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Dreizehntes Kapitel.

Am Morgen nach diesen Geburtstagsfestlichkeiten hielten Sir Peter und Lady Chillingly eine lange Berathung über die Eigenthümlichkeiten ihres Erben und die beste Art, ihn zu überzeugen, wie wünschenswerth es sei, daß er entweder sich lebensfrohere Anschauungen aneigne oder wenigstens sich zu populäreren Ansichten bekenne – natürlich, obgleich sie das nicht aussprachen, solchen Ansichten, wie sie mit den neuen Ideen, die sein Jahrhundert beherrschen sollten, vereinbar sein würden. Nachdem sie sich über diesen delicaten Gegenstand verständigt hatten, gingen sie Arm in Arm ihren Erben aufzusuchen. Kenelm frühstückte selten mit ihnen. Er pflegte früh aufzustehen und einsam umherzuschweifen, bevor seine Eltern das Bett verlassen hatten.

Das würdige Paar fand Kenelm am Ufer eines 92 Forellenbachs, welcher sich durch den Park schlängelte, sitzend, seine Angelschnur ins Wasser tauchend und dabei gähnend, eine Operation, die ihn sehr zu erleichtern schien.

»Macht Dir das Fischen Spaß, mein Junge?« fragte Sir Peter herzlich.

»Nicht im mindesten, lieber Vater«, erwiderte Kenelm.

»Warum thust Du es dann?« fragte Lady Chillingly.

»Weil ich nichts Anderes weiß, was mir mehr Vergnügen machen würde.«

»Aha, da haben wir's«, sagte Sir Peter. »Das ganze Geheimniß von Kenelm's Sonderbarkeiten liegt in diesen Worten, liebes Kind; er muß sich amüsiren. Voltaire sagt mit Recht: Amusement gehört zu den menschlichen Bedürfnissen. Und wenn Kenelm sich amüsiren könnte wie andere Leute, würde er auch sein wie andere Leute.«

»In diesem Falle«, erwiderte Kenelm ernst, während er eine kleine muntere Forelle aus dem Wasser zog, die sich sofort in Lady Chillingly's Schoß niederließ, »in diesem Falle würde ich mich lieber nicht amüsiren. Ich interessire mich nicht für die Absurditäten anderer Leute. Der Instinkt der Selbsterhaltung zwingt 93 mich an meinen eigenen Absurditäten einiges Interesse zu nehmen.«

»Kenelm, ich bitte Dich«, rief Lady Chillingly mit einer Lebhaftigkeit, zu welcher sich ihr ruhiges Wesen selten verstieg, »nimm mir das abscheuliche nasse Ding fort! Lege Deine Angel hin und höre auf das, was Dir Dein Vater sagen will. Dein sonderbares Benehmen gibt uns Grund zu ernsthafter Besorgniß.«

Kenelm machte die Forelle von dem Angelhaken los, legte den Fisch in seinen Korb und sagte, indem er seinen Vater mit großen Augen ansah: »Was in meinem Benehmen gibt Ihnen Veranlassung zu Mißvergnügen?«

»Nicht Mißvergnügen, Kenelm«, sagte Sir Peter freundlich, »sondern Besorgniß; Deine Mutter hat den rechten Ausdruck gefunden. Du siehst, mein lieber Sohn, daß es mein Wunsch ist, Du möchtest Dich in der Welt auszeichnen. Du könntest diese Grafschaft im Parlamente vertreten, wie es Deine Vorfahren gethan haben. Ich hatte die gestrige Festlichkeit zum voraus als eine vortreffliche Gelegenheit betrachtet, Dich Deinen künftigen Wählern vorzustellen. Beredtsamkeit ist ein in einem freien Lande sehr hochgeschätztes Talent, und warum solltest Du nicht ein Redner werden können? 94 Demosthenes sagt, im Vortrag, im Vortrag und noch einmal im Vortrag bestehe die Kunst der Beredtsamkeit, und Dein Vortrag ist vortrefflich, anmuthig, selbstbewußt, classisch.«

»Verzeih' mir, lieber Vater. Demosthenes sagt nicht Vortrag, noch auch Action, wie das Wort gewöhnlich wiedergegeben wird. Er sagt: Agiren oder Bühnenspiel, ὑπόκρισις, die Kunst, vermöge deren jemand in einer angenommenen Rolle eine Rede hält, daher das Wort Hypokrisie! In der Hypokrisie, in der Hypokrisie und noch einmal in der Hypokrisie besteht nach Demosthenes die dreifache Kunst des Redners. Wünschest Du, daß ich ein dreifacher Hypokrit werde?«

»Kenelm, schämst Du Dich nicht? Du weißt so gut wie ich, daß es Dir nur vermöge einer bildlichen Auffassung des Ausdrucks möglich ist, dem von dem großen Athenienser gebrauchten Worte die Bedeutung Hypokrisie unterzuschieben. Aber angenommen, es bedeute, wie Du sagst, nicht Vortrag, sondern Agiren, so würde das genügend erklären, warum Du mit Deinem Debüt als Redner keinen Erfolg hattest. Dein Vortrag war vortrefflich, aber Deine Action war mangelhaft. Ein Redner soll gefallen, versöhnen, überreden, voreinnehmen. Von alledem hast Du das Gegentheil 95 gethan, und obgleich Du einen großen Eindruck hervorbrachtest, so war doch dieser Eindruck so entschieden zu Deinen Ungunsten, daß Dich derselbe bei jeder Wahl in England um alle Aussichten gebracht haben würde.«

»Soll ich Dich dahin verstehen, lieber Vater«, sagte Kenelm in dem trübselig mitleidigen Tone, in welchem ein Diener der Kirche einen hoffnungslosen, ergrauten Sünder ermahnt, »soll ich Dich dahin verstehen, daß Du Deinem Sohne wohlüberlegte Falschheit als Richtschnur seines Verhaltens empfehlen würdest?«

»Wohlüberlegte Falschheit! Du impertinenter Gelbschnabel!«

»Gelbschnabel!« wiederholte Kenelm, nicht im Tone der Entrüstung, sondern nachdenklich, »Gelbschnabel! Ein wohlüberlegter Gelbschnabel thut es seinen Eltern nach.«

Sir Peter lachte laut auf.

Lady Chillingly erhob sich mit Würde, schüttelte die Tropfen von ihrem Rock ab, spannte ihren Sonnenschirm auf und ging stolzen Schritts sprachlos von dannen.

»Siehst Du, Kenelm«, sagte Sir Peter, sobald er sich wieder ein wenig gesammelt hatte, »Deine Witze 96 und Launen sind für einen so excentrischen Menschen, wie ich selbst einer bin, recht amüsant, aber durch die Welt kommt man nicht damit. Und wie Du in Deinem Alter und bei der seltenen Gunst, die Dir durch eine frühzeitige Einführung in die wirklich beste Gesellschaft, unter der Leitung eines mit den neuen Ideen, welche die Staatsmänner beherrschen werden, vertrauten Erziehers zu Theil geworden ist, dazu gekommen bist, eine so alberne Rede zu halten, wie Du es gestern gethan hast, ist mir unbegreiflich.«

»Lieber Vater, erlaube mir, Dir zu versichern, daß die von mir ausgesprochenen Ideen grade die beliebtesten neuen Ideen sind, nur daß diese Ideen von Anderen in noch deutlicheren oder, wenn Du das Epitheton vorziehst, noch alberneren Ausdrücken als den von mir gebrauchten ausgesprochen werden. Du wirst finden, daß diese Ideen dem öffentlichen Geiste durch den ›Londoner‹ und andere höchst geistreiche liberale Journale eingeflößt werden.«

»Kenelm, Kenelm, solche Ideen würden ja die Welt auf den Kopf stellen.«

»Neue Ideen haben immer die Tendenz, alte Ideen auf den Kopf zu stellen. Und die Welt ist doch am Ende nur eine Idee, welche mit jedem neuen Jahrhundert wieder auf den Kopf gestellt wird.«

97 »Deine Reden machen mir das Wort Ideen ganz zuwider. Gib Deine Metaphysik auf und studire das reale Leben.«

»Grade das reale Leben habe ich bei Herrn Welby studirt. Er ist der Archimandrit des Realismus. Das Leben, das ich nach Deinem Wunsche studiren soll, ist ein Leben des Scheins. Dir zu Gefallen will ich es anfangen. Es ist gewiß sehr amüsant. Das reale Leben ist nichts weniger; im Gegentheil, es ist langweilig.« Und Kenelm gähnte wieder.

»Hast Du keine jungen Freunde unter Deinen Universitätsgenossen?«

»Freunde? Gewiß nicht. Aber ich glaube, ich habe Feinde, die ja denselben Zweck erfüllen wie Freunde, nur daß sie sich einem nicht ganz so unangenehm machen.«

»Willst Du damit sagen, daß Du in Cambridge ganz einsam gelebt hast?«

»Nein, ich verkehrte sehr viel mit Aristophanes, Kegelschnitten und Hydrostatik.«

»Bücher sind eine trockene Gesellschaft.«

»Aber wenigstens harmloser als feuchte Gesellschaft. Hast Du Dich je betrunken, Vater?«

»Betrunken?«

»Ich habe es einmal in Gesellschaft der jungen 98 Genossen versucht, die Du mir als Freunde empfehlen möchtest. Ich glaube nicht, daß es mir gelungen ist; aber ich wachte am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen auf. Das reale Leben auf der Universität ist überreich an Kopfschmerzen.«

»Kenelm, mein Junge, eine Sache ist mir klar: Du mußt reisen.«

»Wie Du willst. Marcus Antoninus sagt, einem Steine sei es ganz gleichgültig, ob er hinauf oder herunter geworfen werde. Wann soll ich abreisen?«

»Sehr bald. Natürlich bedarf es Vorbereitungen dazu; Du müßtest einen Begleiter auf der Reise haben. Ich meine nicht einen Erzieher; Du bist zu gescheidt und zu solid, um eines solchen zu bedürfen; eine angenehme, verständige, mit guten Manieren versehene junge Person Deines Alters.«

»Meines Alters – männlich oder weiblich?«

Sir Peter gab sich die größte Mühe, die Stirn zu runzeln. Das Aeußerste, was er fertig brachte, war, daß er erwiderte: »Weiblich? Wenn ich sagte, Du seiest zu solid, um eines Erziehers zu bedürfen, so war es, weil Du bis jetzt wenig Anlage zu haben schienst, Dich durch weibliche Lockungen von Deinem Wege ablenken zu lassen. Darf ich fragen, ob Du in Deine übrigen Studien auch das Studium mit 99 einbegriffen hast, welches noch kein Mensch völlig beherrscht hat, das Studium der Frauen?«

»Gewiß. Hast Du etwas dagegen, wenn ich noch eine Forelle fange?«

»In Gottes oder auch ins Teufels Namen fange Deine Forelle. Also Du hast die Frauen studirt. Das hätte ich nie gedacht. Wo und wann hast Du denn dieses Gebiet der Wissenschaft betreten?«

»Wann? Seit meinem zehnten Jahre ununterbrochen. Wo? Zuerst in Deinem Hause und dann auf der Universität. Pst! Es beißt einer an.« Und eine andere Forelle verließ ihr heimathliches Element und sprang Sir Peter auf die Nase, von wo sie feierlich in den Fischkorb gebracht wurde.

»Im Alter von zehn Jahren und in meinem Hause? Die dreiste Dirne Jane, das Hausmädchen?«

»Jane? Nein, Vater. Pamela, Fräulein Byron, Clarissa, weibliche Figuren in Richardson, der nach Doctor Johnson die Leidenschaften lehrte, um zur Tugend zu ermahnen. Ich will um Deinetwillen hoffen, daß Doctor Johnson sich mit dieser Behauptung nicht geirrt hat, denn ich habe alle diese Frauenzimmer des Nachts in den von Dir allein bewohnten Zimmern gefunden.«

»Ah!« sagte Sir Peter. »Ist das Alles?«

100 »Alles, dessen ich mich aus meinem zehnten Jahre erinnere«, erwiderte Kenelm.

»Und bei Herrn Welby und auf der Universität«, fuhr Sir Peter schüchtern fort, »war Deine Bekanntschaft mit dem weiblichen Geschlecht da noch derselben Art?«

Kenelm schüttelte den Kopf. »Viel schlimmer; auf der Universität waren sie wirklich sehr unartig.«

»Das kann ich mir denken und das kann auch bei einer solchen Menge von jüngen Leuten, die ihnen nachlaufen, nicht wohl anders sein.«

»Sehr wenige Studenten laufen den Frauenzimmern, von denen ich rede, nach; sie gehen ihnen vielmehr aus dem Wege.«

»Desto besser.«

»Nein, lieber Vater, desto schlimmer; ohne vertraute Bekanntschaft mit diesen Frauenzimmern nützt es überhaupt wenig, auf die Universität zu gehen.«

»Erkläre Dich näher.«

»Jeder Mensch, der eine klassische Erziehung erhält, wird in ihre Gesellschaft eingeführt: Pyrrha und Lydia, Glycera und Korinna und noch viele andere, alle von derselben Art; und dann die Frauenzimmer im Aristophanes; was meinst Du zu denen, Vater?«

»Hast Du nur mit Frauenzimmern, die vor zwei- 101 bis dreitausend Jahren oder, was noch wahrscheinlicher ist, nie gelebt haben, vertrauten Umgang gepflogen? Hat nie ein reales Weib Deine Bewunderung erregt?«

»Reale Frauen? Niemals bin ich einer begegnet. Mir ist nie ein Weib vorgekommen, die nicht ein Scheinwesen gewesen wäre, ein Scheinwesen von dem Augenblick an, wo man sie lehrt sich hübsch benehmen, ihre Gefühle verbergen und mit den Augen flunkern, wenn sie es nicht mit Worten thut. Aber wenn ich das Scheinleben kennen lernen soll, muß ich mir auch vermuthlich die Scheinweiber gefallen lassen.«

»Hast Du eine unglückliche Liebe gehabt, daß Du so bitter von dem andern Geschlecht sprichst?«

»Ich spreche nicht bitter von dem Geschlechte. Frage jedes Weib aufs Gewissen, und es wird bekennen, daß es ein Scheinwesen ist, immer gewesen ist, immer sein wird und stolz darauf ist.«

»Ich bin nur froh, daß Deine Mutter Dich nicht hört. Du wirst bald genug anders denken. Inzwischen, um wieder von dem anderen Geschlecht zu reden, gibt es keinen jungen Mann Deines Standes, mit welchem Du reisen möchtest?«

»Nein; ich wüßte keinen, mit dem ich reisen möchte. Ich hasse das Zanken.«

102 »Wie Du willst. Du kannst doch nicht ganz allein reisen; ich werde Dir also einen guten Reisediener aussuchen. Ich werde noch heute wegen der Vorbereitungen nach London schreiben und in etwa acht Tagen, hoffe ich, wird Alles bereit sein. Was Du während der Reise brauchen willst, kannst Du selbst bestimmen. Du bist nie extravagant gewesen, und, Junge, ich liebe Dich. Amüsire Dich, genieße Dein Leben und kehre, von Deinen Sonderbarkeiten geheilt, aber mit unbefleckter Ehre zurück.«

Sir Peter beugte sich vor und küßte seinen Sohn auf die Stirn. Kenelm war gerührt; er stand auf, legte seinen Arm um den Hals seines Vaters und sagte in einem zärtlich gedämpften Ton: »Wenn ich mich je versucht fühlen sollte, eine niedrige Handlung zu begehen, so möge ich mich erinnern, wessen Sohn ich bin, das wird mich davor bewahren.«

Mit diesen Worten entzog er sich der Umarmung seines Vaters und ging, ohne weiter an seine Angel zu denken, einsam seines Weges am Ufer des Baches hin. 103


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