen sich erstaunt um, es war noch nicht dagewesen, daß die geschickte, gewissenhafte Annemarie, die ihnen allen als leuchtendes Vorbild diente, etwas verkehrt machte und eine Rüge erhielt. Sie nahm sich zusammen und lenkte ihre Aufmerksamkeit so erfolgreich auf ihre Tätigkeit, daß sie Vetter Arthur und sein Ideal vergaß.

Gegen Abend gingen die drei jungen Mädchen zu Tante Marie, einer älteren Schwester von Frau Dornbusch, die seit dem Tode der Mutter allein wohnte und still und zurückgezogen lebte. Sie besuchte weder Gesellschaften, noch das Theater, obgleich sie ein Einkommen hatte, das ihr solche Vergnügungen erlaubt hätte; was sie anzog, waren gute Konzerte und wissenschaftliche Vorträge. Die Neigung, für andere zu leben, hatte sie mit der Schwester gemein, doch betrieb sie das Wohltun ganz in der Stille. Sobald der Abend herabsank, konnte man sie mit einer Tasche, die mit guten und stärkenden, sowie auch mit nützlichen Dingen angefüllt war, zu Armen und Kranken wandern sehen, denn einige Schützlinge, für die ihre nimmer rastenden Hände arbeiteten, hatte sie stets.

Die Neigung zum Wohltun war aber auch das einzige, was sie mit ihrer Schwester gemeinsam hatte, im übrigen waren sie grundverschieden. Frau Dornbusch hatte nur Sinn für praktische Lebensfragen, ihre Schwester hingegen interessierte sich für alles, was mit der Kunst zusammenhing, ja, sie schrieb selbst Gedichte, die sie unentgeltlich an Zeitschriften gab.

Lilli und Lieschen hingen mit schwärmerischer Liebe an der allzeit heiteren Tante, und diese konnte die jungen Mädchen nicht glücklicher machen, als wenn sie ihnen von ihren Gedichten vorlas. »Tante Marie ist ein ganz idealer Mensch,« pflegten dann wohl die Backfischchen zu sagen. Auch Annemarie liebte die Tante, das rechte Verständnis hatte sie aber nicht für sie, obgleich sie zugeben mußte, daß die kleine, einfache Häuslichkeit, sowie die schlichte Persönlichkeit der Tante einen eigenen Zauber ausübten.

Lebhaft plaudernd erreichten die jungen Mädchen die Wohnung der Tante und wurden auf ihr Klingeln von dem Mädchen hereingelassen.

»Tante zu Hause?« fragte Annemarie.

»Ja, Fräulein ist im Fremdenzimmer.«

»Was tut sie da?«

»Erwartet sie Besuch?«

»Still, laßt uns leise gehen und sie überraschen.«

Kichernd schlichen die Mädchen durch die Wohn- und Eßzimmer und blickten neugierig durch die geöffnete Tür in das Fremdenzimmer. Da stand die Tante über eine alte Truhe geneigt, hob einen Packen Leinwand nach dem andern prüfend empor und legte ihn wieder an seinen Platz. Es war bereits dämmerig im Gemache, ein breiter Streifen silbernen Mondlichts fiel durch das Fenster und umwob die schmächtige Gestalt des alten Fräuleins wie mit einem Hauch von Poesie, dem sich die jungen Mädchen nicht erwehren konnten. Stumm standen sie und sahen ihrem Treiben zu.

Da wandte sie den Kopf, und ein helles Leuchten flog über ihr gutes Gesicht.

»Ihr da, Kinder? Und so mäuschenstill? Was hat das zu bedeuten?« fragte sie.

»Ach, Tantchen, mir war so wundersam zu Sinn,« rief Lilli.

»Mir auch,« pflichtete Lieschen bei, »so, als ob ein Märchen erzählt werden müßte.«

»Was machst du da, Tante?« forschte Annemarie und blickte neugierig in die Truhe, »o, was für wundervolles Leinen! Was gäbe das für Wäsche für arme Kranke!«

»Ja, Tantchen, das sähe dir ähnlich, wenn du das Beste für deine Armen heraussuchtest,« setzte Lilli hinzu und küßte das alte Fräulein zärtlich.

Tante Marie lächelte und entgegnete: »Was denkt ihr wohl, Kinder, die alte Tante hat auch ihre schwachen Stunden.«

»Wieso?«

»Warum?«

»Was meinst du?«

»Ja, seht, diese alte Truhe birgt mit ihrem Inhalt manche Erinnerung an schöne Stunden und frohe Hoffnungen.«

»O, Tantchen, erzähle, das ist ja himmlisch interessant,« rief Lilli, drückte die Tante in einen bequemen Stuhl und setzte sich mit den beiden anderen zu ihren Füßen.

Lächelnd blickte das alte Fräulein in die erwartungsvollen Mädchengesichter und erzählte:

»Als ich noch ein so junges Mädchen war wie du jetzt, Annemarie, schenkte mir mein Vater zu meinem Geburtstage diese Truhe und sagte: »Nun spinne fleißig, Marie, und rege die Hände; ist die Truhe mit Linnen gefüllt, so feiern wir, will's Gott, eine fröhliche Hochzeit.« Damals, Kinder, spannen die jungen Mädchen teilweise noch selbst, was sie zu ihrer Aussteuer brauchten; so fand ich es ganz in der Ordnung, daß ich, wenn die häusliche Arbeit getan war, am Spinnrocken saß und für die Zukunft sorgte. Meine helle Freude hatte ich, als mein Schatz sich mehrte und die Truhe sich allmählich füllte. Darüber verging aber manches Jahr, meine Truhe war längst gefüllt, doch der Freiersmann war noch immer nicht gekommen. Da fing ich an, für mein sehr viel jüngeres Schwesterchen, eure liebe Mutter, zu spinnen, und als ich die zweite Truhe gefüllt hatte, läuteten wirklich die Hochzeitsglocken, doch nicht für mich, sondern für sie.«

»Tante, warst du nicht furchtbar unglücklich?« fragte Lilli.

»Nein, Kind, ich habe mich herzlich über der Schwester Glück gefreut, aber als ich dann älter ward und die Hoffnung auf einen Freier aufgeben mußte, ging ich oftmals in der Dämmerstunde an meine Truhe, betrachtete das schneeweiße Linnen und dachte an all die Gedanken von Glück und Liebe, die ich hineingesponnen hatte. Zuweilen, wenn ich besonders wehmütig gestimmt war, fiel auch wohl eine Träne auf das Linnen. In einem Augenblicke so wehmütiger Erinnerung habt ihr mich vorhin überrascht.« Sie schwieg, und voll inniger Teilnahme blickten die jungen Mädchen zu ihr auf.

Da gewahrte Annemarie das belustigte Lächeln Tante Maries, und sie umschlingend rief sie lebhaft: »Tante Marie will uns ja nur necken, glaubt doch nur nicht, daß sie je eine Träne um den ausgebliebenen Freiersmann vergossen hat.«

Das alte Fräulein stimmte in ihr heiteres Lachen ein und sagte: »Nein, Kinder, so töricht und sentimental ist eure alte Tante nie gewesen, das habt ihr hoffentlich auch nicht geglaubt?«

»Tante,« fragte Lieschen schüchtern, »weshalb besahst du denn vorhin das Linnen?«

Das alte Fräulein lächelte. »Gewiß möchte mein romantisch veranlagtes Lieschen für ihr Leben gern, die alte Tante hätte doch einige heimliche Tränen vergossen, nicht wahr? Ich kann dir aber nicht helfen, Kind, ich dachte nicht an die Vergangenheit, ich freute mich nur meines Schatzes, mit dem ich noch viele Menschen beglücken kann. Vorläufig suche ich recht weiches Leinen für Kinderwäsche. Habt ihr ein Stündchen Zeit, so könnt ihr mir helfen.«

Bereitwillig sprangen die Mädchen auf, Tante Marie zündete die Lampe an, und bald war das Leinen gefunden. Das alte Fräulein schnitt kleine Hemdchen zu, und nun saßen alle emsig nähend um den Tisch, während Tante Marie aus ihrer Jugendzeit erzählte und auf Lieschens Bitte ihre beiden zuletzt verfaßten Gedichte vortrug.

»Wie schade,« sagte Lilli bedauernd, als die Uhr zum Aufbruch mahnte, »es ist immer so reizend bei dir, Tantchen.«

»Ja, liebe Tante, bei dir findet der Geist auch immer Nahrung,« setzte Lieschen hinzu und streichelte der alten Dame zärtlich die Hände.«

Annemarie sagte nichts, nachdenklich schritt sie neben der Tante, als diese die jungen Mädchen nach Hause brachte, durch die Straßen. Ja, heute war es auch ihr aufgefallen, daß ein besonderer Zauber von Tante Marie ausging, worin mochte der nur liegen? Vielleicht darin, daß bei ihr die Prosa des Alltagslebens durch die Poesie verklärt wird? Sollte Arthur doch recht haben? Mußte es so sein? Mußte denn aber jedes gebildete Mädchen dichten können? Hing davon etwa das häusliche Glück ab? Aber die Mutter hatte sich doch nie mit dergleichen Dingen beschäftigt, und Annemarie meinte doch, daß der Papa ein glücklicher Mann gewesen war, oder hatte er doch etwas entbehrt?

Den ganzen Abend war sie in sich gekehrt, und als sie später im Bette lag, konnte sie vor den sie bestürmenden Gedanken nicht einschlafen. Tante Marie – die alte mit Linnen gefüllte Truhe – Arthurs Ideal – alles wälzte sich bunt durcheinander, und den Hauptgedanken bildeten des Vetters Worte: »Sie muß mindestens ein kleines Gedicht schreiben können.« Ob sie das noch fertig brächte? Während ihrer Pensionszeit hatte sie sich sehr für Literatur interessiert. Wie hatte es aber auch ihr Lehrer, für den sie alle schwärmten, verstanden, sie für die Dichter und ihre Werke zu begeistern! Seltsam eigentlich, daß ihr diese Vorliebe daheim so ganz abhanden gekommen war. Die Eltern hatten jedoch beide bei ihren Töchtern niemals die Liebe für Kunst und Poesie geweckt und genährt, so war die Neigung bei Annemarie allmählich eingeschlafen. Erst im Verkehr mit Tante Marie hatte sie zuweilen wieder an ihre schönen Literaturstunden gedacht und sich mit heimlicher Genugtuung erinnert, daß ihr Lehrer mit ihren poetischen Versuchen, die alle erst hatten machen müssen, besonders zufrieden gewesen war. Was Vetter Arthur wohl sagen würde, wenn er das wüßte? Er brauchte es jedoch nicht zu wissen, mochte er sie für die hausbackene Natur halten, die sie im Grunde gar nicht war, ihr lag nichts an seiner Meinung, nicht das geringste. Ob sie es aber doch einmal versuchte, ein kleines Gedicht zu verfassen? Natürlich nur zum Spaß, mit Vetter Arthur hatte das nichts zu tun. Woher aber den Stoff nehmen? Etwas romantisch mußte es doch sein, und ihr wollte gar nichts einfallen, soviel sie auch sann.

Da fiel durch einen schmalen Spalt im Fenstervorhang ein Mondstrahl in das Zimmer, wie eine Erleuchtung kam es plötzlich über sie: Tante Marie – die Truhe – ihre heimlich vergossenen Tränen – die Dämmerstunde – wundervoll! Wenn der Stoff sie nicht begeisterte, so war sie überhaupt nicht mehr fähig, ein Gedicht zu verfassen. Schnell sagte sie sich ein bekanntes Gedicht her und zählte das Versmaß an den Fingern ab. Also vierzeilig, in der ersten und dritten Zeile neun, in der zweiten und vierten acht Silben. So, die Vorbereitungen waren getroffen, nun konnte die Arbeit losgehen. Ja, daß das Dichten eine Arbeit war, und noch dazu eine recht schwere, das merkte Annemarie sehr bald. Sie war doch sehr aus der Übung gekommen. Wie schwer war es, einen Reim zu finden, und hatte sie den glücklich, so hielt es fast noch schwerer, ihn mit ihren Gedanken in Einklang zu bringen. Eine Stunde nach der anderen verstrich, der Kopf brannte ihr, unruhig warf sie sich hin und her.

»Annemarie, fehlt dir etwas?« fragte die Mutter plötzlich aus dem Nebenzimmer, zu dem die Tür offen stand.

Annemarie erschrak heftig, sie wußte, daß ihre Mutter nicht das geringste Verständnis für ihre nächtliche Arbeit haben würde. »Nein, Mama,« beeilte sie sich zu versichern.

»Ich höre dich schon eine ganze Weile seufzen und stöhnen, als ob du Schmerzen hättest, und du wirfst dich ja schrecklich umher,« fuhr die Mutter fort.

»Ich – mir ist nur etwas heiß.«

Das klang so kleinlaut, daß Frau Dornbusch sich veranlaßt sah, Licht anzuzünden und aufzustehen. Schlaftrunken fuhren Lilli und Lieschen in die Höhe, als sie in das Zimmer der Mädchen trat und zu ihrer Ältesten Lager schritt.

»Kind, wie du glühst,« rief sie erschrocken, als sie einen Blick in Annemaries vor Aufregung und Verlegenheit hochrotes Gesicht warf, »du bist sicher krank.«

»Nein, Mama, ganz gewiß nicht, ich bin ganz gesund,« versicherte Annemarie eifrig, »bitte, geh' wieder zu Bett, Mama.«

Mama regte sich jedoch nicht, forschend betrachtete sie das Töchterlein und setzte das Examen fort.

»Hast du Kopf- oder Halsschmerzen?«

»Nein, Mama.«

»Tun dir die Glieder weh?«

»Nein, Mama.«

»Hast du Stiche?«

»Nein, Mama.«

»Nur trockene Hitze?«

Annemarie nickte ganz verzweifelt.

Die Mutter schüttelte verständnislos den Kopf. »Was ist das mit dir? Solltest du dir irgendeine Ansteckung geholt haben? Das beste ist wohl, ich mache dir gleich eine kalte Packung.«

»Nein, nein, Mama, ich bin gewiß nicht krank – ich – ich –«, es kam recht bedrückt und kleinlaut heraus, »ich habe nur ein Gedicht gemacht.«

Frau Dornbusch blickte ihre Tochter an, als zweifle sie an deren Verstand, dann rief sie zornig: »Ein Gedicht? Das mag was Schönes geworden sein, wobei du solche Wirtschaft machst, daß ich dabei im Nebenzimmer aufwache! Bist du nicht gescheit, Annemarie, statt zu schlafen solch Allotria zu treiben? Daran hast du auch sicher gestern gedacht, als du die schönen Rübchen zu Mus rührtest! Gedichte machen – das sollte mir gerade noch fehlen, daß ich solche Narrenspossen bei einer meiner Töchter erlebte! Ich hätte dich eigentlich für vernünftiger gehalten, Annemarie. Übrigens hoffe ich, daß dich dieser erste Versuch kuriert hat, denn ein schreckliches Stück Arbeit scheint es gewesen zu sein. Und nun lege dich hin und schlafe, es wird hohe Zeit. Es ist ja heller Wahnsinn, sich seine schöne Nachtruhe mit solchen Dummheiten zu stören.«

Ärgerlich verließ sie das Zimmer, und die junge Dichterin zog die Decke über die Ohren, um das unterdrückte Lachen aus den beiden anderen Betten nicht zu hören. Wie sie sich schämte! Sie hätte weinen mögen! Und an allem war nur Vetter Arthur schuld. Sie wollte nie wieder dichten, niemals! Mit diesem Vorsatze schmiegte sie den Blondkopf in die Kissen, es dauerte jedoch eine geraume Weile, ehe sie endlich einschlief.

Am anderen Morgen war sie wie gewöhnlich die erste aus dem Bette. Schnell kleidete sie sich an. Da dehnte sich Lilli, öffnete die Augen und fuhr auf, als sie die Schwester schon fast fertig angekleidet sah.

»Du bist schon so weit? Nach solcher Nacht?« fragte sie schelmisch, »und dabei blühst du wie eine Rose. Wirklich, Mi, Du kannst mehr leisten als andere Menschen.«

»Hast du wirklich ein Gedicht gemacht?« fragte Lieschen im höchsten Grade interessiert.

»Ach, laßt mich damit in Ruhe,« entgegnete sie kurz und wandte sich ab, um ihre Verlegenheit zu verbergen.

»Du, so entgehst du uns nicht,« rief Lilli und fuhr eifrig in die Kleider, »natürlich mußt du es uns vorlesen. Nein, wer je gedacht hätte, daß unsere Küchenfee sich zur Dichterin aufschwingen würde.« Sie lachte silberhell und sagte neckend: »Weißt du, Mi, laß dich nur nicht beim Kochen von Mama dabei abfassen, sie bringt dich sonst ohne Gnade unter die Wasserleitung.«

»Du, Annie, welchen Stoff behandelt dein Gedicht?« forschte Lieschen. »Es interessiert mich wirklich ganz besonders.«

»Ach, geh,« lautete die abweisende Antwort, »ich weiß es nicht mehr, ich habe alles vergessen.«

Lilli sank auf einen Stuhl und schlug die Hände zusammen. »Dieser Jammer! Mi, kannst du das verantworten, daß die Arbeit einer halben Nacht, die unter Seufzen und Stöhnen, vielleicht gar Tränen zustande gebracht ist, der Nachwelt verloren geht? Es wäre unverantwortlich!«

»Ach, du weißt es auch noch, Mi, süße Mi,« schmeichelte Lieschen, »besinne dich nur.«

Energisch schob Annemarie die Backfischchen beiseite und sagte mit blitzenden Augen: »Laßt die Albernheiten ein für allemal, ich verbitte sie mir. Ich will nicht an das Gedicht erinnert werden, nie wieder.«

»Ach, ist es so schaurig?« fragte Lilli mit großen Augen.

Annemarie antwortete nicht, eilig verließ sie das Zimmer.

Die Backfischchen sahen sich an. »Verstehst du das?« fragte Lilli, »kannst du dir denken, was in unsere Küchenfee gefahren ist?«

Nein, das konnte Lieschen auch nicht, sie sagte nur bedauernd: »Schade, daß sie es vergessen hat, ich hätte es für mein Leben gern gelesen.«

»Sie schreibt es auch noch auf, darauf kannst du dich verlassen. Welcher Mensch braucht wohl die halbe Nacht, um ein Gedicht zu machen, nur um es zu vergessen? Sie wird es schon wieder zurechtbringen. Paß auf, das wird heute ein spaßiger Tag. Ob Mama wohl noch etwas sagt? Mach' schnell, daß wir hinunterkommen.«

Neugierig traten sie eine Weile später ins Wohnzimmer und sahen forschend von der Mama zu Annemarie. Alles war aber wie sonst, die Mama blickte in ihre Frauen-Zeitung, Annemarie schenkte Kaffee ein und sah in ihrem hellen Morgenkleide und der großen Schürze so tüchtig und wirtschaftlich aus wie nur möglich. Etwas enttäuscht setzten sich die Backfischchen und warteten gespannt auf den Augenblick, daß Mama die Zeitung beiseite legen würde. Gewiß kam sie dann auf das Gedicht zurück. Aber nein, Mama schien es vollständig vergessen zu haben, sie besprach wie allmorgentlich den Küchenzettel eingehend mit den jungen Mädchen und wies jeder ihre Arbeit an. Und soviel die beiden an diesem Morgen auch Annemarie beobachteten, nichts bemerkten sie, was auf ihr nächtliches Erlebnis hinwies, sie war durchaus bei der Sache, ließ sich nicht die geringste Versäumnis oder Gedankenlosigkeit zuschulden kommen und war völlig die alte.

Sie bekämpfte auch erfolgreich jeden Gedanken an das Gedicht, als sie aber nach dem Mittagessen allein in ihrem Stübchen saß und die Kochrezepte vom Morgen wie gewöhnlich aufschreiben wollte, stützte sie statt dessen den Blondkopf in die Hand und blickte gedankenverloren ins Weite. Ob sie die Verse wohl noch wieder zusammenfand? Es wäre doch wirklich schade, wenn die große nächtliche Arbeit so ganz verloren ginge. Hastig nahm sie ihre Schreibmappe, die sie selten benutzte, aus dem Tisch, suchte ein Stück Papier und begann hastig zu schreiben. Wirklich, die so schwer errungenen Gedanken waren nicht entschwunden, wie sie geglaubt hatte. Eigentlich las sich das kleine Gedicht recht hübsch, es erinnerte an frühere Zeiten. Ein Weilchen liebäugelte sie mit ihrem Gedicht, dann legte sie es in ihre Mappe, klappte diese energisch zu und schob sie in den Tisch. Dies sollte aber doch ihr erstes und letztes Gedicht sein, die Mama hatte recht, es wäre heller Wahnsinn, sich seine nächtliche Ruhe durch solchen Unsinn zu stören. Sie wollte ja auch nicht Arthurs Ideal erreichen, bewahre! Daß sie trotz der Schwierigkeit des Dichtens auf den Geschmack gekommen war, gestand sie sich nicht ein. Schnell schrieb sie die Kochrezepte in ihr Kochbuch und kleidete sich dann an, um eine Besorgung für die Mutter zu machen.

Nachdem sie eine Weile das Zimmer verlassen hatte, ward die Tür leise geöffnet und Lillis Schelmengesichtchen blickte durch die Spalte. »Die Luft ist rein, Liesel, komm',« rief sie, und beide Mädchen huschten ins Zimmer.

»Hier auf dem Tische liegt ihr Kochbuch,« sagte Lilli und schlug es hastig auf.

»Du glaubst doch nicht, daß sie es dahinein geschrieben hat, Lilli?« fragte Lieschen und fügte zaghaft hinzu: »Du, eigentlich ist es nicht recht, anderer Leute Sachen zu durchstöbern.«

»Ach was, wir sind nicht bei anderen Leuten, Annemarie ist meine eigene Schwester.«

»Ja, aber –«

»Komme mir nicht mit wenn und aber, Lies, du bist gerade so neugierig wie ich.«

Darauf wußte Lieschen nicht zu antworten, und Lilli riß die Schublade auf.

»Hurra, da liegt die Briefmappe, du sollst sehen, jetzt sind wir auf der richtigen Fährte. Nein, dies ist alles leeres Briefpapier, sollte sie es doch nicht aufgeschrieben haben? Aber hier – Hurra – das sind Verse – Liesel, dies ist Annemaries erstes Epos.«

»Wirklich? Laß doch sehen.«

Neugierig beugten sich die beiden Köpfe über das Blatt Papier, die Mädchen lasen eifrig und sahen sich dann an.

»Du, hast du ihr so was zugetraut?« fragte Lilli.

»Nein, es ist wirklich hübsch!« sagte Lieschen erstaunt. »Wie kommt Annemarie zu solchen Gedanken?«

»Na, eigentlich hat Tante Marie das ja alles so gesagt, daß sie es aber so hat in Reime bringen können, das ist doch viel. Sieh, da kommt Arthur in den Garten; was der wohl sagen wird? Wir müssen es ihm vorlesen, das gibt einen Hauptspaß.« Sie lief aus dem Zimmer, Lieschen rufend hinterher.

»Du, Lilli, das darfst du nicht, was würde Annemarie sagen?« Doch Lilli hörte nicht, eilig lief sie die Treppe hinunter und traf im Hausflur mit dem Vetter zusammen.

»Tag, Arthur, komm mal schnell hier ins Eßzimmer, ich muß dir etwas Wundervolles vorlesen.«

»So? Was hast du denn, Kleine? Den Herzenserguß eines Backfischchens?«

»Nein, einer völlig erwachsenen Jungfrau; höre und staune.« Sie schob ihn in einen Stuhl, stellte sich vor ihn und trug mit großem Pathos Annemaries Gedicht vor. Triumphierend blickte sie den Vetter an, als sie geendet hatte. »Na – was sagst du?« fragte sie, »bist du nicht entzückt?«

Der junge Mann lächelte. »Das Ding ist wirklich ganz niedlich. Wer von euch hat es denn verfaßt, Kinder?«

»Keine von uns. Nein, du kannst es auch nicht raten, ich will's dir lieber sagen: Annemarie, unsere Küchenfee!«

»Was?« Der junge Mann sprang lebhaft auf, und die Backfischchen sahen zu ihrem Staunen, daß helle Röte über sein Antlitz flog. »Ist das wirklich wahr?« fragte er hastig, »hat sie es wirklich gemacht?«

»Das hast du ihr auch nicht zugetraut, nicht?« fragte Lilli.

»Weißt du nicht, wann dies Gedicht entstanden ist?« forschte Arthur weiter.

Die Mädchen lachten. »O ja, sehr genau,« versicherte Lilli, »heute nacht zwischen zehn und ein Uhr, es schlug gerade eins, als Mama wieder zu Bett gegangen war.«

Sich überstürzend erzählte Lilli dem sichtlich gespannt lauschenden Vetter von ihrem gestrigen Besuch bei Tante Marie und ihrem nächtlichen Erlebnis. »Es war zu komisch, als Mama Annemarie voller Besorgnis nach allen möglichen Schmerzen fragte und sie zuletzt, als Mama mit der nassen Packung drohte, ganz kleinlaut damit herauskam, daß sie ein Gedicht gemacht hätte. Ich hätte nie gedacht, daß unsere sonst so tapfere Annemarie so rot und verlegen aussehen könnte. Sie machte als ertappte Dichterin gar keinen tapferen Eindruck, nicht, Liesel?« Sie lachten beide in der Erinnerung, und Arthur stimmte heiter ein.

Da ward die Tür, die nur angelehnt war, aufgestoßen, und Annemarie, hochrot, mit vor Erregung blitzenden Augen, trat ein. Sie hatte die letzten Worte gehört, und als sie ihr Gedicht in Lillis Händen erblickte, wußte sie alles. Das Lachen verstummte, die Backfischchen fühlten plötzlich, wie taktlos sie gehandelt hatten, und Lilli gab willig das Blatt Papier, als Annemarie die Hand danach ausstreckte. Ohne ein Wort zu sagen, wandte sich die beleidigte junge Dichterin und verließ das Zimmer.

»Annemarie, erlaube,« rief Arthur und eilte ihr nach, doch sie lief so schnell die Treppe hinauf in ihr eigenes Zimmer, daß er ihr nicht folgen konnte. »Das ist ja eine dumme Geschichte,« sagte er zu Lilli, »nun denkt sie natürlich, ich habe mich über ihr Gedicht lustig gemacht. Hätte ich überhaupt geahnt, daß sie die Verfasserin ist, so wäre ich nicht so indiskret gewesen, zuzuhören.«

»Na, das schadet doch nicht,« meinte Lilli sorglos, »sie wird schon wieder gut werden. Willst du zu Mama kommen, Arthur?«

Der junge Arzt saß noch eine Weile bei der Hausfrau in der Hoffnung, daß Annemarie erscheinen würde, sie kam aber nicht, und da er nicht lange Zeit hatte, so mußte er sich zum Gehen entschließen.

Sobald er fort war, trat Annemarie in Hut und Jacke zur Mutter. »Ich will nun erst zu Mutter Schade und zu der kleinen Felten,« sagte sie. »Nachher möchte ich zu Tante Marie gehen und ihr nähen helfen. Darf ich den Abend bei ihr bleiben, Mama?«

»Gewiß, Kind, ich werde dich abholen lassen.«

»Mama,« Annemarie ward rot und sagte dann hastig, »laß Lilli und Lieschen heute nicht auch zu Tante gehen, ich möchte gern allein bei ihr sein.«

»Schon Heimlichkeiten zu Weihnachten, Annemarie – oder – Kind, laß dich um alles in der Welt nicht von Tante Marie beeinflussen und fange nicht an zu dichten, du weißt, daß ich meine einzige Schwester sehr lieb habe, aber –«

»Du kannst ganz ruhig sein, Mama,« unterbrach Annemarie die Mutter, »ich mache keine Gedichte wieder, niemals.« Das junge Gesicht sah bei diesen Worten so finster aus, daß die Mutter sie betroffen anblickte, seit gestern gab ihr ihre vernünftige Älteste Rätsel über Rätsel auf.

»Nun, so geh',« sagte sie nur, »grüße Tante, und dann, Kind, laß dir mal durch den Kopf gehen, was wir morgen für ein Zwischengericht nehmen, zu dem wir die Fleischreste verwenden können.«

»Ja, Mama.«

Als Annemarie durch den Garten ging, stürmten Lilli und Lieschen hinter ihr her.

»Annie, bitte, höre mal.«

»Steh' doch einen Augenblick still, Mi.«

»Du, Annie, nimm's nicht übel, daß wir dein Gedicht –«

»Laßt nur,« unterbrach Annemarie sie sehr von oben herab, »ihr seid noch Kinder und wißt gar nicht, was ihr mir angetan habt.«

»Aber, Annie, wir haben gewiß nicht über dein Gedicht gelacht, wir –«

Annemarie verstand nichts weiter, sie war schon auf der Straße und schritt schnell vorwärts. Heute mußte sie sich zusammennehmen, bei ihren Krankenbesuchen die gewohnte heitere Ruhe, die stets so wohltuend auf die Kranken wirkte, zu zeigen. Das Herz war ihr so voll von der eigenen Angelegenheit, daß sie nicht solch ungeteiltes Interesse für ihre Pfleglinge hatte wie sonst.

Endlich war sie fertig und lenkte die Schritte zu Tante Maries behaglichem Heim, das sie heute besonders anzog. Liebevoll wie immer empfing das alte Fräulein sie und nahm das Anerbieten ihrer Hilfe gern an. Nun saßen beide in dem traulich erleuchteten Gemach und nähten emsig, ohne daß die Unterhaltung so lebhaft wie sonst werden wollte, soviel Mühe sich Tante Marie auch gab, das junge Mädchen in ein Gespräch zu ziehen. Nun schwiegen beide, und das alte Fräulein warf von Zeit zu Zeit forschende Blicke in das gesenkte, blühende Antlitz der Nichte.

»Tante,« kam es jetzt zaghaft von den frischen Lippen.

»Nun, mein Herz?« fragte Tante Marie gütig.

»Muß ein junges Mädchen dichten können, Tante? Gehört das mit zur Bildung, und – und auch zum häuslichen Glück?«

»Daß sie es selbst kann, nein, Kind, wohl aber, daß sie Sinn und Verständnis für alles Schöne und Große hat, das uns der liebe Gott durch unsere großen Dichter geschenkt hat.«

»Ist das wirklich nötig, Tante? Mama hat das auch nicht, und sie und Papa sind immer glücklich und zufrieden gewesen, und wir Kinder haben gewiß nichts entbehrt.«

»Dein Papa war ein sehr eifriger Landmann, der vollständig in seinem Berufe aufging. Deine Mutter und er verstanden sich prächtig und sind, wie ich glaube, vollkommen glücklich miteinander gewesen. Nicht immer jedoch treffen die Neigungen so glücklich zusammen, liebe Annie, und es ist immerhin gut, wenn ein Mädchen auch solche Gaben, die Gott uns zur Freude und Erholung gegeben hat, schätzen lernt. Ich freue mich, daß du selbst die Sprache darauf gebracht hast, denn ich hätte gern schon längst darauf hingewirkt, daß du nicht ganz in Wirtschaftsangelegenheiten aufgehst. Ich will dir aus dem Leben einer Freundin erzählen, die es gewiß herzlich gut meinte und schließlich doch sich und ihren Mann unglücklich machte. Linchen wurde früh Braut eines tüchtigen Arztes, der sie wohl hauptsächlich gewählt hatte, weil er sah, wieviel Teilnahme sie allen Armen und Kranken entgegenbrachte.«

Tante Marie machte eine kleine Pause, Annemariens Schere war unter den Tisch gefallen, und es mußte wohl eine rechte Anstrengung sein, sich so tief zu bücken, denn sie sah dunkelrot aus, als sie sich wieder setzte. Tante Marie schien das nicht zu bemerken, ruhig fuhr sie fort:

»Linchen wurde, wie er gehofft hatte, nicht nur eine echte Doktorfrau, sondern auch eine sehr tüchtige Hausfrau, deren Heim das reine Putzkästchen war, denn sie konnte sich gar nicht genug tun an Scheuern und Reinmachen. Anfangs ließ der junge Ehemann sie gewähren und belustigte sich über ihren Eifer, dann versuchte er sie für höhere Dinge zu interessieren. Zu seinem Schreck mußte er einsehen, daß sie ihm nicht das geringste Verständnis, ja, nicht einmal den guten Willen entgegenbrachte, denn Linchen ging von dem Grundsatze aus, daß es vollständig genüge, wenn eine gute Hausfrau ihren Hausstand in Ordnung halte. Ihr Gatte dachte jedoch anders; zwar war er sehr glücklich, daß seine Frau stets bereit war, Suppen für seine armen Kranken zu kochen und sie zu besuchen, er wollte aber in seinen wenigen Mußestunden nicht seinem Berufe leben, sondern sich seiner Liebhaberei, der Musik, die er leidenschaftlich liebte, widmen. Daran hinderte ihn Linchen nun freilich nicht, sie erklärte ihm aber unumwunden, daß die alten dummen Sonaten, die er immer spielte, sie über alle Maßen langweilten, und daß er sie mit Gesprächen über seine unsterblichen Meister verschonen möchte, da sie kein Interesse für sie habe. Der Doktor wollte anfangs nicht glauben, daß der Geschmack einer so jungen Frau nicht zu bilden sei, und gab sich redliche Mühe, sie zu sich emporzuziehen, doch endlich mußte er einsehen, daß es vergeblich war, und gab es auf.

Für den oberflächlichen Beobachter war die Ehe eine sehr glückliche, und die junge Frau erwarb sich mit Recht den Ruf einer Musterhausfrau, wer aber tiefer sah, der merkte bald, daß der Mann an ihrer Seite litt und sich immer mehr in sich zurückzog. Er ging erst wieder mehr aus sich heraus, als seine drei Töchter heranwuchsen und alle sein Talent zur Musik geerbt hatten. Mit ihnen verlebte er oftmals köstliche Stunden, an denen die Mutter keinen Anteil hatte. Die Mädchen hingen auch mit weit größerer Liebe an dem Vater als an der Mutter, die nichts tat, den lebhaften Geist ihrer Kinder zu bilden, sondern sich und die Töchter von einer häuslichen Arbeit zur andern hetzte.

Ich hatte es verschiedentlich gewagt, ihr Vorstellungen zu machen, sie hatte mich jedoch stets entrüstet zurückgewiesen, so sagte ich schließlich nichts mehr. Wie erschrak ich aber, als Linchen eines Tages mit großer Erregung zu mir ins Zimmer trat und mir unter heißen Tränen sagte: »Wie recht hattest du, Marie, hätte ich doch auf dich gehört damals, als du mich zum ersten Male warntest, mich nicht ganz meinem Haushalte hinzugeben, nun bin ich eine unglückliche Frau.«

Ich bat um Aufklärung, und da erzählte sie mir: »Du weißt, daß ich einige Tage bei meiner Schwester in Glogau gewesen bin, nun litt es mich aber dort nicht länger, da ich die große Herbstwäsche vor mir hatte, und ich reiste ab. Gestern abend kam ich unerwartet an. Nur das Mädchen bemerkte meine Ankunft. Ernst und die Kinder musizierten. Ich wollte sie überraschen und ging durch das Wohnzimmer. Da tönte mir fröhliches Lachen der Kinder entgegen, sie hatten aufgehört zu spielen, und Käthe rief: »Ach, Vater, was ist das für ein köstlicher, genußreicher Abend.« »Ja, Kinder,« rief mein Mann so recht aus Herzensgrunde, »wie glücklich sind wir, wenn Mutter nicht da ist.« Die Kinder sahen ihn erschrocken an, er setzte sich hastig ans Klavier und begann eine stürmische Weise zu spielen, ich aber schlich still hinaus auf mein Zimmer. O, Marie, diese schrecklichen Worte brannten in meinem Herzen. Ich war so stolz darauf gewesen, eine so tüchtige Hausfrau zu sein, es schmeichelte mir, wenn man mich eine echte Doktorfrau nannte, niemals ist mir der Gedanke gekommen, daß mein Mann etwas entbehren und nicht glücklich an meiner Seite sein könnte.«

Ich war tief erschüttert, versuchte ihr Trost und Mut einzusprechen, und wies sie darauf hin, daß es ja noch nicht zu spät sei, an den Interessen ihres Mannes und ihrer Töchter teilzunehmen. Sie schüttelte traurig den Kopf, und von dem Tage an war die rührige, tatkräftige Frau eine andere. Still und in sich gekehrt tat sie ihre Arbeit und sorgte treu für die Ihren und für die Armen, doch ohne Freudigkeit. Nach kurzer Zeit stellte sich ein Herzleiden ein, das sie wohl schon früher gefühlt, aber nicht beachtet hatte. Vielleicht wäre es nicht bösartig geworden, wenn das Ehepaar nicht das Unglück gehabt hätte, ihre jüngste Tochter zu verlieren. Seitdem ging es schnell mit ihr bergab. Mann und Töchter umgaben sie mit rührender Liebe und Sorgfalt, doch ich werde nie den Augenblick vergessen, als ich sie zum letzten Male sah und sie mir mit traurigem Lächeln sagte: »Es ist gut so, Marie, ich habe das Beste gewollt und dabei doch nicht das wahre Glück für die mir Zunächststehenden erreicht.«

Das alte Fräulein schwieg, und Annemarie sagte tief ergriffen: »Das ist ja schrecklich traurig; die arme, arme Frau! Tante, ich habe auch immer geglaubt, und Mama sagte es uns bei jeder Gelegenheit, daß die Sorge für die Wirtschaft das wichtigste für ein Mädchen und für eine Frau sei.«

»Gewiß, Kind, das ist es auch, denn davon hängt das Glück und das Behagen der ganzen Familie ab. Aber, mein Herz, man soll auch in den Wirtschaftssorgen einmal Feierabend machen und Geist und Gemüt an guten Büchern, an Musik und Kunstwerken erfreuen und erquicken, damit der Geist frisch bleibt und man nach solcher Erholung wieder mit Lust und neuer Kraft an sein Tagewerk gehen kann.«

»Ich habe hierüber noch nie nachgedacht,« gestand das junge Mädchen sinnend.

»Ja, meine liebe Annemarie fing an, ihr Köpfchen recht hoch zu tragen in dem Bewußtsein, ein sehr tüchtiges Mädchen zu sein. Was hat dich denn zu der Erkenntnis gebracht, daß auch dein Geist der Nahrung bedarf?«

Annemarie errötete heiß und beugte sich tief auf ihre Arbeit. »Du hast schon öfter solche Andeutungen gemacht, Tante, und dann – Arthur machte gestern Äußerungen, die mich ärgerten und zum Nachdenken zwangen,« gestand sie.

Ein feines Lächeln flog über Tante Maries freundliche Züge, heiter entgegnete sie:

»Weißt du, Kind, was ich mir ausgedacht habe? Ihr sollt alle drei zweimal in der Woche für den ganzen Nachmittag und Abend zu mir kommen. Erst helft ihr mir fleißig nähen und stricken, dann gehen wir ein Stündchen spazieren, und abends musizieren wir oder lesen mit verteilten Rollen unsere unsterblichen Dichter. Was meinst du dazu?«

»Ach, Tante, es wäre zu schön, glaubst du aber, daß Mama das erlauben wird? Sie ist zu sehr gegen alle Poesie und was damit zusammenhängt.«

»Laß mich nur machen, Kindchen, ich will nächstens mit ihr sprechen, sage vorläufig nichts davon.«

»Tante,« begann Annemarie nach einer Weile zaghaft.

»Nun, Kind?«

»Tante,« sie ward glühend rot, »Tante, ich habe ein kleines Gedicht gemacht,« beichtete sie in heißer Verlegenheit.

»Ei sieh, das freut mich, Annie, darf ich es hören?«

»Ich möchte schrecklich gern von dir hören, Tante, ob es wirklich so schlecht ist, daß man darüber lachen muß.«

»Das will ich dir ganz ehrlich sagen, Kind, laß hören.«

»Ich glaube, ich bringe kein Wort hervor, Tante.«

»Ich werde nicht von meiner Arbeit aufsehen, Annie.«

»Tante – darf ich nicht hinter den Ofen gehen? Ich glaube, dann geht es besser.«

Tante Marie lachte heiter: »Gewiß, Herzenskind, verschwinde nur, aber sprich, bitte, so deutlich, daß ich jedes Wort verstehen kann.«

Annemarie verschwand schleunigst hinter dem großen Kachelofen, und nach einer Weile begann sie mit vor Aufregung zitternder Stimme:

In der Dämmerstunde.

Ich war ein Mägd'lein, jung und frisch,
Dacht' nicht an Lieb' und dergleichen,
Da stand auf meinem Geburtstagstisch
Die Truhe aus altem Eichen.

Mein Vater sagte: »Da leg' hinein,
Was fleißig du spinnst am Rocken;
Ist hoch sie gefüllt mit weißem Lein',
Dann läuten die Hochzeitsglocken.«

So manches Jahr gar fleißig ich spann
Und träumte von treuem Lieben,
Doch niemals, ach, kam der Freiersmann,
Und einsam bin ich geblieben.

Vergessen will ich den Jugendtraum,
Er schafft nur Kummer und Schmerzen.
Im sorgenden Schaffen fühl' ich kaum
Den stillen Kummer im Herzen.

Doch naht die Dämm'rung, so regt sich heiß
Im Herzen das stille Sehnen.
Ich öffne die Truhe und netze leis
Das Linnen mit meinen Tränen.

Ein tiefer, zitternder Atemzug, dann steckte die junge Dichterin ihr Näschen um die Ofenecke und blickte zaghaft und doch unendlich neugierig nach Tante Marie hinüber. Ihr Herz klopfte stürmisch, ob sie wohl lachte? Aber das alte Fräulein nickte ihr freundlich zu und sagte: »Ei, Annie, da hast du ja meine kleine Erzählung in ein ganz poetisches Gewand gekleidet. Nimm es nicht übel, Herzblatt, ich hätte dir das aber nicht zugetraut.«

Glühend vor Freude schlüpfte Annemarie aus der Ofenecke und umarmte das alte Fräulein zärtlich: »So ist es wirklich nicht schlecht, Tante?«

»Durchaus nicht, Kind, für ein Erstlingswerk ist es sehr niedlich, fahre nur so fort.«

»Nein, Tante Marie, das kann ich nicht, Mama war heute nacht zu böse.« Und nun erzählte sie der Tante, wie das Gedicht entstanden war.

»O, du kleiner Unverstand, da hatte Mama ganz recht, böse zu sein,« entgegnete Tante Marie heiter, »dichte in deinen Mußestunden, aber laß weder deine nächtliche Ruhe noch deine Arbeit darunter leiden.«

Annemarie sah sehr nachdenklich aus. »Ich glaube, ich dichte überhaupt nicht wieder, es war ein zu schreckliches Stück Arbeit.«

Tante Marie lachte. »Übung macht auch hier den Meister, Kind, aber es ist durchaus nicht nötig, daß du dichtest, es genügt, wenn du unsere großen Meister lieben und verstehen lernst.«

»Eigentlich habe ich sie immer geliebt, Tante,« bekannte das junge Mädchen, »zu Hause war aber nie von Kunst und Wissenschaft die Rede, da ist meine Neigung dafür ganz eingeschlafen.«

»Nun, so wollen wir sie zum fröhlichen Leben erwecken.«

»Tante,« Annemarie senkte den Kopf tief über ihre Arbeit, »Arthur braucht nichts davon zu wissen, daß ich mich für Literatur interessiere.«

»Bewahre, Kind, der hat nichts damit zu tun. Du sollst mal sehen, wie schön unsere Leseabende werden.«

Getröstet ging das junge Mädchen an diesem Abend nach Hause, sie hatte das Gleichgewicht ihrer Seele wiedergefunden und war hinfort wieder die alte frische, fröhliche Annemarie, das leuchtende Vorbild in den Küchenräumen. Mit Lilli und Lieschen schloß sie Frieden, gegen Arthur aber war sie sehr kühl und zurückhaltend und vermied jedes Alleinsein mit ihm.

Eines Tages traf er sie aber doch auf dem Flur.

»Einen Augenblick, Annie, ich wollte dir nur sagen –«

»Was? Bitte, schnell, ich habe keine Zeit.«

»Erstens also wäre es sehr wünschenswert, wenn die kranke Malersfrau etwas Wein bekäme, ferner darf der kleine Kossel Fleisch bekommen, und dann wollte ich dir noch sagen, daß du mich völlig verkennst, dein Gedicht –«

»Entschuldige, wir sind bei der Wäsche, gehe, bitte, zu Mama.«

Fort war sie, und er hatte das Nachsehen. Er sah sehr verdrießlich aus, der gute Arthur, denn so ging es ihm jedesmal, wenn er nur das Wort Gedicht aussprach, und er mußte es doch erwähnen, wenn er ihr sagen wollte, daß er über ihren ersten Versuch keineswegs gelacht, sondern nur eitel Freude darüber empfunden hätte.

Eines Tages kamen die jungen Mädchen von einem Ausgange heim, die Schwestern in heiterster Stimmung, Lieschen blaß und niedergeschlagen. Sie hatte an diesem Morgen wieder verschiedenes Mißgeschick gehabt und eine strenge Rüge erhalten.

»Seid ihr endlich da, Kinder?« rief ihnen Frau Dornbusch entgegen, als sie ins Wohnzimmer traten. »Setzt euch, wir wollen sogleich den Küchenzettel für morgen feststellen. Annemarie, schreibe auf, wieviel Kranke nur Suppen, wieviel andere Speisen bekommen; du, Lilli, notiere, was morgen früh eingeholt werden muß. Lieschen, paß auf, damit du weißt, was für Arbeit es gibt.«

Nachdem die Beratung beendet war, sagte Frau Dornbusch: »Tante Marie war vorhin hier und hat mich gebeten, euch Mittwochs und Sonnabends für den Nachmittag und Abend zu ihr zu schicken. Ihr sollt erst Handarbeit bei ihr machen, und dann will sie mit euch musizieren und lesen, das heißt, wenn ihr Lust dazu habt.«

Laute Jubelrufe der beiden jüngeren Mädchen antworteten ihr; Lilli klatschte glückselig in die Hände. »Wundervoll,« rief sie, »Tante Marie ist ein Engel! Und morgen ist Sonnabend; dürfen wir da schon gehen?«

»Ja, das heißt, unter einer Bedingung: sobald eine von euch mir Anlaß zur Unzufriedenheit gibt, geht sie nicht mit. Das gilt nicht allein für morgen, sondern für alle Tage. Merke du dir das besonders, Lieschen. Du, Annemarie, kommst gewiß lieber zum Abendbrot nach Hause, nicht wahr, Kind?«

Das junge Mädchen errötete und sah die Mutter bestürzt an. »Muß ich das, Mama?« fragte sie ängstlich.

»Nein, gewiß nicht, ich dachte nur, daß es dir lieber wäre, da du dir doch nichts aus dem Lesen und der Musik machst.«

»Du irrst, liebe Mama, ich möchte gern teil daran nehmen,« entgegnete Annemarie.

»Meinetwegen! Aber nun macht, Kinder, daß wir zu unserem Tee kommen, es ist spät geworden.« –

Am nächsten Morgen war niemand eifriger in der Küche als Lilli.

»Nimm dich nur um Himmels willen zusammen, Liesel,« raunte sie der Freundin zu, die still und gedrückt die ihr zugewiesene Arbeit verrichtete.

»Ach, Lilli, glaube doch nur nicht, daß ich heute abend mitkomme, ich bin ja viel zu ungeschickt, paß auf, heute habe ich besonderes Pech.«

»Sei doch nicht so mutlos, Liesel, und sei ein einziges Mal ganz bei der Sache, ja, willst du?«

Liesel nickte und gab sich die größte Mühe, dennoch passierte es ihr, daß sie, als sie einen Teller voll gehackter Zwiebeln an den Herd tragen wollte, mit dem Ellbogen an einen Tisch stieß und der Teller klirrend zu Boden fiel. Blaß vor Schreck blickte sie die Hausfrau an, und Lilli und Annemarie riefen beide ein entsetztes: »O, Liesel!«

Dem jungen Mädchen, dem bei der Bearbeitung der Zwiebeln ohnehin schon ganz rührselig geworden war, stürzten helle Tränen über die Wangen. Frau Dornbusch schüttelte den Kopf.

»Es ist mir wirklich noch kein so ungeschicktes Mädchen vorgekommen, wie du bist, Lieschen,« sagte sie, »wie du mal durch das Leben kommen willst, ist mir wirklich nicht klar. Na, nun sieh nicht so unglücklich aus, Kind, ich will ja Geduld mit dir haben, und für dies Mißgeschick konntest du vielleicht nicht, ich will es dir nicht anrechnen. Geh', bringe die Scherben beiseite und hacke andere Zwiebeln.«

Zerknirscht führte Lieschen den Auftrag aus. Den ganzen Morgen ward sie von den beiden Schwestern argwöhnisch beobachtet, doch, o Glück, das Mittagessen war fertig, ohne daß ihr noch ein Mißgeschick begegnet wäre, und glückselig machte sie sich am Frühnachmittage mit den beiden anderen auf den Weg zur Tante.

Unterwegs trafen sie Arthur. Es leuchtete freudig in den Zügen des jungen Arztes auf, als er die Mädchen erblickte, und als er hörte, daß sie zur Tante gingen, bat er, sie ein Stückchen begleiten zu dürfen.

»Du, Arthur, wir gehen jetzt jeden Mittwoch und Sonnabend zur Tante,« erzählte Lilli eifrig, »nachmittags nähen wir, und abends wird musiziert und mit verteilten Rollen gelesen, ist das nicht entzückend?«

»Kinder, erwirkt mir doch auch eine Einladung! Nein, diese Tante, mir kein Wort davon zu sagen! Heute bin ich leider versagt, aber morgen werde ich zu ihr gehen und sie bitten, mich in diesen literarischen Bund aufzunehmen. Arbeitet nur etwas für mich vor, Kinder.«

Lilli und Lieschen versprachen das eifrig, Annemarie sagte kein Wort, sie zeigte aber ein so mißvergnügtes Gesicht, daß Arthur sie, als der Menschenstrom sie an der nächsten Ecke von den beiden anderen trennte, fragte: »Es würde dir wohl nicht lieb sein, Annie, wenn ich auch käme?«

»Ob lieb oder nicht, es ist Tante Maries Sache, nicht meine,« entgegnete sie kurz.

»Annie, wenn du mir doch glauben wolltest –«

»Bitte, sprich das Wort Gedicht nicht aus,« unterbrach sie ihn hastig.

»Nein, nein, das will ich auch gar nicht, ich wollte nur sagen, wie erfreut ich bin, daß du jetzt mehr Interesse für die schönen Künste zeigst.«

Sie schwieg und blickte auf die beiden Mädchen, die lebhaft plaudernd voranschritten.

»Annie,« fuhr der junge Mann mit gedämpfter Stimme fort, »ich wollte dir schon längst gern sagen, wie ich mir mein Ideal denke, du –«

»Bitte, bemühe dich nicht,« unterbrach sie ihn mit blitzenden Augen, »es interessiert mich durchaus nicht, nicht im geringsten, damit du es nur weißt!«

»Aber, Kind –«

»Wenn du wüßtest, wie sehr mich eine derartige Unterhaltung langweilt, so würdest du mich damit verschonen,« setzte sie mit mühsam unterdrückter Heftigkeit hinzu.

»Gut, ich werde dich nicht wieder damit behelligen, verzeih',« entgegnete er in gänzlich verändertem Tone und fügte gleichgültig hinzu: »Warst du bei Köppens?«

»Nein, heute nicht.«

»Ich fürchte, es wird eine langwierige Geschichte, wenn es überhaupt gut geht.«

»Ach!« Ihr ganzes Interesse für den kleinen Hans, der vor einigen Tagen das Unglück hatte, überfahren zu werden, wurde rege. »Fürchtest du für ihn?«

»Der Beinbruch ist, wenn auch schlimm, so doch zu heilen, wenn der Junge auch, wie ich fürchte, ein lahmes Bein behalten wird; was mich jedoch mit weit mehr Besorgnis erfüllt, ist, daß seine inneren Verletzungen nicht so leicht sind, als ich erst annahm.«

»Der arme kleine Hans und die armen Eltern! Ich will gleich morgen hingehen.«

»Tue das und tröste die Mutter; der Hans ist ihr Ältester, der schon mitverdienen half, und ein lieber, prächtiger Junge. Doch hier trennen sich unsere Wege; viel Vergnügen, grüße Tante Marie, bitte!«

Er verabschiedete sich und ging, und Annemarie setzte ihren Weg sehr schweigsam fort. Sie blieb auch den ganzen Abend zerstreut und in sich gekehrt, was sich Lilli und Lieschen mit ihrer Teilnahme für Hans Köppen, von dessen traurigem Schicksal sie erzählte, erklärten. Beide baten Tante Marie eifrig, doch Vetter Arthur für die Leseabende einzuladen, das alte Fräulein entgegnete jedoch:

»Das kann ich euch nicht versprechen; er muß selbst einsehen, daß er sich nicht binden kann.«

Es wurde später nicht wieder davon gesprochen, der junge Arzt erschien an keinem der Abende, und die Mädchen waren viel zu glücklich bei Tante Marie, um ihn zu entbehren, ja, Lieschen meinte eines Tages, es wäre viel netter, sie wären unter sich. Annemarie sprach nie über ihn, sie schien sich auch gar nicht zu wundern, daß er jetzt nur kam, wenn er eingeladen war oder etwas Notwendiges, was seine Kranken betraf, mit ihrer Mutter zu besprechen hatte. Er sprach nie wieder von seinem Ideal zu Annemarie, noch erwähnte er deren Gedicht, sondern beobachtete eine kühle Zurückhaltung gegen sie, während er mit den anderen Mädchen scherzte und lachte.

Der Winter war herangekommen und der erste Schnee gefallen. Die Schwestern machten sich eines Tages fertig, zu der Tante zu gehen, doch nicht so vergnügt wie sonst, denn Lieschen mußte daheim bleiben. Sie hatte in den letzten Tagen viel Mißgeschick gehabt und heute zu allem Überfluß ein Gericht durch Unachtsamkeit gänzlich verdorben.

»Armes Liesel,« sagte Lilli und küßte die Freundin zärtlich zum Abschied. »Du bist ein schrecklicher Pechvogel.«

»Ja, Lilli, das werde ich auch wohl mein Lebenlang bleiben,« entgegnete Lieschen bitter.

»Du tust mir ja auch schrecklich leid, Liesel,« sagte Annemarie, »aber, wirklich, etwas besser aufpassen könntest du; ich kann es Mama nicht verdenken, wenn sie einmal die Geduld verliert.«

»Ach, geh', Annemarie, du weißt doch, wie sich mein armes Liesel zum Küchendienst zwingen muß,« rief Lilli und streichelte die Freundin zärtlich, »ich möchte am liebsten auch nicht zur Tante gehen.«

Liesel drückte ihr die Hand. »Sei nur vergnügt, Lilli, über diesen einen Tag komme ich schon weg, das ist so schlimm nicht.«

Die Schwestern gingen. Ein Weilchen saß das junge Mädchen und blickte sehnsüchtig über die weiß beschneiten Dächer der gegenüberliegenden Häuser; dann nahm sie ein Schreibheft und eine lateinische Grammatik aus dem Tische und begann emsig zu arbeiten. Sie vergaß darüber Zeit und Stunde und fuhr erschrocken zusammen, als das Mädchen den Kopf zur Tür hereinsteckte und meldete:

»Frau Dornbusch hat schon zweimal nach Ihnen gefragt, Fräulein; das Kaffeewasser kocht schon lange.«

Hastig schob Lieschen ihre Bücher in die Kommode, fuhr glättend über das Haar und eilte hinunter.

»Wo bleibst du denn, Lieschen?« rief ihr Frau Dornbusch entgegen.

»Entschuldige, liebe Tante, ich hatte ganz vergessen, nach der Uhr zu sehen.«

»Das sieht dir ähnlich! Was hast du denn getan? War das so interessant?«

»Ich habe geschrieben.«

Frau Dornbusch blickte forschend in das errötende Antlitz, schwieg aber und nahm ihre Handarbeit wieder vor. Nach dem Kaffeetrinken setzte sich Lieschen mit einer Näharbeit und unterdrückte einen Seufzer, als sie an die Freundinnen und an Tante Marie dachte.

»Sag' mal, Lieschen,« unterbrach Frau Dornbusch das Schweigen, »hast du wohl schon ernstlich darüber nachgedacht, was aus dir werden soll?«

Lieschen wurde rot, sah unsicher auf, schwieg aber.

»Du bist nun bald ein Vierteljahr hier und bist noch gerade so ungeschickt und zerfahren wie anfangs,« fuhr Frau Dornbusch fort, »ich möchte wirklich wissen, wo du deine Gedanken immer hast. Alle die anderen jungen Mädchen geben sich Mühe und sind schon ganz geschickt und zuverlässig, du allein kommst um keinen Schritt weiter; willst du mir nicht erklären, woran das liegt?«

Lieschen wurde feuerrot, dann blaß und entgegnete leise: »Sie haben wohl alle mehr Lust und Geschick als ich.«

»Unsinn, das hat jedes weibliche Wesen oder sollte es wenigstens haben. Ist es nicht das Schönste für eine Frau, wenn sie für die Ihren und, wenn es geht, auch noch für andere sorgen und schaffen kann?«

»Ja, liebe Tante.«

»Wie das klingt! Was hast du nur, Lieschen? So sprich doch!«

»Ich denke, man kann auch in anderer Weise für die Seinen und für andere schaffen, jeder nach seinen Anlagen und Kräften,« entgegnete Lieschen mit vor Aufregung bebender Stimme.

Frau Dornbusch sah sie überrascht an. »Wie meinst du das? In welcher Weise möchtest du es?«

»Liebe Tante, denke nicht, daß ich undankbar bin,« entgegnete Lieschen und sah sie bittend an, »im Gegenteil, ich bin froh, daß du dich meiner annimmst, aber – sei nicht böse, ich habe durchaus keine Lust zur Wirtschaft.«

»So! Wozu denn?«

Lieschen wurde blaß vor innerer Erregung und sagte leise, aber fest: »Ich möchte studieren!«

Frau Dornbusch' fleißigen Händen entsank die Arbeit, sprachlos starrte sie das junge Mädchen an, das sich unwillkürlich erhoben hatte und mit niedergeschlagenen Augen vor ihr stand. Dies kleine, stille, blasse Ding; daher verdarb sie auch so viele Gerichte! Helle Zornesröte stieg ihr in das volle Antlitz; ärgerlich rief sie: »Bist du nicht gescheit, Mädchen? Möchtest du unter die emanzipierten Frauenzimmer gehen und mit den Studenten in den Hörsälen sitzen? Schämst du dich nicht? Hast du vielleicht auch schon darüber nachgedacht, was du etwa studieren möchtest?«

»Ja, Medizin.«

»Das ist recht! Wie kommst du nur auf den wahnsinnigen Gedanken?«

»In unserem großen Dorfe wird oft darüber geklagt, daß ärztliche Hilfe fehlt; ich habe unserem alten Doktor oft geholfen und manches von ihm gelernt; er sagt, ich würde eine gute Ärztin werden. Seitdem weiß ich, daß ich zu nichts anderem Lust habe, und da Vater mich mit meinem Bruder Gottfried zusammen unterrichtet hat, bin ich ziemlich weit im Latein und Griechisch. Vater kennt meinen Wunsch, er hat aber kein Geld, ihn mir zu erfüllen, er ist froh, daß er ein Stipendium für Gottfried erhalten hat, damit er Theologie studieren kann. Vater und Mutter sind dir sehr dankbar, daß ich bei dir etwas lernen darf, denn auf eigenen Füßen muß ich ja stehen.«

Von den heißen Tränen, die sie vergossen, ehe sie sich entschlossen hatte, der Patin Ruf zu folgen, sagte sie nichts, aber das blasse Gesichtchen und die zuckenden Lippen verrieten noch jetzt etwas von jenem Kampfe.

Frau Dornbusch sah jedoch nichts davon. »Euer Doktor hätte auch etwas Klügeres tun können, als dir solche Dinge in den Kopf zu setzen,« sagte sie ärgerlich, »solcher Unsinn! Das sollte mir gerade noch fehlen, dich mit den Studenten in die Hörsäle zu stecken. Das schlage dir nur aus dem Sinn, daraus kann nichts werden. Glaube mir, du kommst mit dem Kochlöffel besser durch das Leben, als mit der Medizinflasche. Ich will schon dafür sorgen, daß du später eine gute Stellung bekommst; freilich mußt du tüchtiger werden, sonst blamiere ich mich, wenn ich dich empfehle. So viel Liebe wirst du doch für deine Eltern haben, daß du dich zusammennimmst und etwas Tüchtiges lernst, damit du ihnen nicht länger zur Last fällst.«

Frau Dornbusch redete in ähnlicher Weise weiter, und Lieschen hörte schweigend zu. Sie hatte ihre Arbeit wieder aufgenommen und nähte mit zitternden Händen. Trübe und unerquicklich schlich ihr der Nachmittag und Abend hin, und sie atmete erleichtert auf, als sie der Freundinnen Stimmen vernahm.

»Mein armes Liesel, du siehst so blaß aus,« sagte Lilli mitleidig, als die Mädchen in ihrem Zimmer waren, »hat Mama noch gescholten?«

»Ach, Lilli, es ist zur Aussprache gekommen; jede Hoffnung für mich ist dahin!«

»Lieschen!« riefen die Schwestern, denn auch Annemarie kannte schon längst der Freundin Herzenswunsch. Lieschen erzählte, und beide wußten keinen Rat.

Als Annemarie am nächsten Tage Arthur begegnete und sie zufällig ein Stückchen gemeinsamen Weges hatten, fragte sie: »Hältst du es für richtig, wenn ein Mädchen Medizin studiert?«

Er sah sie überrascht an. »Hast du etwa die Absicht?« fragte er.

»Nein, aber Lieschen,« entgegnete sie, erzählte ihm von deren Kummer und sah gespannt zu ihm auf.

»Wenn ein Mädchen aus wahrer Herzensneigung diesen Beruf ergreift, und sowohl Fähigkeiten wie die genügenden Körperkräfte da sind, so kann eine Ärztin zum großen Segen für ihr Geschlecht werden,« sagte er ernst. »Natürlich spreche ich nicht von jenen emanzipierten Frauen, die es den Männern gleichtun wollen, auf ihre Rechte pochen und am liebsten Männerkleidung trügen. Doch das sind Auswüchse, mit denen Lieschen nichts zu schaffen hat; ich bin überzeugt, daß sie sich stets ihre edle Weiblichkeit bewahren wird. Vorläufig ist sie noch zu jung und ihr Körper nicht kräftig genug, daß sie an ein anstrengendes Studium denken kann; grüße sie aber von mir und sage ihr, wenn sie sich tüchtig in Haus und Küche tummelte und in einigen Jahren in frischer Gesundheit blühte, wollte ich ihr bei deiner Mutter ein kräftiger Anwalt sein.«

»Willst du das wirklich, Arthur? Wie wird Lieschen sich freuen! Ich gehe aber hier um die Ecke, adieu.«

»Adieu, Annemarie.«

Lieschens Augen strahlten allerdings in heller Freude auf, als die Freundin mit ihrer Botschaft kam, und Frau Dornbusch konnte in Zukunft zufriedener mit ihren Leistungen in der Küche sein. Sie war weniger ungeschickt und vergeßlich, dabei blühte sie sichtlich auf, und die dunklen Augen bekamen mehr Glanz. Befriedigt sah Frau Dornbusch diese Veränderung und freute sich, daß sie dem Kinde die Raupen aus dem Kopfe getrieben hatte; noch befriedigter war sie, als sie bemerkte, daß Arthur anfing, ein lebhaftes Interesse für die Kleine an den Tag zu legen.

Auch Annemarie entging das nicht, und obgleich sie wußte, welche gemeinsamen Interessen beide gern besprachen, so war ihr doch die wachsende Vertraulichkeit nicht lieb, ja, je heller Lieschens Lachen klang, je weher ward ihr ums Herz. Ob Lieschen wohl seinem Ideale ähnlich war? Ganz gewiß! Sie würde eine reizende kleine Doktorfrau abgeben, hatte große Vorliebe für Literatur und alle schönen Künste und spielte vorzüglich Klavier. Das war doch alles, was ein so anspruchsvoller Mann erwarten konnte! Freilich, wie es um den Haushalt aussehen mochte, das war eine andere Sache. Doch darauf gab er jedenfalls nicht viel. Sie zog sich in seiner Gegenwart immer mehr in sich zurück und verriet mit keiner Silbe, wie gern sie ein gutes Buch las und wie sehnlich sie wünschte, Gesangunterricht zu nehmen, seitdem Tante Marie hin und wieder mit ihnen gesungen und erklärt hatte, daß sie eine sehr hübsche Altstimme besäße. Er brauchte das aber alles nicht zu wissen, ihn zog ja Lieschens »edle Weiblichkeit« so an, daß er sie kaum noch beachtete; da konnte er sich füglich nicht wundern, wenn sie ihm schroff begegnete. So dachte sie und bemühte sich in seiner Gegenwart, ihr Interesse für die Wirtschaft noch mehr herauszukehren als bisher; er brauchte nichts davon zu ahnen, welchen Einfluß Tante Marie auf ihr Innenleben hatte, und daß ihre Vorliebe für die Literatur neu erwacht war. –

Weihnachten war unter emsigen Vorbereitungen herangenaht. Am Nachmittage des heiligen Abends machten sich die drei Mädchen auf den Weg zu armen Kranken. Jede trug einen Korb und in einem Blumentopf ein kleines Tannenbäumchen. Ihre Wege trennten sich bald, und eilig schritt jede ihrem Ziele zu. Annemarie hatte den weitesten Weg; sie ging zu Hans, ihrem armen Lieblinge, den sie sehr häufig besuchte.

Nach schnellem Gange erreichte sie die enge, abgelegene Straße, erstieg vier Treppen in einem alten Hause und zögerte eine Weile, um ihr Bäumchen anzuzünden, ehe sie die Tür öffnete und nach leisem Klopfen eintrat. Es war, wie es schien, niemand in dem halb dunklen Gemach, aber Annemarie ging sicheren Schrittes auf das ärmliche Lager im Hintergrunde des Zimmers zu. Zwei glänzende Kinderaugen blickten ihr und dem brennenden Bäumchen entgegen, eine schmale, weiße Hand streckte sich aus, und eine schwache Stimme rief: »Ach, Fräulein, wie schön, wie schön!«

Sie stellte das Bäumchen auf den kleinen Tisch dicht am Bette und rief heiter: »Nun kommt der Weihnachtsmann, Hansel, sieh her, was er dir gebracht hat. Diese schöne, weiche, wollene Decke wollen wir gleich überdecken, damit du nicht frierst; so, nun liegst du da wie ein Prinz. Und hier, du liest ja so gern, in diesem Buche stehen die schönsten Märchen.«

Glückverklärt empfing Hans seine Gaben, seine Hände zitterten vor Freude und Aufregung, als er die Blätter umwandte, die Bilder zu besehen.

»Wie geht es dir heute, Hansel?« fragte Annemarie und strich liebevoll über sein Haar.

»Es geht, Fräulein, nur der böse Husten – die Brust tut mir so weh.«

Sie nickte stumm; es ging ihr allemal wie ein Stich durch das Herz, wenn sie in sein blasses Gesichtchen, in seine überirdisch glänzenden Augen sah.

»Vater und Mutter sind wohl noch nicht zu Hause?«

»Nein, Mutter wollte einkaufen, und die Kleinen sind wohl noch auf dem Weihnachtsmarkte. Ach, Fräulein –«

»Was möchtest du, Hansel?«

»Wenn Sie mir ein Weihnachtslied singen wollten, Fräulein?« bat er schüchtern.

Sie nickte, und gleich darauf klang die weiche Altstimme durch das Stübchen. Atemlos lauschte Hans dem schönen Liede: »Es ist ein Ros entsprungen.« Beide bemerkten es nicht, daß die Tür sich öffnete und der junge Doktor eintrat, der regungslos stehen blieb und das liebliche Bild in sich aufnahm: das lichtschimmernde Bäumchen, das seinen Glanz über den bleichen Knaben und die frühlingsfrische Mädchengestalt warf. Ehe das Lied zu Ende gesungen war, verschwand er so lautlos, wie er gekommen war.

Einen Augenblick später stieg Annemarie die Treppen hinunter. Auf der zweiten traf sie die Mutter des kleinen Kranken. »Ich habe oben einen Korb für Sie und die Kinder gelassen, Frau Köppen,« sagte sie, »Gott segne Ihnen das Fest.« Ihre Lippen bebten, und eine Träne drängte sich ihr ins Auge, denn sie dachte an das langsam verlöschende Lebenslicht da droben in dem Stübchen.

Auf der Straße trat ihr Arthur entgegen, nahm, als müsse es so sein, ihre Hand und legte ihren Arm in den seinen. Eine Weile gingen sie schweigend, dann sagte sie leise: »Muß er wirklich sterben, Arthur?«

»Ja, Annemarie, menschliche Kunst vermag nichts mehr, als seine Leiden zu erleichtern.«

»Wie schwer ist doch oft der Beruf eines Arztes!«

»Sehr schwer; ich glaube, man fühlt auch in keinem anderen so sehr seine menschliche Ohnmacht. Es ist mir auch schmerzlich, daß ich dem prächtigen Jungen nicht helfen kann, ist er aber nicht besser bei Gott im Himmel aufgehoben, als hier auf Erden als Krüppel?«

Annemarie blickte zum Himmel auf. Es war inzwischen dunkel geworden, ein Stern nach dem anderen erglänzte, und nun begannen sämtliche Kirchenglocken den heiligen Abend einzuläuten. Der ganze Zauber der Weihnacht mit seinem tiefen Frieden und seiner großen Freudigkeit zog in das junge Mädchenherz. »Ja, du hast recht,« sagte sie nur.

Beide setzten schweigend ihren Weg fort und sprachen erst wieder, als das Glockengeläut verstummte. Da bemerkte Annemarie auch, daß Arthur noch immer ihre Hand in der seinen hielt. Errötend wollte sie sie ihm entziehen, er hielt sie aber fest und sagte bittend:

»Sieh, Annie, heute ist es licht in allen Herzen, laß es auch licht zwischen uns werden. Darf ich dir heute sagen, wie ich mir mein Ideal denke?«

»O, ich weiß es ganz genau,« rief sie hastig, »sie muß sanft und lieblich sein und sehr, sehr klug, daß sie über alles sprechen kann, und dann muß sie malen und singen und spielen und – ach – ich weiß nicht, was noch alles können. Und dann muß sie dunkle Augen und dunkles Haar haben –«

»Fehlgeschossen, Annie,« unterbrach er sie heiter, »gänzlich fehlgeschossen. Erstlich muß mein Ideal häuslich und wirtschaftlich sein, gut für mich und meine Kranken sorgen können und das wärmste Interesse für meinen Beruf haben. In meinen Mußestunden freilich will ich mich bei ihr erholen, da muß sie mir auf anderem Gebiete folgen können, damit sich Geist und Herz erfrischt. Talente braucht sie nicht zu haben, nur das, mich recht, recht glücklich zu machen. Und weißt du, wie mein Ideal aussehen muß? Frisch und rosig, mit glänzenden blauen Augen und blondem Haar, wie eine echte deutsche Jungfrau. Willst du auch den Namen wissen, Annie?«

»Nein, nein, ich habe keine Zeit mehr, hier sind wir auch zu Hause.«

»Deine Mama hat mich eingeladen, darf ich kommen, Annie?«

»Natürlich. Adieu so lange.« Sie lief ins Haus, und er ging.

Am Abend war die ganze Familie unter dem strahlenden Tannenbaum versammelt. Da trat der junge Arzt zu Annemarie, die ihre Geschenke betrachtete, und sagte leise: »Ich habe hier noch eine kleine Gabe für dich, Annie; ich kann sie dir aber nur geben, wenn ich dir den Namen meines Ideals nennen darf.«

Heiß erglühend sah sie auf den blinkenden schlichten Ring in seiner Hand und sagte leise: »Ich habe gar keine höheren Interessen.«

»O, das weiß ich besser,« entgegnete er zuversichtlich, »dein Gedicht hat mir alles verraten und mich immer wieder aufgerichtet, wenn ich zuweilen an deiner Liebe und an deinen höheren Interessen zweifeln wollte. Annemarie, willst du meine liebe kleine Frau werden?«

Sie mußte wohl eingewilligt haben, denn etwas später trat das junge Paar zur Mutter, ihren Segen zu erbitten. Überrascht sah Frau Dornbusch ihre Annemarie an und warf einen unruhigen Blick auf Lieschen; als sie aber deren freudestrahlendes Antlitz sah, atmete sie erleichtert auf und zog Sohn und Tochter erfreut ans Herz.

»Mama,« sagte Lilli etwas später, als sich die hochgehenden Wogen der Freude etwas gelegt hatten, »heute ist der Abend, der ganz besonders dazu geschaffen ist, Menschen glücklich zu machen, da denke auch an unser Lieschen.«

»Lilli,« rief das junge Mädchen erschrocken.

»Was soll's mit Lieschen?« fragte die Mutter freundlich. »Soll ich ihr sagen, daß ich zufriedener mit ihr bin? Ja, Kind, jetzt habe ich die Hoffnung, daß du doch noch eine ganz gute Hausfrau oder Haushälterin, je nachdem Gott es fügt, werden kannst.«

Lieschen stand dunkelrot, mit niedergeschlagenen Augen; da sagte Annemarie:

»Liebe Mama, Lieschen möchte viel lieber Fräulein Doktor werden!«

»Ja, liebe Mama,« sagte auch Arthur, »ich bitte dich auch recht herzlich, die Sache wenigstens zu überlegen.«

Frau Dornbusch sah ihn starr an. »Das sagst du?« fragte sie.

»Ja, Mama, und mit deiner Erlaubnis will ich dir gern meine Gründe auseinandersetzen. Versprich Lieschen vorläufig nur, daß sie nicht einen Beruf gegen ihre Neigung zu ergreifen braucht.«

»Nein, so überrumpelt Ihr mich nicht,« rief die energische Frau, »sie bleibt vorläufig unter meiner Obhut und lernt wirtschaften. Wenn sie ihr achtzehntes Lebensjahr erreicht hat, dann –« sie schwieg und blickte nachdenklich in das erblaßte Mädchengesicht, in die ängstlich auf sie gerichteten Augen: kopfschüttelnd fuhr sie fort: »Ich glaube wirklich, du hast dein Herz daran gehängt. Nun, wir wollen sehen. Nein,« rief sie, als die drei Mädchen sie jubelnd umringten und küßten, »erst muß sie achtzehn Jahre alt sein und sich bewährt haben, denn ich bleibe dabei, ein Mädchen muß vor allen Dingen den Segen des häuslichen Schaffens kennen lernen, dann mag sie sich nach eigener Neigung einen Beruf wählen, wenn es durchaus nicht anders sein kann. Ich denke aber, Lieschen, du wirst noch Vernunft annehmen.«

Lieschen lächelte glückverklärt und schüttelte das dunkle Köpfchen. Sie war ebenso glücklich wie die junge Braut und spann gleich ihr Zukunftsträume, wenn sie auch anderer Art waren. Beide aber gelobten sich an diesem Abend, das eigene Ich immer mehr zu vergessen und sich dem Glücke und dem Wohle anderer zu widmen.


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