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8. Kapitel

Lotte von Karst war ein wenig blaß und recht ernst geworden, was ihr Vater mit großer Unruhe und mit Mißbehagen bemerkte. Er hatte ja gerade die unbesorgte Frische und Fröhlichkeit an ihr besonders geliebt. Aber er machte keine abfälligen Bemerkungen darüber, trotzdem ihm diese Zurückhaltung nicht leicht fiel. Es war ja, wenn man es recht betrachtete, kein Wunder, daß sie allmählich ihre Frische und Fröhlichkeit verlor. Was war das für ein vertrackter Brautstand, den sie führte! Er hatte es ja immer gedacht und auch oft genug gesagt, daß es gar nichts taugt, wenn sich Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten ineinander verlieben oder gar einander heiraten wollen. Das hatte sie nun davon; und nun, wo es zu spät war, machte er sich heftige Vorwürfe, den beiden auch nur so weit entgegengekommen zu sein. Daß er auf seine alten Tage noch so schwach geworden war! Wenn ihm das jemand vorausgesagt hätte! Nie und nimmer hätte er das geglaubt. Aber Lotte war nun einmal sein Verzug. Er kannte sie ja und wußte, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann ließ sie nicht so leicht davon. Da hatte er Schwachkopf lieber gleich nachgegeben, statt sie wieder zur Raison zu bringen und, wenn das nicht gelang, seine väterliche Autorität auszuspielen. Wenn er nun diesen Herrn Dungs einfach aus dem Hause geworfen hätte und Lotte einfach verboten, auch nur an ihn zu denken? Es wäre immer noch besser gewesen als der Zustand, in dem sie sich nun befand. Sie hätte ihm gezürnt, sie wäre böse mit ihm gewesen und hätte eine Zeitlang geschmollt oder dergleichen. Aber mit der Zeit wäre sie wohl wieder gut geworden, hätte die Dummheit vergessen, – und jetzt? Jedenfalls hätte sie sich jetzt nicht mehr mit Sorgen um diesen Herrn Dungs herumschlagen müssen, der nun schon fast ein Jahr lang fort war und nur selten von sich hören ließ.

Gewiß, Java ist weit, und er saß ja auch nicht in der Hauptstadt, von wo ein etwas geordneter Postverkehr möglich gewesen wäre. Er saß ja auf dem Land mitten unter den Wilden, weit, weit ab von jedem europäischen Verkehr. Aber dann hätte er sich eben nicht verloben sollen. Das tut man unter solchen Umständen doch nicht, wenn man ein gewissenhafter Mensch ist. Was er sich eigentlich dabei dachte? So springt man doch nicht mit einer Karst um!

Aber der Alte ließ nichts laut werden von all diesen Gedanken, gar nichts. Nur wurde seine Stimmung dabei nicht besser, und die Arbeiter und Bauern fanden, daß es offenbar nicht mehr ganz richtig mit ihm war im Kopf, weil er mit ihnen gar so viel spektakelte und man ihm gar nichts mehr recht machen konnte.

Dabei war die Ernte in diesem Jahr so gut ausgefallen wie schon lange nicht mehr. Auch der Alte hätte also allen Grund gehabt, zufrieden zu sein. Aber wenn einem die Jahre zu Kopf steigen, dann ist eben nichts mehr zu machen.

Auch mit Hans von Karst war eine Veränderung vor sich gegangen, seitdem er Alfred Dungs kennen gelernt hatte. Aber da sein Vater sowieso schon mürrisch und unzugänglich war, wagte er nicht, mit ihm davon zu reden, obwohl es allmählich Zeit wurde. Er sollte nämlich zum Herbst bei den »Maikäfern« eintreten, wo die Karsts seit altersher gedient hatten. Er wollte aber nicht, ihm schien es viel reizvoller zu sein, wie Alfred Dungs ins Ausland zu gehen und dort etwas zu werden. Es behagte ihm gar nicht auf seiner Klitsche, und es erschien ihm fürchterlich, wohl gar immer auf ihr bleiben zu müssen wie sein Vater. Da war doch das Leben eines großen Kaufmanns ganz etwas anderes. Die Welt sehen, sich mit fremden Völkern herumschlagen, das wäre nach seinem Geschmack gewesen. Und wenn nun Alfred Dungs sein Schwager wurde, so würde ihn der vielleicht in Java gebrauchen können. Er hatte sich alles, was er nur über die niederländischen Kolonien erreichen konnte, gekauft und studierte eifrig über solchen Büchern. Je mehr er sich hineinlas, um so verlockender erschien ihm sein Plan. Ein Glück nur, daß sich der Alte so gar nicht um ihn kümmerte in all der Zeit.

Sowie Alfred Dungs zurück war, würde er mit ihm reden. Bis dahin hieß es, fleißig arbeiten und den Mund halten, denn dem Alten würde er wohl für verrückt gelten, wenn er ihm mit seinen Plänen käme.

Die eigentliche Schuld an dieser Wandlung hatte aber gar nicht Alfred Dungs, sondern die Dengerns, namentlich der Graf, sein Schwager, der sich auf seine freiheitlich-fortschrittliche Gesinnung sehr viel zugute tat und so viel davon zu reden wußte, wie töricht es vom Adel sei, die jetzige Konstellation in Deutschland nicht zu nützen und sich mit aller Kraft auf die Industrie zu werfen. Henckel-Donnersmarck und Fürst Fürstenberg mußten bei solchen Gesprächen herhalten als Exempel, wohin man es bringen könne, wenn man modern sei und zugreife wie sie. Das war doch ein anderes Leben, als einige Jahre Leutnant spielen und dann auf seiner Klitsche versauern; zumal in einer Zeit, wo es keine Kriege mehr gäbe, wie wenigstens Graf Dengern behauptete; eine Behauptung, für die er ja die Entwicklung der letzten vierzig Jahre für sich hatte. Und wenn der alte Karst dann ärgerlich auf den Russisch-Japanischen Krieg und dergleichen hinwies, so lächelte der Graf ein wenig impertinent und behauptete, das seien reine Geschäftskriege und weiter nichts. Andere Kriege würde es überhaupt nicht mehr geben. Solche Geschäfts- und reine Kolonialkriege als Soldaten mitzumachen, sei aber gar nicht die Aufgabe eines modernen Adels, das sei seiner gar nicht würdig. Es sei seiner viel würdiger, bei solchen Kriegen die Geschäfte zu machen und sie nicht andern zu überlassen. Graf Dengern liebte dergleichen ungewöhnliche Aperçus und versteifte sich um so heftiger auf ihre Wahrheit, je einseitiger sie klangen, und je mehr sie von den andern bekämpft wurden.

Wenn Alfred Dungs nur endlich wiederkäme.

Hans von Karst hätte sehr gerne mit Lotte über seine Pläne und Absichten gesprochen, aber er traute sich auch ihr gegenüber nicht recht. Er wußte nicht genau, ob sie nicht mehr der Ansicht ihres Vaters huldigte als der ihres Schwagers, den sie seit einiger Zeit gar nicht mehr leiden mochte. Und dann würde sie ihn beim Vater verklatschen.

Hans von Karst trat ans Fenster. Natürlich, Lotte machte sich schon wieder auf dem Hof zu schaffen, um nur ja den Briefträger zuerst abzufangen. Der war ihr ja nun schon lange die wichtigste Persönlichkeit in der ganzen Gegend, der alte Landbriefträger Schrenk, der es mit seinen Siebensachen gar nicht eilig hatte. Endlich kam er durchs Hoftor gehumpelt, aber Lotte tat, als habe sie es gar nicht bemerkt.

Der alte Schrenk ging direkt auf sie zu, grüßte militärisch und händigte ihr die Post aus. Es war diesmal nicht viel, nur ein paar Zeitungen und ein Brief. Auf seine Augen konnte sich Hans von Karst verlassen.

Lotte schien der Post auch keine größere Bedeutung beizumessen, denn sie schlenderte mit ihr recht langsam ins Haus.

»Es ist nur ein Brief von Ise gekommen,« sagte sie zu ihrem Vater, der ihr entgegenkam.

»An mich oder an Dich?«

Erst jetzt sah Lotte genauer zu und sagte: »An Dich.«

»Dann wollen wir doch gleich einmal sehen, was los ist.« Der Alte nahm sie mit in sein Zimmer, setzte sich eine gewaltige Hornbrille auf und öffnete den Brief.

»Soll ich ihn Dir vorlesen?« fragte Lotte.

»Er ist ja nicht sehr lang,« meinte der Alte, »das bringe ich noch selber zustande.«

Er begann zu lesen und sagte: »Du, sie werden versetzt, schreibt sie. Sie scheinen sehr glücklich darüber zu fein. Nach Berlin sollen sie kommen.«

»Sie hat sich da unten nie wohl gefühlt,« sagte Lotte leise.

»Hör' mal, das hier scheint besonders für Dich bestimmt: Es interessiert Lotte vielleicht, zu hören, daß der älteste Dungs sich mit Helene Momm verlobt hat. Hier ist die ganze Stadt voll davon. Lotte wird Dir erklären können, warum. Sie interessierte sich ja einst ein wenig für diese Familie, und ich bin auch schon so verbauert, daß ich davon schreibe, denn es ist das größte Ereignis seit langem.«

»Wann werden sie denn voraussichtlich versetzt?« fragte Lotte.

»Ise nimmt an, zum Herbst.«

Lotte versuchte zu lächeln. »Dann hast Du uns alle ja wieder ganz in der Nähe.«

Der Alte legte die Hornbrille beiseite und sagte: »Interessiert Dich das mit diesem Anton Dungs?«

»O ja, er ist ja der ältere Bruder von Alfred.«

Der Alte seufzte. »Ich wollte, die ganze Gesellschaft interessierte Dich nicht mehr!«

»Aber, Papa!«

»Nun ja, was hast Du davon?«

»Alfred schrieb neulich, er werde nun bald wieder hier sein.«

»Ich weiß. Aber was dann, Lotte?«

»Wir werden ja sehen, Papa!«

»Ise schreibt fast ein wenig ironisch über die Dungs, findest Du nicht auch?«

»Sie nimmt an, ich habe Alfred Dungs längst vergessen, Papa, deshalb tut sie das.«

»Leider hat sie ja wohl nicht recht?«

»Nein, Papa, sie hat nicht recht. Aber ich bin froh, daß sie es nicht weiß. Was sie mich sonst wohl schon geplagt hätte dies ganze Jahr über!«

»Und Dengerns haben wir auch nicht informiert,« sagte der Alte vorwurfsvoll.

»Hatte ich nicht recht, als ich Dich damals darum bat? Sie waren durchaus nicht nett zu Alfred Dungs, als sie merkten, er sei nicht mehr ein Herz und eine Seele mit seinem Vater.«

»Dann hätte ich in ihnen doch eine Hilfe!« meinte der Alte.

Lotte lächelte müde. »Du meinst, eine Hilfe gegen mich, nicht wahr?«

»Du reibst Dich ja auf, Lotte, das ist er ja gar nicht wert!«

»Wie kannst Du das sagen, Papa!«

Sie trat zum Fenster und rief: »Ein Telegraphenbote!«

»Die sind doch seit einem Jahr nichts Neues mehr hier, daß Du Dich so zu verwundern brauchst!« knurrte der Alte.

Sie sah ihn fragend an.

»Also geh' schon und hol' Dir Dein Telegramm. Wir anderen kriegen ja doch keine.«

Lotte lief aus dem Zimmer und kam schon nach einer Minute ganz atemlos wieder herein. »Er ist schon in London!« rief sie und war hochrot.

»Na also, da werden wir ja bald den Vorzug haben,« knurrte Herr von Karst.

»Es steht alles gut, telegraphiert er,« sagte Lotte und fiel ihrem Vater weinend um den Hals und küßte ihn immer wieder.

Mein Gott, wie leidenschaftlich, wie erregt das dumme Ding ist, dachte der Alte. Das ist ja schrecklich.

Hans klopfte an und trat ein. »Ich sah den Telegraphenboten,« sagte er wie zur Entschuldigung.

Lotte schlang nun die Arme um ihren Bruder und küßte ihn. »Er ist schon in London,« sagte sie, »er wird also bald hier sein.«

»Dann gratuliere ich herzlich,« entgegnete der Bruder. »Das war wirklich nicht mehr länger zum Ansehen, Lotte!«

»Aber ich habe doch gar nichts gesagt!« sagte Lotte mit lachendem Gesicht, während ihr noch die Tränen in den Augen standen.

»Eben deshalb war es nicht mehr zum Ansehen!« antwortete der Bruder.

»Er hat ganz recht,« knurrte der Alte.

»Wie gut Ihr zu mir seid, und wie viel Geduld Ihr mit mir gehabt habt die ganze Zeit,« meinte Lotte ganz beschämt.

»Was soll man machen, wenn man Dich so sieht,« sagte Hans, packte sie und schwang sie im Kreise. »Jetzt hört das aber auf, jetzt bist Du wieder die lustige Lotte.«

»Ich bin ja so glücklich!« stammelte sie.

Der Alte war doch ein wenig konsterniert. Die ganze Zeit war sie so ruhig gewesen, und nun diese Leidenschaftlichkeit. Wie konnte sie nur, gerade sie, ihr Herz so völlig verlieren. Der Alte ächzte vernehmlich.

»Papa, geh', sei lieb. Nun wird ja alles gut.«

Der Alte brummte etwas und verließ sein Zimmer. Er hatte im stillen doch gehofft, sie werde Vernunft annehmen, wo der Mensch nun schon fast ein Jahr fort war. Er hatte gehofft, sie werde ganz von selbst einsehen, daß dies auf die Dauer einfach nicht ging, und deshalb sei sie so blaß und still geworden. Und nun war es doch die alte Geschichte. Durfte er nun noch seine väterliche Autorität dagegen in die Wagschale werfen? Er hatte doch wieder eben erst ganz deutlich mit ansehen müssen, wie tief es bei ihr saß.

Am Nachmittag kam schon wieder ein Telegramm.

»Telegraphiere ihm, er soll das gefälligst lassen, er macht uns ja lächerlich.«

»Aber Papa, das Telegramm ist ja gar nicht von Alfred Dungs!«

»So? Von wem denn?«

»Von seiner Mutter.«

»Das wird ja immer schöner!« rief der Alte ernstlich erzürnt. »Kann die Dame nicht schreiben, wenn sie Dir etwas zu sagen hat? Wir sind hier doch nicht in einem Handelskontor!«

Lotte trat zu ihm und streichelte ihn. »Aber, Papa, warte doch mit Deinem Aerger, bis Du erst weißt, weshalb sie telegraphiert.« Sie lächelte ihn an.

»Du bist, weiß Gott, schon wieder gerade so ... so dreist wie früher,« sagte Herr von Karst und versuchte, recht böse dreinzusehen, was ihm aber nur schlecht gelang.

»Sie telegraphiert nämlich, sie sei unterwegs hierher.«

»Was?« Herr von Karst sprang auf. »Kommt uns denn die ganze Familie über den Kopf? Das wird ja immer schöner!«

Hans von Karst amüsierte sich köstlich über die Art seines Vaters. Wie wild er tat, und war von Lotte doch um den Finger zu wickeln. Wie sie das nur anstellte? Es war einfach fabelhaft. Aber gerade deshalb tat er so wild. Er wußte, daß es ihm nichts nützte.

»Was mag das nun wieder für eine Dame sein?« stöhnte Herr von Karst.

»Ich weiß es wirklich nicht, Papa.«

»Und wann wird sie hier sein?«

»Das weiß ich auch nicht, Papa.«

»Dann hätte sie das doch vor allem telegraphieren sollen, wenn sie schon telegraphiert!« Der Alte brummte etwas von Weibern, die nicht wüßten, was sich gehöre. Aber Lotte tat einfach so, als ob sie es nicht hörte.

»Ich gehe nicht auf die Bahn, darauf kannst Du Dich verlassen,« sagte Herr von Karst, »wenn sie nicht einmal den Zug angibt ...«

Lotte schwieg.

»Und Du läufst mir auch nicht zu jedem Zug, verstehst Du? Sie soll gefälligst mitteilen, wann sie ankommt, wenn sie uns schon beehren will.«

»Das tut sie wohl auch noch,« beschwichtigte Lotte.

»Also noch ein Telegramm zu erwarten!« stöhnte Herr von Karst.

Aber es kam kein Telegramm, sondern am anderen Morgen gegen elf Uhr fuhr ein sehr mondaines Auto, ausgestattet wie ein Boudoir, ein wenig ächzend über die bösen Wege langsam in den Hof. Das war hier noch ein seltener Anblick, und so stand denn vor dem Tore die ganze Jugend der umliegenden Dörfer, und auf dem Hof sammelte sich alles, was irgend abkommen konnte von Knechten und Mägden, ebenfalls in einem Augenblick um das fauchende Ungeheuer.

»Man meint, die Komödianten kämen!« brummte Herr von Karst und hängte sich weit zum Fenster hinaus.

»Aber Papa, Du mußt doch mit hinunter kommen!« sagte Lotte erregt.

»Fällt mir ja gar nicht ein!« brummte der Alte, »erst will ich wissen, was sich da eigentlich aus den Decken und Tüchern heraus entwickelt. Vorläufig sieht es noch aus wie eine Vogelscheuche, und Du weißt, alte Weiber kann ich nicht leiden.«

Mit dem Papa war wirklich nichts anzufangen, und so eilte denn Lotte schleunigst auf den Hof, wo Hans von Karst gerade an das Auto trat.

» Un moment, monsieur, gleich sind wir so weit,« sagte Madame Adele, warf die letzte Decke von sich und ließ sich von ihrem Diener Jean die Schleier vom Hut lösen.

»Angenehme Wege haben Sie,« meinte sie derweil zu Hans von Karst. »Ich bin wirklich froh, den Vicomte daheimgelassen zu haben.«

Hans von Karst verbeugte sich. Das schien ja wirklich eine kuriose Dame zu sein.

Nun stand auch Lotte am Wagenschlag.

» Bon jour, ma petite, einen Augenblick noch, gleich bin ich so weit. Jean, klopfe die Decken aus, sie haben es nötig, und Jacques soll sofort die Maschine nachsehen, hören Sie?«

Der Chauffeur nickte.

»Es wäre kein Wunder, wenn sie streikte und den Kampf mit diesen horriblen Wegen endgültig aufgäbe.«

Hans von Karst half der Dame, die nun sehr stattlich aussah, galant aus dem Wagen. Madame Adele blieb einen Augenblick prüfend vor Lotte stehen, dann faßte sie Lotte an der Schulter, zog sie näher zu sich und küßte sie auf beide Wangen.

»Alfred hat mir viel von Ihnen erzählt, aber Sie sind eigentlich noch hübscher, als ich erwartet habe.« Madame Adele küßte Lotte auf die Stirn. Lotte küßte ihr die Hand.

»Ihren Arm, bitte,« wandte sie sich an Hans von Karst. So schritten sie, Madame Adele in der Mitte, dem Hause zu. Der Alte war vom Fenster verschwunden.

»Darf ich mir erst einmal bei Ihnen die Hände waschen, petite

Lotte nahm Madame Adele mit auf ihr Zimmer.

Kaum waren sie dort, zog Madame Adele Lotte auf ihren Schoß. » Pauvre petite, Sie haben viel Kummer gehabt. Das arme Herz! Aber nun ist das vorbei. Nun werden wir alle sehr vergnügt sein. Anton Dungs junior« – sie verzog den schönen Mund – »er soll es büßen, daß er schuld ist an so viel Sorgen.«

Madame Adele machte ein wenig Toilette und erzählte Lotte derweil, wie sie schon längst vorgehabt habe, sie aufzusuchen, aber bisher nicht dazu gekommen sei.

»Ich war sehr eifersüchtig, ma petite

Lotte lächelte leise. Eine originelle Dame, diese Mutter Alfreds.

Madame Adele erzählte weiter, wie sie dann den Besuch aufgeschoben habe, bis sie wußte, daß Alfred auf dem Heimweg sei.

»Es tut mir so leid, wenn ich traurige Menschen sehe, petite, und Sie sind gewiß recht traurig gewesen, daß er so lange fortgeblieben ist, nicht wahr?«

Eine Antwort Lottes wartete sie gar nicht ab, sondern bemerkte, nun sei sie hier, um Lotte zu entführen. Alfred müsse nämlich von Antwerpen gleich nach Maastricht fahren, wo die Kufferaths ihr Domizil hätten, und dorthin wolle sie ihm nun die Braut bringen, damit er gleich eine hübsche Ueberraschung habe.

Lotte erschrak ein wenig.

»Sie brauchen sich gar nicht zu fürchten, petite, ich bin ja bei Ihnen.«

»Aber mein Papa,« wandte Lotte zaghaft ein.

»Ihr Papa? Ist er sehr alt und altmodisch?«

Lotte lächelte.

»Alte Männer sind mir im allgemeinen nicht sehr sympathisch, namentlich, wenn sie nicht Franzosen sind.«

Nun mußte Lotte lachen. Alfreds Mutter war wirklich recht originell, und es reizte sie, trotzdem es sich gewiß nicht schickte, aber es ging nicht anders, sie mußte es sagen: »Papa mag übrigens ältere Damen im allgemeinen auch nicht sehr gerne.«

»So, so, da hat er recht, das gefällt mir an ihm. Dann werde ich schon mit ihm fertig werden,« erwiderte Madame Adele.

Lotte küßte Madame Adele, um Verzeihung bittend, die Hand.

»Aber, petite, ich liebe es sehr, wenn man offen zueinander ist, wo es not tut, und jetzt tut es doch not, damit ich bei Ihrem Papa erreiche, worauf es mir ankommt. Da müssen wir schon offen sein und zusammenhalten, nicht wahr?«

Lotte fand Madame Adele, die immer noch mit ihrer Toilette beschäftigt war, außerordentlich nett. Aber wie ihr Vater sie finden würde, davor fühlte sie doch ein leises Bangen.

»Also, ma petite, nun gehen wir gleich in die Höhle des Löwen, nicht wahr? Ich meine, zu Ihrem Papa. Ich habe keine Angst vor ihm, Sie brauchen gar nicht so ängstlich dreinzusehen. Ich war mit Anton Dungs verheiratet, das dürfen Sie nicht vergessen. Schlimmer wird Ihr Papa auch nicht gut sein können.«

Lotte lachte laut und von Herzen. Es ging wirklich so etwas Angenehm-Natürliches und Keckes von Madame Adele aus.

» Allons, petite

Herr von Karst erhob sich steif und förmlich von seinem Stuhl und musterte die Dame sehr kritisch unter seinen dichten Brauen hervor.

Madame Adele ließ sich eine ganze Weile ruhig betrachten und streckte ihm die Hand hin. » Mon cher baron, nun werden Sie wohl wissen, wie ich aussehe, denke ich. Ich für meine Person freue mich, Sie kennen zu lernen, was Sie Ihrerseits aber noch gar nicht zu sagen brauchen.«

Herr von Karst küßte ihr, leise lächelnd, die Hand.

»Ich glaube, Madame ...«

»Bitte, sagen Sie noch nichts, Monsieur le baron, Sie bereuen es sonst gleich wieder, denn ich werde Ihnen gleich sehr unangenehm sein müssen.«

Er sah sie fragend und verwundert an.

»Ich will Ihnen nämlich Ihre Kleine entführen,« sagte Madame Adele, direkt auf ihr Ziel losgehend.

Der Alte machte mit eins wieder ein sehr zugeknöpftes Gesicht.

»Sehen Sie, ich wußte es ja, man soll nichts übereilen, auch ein Kompliment nicht,« meinte Madame Adele seelenruhig.

Um die Lippen des Alten zuckte es wieder verräterisch.

»Es ist wohl am besten, wir setzen uns, cher baron, im Sitzen wird man nicht so leicht heftig. Man echauffiert sich nicht gerne in einem bequemen Stuhl, nicht wahr?«

Man nahm Platz, und Madame Adele setzte Herrn von Karst kurz auseinander, daß sie Lotte mit nach Maastricht zu nehmen gedenke, und erklärte ihm auch, aus welchen Gründen sie das für zweckmäßig halte.

Der Alte war einfach konsterniert über die Art dieser resoluten Dame, die die unglaublichsten Dinge in einer Weise vorbrachte, als handle es sich um das Selbstverständlichste von der Welt. Er hatte einige Mühe, um nicht heftig zu werden und grob. Aber etwas an der Art dieser Dame machte ihn wehrlos. Er war im allgemeinen mehr gefürchtet als geliebt. Daß diese Dame so gar keine Furcht zeigte, das machte ihn wehrlos.

Da er nicht grob werden konnte, meinte er ein wenig boshaft, Madame Adele möge ja vielleicht von ihrem Standpunkt aus nicht unrecht haben, aber das sei doch wohl ein französischer Standpunkt, und er sei nun einmal ein Deutscher und könne es nicht gutheißen, daß Lotte einen solchen Schritt tue, der ihm einfach unpassend vorkomme.

Madame Adele wandte sich an Lotte: »Sehen Sie, ma petite, was habe ich Ihnen gesagt? Genau so dachte ich es mir. Die Deutschen sind gar zu schwerfällige Leute.«

Der alte Karst meinte, das sei immer noch besser als das Gegenteil.

»Sie meinen leichtfertig, nicht wahr?« Wie Madame Adele ihn anblitzte.

Der Alte nickte bestätigend.

»Sehen Sie, cher baron, nun sagen wir uns schon Bosheiten. Dann haben wir das Schlimmste hinter uns. Und nun entschuldigen Sie mich einen Augenblick, und Ihr Sohn wird so liebenswürdig sein, mich in den Hof zu begleiten. Ich möchte nämlich meinen Chauffeur anweisen, nach Berlin zurückzufahren. Ich fahre dann heute abend mit der Bahn, wenn Sie mich durchaus schon heute wieder los sein wollen. Jedenfalls möchte ich mich nicht noch einmal Ihren Wegen hier aussetzen.«

Hans von Karst sprang auf, und Madame Adele rauschte an seinem Arm hinaus.

Lotte saß geduckt und ein wenig erschreckt auf ihrem Stuhl.

»Dem Jungen hat sie ja nun glücklich schon den Kopf verdreht!« brummte der Alte.

Lotte schwieg.

»Das ist ja ein ganz unglaubliches Frauenzimmer!« knurrte der Alte.

Lotte schwieg.

»Sie fällt uns ja ins Haus wie ein alter Feldwebel im Manöver!«

Er trat ans Fenster. »Und da draußen kommandiert sie jetzt wie'n Regimentskommandeur. So sage doch auch ein Wort, Lotte.«

Aber Lotte schwieg.

»Wie denkst Du denn eigentlich über ihren Vorschlag?«

»Aber, Papa, das kannst Du Dir doch denken!«

»Höchste Zeit, daß man den Sargdeckel über mir zuklappt,« brummte der Alte.

»Aber, Papa, ich bitte Dich.« Sie trat zu ihm.

»Es ist doch wahr!« rief Herr von Karst indigniert.

»So, cher baron, da wären wir wieder. Mein Kompliment, Ihr Sohn ist ein perfekter Kavalier.«

»Den Kopf haben Sie ihm verdreht,« knurrte der Alte.

»Ach, wirklich? Wie nett ist das.« Sie reichte Hans von Karst die Hand.

»Sie meinen sicher, ich solle mich darüber nicht mehr freuen, cher baron, nicht wahr? Ich sei nicht mehr jung genug dazu. Aber wissen Sie, darin bleiben wir Frauen immer jung. Wir lassen uns alle gerne ein wenig den Hof machen, auch wenn wir graue Haare bekommen. Alter schützt vor Torheit nicht, sagen Sie es nur, cher baron. Es steht deutlich auf Ihrem Gesicht geschrieben. Uebrigens, Sie könnten ja mitfahren, wenn Ihnen das lieber ist.«

»Ich?« Der Alte war sehr entsetzt. »Womöglich im Auto, nicht wahr? Damit meine alten Knochen vollends aus dem Leim gehen.«

»Wir fahren bis Aachen mit der Bahn. Von da ist es nur noch ein ganz kleines Stück mit dem Auto, ganz ungefährlich.«

»Ich danke bestens,« knurrte Herr von Karst.

»Dann geben Sie uns vielleicht Ihren Sohn mit, cher baron, wenn ich Ihnen nicht Schutz genug bin für Ihre Kleine.«

Hans von Karst strahlte.

»Daraus wird nichts,« sagte Herr von Karst energisch, und sein Sohn ließ betrübt den Kopf hängen.

Eine Weile schwiegen alle, dann meinte Madame Adele: »Also schön, cher baron, Sie haben meine Attacken bis jetzt erfolgreich zurückgeschlagen, das muß ich leider zugeben. Ich hatte das nicht erwartet. Sie halten das vielleicht für ein Kompliment für sich. Aber wir können ja einen Waffenstillstand eintreten lassen, wenn es Ihnen recht ist. Denn nun hätte ich eine Bitte an Sie.«

Herr von Karst ermunterte sie unsicher.

»Ich meine es ganz ehrlich, cher baron, ich möchte mir Ihr Gut ein wenig ansehen unter Ihrer Anleitung. Sie meinen, dahinter steckt eine Kriegslist? Ich versichere Sie, das ist nicht der Fall. Sie werden kein Wort von mir über Maastricht zu hören bekommen.«

Herr von Karst erhob sich und verließ mit Madame Adele das Zimmer.

»Das ist ja ein Prachtstück von einer Dame!« sagte Hans von Karst begeistert. »Darauf kannst Du Dich verlassen, die kriegt auch den Alten noch herum.«

»Meinst Du wirklich?«

»Darauf lege ich jetzt schon jeden Eid ab. So was Resolutes mag er, und sehr hübsch ist sie eigentlich doch auch. Oder findest Du nicht?«

»O ja, gewiß,« antwortete Lotte.

»Mehr braucht's doch bei dem Alten nicht,« behauptete der Bruder. »Ich ärgere mich nur darüber, daß ich nicht mit darf, ich hätte sehr gerne jetzt schon mit Alfred Dungs gesprochen.«

»Du?« fragte Lotte erstaunt.

Und nun setzte er seiner Schwester zu deren Entsetzen auseinander, was er vorhabe.

»Um Gottes willen, Hans, das ist fürchterlich für Papa!«

»Ich stecke mich hinter die resolute Dame, die wird es ihm schon mundgerecht machen,« sagte Hans.

»Mein Gott, Junge, auch das noch! Das ist zu viel für ihn!«

»Du brauchst Dich gar nicht aufzuregen, Lotte, ich werde ihm schon nicht mit der Tür ins Haus fallen, schon Deinetwegen nicht, darauf kannst Du Dich verlassen!«

»Wie kannst Du nur auf so eine Idee kommen?«

»Aber, Lotte, ich verstehe Dich nicht. Du willst einen Kaufmann heiraten, Du hast also doch gewiß keine Vorurteile, oder wie ich den Unsinn sonst nennen soll, und nun tust Du so?«

»Aber Papa wird mich auch dafür verantwortlich machen,« sagte Lotte verzweifelt.

»Wenn er schon jemand verantwortlich machen will, dann soll er dem Dengern damit kommen,« erklärte Hans gereizt. »Der predigt ja nichts anderes, wenn er hier ist.«

Hans erhob sich, nahm seine Schwester am Arm und ging mit ihr hinaus.

»Du scheinst Dir Alfreds Mutter zum Vorbild zu nehmen,« meinte Lotte.

»Tue ich auch. Und ich werde schließlich auch noch durchsetzen, was ich will.«

Lotte schüttelte traurig den Kopf. Der arme, alte Vater, was der noch alles erleben mußte!

»Solange das mit Dir und Alfred Dungs nicht ganz in Ordnung ist, rede ich kein Wort,« beruhigte Hans seine Schwester. »Meinst Du, ich wäre ein solcher Egoist? Ich wollte Euch die Situation verderben? So dumm bin ich schon nicht. Alfred Dungs kann mir ja bei meinem Vorhaben nur nützlich sein und helfen.«

Lotte sah ihren Bruder verwundert von der Seite an. Wie hatte sich der denn mit einemmal verändert? Nun ging ja schon wirklich alles aus den Fugen.

Bei Tisch meinte Madame Adele lächelnd: » Cher baron, Sie haben mich bei unserem Gang auf Herz und Nieren geprüft wie der liebe Gott, und als wäre ich ein kleines Mädchen, das zur ersten Kommunion vorbereitet werden soll; und ich will Ihnen nur gestehen, das war auch ein Grund, weshalb ich gerne für eine Weile mit Ihnen allein sein wollte. Ich dachte mir doch, daß es so ähnlich kommen würde, und ich verdenke Ihnen das als Papa auch gar nicht. Aber ich habe doch wirklich kein Wort über Maastricht gesagt, nicht wahr? Ich hatte es auch gar nicht nötig. Und nun sagen Sie mir offen und ehrlich, bin ich so schlimm, daß Sie mir Ihre Kleine nicht anvertrauen können?«

Der alte Karst lachte. »Sie sind mir wirklich zu schlau, Ihnen bin ich nicht gewachsen.«

»Sie brauchen sich dessen nicht zu schämen, cher baron, kein Mann ist einer Frau gewachsen auf die Dauer.«

Herr von Karst seufzte ein wenig kläglich. »Sie sind wirklich gefährlich, ich hätte mich lieber gar nicht auf den Gang einlassen sollen. Wenn meine Frau noch lebte ...«

»Wenn Ihre Frau lebte, cher baron, brauchten wir uns nicht miteinander so zu quälen. Ihre Frau würde mir unbedingt recht geben, denn Frauen empfinden in solchen Dingen natürlicher.«

»Aber was wird man sagen ...«

Madame Adele unterbrach ihn sofort. »Holland ist weit, cher baron. Ich möchte wirklich wissen, wer da etwas sagen sollte!«

»Müssen wir uns denn sogar beim Essen ...,« seufzte Herr von Karst.

»Sie haben ganz recht, cher baron, ich schweige schon, und damit Sie mich recht bald wieder los werden, werde ich der Kleinen nach Tisch packen helfen. Das wird am besten sein, und wir verlieren kein Wort mehr darüber.«

»Aber! ...

»Wir wollen doch bei Tisch nicht mehr davon sprechen, nicht wahr?«

Herr von Karst ließ Messer und Gabel sinken. »Sie sind wirklich ...«

»Sagen Sie es nur, cher baron, mein Mann hat es auch immer gesagt ...«

»Ich ... ich strecke die Waffen, ich kann nicht mehr.«

» Merci bien, baron.« Sie hielt ihm lächelnd die Hand hin. »Sie können wirklich ganz scharmant sein, wenn Sie nur wollen.«

»Offengestanden, ich wollte gar nicht ...«

»Aber, cher baron, machen Sie sich doch nicht schlechter, als Sie sind. Sie werden mir doch nicht meine erste Bitte abschlagen? Daran haben Sie doch nie im Ernst gedacht? Oh non, so sind auch die Deutschen nicht.«

»Also reden wir nicht mehr davon,« sagte Herr von Karst.

»Sie haben ganz recht, cher baron, ich danke Ihnen nochmals.«

Was sollte er anfangen? Er küßte ihr die Hand, brummte etwas und gab nach.

Noch an demselben Abend fuhr Lotte mit Alfreds Mutter nach Berlin. Herr von Karst hatte dagegen Einwendungen erhoben, aber auch das half ihm nichts. Madame Adele sagte, sie bliebe gerne noch länger hier, denn es gefalle ihr jetzt sehr gut, aber der cher baron müsse doch einsehen, es ging nicht wohl an, wenn die Ueberraschung, um derentwillen sie doch vor allem hierher gekommen sei, gelingen sollte. Aber sie käme gerne einmal wieder, wenn es dem cher baron recht sei. Daraufhin lud Herr von Karst sie sogar feierlich ein, denn er behauptete, Madame Adele habe eine Art, die einen frisch erhalte und nicht alt werden lasse. Das könne er brauchen. Sie waren im besten Komplimentemachen, als der Telegraphenbote schon wieder erschien. Diesmal mit einer Depesche von Alfred. Herr von Karst konnte beim besten Willen einen Fluch nicht unterdrücken. Aber Madame Adele nahm das durchaus nicht übel, sondern fand, der cher baron sei nun wirklich hinreichend gequält worden, und sie gab dem Boten gleich eine Depesche an Alfred mit, in der sie ihn bat, das nun gut sein zu lassen, da sie hier sei, alles in schönster Ordnung fände und dafür sorgen wolle, daß er Lotte, sobald es irgend ginge, wiedersähe.

»Ist es so recht, cher baron

»Ich danke Ihnen,« sagte Herr von Karst. So weit war es schon mit ihm gekommen.

Vater und Sohn brachten die beiden zur Bahn, und als der Stationsvorsteher herankam, weil man nun wirklich abfahren müsse, küßte Herr von Karst seine Lotte noch schnell auf die Wange und Madame Adele schon wieder die Hand.

Als die beiden Damen in Berlin ankamen, fuhren sie sogleich zum Kaiserhof, wo sie übernachteten. »Wenn es so schön draußen ist, fahre ich des Nachts nicht gerne, petite. Es ist Dir doch recht?«

Lotte umarmte ihre neue Mama, wie sie Madame Adele jetzt nannte.

»So ist es recht, petite. Nun werde ich auch gar nicht mehr eifersüchtig sein.«

In aller Herrgottsfrühe beim schönsten Sonnenschein machten sie sich dann nach Aachen auf den Weg, und sie hatten sich so viel zu erzählen, und Madame Adele war so munter und wußte so viel amüsante Geschichten, daß sich Lotte wie in einer neuen, sehr hübschen Welt vorkam und die Bahnfahrt keinen Augenblick langweilig fand.

In Aachen waren Jean und Jacques schon bereit zur Weiterfahrt nach Maastricht.

»Aber wie können sie denn schon hier sein?« fragte Lotte verwundert.

Madame Adele lächelte verschmitzt. »Ich habe sie gleich nach hier geschickt mit dem Zug. Ich wußte ja doch, daß Dein Papa nachgeben würde. Ich mochte es nur nicht gleich sagen. Die Männer nehmen das leicht übel, nicht wahr? Man muß auf ihre Eigenheiten auch ein bißchen Rücksicht nehmen, wenn es nichts schadet.«

»Aber bist Du denn gar nicht müde, Mama? Wollen wir nicht erst ein wenig ausruhen?«

» Oh, ma petite, wo denkst Du hin! Ich müde? Wenn ich müde bin, sterbe ich. Oh non, ma petite.«

So ging es denn von Aachen im Automobil gleich weiter über Vaals und Gulpen durch fruchtbares holländisches Flachland nach Maastricht. Die Wiesen standen im saftigsten Grün, das Buschwerk entfaltete die ersten Blätter, die noch so jung und zart waren, die Sonne spiegelte sich in den Gräben, hinter denen man schon das Vieh zur Weide gelassen hatte. O, wie jung und reizend war die Erde! Und wie sauber und adrett die kleinen holländischen Dörfer und Städte. Wie aus der Spielzeugschachtel gerade herausgenommen. Und überall vor den kleinen Fenstern auf blütenweißen Brettchen erste Frühlingsblumen, die bei dem leichten Wind, der vom Meere her kam, leise mit den bunten Köpfen nickten.

»Wie ist es hier hübsch!« sagte Lotte leise und überwältigt.

Madame Adele streichelte leise ihre Hand. Das Kind war wirklich rührend. Was würde sie noch für Augen machen, wenn sie erst mehr von der Welt sah, der schönen, weiten, weiten Welt. Wie war Alfred darum zu beneiden, ihr das alles noch zeigen zu können.

Das Auto fuhr langsamer durch eine größere, sehr regelmäßige, sehr saubere Stadt, die, nach manchem alten Haus zu schließen, trotz ihrer peinlichen Sauberkeit auch schon recht alt sein mußte.

»Jetzt mache Deine hübschen blauen Augen recht weit auf, ma petite, wir sind in Maastricht und gleich bei der Maatschappij Kufferath. Du verstehst das Wort nicht? Ich meine die Handelsgesellschaft Kufferath. Von den Kufferaths habe ich Dir doch schon genug erzählt.«

Lotte nickte und sah mit großen Augen um sich.

»Nun geht es über die schöne, alte Steinbrücke nach Wijk. Siehst Du, das da unten, das ist die Maas. Nun sind wir gleich da. Ich bin nur neugierig, was sich meine drei Bären zu unserem Empfang ausgedacht haben. Du wirst Dich wundern, was das für lustige Bären sind!«

Madame Adele richtete sich halb auf im Wagen. »Siehst Du dort die drei schmucken lustigen Häuser hart an der Maas? Da wohnen die drei Kufferaths. Wundert mich nur, daß niemand von ihnen zu sehen ist. Sonst lungert doch immer einer im Fenster. Sie haben sich sicher etwas Besonderes ausgedacht.«

Der Wagen fuhr in einem scharfen Bogen vor den drei schmucken Häusern, von denen jedes aussah wie das andere, vor. In demselben Augenblick aber fing ein Musikkorps gewaltig an zu blasen.

Madame Adele lachte laut und hielt sich die Hände vor die Ohren. »So ein Spektakel! So ein Spektakel!«

Die Kinder liefen auf der Straße zusammen und lachten und schrien hurra! Jetzt tauchten im Hintergrund auch die drei Kufferaths auf, schwenkten gewaltige Taschentücher und schrien durcheinander. Vor lauter Blechmusik konnte man aber nichts verstehen. Man sah nur die lachenden Gesichter, die winkenden Arme. Madame Adele hatte auch ihr Tüchlein gezogen und winkte heftig. Die Musik blies einen Tusch, und die drei Kufferaths stürzten herbei. Lotte war ganz verwirrt.

» Mais, voyez donc, Ihr tötet mich ja!« rief Madame Adele lachend. »Au, Monsieur Joseph, ich bin doch kein zwanzigjähriges Mädchen, daß Sie mir durchaus auf den Fuß treten müssen? Mais, mes amis, was fangt Ihr mit mir an? Schämt Ihr Euch nicht? Ich bin doch nicht allein!«

Aber das half Madame Adele gar nichts, die Kufferaths hatten sich ihrer nun einmal bemächtigt und trugen sie fast zu den Häusern.

»Jetzt ist es genug, Ihr Bären, sonst werde ich böse!«

Aber schon wieder setzte die Musik ein und machte einen solchen Lärm, daß sich Madame Adele nicht mehr durch Worte verständlich machen konnte. Sie winkte nur heftig, daß Lotte näher käme, was sie denn auch tat.

Madame Adele zog Josua Kufferath näher heran und rief ihm zu, die Holländer seien gewiß prächtige Menschen und ausgezeichnete Kaufleute, aber schlechte Musikanten, er solle ihnen endlich die Blaserei verbieten.

Da stürzten sie alle drei zu den Musikanten und bedeuteten ihnen, daß es nun genug sei. Schmunzelnd zogen sie ab.

Erst jetzt gelang es Madame Adele, den Brüdern Lotte von Karst vorzustellen.

Sie drückten ihr kräftig und kameradschaftlich die Hand und sagten ihr alle zugleich, wie sie Bescheid wüßten und sich freuten, sie auch hier zu haben, und was das wieder für eine glänzende Ueberraschung sei, die sich Madame Adele da ausgedacht habe. Es sei auch schon ein Telegramm von Herrn Dungs da, und mit dem letzten Schnellzug von Antwerpen werde er eintreffen.

» Mais, mes amis, Ihr macht das Kind ja ganz wirbelig im Kopf. Seht Ihr das denn nicht? Sie weiß ja nicht, ob sie lachen oder weinen soll? Ruhe, wenn ich bitten darf, man versteht ja sein eigenes Wort nicht. Ihr seid ja noch schlimmer als Eure holländische Musik! Wohin geht es denn jetzt mit uns, daß wir uns den Staub ein wenig von den Kleidern schütteln?«

Die drei Brüder geleiteten die beiden Damen nun feierlich zu einem der drei Häuser, Jakob trat auf die Schwelle und erklärte in einer kleinen Rede, weil sie sich so gefreut hätten, daß Madame Adele wieder einmal da sei und auch noch einen Gast mitgebracht habe, so hätten sie den beiden Damen dies Haus eingeräumt und wohnten jetzt selbdritt in den beiden andern.

»Sind Sie nicht reizend?« fragte Madame Adele Lotte lächelnd. »Wir danken Euch, Ihr Kavaliere, und nehmen Euer Anerbieten um so lieber an, mes amis, weil Ihr in meinem Haus wenigstens nicht solchen Spektakel machen werdet, Ihr Bären!«

Jakob und Joseph blieben zurück, und Josua machte die Honneurs, denn es war sein Haus, das er den Damen abgetreten hatte ...

Es war das reine Museum, vollgepfropft mit den schönsten chinesischen und javanischen Dingen. So viel Schönes hatte Lotte noch nie beieinander gesehen.

»Also, mon ami, eine halbe Stunde wollen wir uns nun von Euerm Spektakel erholen. Wenn wir so weit sind, melden wir uns.«

Josua nickte und empfahl sich.

»Wie nett sie für alles gesorgt haben, sieh nur! Es sind doch prächtige Bären!«

Eine Stunde später saß man in dem zweiten Haus, das Jakob Kufferath gehörte, gemütlich beim Vesper. Der Lärm der Brüder hatte sich ein wenig gelegt, denn während sie allein gewesen, war einer über den anderen mit Vorwürfen hergefallen, er habe sich viel zu geräuschvoll benommen, das Trommelfell von Fräulein von Karst sei dem nicht gewachsen, sie habe augenscheinlich Nerven, und jeder forderte den anderen kategorisch auf, hinfort darauf gefälligst Rücksicht zu nehmen. So gaben sich denn alle drei redlich Mühe, zart und leise zu sein, was ihnen gewaltige Anstrengungen kostete, denn es galt ja noch eine ganze Menge zu beraten, worüber jeder seine eigene Meinung besaß.

Vor allem: wer sollte Alfred Dungs abholen? Es war ganz klar, daß die Sache so angelegt werden mußte, daß er möglichst von der Anwesenheit seiner Braut überrascht wurde. Es herrschte also darüber Einigkeit, daß jedenfalls Lotte von Karst ihn nicht abholte.

Aber sollten die Brüder alle zusammen ihn abholen oder nur einer von ihnen? Und wenn nur einer, welcher? Und sollte dann Madame Adele mit zur Bahn fahren oder zu Hause bleiben?

Darüber stritten sie hin und her, ohne viel Spektakel dabei zu machen, bis Madame Adele meinte, am angemessensten sei es wohl, wenn sie allein ihren Sohn von der Bahn abhole und die Kufferaths ihn hier im Hause erwarteten.

Die Brüder waren im ersten Augenblick durchaus nicht erbaut von dieser Lösung. Sie fanden, Alfred Dungs sei doch auch in ihrem Interesse so lange fort gewesen, und schon deshalb gehöre es sich, daß sie ihn schon auf der Bahn begrüßten, oder wenigstens einer von ihnen.

»Ihr seid wirklich schwer von Begriff, mes amis, daß ich Euch das noch lange erklären muß. Ich, seine Mutter, will ihn die ersten Minuten für mich allein haben, denn dann ist er ja doch nicht mehr für mich allein da. Nimmst Du mir das sehr übel, ma petite

Lotte lächelte.

Die Kufferaths erklärten, nun seien sie einverstanden und würden Alfred Dungs also daheim erwarten. Wie solle es denn nun aber mit der Braut werden?

Josua Kufferath schlug vor, sie solle sich hier irgendwo verstecken, hinter einem Vorhang oder so, und, wenn man dann beim Weine saß, plötzlich hervortreten.

»Daß er an der Ueberraschung erstickt,« meinte Madame Adele ruhig. »Man merkt, daß Ihr nicht verlobt seid, Ihr Bären.«

Jakob hatte sich eine noch wildere Sache ausgedacht. Bei den alten Römern brachte man doch ganze Menschen in einem Blumenkorb verborgen auf den Tisch. Etwas Aehnliches könnte man vielleicht auch ausprobieren.

Madame Adele lachte Tränen. »Wie sie mit Dir umspringen, petite, was sagst Du zu ihnen?«

Joseph meinte: »Fräulein von Karst sitzt eben einfach hier am Tisch, wenn er hereinkommt, als ob gar nichts Besonderes dabei wäre.«

»Und Ihr führt dann Indianertänze dazu auf, nicht wahr, mes amis? Aber es ehrt Euch, daß Ihr unter allen Umständen bei diesem Wiedersehen dabei sein wollt. Daraus wird nichts, mes amis. Ein Brautpaar will in solchem Augenblick allein sein, nicht wahr, ma petite? Ich schlage daher vor, Lotte geht einfach in unser Haus, ich steige mit Alfred davor ab und schicke ihn hinein. Alles weitere geht uns nichts an, das geht nur die beiden an.«

Die Kufferaths machten zuerst lange Gesichter, denn sie hätten sich das gar zu gerne mitangesehen. Aber Madame Adele zuliebe ließen sie sich schließlich ihren Vorschlag gefallen unter der Voraussetzung, daß das Brautpaar dann noch bei ihnen erschiene, und man noch gemeinsam ein Glas Sekt auf sein Wohl tränke.

Damit waren diese, den Kufferaths so schwer erscheinenden Fragen glücklich alle gelöst, und man kam in ein ruhigeres Gespräch, das sich bald um das drehte, was Alfred in Java erreicht hatte. Die Kufferaths waren mit allem, was er unternommen, sehr einverstanden. Aus seiner Korrespondenz ging hervor, daß er den riesigen Besitz gerade noch rechtzeitig den Engländern abgejagt und außerdem noch einen Distrikt von Bedeutung für die Maatschappij Kufferath, der er nun selbst angehörte, hinzuerworben hatte.

Die drei Brüder sprachen mit großem Respekt von Alfred Dungs und seinem Geschick und seiner Tüchtigkeit, was für Madame Adele und Lotte eine große Freude war.

Es war schon recht spät, als die beiden Damen sich in ihr Haus begaben, weil es Zeit war, daß sich Madame Adele für die Bahn zurechtmachte.

Kaum waren sie allein, fiel Lotte Madame Adele um den Hals und weinte herzbrechend.

»Aber, ma petite, wer wird so aufgeregt sein!«

»Ich weiß nicht,« schluchzte Lotte, »es ist alles so hübsch, und Alfred wird ja nun gleich hier sein, aber ich habe plötzlich solche Angst, solche Angst, sage ich Dir.«

»Angst?«

»Ich weiß nicht, wie ich es anders nennen soll. Es könnte doch jetzt alles so schön werden, nicht wahr? Aber Du sollst sehen, ich fühle es ...«

»Was fühlst Du denn, petite

»Ich habe so eine trübe Ahnung, ich weiß selbst nicht. Mama, Du glaubst nicht, wie bang mir zumute ist!«

»Auf Ahnungen gebe ich nicht viel, mein Kind. Es war etwas zuviel für Dich, die Reise hierher und die Art der Kufferaths, Du bist an so etwas nicht gewöhnt. Ich verstehe das ganz gut.«

»Ihr meint alle, nun sei alles gut, ich möchte es ja auch glauben, aber ich kann nicht, ich kann nicht!« Sie war ganz verzweifelt. »Auf einmal kann ich es nicht mehr glauben ... Ich ... ich habe solche Angst vor ... vor ...«

»Du meinst wahrscheinlich Anton Dungs?«

Lotte nickte und hielt die Tränen mit aller Gewalt zurück. »Es kam plötzlich so über mich. Sei mir nicht böse!«

Madame Adele streichelte das verzweifelte Mädchen. »Ihn werden wir auch noch klein kriegen.«

Draußen tutete das Auto.

»Und nun sei verständig, petite, und sei vergnügt und freue Dich, nicht wahr?«

Lotte nickte.

»Immer hübsch in der Gegenwart bleiben, wenn sie schön ist, petite, und sie ist doch jetzt gewiß schön?«

Lotte trocknete ihre Augen.

»Du bist doch eine Soldatentochter, und das heißt doch etwas bei Euch in Deutschland, nicht wahr?«

Lotte lächelte.

Madame Adele nickte ihr noch einmal aufmunternd zu und verließ dann das Haus. Dem Chauffeur sagte sie leise, damit es nur ja niemand außer ihm hören könne, auf dem Rückweg von der Bahn solle er so langsam fahren, wie es ihm irgend möglich sei.

Der Chauffeur nickte, und Madame Adele lächelte. Das wollte sie wenigstens davon haben, daß sie die Mutter war.

» Oh, mon petit, wie braun Du geworden bist und schlank!« Sie herzte und küßte ihren Sohn und schloß ihn immer wieder in die Arme.

Alfred Dungs hatte nur mit einem schnellen Blick den Perron abgesucht, als vermisse er etwas, und gab sich dann ganz der Freude des Wiedersehens mit seiner Mutter hin.

Das Auto schlich nur so durch die Straßen.

Madame Adele hatte dabei kein gutes Gewissen und behauptete zwischen zwei Liebkosungen, die Wege seien hier so schlecht, deshalb habe sie den Chauffeur gebeten, langsam zu fahren.

Alfred Dungs nickte nur. Es kam ihm jetzt doch wirklich nicht auf eine halbe Stunde an.

Nun saßen sie eine ganze Weile stumm Hand in Hand. Es war so viel zu erzählen, daß man es auf dieser Fahrt doch nicht abmachen konnte, so langsam das Auto auch fuhr. Sie hatten so viel auf dem Herzen, daß sie alle beide plötzlich lieber schwiegen und sich nur fest bei den Händen hielten.

»Sieh nur, wie sie alles erleuchtet haben Dir zu Ehren,« meinte die Mutter leise, als sie der Maatschappij Kufferath näher kamen. »Sie wollten alle drei mit zum Bahnhof, Dich gleich zu begrüßen, aber ich wollte lieber mit Dir allein sein dieses erste halbe Stündchen. Nun werden sie ja doch gleich mit ihrem Spektakel anfangen. Sie sind stolz auf Dich und ich auch.«

»Wie war es bei Karsts?« fragte Alfred hastig. »Du warst ja bei ihnen, wie Du mir telegraphiertest.«

»Lotte ist wohlauf und munter, mon petit, sie freut sich sehr, Dich so bald wiederzusehen. Ihr Vater ist ein amüsanter Kauz, viel weicher, als es im ersten Augenblick aussieht. Wir haben uns gut verstanden.«

»Das ist mir wirklich sehr lieb.« Alfred drückte seiner Mutter wieder die Hand.

Wie wir nebeneinander herreden, dachte Madame Adele, so steif und dumm. Aber er denkt ja wirklich nur an Lotte, dieser verliebte Junge.

»So, da sind wir,« sagte Madame Adele und stieg mit Alfred aus. »Die Kufferaths haben sich in dem Haus nebenan versammelt. Ich habe ihnen verboten, auf die Straße zu kommen, damit Du erst in Ruhe Toilette machen kannst.«

Sie traten zusammen in das Haus. Madame Adele schlug laut das Herz.

»Warte, mon petit, so, hier hinein.« Sie öffnete eine Tür.

Mitten im Zimmer stand Lotte.

Alfred stand einen Augenblick fassungslos, als traue er seinen Augen nicht. Dann war er mit einem wilden Sprung bei ihr und riß sie in seine Arme, so ungestüm, so leidenschaftlich. Gar nicht wie ein Dungs benahm er sich, ganz wie ein Südländer.

»Fred, mein Fred!« Heute wich sie vor seiner stürmischen Leidenschaftlichkeit nicht zurück.

Madame Adele machte leise die Tür zu, hier war sie überflüssig, vollkommen überflüssig.

Ganz langsam und leise verließ sie das Haus und fühlte, wie sie zitterte. So eine Torheit! Als ob sie es anders erwartet hätte! Sie war doch nur die Mutter! Einen Augenblick stand sie auf der Straße still, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte. Mein Gott, sie gönnte es ihrem Jungen doch, daß er so glücklich war. Was war ihr nur?

» Oh mon petit, mon cher petit,« murmelte sie leise, und die Augen wurden ihr feucht. Wie er glücklich war, wie braun und hübsch er war!

An der Tür des Nachbarhauses machte sie wieder für einen Augenblick halt. Gern wäre sie jetzt den Kufferaths aus dem Wege gegangen.

Ach was! Sie warf den Kopf zurück. Ich bin doch nicht sentimental! Sie öffnete geräuschvoll die Haustür, und schon umringten sie auch die Brüder und redeten auf sie ein, alle zugleich.

Madame Adele nahm sie lächelnd mit in das Speisezimmer und erzählte ihnen, wie sie Alfred gefunden habe.

»Wird er noch lange da drüben bleiben?« fragte Josua ein wenig ungeduldig.

»Sie sind wohl nie verliebt gewesen?« meinte Madame Adele.

Josua schüttelte sich. Nein, Gott sei Dank nicht. Das fehlte ihm gerade noch. Es mußte doch einfach nach allem, was man darüber hörte, fürchterlich sein. Natürlich habe er auch schon ein Mädel gern gehabt ...

»Sogar mehr als eine,« warf Jakob hier ein.

Aber doch immer mit Maßen, so daß man Herr seiner selbst blieb.

Madame Adele lächelte und nickte. Bei Jakob und Joseph war es gewiß nicht viel anders gewesen. Sie sah sich ihre drei Bären amüsiert an.

»Solange man noch mehrere lieben kann, darin haben Sie ganz recht, Josua, so lange ist es noch nicht gefährlich.«

»So muß es auch bleiben,« sagte Jakob ganz ernsthaft. »Denken Sie nur, wenn uns hier in unser hübsches Junggesellenleben eine Liebe dazwischenkäme? Das geht doch einfach nicht. Da ginge ja alles kaputt. Na, wir passen aber auch nicht schlecht aufeinander auf, Madame Adele, daß so etwas nicht vorkommt.«

»Das kann ich mir denken, Ihr Bären, das sieht Euch ähnlich!«

»Wo habe ich denn meinen Kopf!« rief Joseph plötzlich, lief fort und kam nach wenigen Augenblicken mit einem Brief zurück. »Er lagert schon ein paar Tage hier, deshalb habe ich nicht daran gedacht.«

»Das hätte ich wahrhaftig auch vergessen!« rief Josua. »Und es ist doch wahrscheinlich wichtig für Alfred Dungs, es ist offenbar ein Brief von seinem Vater.«

»Zeigen Sie einmal,« sagte Madame Adele hastig.

Man gab ihr den Brief, der in einem gewöhnlichen Kuvert der Firma Anton Dungs junior steckte. Sie kannte ja diese Kuverts zur Genüge.

»Der Alte hat erfahren, was aus seinem Sohn geworden ist, und wird froh darüber sein,« sagte Joseph.

»So? Meinen Sie wirklich?« Madame Adele war ganz blaß geworden, und die Kufferaths musterten sie betroffen.

»Den Brief behalten Sie bis morgen, Joseph, und sprechen heute zu meinem Sohn nicht darüber. Morgen ist immer noch Zeit, ihn zu öffnen. Wenn von Geschäften die Rede ist, nicht wahr? Heute wollen wir das lassen. Und wie ich Herrn Anton Dungs junior kenne, wird in dem Brief nur von Geschäften die Rede sein.«

Joseph war so bestürzt über das Aussehen von Madame Adele und die Art, wie sie sprach, daß er den Brief schnell einsteckte.

»Reden wir heute nicht mehr darüber, nicht wahr, mes amis

Die Kufferaths nickten und dachten verwundert: wie kann denn nur Madame Adele auf einmal alt aussehen und gar nicht wie sonst?


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