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Marie

Novelle.


Something imperial, or imperious threw
A chain o'er all she did.

Lord Byron.

» Endlich!« rief die Baronin von Feldner, als ihr ein zierlicher, rosenfarbener Brief gebracht wurde. »Marie kommt – schon morgen!« rief sie ihrem Manne zu, als sie hastig gelesen hatte. »Das freut mich herzlich;« antwortete dieser und nahm den Brief, den seine Frau vergnügt ihm brachte.

»Wer kommt, liebes Herz?« fragte Frau von Goldhand mit ihrer sanften Stimme.

»Wissen Sie nicht, liebe Freundin,« antwortete Frau von Willert, »die junge Schriftstellerin, welche die Feldner schon so lange erwartet – wie heißt sie doch, lieber Engel?«

»Marie,« sagte die Baronin, »Marie von Unruh.«

»Richtig;« fuhr Frau von Willert fort, »sie soll eine gescheide Person sein; ihre Bücher – sie hat, glaub' ich, schon drei geschrieben – haben Aufsehen gemacht, – es ist recht hübsch, daß sie kommt. Wie ist sie denn ungefähr, liebe Feldner?«

Die Baronin lachte und antwortete: »da sie morgen kommt, wär' es unnöthig, sie heute noch zu beschreiben.«

»Nun, nur so ungefähr,« sagte Frau von Willert, »damit man wisse, was man zu erwarten hat. Bewegt sie sich wie man sich so bewegt? Hat sie Sicherheit? Sie wissen, lieber Engel, man kann sehr gescheut sein und doch nicht recht zur Thür hinein können. Nun?«

»Wie sie zur Thür hereinkommen wird, weiß ich freilich nicht ganz genau,« antwortete die Baronin; »vermuthlich sehr ruhig, denn das ist so ihre Art, wenn sie unter Fremde tritt. Sicherheit muß sie also haben.«

»Da ist sie am Ende gar anmaßend?« fragte Frau von Willert.

»Das kömmt darauf an, was Sie anmaßend nennen, liebe Willert;« sagte die Baronin in etwas kühlem Tone.

»Anmaßend, lieber Engel,« sagte Frau von Willert, »anmaßend ist man, wenn man Rechte in Anspruch nimmt, auf die man kein Recht hat.«

»Zum Beispiel?« fragte die Baronin.

»Zum Beispiel,« antwortete Frau von Willert, »wenn diese junge Person hier ihre Meinung geltend machen wollte.«

»Ihre Meinung haben wird sie;« sagte die Baronin; »ob sie ans Geltendmachen denken wird, weiß ich wieder nicht.«

»Hören Sie einmal, Linchen,« sagte die lebhafte Frau, »ich fürchte, Ihre Marie wird uns nicht gefallen.«

»Sehr möglich;« sagte die Baronin sorglos.

»O warum denn?« fragte Frau von Goldhand süß und sanft; »wenn sie bescheiden ist –«

»Ja, wenn sie es ist,« fiel Frau von Willert ein; »aber wenn sie es nicht ist? Und ich fürchte das sehr.«

»Wir wollen nicht vorschnell urtheilen,« sagte Frau von Goldhand. »Lulu« setzte sie hinzu, indem sie sich an ihre Tochter wandte, »Lulu, möchtest du jetzt nicht ein Bischen üben?«

»Ja, Kind, die neue Romanze, damit wir sie heute Abend hören;« sagte Frau von Willert. Louise von Goldhand war schon aufgestanden; sie näherte sich jetzt den Frauen, neigte graziös den Kopf zu ihrer Mutter herab, um ein süß geflüstertes Wort zu hören, lächelte zur Antwort, lächelte auch den andern Frauen zu, grüßte den jungen Mann, der neben ihr gesessen hatte, und ging dann dem Schlosse zu, denn die Gesellschaft saß im Garten. Der junge Mann blickte ihr nicht nach. Er besah einen Augenblick die Spitze seines rechten Fußes, warf dann einen gelangweilten Blick auf die Gruppe schöner Fichten, die seitwärts stand, sah einen andern Augenblick in den Himmel voll Sonnenglanz, stand endlich, da es oben nichts zu sehen gab, als eben Himmel, ebenfalls auf und näherte sich ebenfalls den Frauen.

»Darf ich wissen, was die Damen so eifrig besprachen?« fragte er in einem Tone, welcher deutlich verrieth, der Gegenstand seiner Frage sei dem Fragenden so gleichgültig als möglich.

»Eifrig?« wiederholte Frau von Willert; »nein – wir sprachen nur von Fräulein von Unruh, die morgen erwartet wird. Sie wissen, Fräulein von Unruh, die –«

»Ich weiß;« sagte der junge Mann.

»Interessirt Sie das?« fragte Frau von Goldhand süß, lächelnd.

»O ja;« antwortete er.

»Sehr scheint es nicht zu sein;« sagte sie mit ihrem zarten, halblauten Lachen; Frau von Goldhand lachte nämlich immer nur weiblich.

»Doch!« sagte der junge Mann in Erwiederung auf ihre Bemerkung; »wenigstens hat ›Melanie‹ mich sehr interessirt, und unwillkürlich wendet das Interesse sich von einem Buche etwas zu dem Verfasser.«

»›Melanie‹ ist das letzte, das Fräulein von Unruh geschrieben hat;« sagte die Baronin; »kennen Sie ihren ersten Roman, Herr von Anlow?«

»Nein;« antwortete dieser; »wie heißt er?«

»›Das Leben einer Frau‹;« antwortete die Baronin; »es war das erste Werk, womit sie auftrat.«

»Sie ist noch jung?« fragte Anlow.

»Zwei und zwanzig;« antwortete die Baronin.

»Ich hätte sie nach ihrem Buche viel älter geglaubt;« sagte Anlow.

»›Das Leben einer Frau‹ würde Sie darin noch mehr irre geleitet haben. Man hält es kaum für möglich, daß ein zwanzigjähriges Mädchen so wahr schreiben könne.«

»Haben Sie es?

»Ja wohl; ich will es Ihnen geben.«

»Ich werde es gern lesen. Es machte damals Aufsehen, ich erinnere mich.«

»Allerdings – und die Theilnahme ist durch ihre andern Bücher noch gesteigert worden.«

»Was hat sie außer Melanie noch geschrieben?«

»O eine allerliebste Novelle voll übersprudelnder Heiterkeit, worin lauter poetische Begebenheiten zu dem allergewöhnlichsten Ausgange führen.«

»Ein hübscher Gedanke. Wo lebt Fräulein von Unruh?«.

Die Baronin nannte eine Mittelstadt der nächsten Provinz, wo Mariens Vater Regierungsrath sei. Diese Auskunft löschte den aufglimmenden Antheil Anlow's mit einem Male aus. Anlow hatte den entschiedensten Widerwillen gegen Alles, das aus beschränkten Kreisen kam. Man konnte ihm das nicht verdenken; er hatte immer nur in der großen Welt geathmet. Marie von Unruh erschien ihm, wie man sich eine Schriftstellerin aus der Provinz zu denken pflegt – linkisch – himmelan blickend – in Verwirrung mit ihrer Kleidung und dem Schicksal. Es ist wahr, daß ihr Buch nichts von diesen Eigenthümlichkeiten verrathen hatte, aber das Buch und die Schriftstellerin sind auch zweierlei; überdies spielte jenes in der Provinz, wo diese lebte; die Welt hatte sie nicht geschildert, weil sie keine hatte. Dieses Alles dachte Anlow, während er sich empfahl, um Briefe zu schreiben; als er erst auf seinem Zimmer war, dachte er gar nicht mehr an Marie, und als die Baronin am Abend ihm »das Leben einer Frau« gegeben hatte, warf er einige Blicke hinein, hielt es dann in der Hand, sah in den Mondschein, der über dem Garten schwebte, dachte an die orientalische Frage, warf das Buch in die eine Sopha-Ecke, legte sich in die andere zurück, schlug die Arme übereinander, dachte weiter nach, dachte an Lady Elisabeth Stanmore, dann an die Pferde des Herrn Stanmore und endlich daran, daß er am andern Morgen wieder Milch trinken und sich daher um vier Uhr schon wecken lassen müsse, weshalb er sich viel früher, als es eigentlich schicklich war, zum Schlafen bequemte.


Am andern Tage, etwa um sechs Uhr, kam Marie von Unruh mit ihrer Mutter an.

Der Baron empfing sie, und die Baronin kam eilig aus dem Saale, wo sie in Gesellschaft der Uebrigen schon sehr ungeduldig gewesen war. Ohne dem Baron Zeit zu lassen, auch nur die Hälfte seiner herzlichen Worte zu sagen, zog sie die Freundinnen lebhaft die Treppe hinauf, damit nicht etwa einer der Herren ihnen in den Weg komme und Marien in dem natürlich nicht ganz frischen Reiseanzuge sehe. Als sie oben in dem heiteren, hohen Zimmer waren, nahm sie ihnen eben so eilig die Hüte ab und drängte sie auf das Sopha, wo sie sich zwischen beide setzte und das Nothwendigste fragte und erzählte. Als sie damit fertig war und die Freundinnen sich mit kühlendem Getränk erquickt hatten, trieb sie zum Anziehen und übernahm bei Marien selber dieses Geschäft, einmal, damit es rascher beendigt wäre, und dann auch, um mit Marien gleich, wenigstens auf eine Viertelstunde, allein zu sein.

»Endlich!« rief sie wie gestern und legte sich noch einen Augenblick an Marie, ehe sie ihr Amt begann.

Marie schlang den linken Arm um die Freundin und küßte sie auf den Mund, der von Marien oft so begeistert sprach. Beide, das junge Mädchen und die junge Frau, waren von einer Größe, wie sie von einem Alter waren. Sonst glichen sie einander nicht; Marie stand höher an Geist und Seele, aber Pauline von Feldner verstand sie so tief, daß sie sich bis zu der Freundin erhob.

Pauline hatte Marie losgelassen und half ihr den hellen Pudermantel ausziehen. Dann nahm Marie auch das Häubchen ab, das ihr unterwegs heiß genug gemacht hatte, ging, es auf die Toilette zu legen, sah dabei in den Spiegel, sah, daß ihr Haar nicht glatt sei, löste es auf und fing an, es von neuem zu binden und zu flechten.

»Der liebe, vertraute Raum;« sagte sie dabei und ließ den Blick durch das niedliche Kabinet streifen; »nun ist es schon ein Jahr, daß ich nicht hier war.«

»Ja;«, sagte Pauline, welche die Sachen der Freundin ordnete und einräumte, »und ich weiß, daß Du dich gesehnt hast, wieder hier am Fenster zu sitzen und zu schreiben, wie voriges Jahr Melanie. Was wirst Du nur dieses Mal arbeiten?«

»Schwerlich irgend etwas;« antwortete Marie; »Du hast ja das ganze Haus voll.«.

»Du freust Dich unaussprechlich auf die Gesellschaft?« fragte Pauline lachend.

»Freilich ist sie überflüßig;« antwortete Marie etwas ungeduldig, denn ihr Haar hatte sich verwirrt und ließ sich nicht flechten.

Die Baronin half ihr es lösen und sagte zugleich: »Kind, es sind aber interessante Leute.«

»So?« sagte Marie. »Nun, da beschreibe mir sie doch!«

»Gut; ich will nach dem Alter gehen. Da ist zuerst Frau von Willert, Wittwe, der Witz in Frauenkleidern und daher in verschiedenen Kreisen der Residenz, die belebende Kraft, aber zugleich die allgemeine Erzieherin, was Du wissen mußt.«

»Danke, Paule.«

»Dann Frau von Goldhand, ebenfalls Wittwe. Die gehört nun entschieden zu den zarten. Sie hat eine Fabrik, in welcher sie die Gefühle vor dem Gebrauche verfeinert, braune, zärtliche Augen und kindliche Ausdrücke. Im Schmachten ein verkörperter Frühlingsabend. Für gute Jünglinge und Schwärmer für Weiblichkeit muß sie überwältigend sein.«

»Hast du nicht noch mehr von dieser Sorte?«

»Ja wohl; Frau von Goldhand in einer neuen Auflage, ihre Tochter. An der ist auch nicht ein Fäserchen Natur. Uebrigens eine schlanke Gestalt, die sich auszeichnet, und schöne blaue Augen hat sie auch. Ich weiß nicht, warum hier Keiner sich in sie verliebt. An Aufmunterung läßt sie es nicht fehlen.«

»Also hast du auch Männer hier?«

»Vier, außer unserm Rein. Ich dächte, das wären fürs Erste genug.«

»Ich denke auch. Nun?«

»Nun, da ist Herr von Anlow, von der preußischen Gesandtschaft, der hergekommen ist, um frische Milch zu trinken, weil er an der Brust leidet –«

»Wie kommt er als Diplomat denn zu dieser poetischen Krankheit?«

»Ich weiß wirklich nicht recht – er ist mit dem Pferde gestürzt oder hat sich erkältet – kurz, er trinkt Milch und würde sonst gewiß nicht hier sein, denn er langweilt sich furchtbar.«

»Sich und euch?«

»Das könnt' ich nicht sagen. Anlow ist kein gewöhnlicher Mensch; ich verzeih' ihm, daß er sich langweilt. Bei mir thut er es nicht, und auch ihr sollt Freunde werden. Er wird dir nur in den ersten Augenblicken unbedeutend erscheinen, und du wirst ihm gewiß gefallen, sobald er nur sieht, daß du weißt, wie man in einen Salon tritt.«

»Von dir beschützt, werd' ich vielleicht Gnade vor ihm finden.«

»Du bildest dir wol ein – ja? Wahrlich nicht! Anlow macht nur entschiedenen Schönheiten etwas den Hof – zweifelhafte würden vielleicht ihm huldigen, denn er hat Namen und Vermögen, aber er ist solchen gegenüber so völlig schroff, daß selbst die kühnsten Mütter gleich anfangs die Lust verlieren. Doch genug von ihm und weiter, wo ich denn zu Herrn von Rosen komme. Von dem habe ich nur drei Worte zu sagen: jung, elegant und ein Narr. Dann haben wir noch Haßfeld, der die ›Wanderer‹ geschrieben hat, und endlich den Grafen Solms, einen jungen Gutsbesitzer, wol der interessanteste, kräftig ernst, geistvoll, nicht immer liebenswürdig, aber immer sicher – kurz, was du einen Mann nennst, aber ein entschiedener Gegner aller Schriftstellerinnen. Bei ihm wirst du etwas zu überwinden haben.«

»Wenn ich es der Mühe werth halte, Pauline.«

»Es ist der Mühe werth, Marie;« sagte die Baronin.


Während so die Gesellschaft im Kabinet besprochen wurde, sprach sie unten im Saale über die zu erwartende neue Erscheinung. So viele bedeutende Berühmtheiten die Erwartenden auch schon gesehen hatten, so war doch noch etwas Neugier für das junge Mädchen übrig geblieben, welches mit zwei und zwanzig Jahren schon drei Bücher geschrieben hatte, und zwar drei recht altkluge Bücher, die man dem gewöhnlichen Laufe der Dinge nach allenfalls einer Frau von eben so viel dreißig Jahren, niemals aber einem so jungen und unerfahrnen Geschöpfe zugetraut hätte. Indessen die Thatsache war da und die Gesellschaft neugierig, Anlow ausgenommen. Dieser war eben mehr als gewöhnlich angegriffen, saß, den Kopf auf die Hand gestützt und mit dieser die Augen bedeckend, in einer ruhigen Ecke und hörte das Gespräch nur, wie man das Schwirren von Mücken hört. Die übrigen Herren aber waren lebhaft und laut, und ein Streit über Mariens letztes Buch wurde von Haßfeld und dem Grafen Solms mit einem Eifer geführt, der sich fast bis zur Heftigkeit steigerte. Haßfeld war unbekannter Weise ein großer Verehrer von Marien, Solms eben so gut ihr Gegner als der aller Schriftstellerinnen. Von dem Buche waren Beide unvermerkt auf das junge Mädchen selber gekommen, und Solms verrieth in einer Aeußerung, die ihm rasch entfuhr, daß er etwas sehr Nachtheiliges von Marien wisse.

»Und was könnte das sein?« fragte Haßfeld unwillig. »Ich habe doch auch viel von ihr gehört und zwar von Personen, die nicht eben gut auf sie zu sprechen waren, aber Alles, was man von ihr sagen konnte, ließ ihren Charakter unangetastet.«

»Ich kann mich darüber nicht weiter auslassen;« antwortete Solms, der wieder ruhiger geworden war; »aber das weiß ich wohl –« er vollendete nicht, denn im Nebenzimmer wurde eine Thür geöffnet und nach einigen Augenblicken wieder geschlossen; zugleich hörte man den Baron, der in jenem Zimmer saß, in sehr herzlichem Tone sprechen; eine fremde Stimme antwortete ihm, mit vollem, ruhigem Klange; die Baronin sprach dazwischen; man wußte, daß Fräulein von Unruh dort sei und in kurzer Zeit durch die halboffene Thür hereintreten werde.

Die beiden Herren, die gewiß unparteiisch geurtheilt hatten, da sie den Gegenstand ihres Urtheils erst kennen lernen sollten, wurden still; die beiden Frauen unterhielten sich von einer Arbeit, die Frau von Goldhand angefangen hatte; Fräulein von Goldhand arbeitete auch und hörte mit anmuthigem Lächeln auf das geistreiche Gespräch des Herrn von Rosen, und Alles war gehörig vorbereitet zu sehen und dann zu beschließen, was man weiter thun solle. Jetzt hörte man, daß auch Hofrath Rein in das Nebenzimmer trat und die fremde klangvolle Stimme ihn heiter und herzlich begrüßte. »Ob sie denn nicht endlich kommen wird?« flüsterte Frau von Willert ihrer Freundin zu. »Sie mag sich wohl etwas ängstigen;« antwortete diese und wollte eben hinzusetzen: »und ich finde das sehr natürlich;« da öffnete die halboffene Thür sich ganz, und im Gespräche mit dem Baron trat Frau von Unruh und im Gespräche mit der Baronin Marie in den Saal. Hofrath Rein blieb im anderen Zimmer nah an der Thür stehen.

Die Baronin verließ Marie und machte Frau von Unruh mit den Frauen bekannt. Marie war ruhig stehen geblieben; wenn sie sich wirklich ängstigte, wie Frau von Goldhand gemeint hatte, so verrieth auch nicht das leiseste äußere Zeichen diesen Zustand ihres Innern. Ihre ganze Erscheinung hatte den Ausdruck der vollkommensten Ruhe; sie hatte selbst den des Stolzes. Die großen dunklen Augen richteten sich unbefangen auf den Kreis, der sich ihnen darbot; das dunkelbraune Haar ließ die geistvolle Stirne frei, fiel aber in um so reicheren Locken von den Schläfen bis auf den Hals herab. Die Züge waren nicht regelmäßig, aber übereinstimmend; die Haut war nicht weiß, aber von einer herrlichen warmen Farbe belebt. Der Mund, dunkelroth, mit schwellenden Lippen und doch fest geschlossen, war im Ausdruck ein Räthsel; die Gestalt kaum mittelgroß, aber zart und dabei voll, mit einem Worte: schön. Die Haltung, wie schon gesagt, erschien stolz, entschieden zu stolz für ein so junges Mädchen, dachten Alle, denen Marie während einiger Augenblicke so gegenüber stand. Was sie dachte, ließ sich nicht errathen; es blieb keine Zeit dazu, denn die Baronin stellte auch sie vor. Sie grüßte gleichgültig und gab dadurch der Frau von Willert und dem Grafen Solms das angenehme Gefühl, daß sie in ihrem Vorurtheil gegen das junge Mädchen Recht gehabt hätten. Haßfeld hingegen fand in ihr sein geträumtes Bild ganz verwirklicht und ließ sich durch den Baron ihr augenblicklich vorstellen. Sie empfing ihn mit Auszeichnung, aber ohne Freundlichkeit; ihn verletzte das nicht; er wollte sie ernst; er selber blickte in das Leben wie in eine düstere Nacht, und sein ewiger Unwille war es, daß die Menschen noch lachen könnten. Aus Mariens Büchern hatte er die schauervollsten innern Erlebnisse der Dichterin herausgelesen und in Gedanken immer mit ihr gelitten. Ihr frischer Humor hatte ihn nicht irre gemacht; er war ihm schneidende Ironie gewesen, und auch jetzt störte es ihn nicht, daß er sie so blühend fand. Er sagte sich nur: »es muß eine herrliche Natur sein, daß sie solchen Stürmen so widerstanden hat und über Trümmern noch in dieser Blüthe steht.« Ihr sagte er: »Sie machen heute einen Glücklichen; was hab' ich mich gesehnt, Sie einmal zu sehen!«

Marie hielt diese, mit tiefer Bedeutung gesprochenen Worte nur für etwas zu große Höflichkeit und antwortete einfach: »Mir ist unsere Bekanntschaft ein angenehmer Zufall; ich habe einmal einen schönen Tag mit den ›Wanderern‹ verlebt.« Haßfeld verbeugte sich mit sprechendem Blick, aber seine Zunge schwieg; etwas Gewöhnliches wollte er nicht sagen, und seine Seele konnte nur in Stunden, wie sie mit Marien kommen mußten, heraustreten und reden. Marie beachtete sein Schweigen nicht, sondern fragte ganz unbefangen: ob er die in den ›Wanderern‹ beschriebenen Gegenden selbst gesehen habe. Er bejahte das und hatte nun einen Gegenstand gefunden, über den er sprechen konnte, ohne seine Seele preiszugeben. Eifrig ergriff und benutzte er das, so eifrig, daß Marie sich bald nach einem Mittel umsah, die Unterhaltung abzubrechen, um so mehr, da die übrige Gesellschaft nur scheinbar unter sich sprach und eigentlich den beiden Schriftstellern zuhörte. Die Baronin war nicht im Saale und Hofrath Rein auch nicht zu sehen; aber der Baron stand Marien gegenüber, und ihm winkte sie mit den Augen. Er verstand sie sogleich und schlug vor, nun, da der Wind sich gelegt habe, in den Garten zu gehen, und bat Marie ganz besonders mit ihm zu kommen, um seine Azaleen zu sehen.

Herr von Rosen hatte das kaum gehört, als er ausrief: »da muß ich auch mit; mich interessirt nichts so sehr, als Azaleen, und das herrliche Exemplar, welches Sie mir neulich zeigten – wie hieß es doch, Feldner?« – »Das war ja eine AmaryllisAmaryllis equestris;« antwortete der Baron.

»Richtig, Amaryllis equestris;« rief Herr von Rosen; »die muß ich sehen.« Heimlich setzte er hinzu: »stellen Sie mich doch vor.« Der Baron that es, als Marie mit ihrem Sonnenschirme wiederkam, und Herr von Rosen wandelte nun zierlich an ihrer Seite. Sie hatte ihn eben so empfangen, wie Haßfeld; artig, aber mit demselben ernsten Ausdrucke des Gesichts; wer sie sah, mußte glauben, sie könne nicht lächeln. Herr von Rosen kannte solche ernste Gesichter noch nicht, aber eben als etwas Neues sah er sich dieses äußerst neugierig an. Die Unterhaltung war bald im Gange; Herr von Rosen hatte vor zehn Jahren einen Verwandten Mariens kennen gelernt und fragte nach ihm, und nach diesem guten Eingange mußte das Gespräch den besten Fortgang haben, um so mehr, da Marie die Freimaurersprache des jungen Herrn verstand und in ihr, selbst von dem kleinsten Nichts, mit so sicherer Sorglosigkeit sprach, daß Herr von Rosen endlich ganz verblüfft fragte: »aber woher weiß man denn das Marie Alles in der Provinz?« – »Es klingt wie Mährchen aus dem Morgenlande zu uns herüber;« antwortete Marie. Herr von Rosen fand das sehr geistreich, und Marie fand auch ihn zum Schwatzen nicht so übel. Er erwähnte nun eines Pferderennens, welches kürzlich bei Hofe stattgefunden, und fragte dann, ob Marie Reiterin sei. Sie bejahte und äußerte, wie sehr sie diese kecke Bewegung liebe. »Als ich zum ersten Male dahin zu sprengen wagte, hab' ich meine Ahnung der Wüste empfunden,« sagte sie dann. »Wieder geistreich!« dachte Herr von Rosen wohlgefällig und blieb den ganzen Abend über an ihrer Seite. Dadurch sperrte er sie aber von den übrigen ab, und Haßfeld sah noch einmal so finster aus, als gewöhnlich.

Graf Solms hingegen blieb in Garten und Saal der Ritter des Fräuleins von Goldhand und sprach viel über Weiblichkeit, nicht ohne gelegentlich einen finstern Blick auf Marie zu werfen. Die Gegenwart einer Schriftstellerin verdarb ihm immer die Laune, und an diesem Abende war er verdrießlicher, als je in einem ähnlichen Falle. Vermuthlich grollte er, weil er Marie hübsch und graziös fand. Hätte er sie häßlich und linkisch finden können, so wäre er wenigstens mit sich selber zufrieden gewesen; aber von irgend etwas gezwungen zu werden, sie von Zeit zu Zeit anzusehen, war ihm wirklich widerwärtig und brachte ihn bis zur Schonungslosigkeit gegen sie auf. Wir müssen Fräulein von Goldhand die Gerechtigkeit wiederfahren lassen, daß sie Marie vertheidigte und dem Grafen Solms seine Ungerechtigkeit sanft vorwarf; es ist aber auch nie leichter, eine andere Frau zu vertheidigen, als wenn eben ein schöner und reicher Mann sie für unausstehlich erklärt hat.

Anlow hatte die Gesellschaft in den Garten gehen lassen und sich dann für den Ueberrest des Abends in sein Zimmer zurück gezogen. Auf ihn, den völlig unbefangenen Beobachter, hatte Marie den besten und reinsten Eindruck hervorgebracht; er hatte sie schon heute ganz richtig verstanden. Wie gestern nahm er nun »das Leben einer Frau« in die Hand, aber er warf es nicht wie gestern in die Ecke; er las es und zwar mit steigendem Antheil. Anlow gehörte nicht zu den tiefen Menschen, welche mit Selbstbewußtsein sagen: »wir können keine Romane lesen; sie sind uns zuwider!« und dadurch eigentlich nur sagen: »wir können so einer verwünschten Dichterphantasie nicht nachkommen; möge sie denn fliegen – wir gehen.« Anlow hatte eine Phantasie, die er im Leben streng beherrscht hielt, von der er aber in Stunden, welche sein waren, sich gern in die wunderbaren Gebiete der Dichter versetzen ließ. Von der Gegenwart für alle ihre Forderungen gebildet, wählte er mit Vorliebe den Roman, als die ihr eigenste Dichtungsform, und unter den Romanen mit künstlerischem Verstande wieder diejenigen, welche ihm wirklich etwas erzählten. Der rein begebenheitliche Inhalt hatte ihn bei Melanie sehr befriedigt; in diesem Buche fand er einen gleichen, in einer von den ersten, mächtigsten Regungen des Lebens durchzuckten Form. Auch nicht ein todtes Wort war darin und besonders eine Sprache der Liebe, daß Anlow sich fragte: »ist das Genie oder Erfahrung? – Ich wollte, es wäre Genie;« setzte er hinzu. »Und ich hoffe, es ist Genie;« sagte er, als er endlich das Buch weglegte, nachdem er bis tief in die Nacht hinein gelesen hatte.


Marie hatte Anlow auch bemerkt und fragte vor dem Gutenachtsagen die Freundin: »Nicht wahr, der da in der Ecke saß, war Dein Diplomat?« – »Ja,« antwortete Pauline; »Du mußt ihn aber erst morgen beurtheilen. Doch wie hat Dir Dein Feind gefallen?« – »Es ist ein schöner Mann,« sagte Marie lachend; »aber mich hat er angesehen, als wollt er mich verschlingen.« – »Ja, er war so übler Laune, als man in guter Gesellschaft nur sein darf;« sagte die Baronin auch lachend, und Beide trennten sich für die Nacht und schliefen so gut, daß sie erst am Morgen hörten, Franz, der Neffe des Barons, sei nach Mitternacht angekommen und bereits wieder auf und im Garten, wo er alle Vögel und Sonnenstrahlen beschwöre, Marie und seine Tante zu wecken. Beide Freundinnen hatten auch wirklich die kluge Gewohnheit, nie einen schönen Morgen zu verschlafen, und so konnte schon wenige Minuten, nachdem die alte Kirchuhr des Dorfes sechs geschlagen hatte, Franz an Mariens Anblick so versunken hängen, wie ein Durstender an dem eines Bechers, der für ihn gefüllt wird. Franz hatte schon längst unbefangen erklärt, daß er Marien anbete; in allen seinen übrigen Neigungen unbeständiger, als ein Wind, war er in dieser seit seinen Knabenjahren sich gleich geblieben und von der kleinen Reise, auf welche der Onkel ihn geschickt hatte, beinahe mit übernatürlicher Eile zurückgekommen, um Mariens Ankunft nicht zu versäumen. Und nun war ihm dieses Unglück doch geschehen, und gerade er mußte sie einen halben Tag später sehen, als alle Andern.

Seine Tante sagte: »Dafür siehst Du sie jetzt gleich viel ruhiger, und daß Du sie gestern nicht mit empfangen konntest, war sehr gut. Heute schläft noch Alles, aber gestern hätte man unfehlbar bis in den Saal hinein gehört, daß Du entzückt seiest, und Du hättest die Gesellschaft wieder einmal unterhalten.«

Franz erklärte: die Gesellschaft werde ihm bald unausstehlich werden; die Baronin las ihm mit scheinbarem Ernst darüber die Moral, und der siebzehnjährige Anbeter wurde noch nachdrücklicher in seinen Erklärungen. Er sagte: bei Frau von Goldhand wär' es bei Sonnenuntergang kaum auszuhalten, und Frau von Willert vergäße immer und immer, daß er kein Knabe mehr sei, was ihr einmal ernstlich zu sagen, er sich wirklich nächstens genöthigt sehen würde.

»Da mußt Du Dir erst einen falschen Bart ankleben,« sagte die Baronin, »sonst glaubt sie Dir's nicht.«

»Frau von Willert soll sehr witzig sein,« sagte Marie; »beweisen Sie Ihr Männerthum doch auch durch Witz.« – »Den hab' ich nicht;« rief Franz im Eifer. Die Freundinnen lachten, aber er ließ sich das nicht anfechten; Marie durfte ihn auslachen, so viel sie wollte, auch der Tante erlaubte er es dann. Er selber aber blieb jetzt ernsthaft und blickte Marien tiefsinnig an.

»Und wer ärgert Dich denn am meisten?« fragte die Tante.

»Graf Solms;« antwortete er mit dem Tone der innersten Wahrheit. »Wenn der über den Geist der Frauen aburtheilt, – ich könnte« –

»Guten Morgen, gnädige Frau;« sagte Graf Solms, indem er mit feierlichem Gesicht aus den Gebüschen trat. »Guten Morgen, guten Morgen!« sagte lächelnd die Baronin. »Ich habe die Pferde bestellt; darf ich sie vorführen lassen, Fräulein Marie?« fragte Franz, nachdem er mit einer kalten Verbeugung gegen den Grafen aufgestanden war. »Ja, lieber Franz;« antwortete Marie. Franz ging; die Baronin sagte: »ich habe gestern etwas versäumt; Hausgenossen müssen sich doch kennen lernen; liebe Marie, Graf Solms; Fräulein von Unruh, lieber Graf. – Franz, höre noch einen Augenblick!« Und sie ging ihrem Neffen nach, und der Graf, der noch nicht gefrühstückt und Hunger hatte, stand Marien gegenüber, die ganz ruhig den Rest ihres Milchbrötchens aß. Er wünschte im Herzen der Baronin, daß die Köchin die nächsten zehn Braten verbrennen möge; aber er konnte doch nicht gerade zu unhöflich sein, und so sagte er denn: »Sie scheinen die Morgenstunde auch zu lieben, gnädiges Fräulein.«

»Ja,« sagte Marie; »es ist so frisch des Morgens.«

»Ja, sehr frisch;« sagte er. »Sie sind schon öfter hier gewesen?«

»Schon sehr oft;« antwortete sie.

»Ich bin zum ersten Male hier; es ist sehr schön hier.«

»Sehr schön.«

»Außerordentlich schön, wirklich. Ich weiß kaum einen schöneren Landsitz.«

»Ich weiß wirklich keinen schöneren.«

»Besonders bei diesem herrlichen Frühjahr. Wir haben lange kein solches gehabt.«

»Etwas zu heiß ist es.«

»Das haben Sie gewiß unterwegs empfunden. Hatten Sie auch Staub?«

»Nein, es hatte geregnet.« Marie war jetzt mit dem Milchbrote fertig. Die Baronin kam zu ihnen zurück und rief: »Marie, Franz läßt bitten, Du sollst Dich zurecht machen; Lady Arabella steht nicht lange.« Marie nahm Taschentuch und Handschuh, grüßte den Grafen und flog leichten Schrittes über den Rasenplatz in das Schloß. Die Baronin kam zum Grafen und sah ihn an, so, als wenn sie es in Gedanken thäte. Er sah sie auch an und zwar mißtrauisch; aber da sie ganz ernsthaft blieb, sah er wieder nach dem Schlosse, auch so, als wenn er in Gedanken wäre. Die Baronin rückte unterdessen die Tassen und Teller zusammen und sagte: »armer Graf, Sie haben noch nichts gehabt; ich wollte ich könnte Ihnen hier etwas geben, aber wo der Franz ißt, da bleibt nichts übrig.« – »Ich frühstücke ja immer später;« antwortete er. »Aber sonst kommen Sie nicht so an meinen Frühstücktisch;« sagte sie; »wie ist denn auch heute Ihr Spaziergang so kurz gerathen?« – »Ich bin nur im Garten umhergegangen;« sagte er. »So?« erwiederte die Baronin; »wollen Sie nun mit mir auf den Balkon gehen, damit wir die Beiden abreiten sehen?« Solms machte eine Verbeugung und ging mit auf den Balkon, der auf den von Linden und Pappeln beschatteten Hof sah. Die Pferde wurden eben herausgeführt; der schöne braune Douglas und die rabenschwarze, feurige Lady Arabella.

»Das Fräulein wird doch nicht dieses Pferd reiten?« fragte Solms. Die Baronin lächelte; denn eben trat Marie unter dem Balkon hervor, ging ruhig zu dem schon ungeduldigen Thiere hin, schmeichelte ihm mit Wort und Hand und saß im nächsten Augenblick mit der größten Sicherheit im Sattel; dann ritt sie vor den Balkon, grüßte mit einem feinen Lächeln hinauf, sah sich um, ob Franz komme, und flog, als sie ihn nahe sah, muthig voran und wol tausend Schritte weit; dann hielt sie an, wartete einen Augenblick auf Franz, und Beide verschwanden allmälich unter den Blüthenzweigen der Kirschbäume auf der Straße.

Die Baronin ließ den Grafen so lange nachsehen, als etwas zu sehen war; dann aber sagte sie: »lieber Graf, ich höre Ihre Frühstücksgesellschaft; wollen Sie nicht hinuntergehen?« – »Ja wohl,« antwortete er, »aber mit dem Pferde muß ein Unglück geschehen, wenn eine Dame es reitet.« – »Es geschieht aber feines!« sagte die Baronin lachend; »Marie kann eben so gut ein wildes Pferd reiten, als ein Buch schreiben.« – »Das ist schon ein Unglück, daß sie Beides kann;« sagte Solms vor sich hin, während er wieder in den Garten ging, wo jetzt ein größerer Tisch besetzt und die übrige Gesellschaft, Anlow und Haßfeld ausgenommen, versammelt war. Solms trat verstimmt hinzu; Frau von Willert sagte: »ich wollte darauf wetten, daß Graf Solms heute schon Fräulein von Unruh gesehen hat.«

»Ja wohl bin ich so unglücklich gewesen;« antwortete er, indem er die Tasse nahm, die Fräulein von Goldhand ihm eingegossen hatte, und sich im nächsten Augenblick an dem glühenden Kaffee die Lippen verbrannte.

»Sie sind ein unverbesserlicher Mensch;« sagte Frau von Willert. »Wie kamen Sie denn aber mit ihr zusammen?«

»Hier; ich hörte die Baronin sprechen und glaubte sie allein zu finden –«

»Da hätte sie ein Selbstgespräch führen müssen.«

»Nicht doch – ich dachte nicht, daß das Fräulein hier sein würde – «

»Das hätt' ich Ihnen im Voraus sagen können; die Beiden sind immer zusammen. Nehmen Sie sich daher in Zukunft in Acht.«

»Das werd' ich wohl; aber heute wußt' ich es nicht, hörte die Baronin mit Franz, und – kam her.«

»Nun – und?«

»Nun, die Baronin stellte mich, wie ich es von ihrer Bosheit auch nicht anders erwarten konnte, feierlich vor und ließ mich dann, dem Fräulein gegenüber, allein stehen.«

»Und was that das Fräulein?«

»Saß und aß Milchbrot. Gnädige Frau, warum muß ich denn diese Geschichte erzählen?«

»Ich kann es Ihnen nicht ersparen. Es muß zu köstlich ausgesehen haben, wie Sie dastanden und das Fräulein Milchbrot essen sahen. Was sagten Sie, lieber Solms; bitte!«

Der Graf ergab sich in sein Schicksal und erzählte seine Unterhaltung mit Marien. Frau von Willert sagte: »schön, lieber Solms; sehr gut. Wenigstens kann man nicht sagen, daß Ihr zu geistreich gewesen seid.«

»Nein,« rief Herr von Rosen, der bis jetzt gefrühstückt hatte, »da ist es mir besser gegangen.« Er wollte die beiden Aeußerungen Mariens von gestern erzählen, aber der Graf rief unmuthig: »ich bitte Sie, Rosen, lassen Sie uns mit Fräulein Unruh's Geist in Ruhe.« Und als Herr von Rosen doch sprechen wollte, rief er noch heftiger: »hören Sie auf, oder ich gehe fort.«

»Lieber Solms,« sagte Frau von Willert, »unsere Laune ist heute wirklich fieberhaft – ein niederschlagendes Pulver wäre Ihnen höchlichst anzurathen. Wie soll denn das werden, wenn Sie heirathen.«

»Eine Frau mehr muß da ein Engel sein, gnädige Frau.«

»Ganz gut, aber der Mann braucht deswegen kein – Bär zu sein. Und was hat Fräulein Unruh Ihnen denn eigentlich gethan – sagen Sie mir das?«

»Gnädige Frau, ich dächte, Sie kennten meine Ansicht über Schriftstellerinnen.«

»Die kenne ich, lieber Solms, und zwar dreißig Jahr früher, als ich sie von Ihnen hörte. Dergleichen Ansichten vererben sich von Mann auf Mann; aber ich habe Sie doch schon öfter mit Schriftstellerinnen gesehen und noch nie so verdrießlich, als gestern und heute. Warum? Das will ich wissen.«

»Das weiß ich selber nicht. Vielleicht bin ich krank.«

»Vielleicht – ja;« sagte Frau von Willert und sah ihn an, wie ihn vorhin die Baronin ansah. Er hatte sich eine zweite Beobachterin erworben.

Herr von Rosen hatte unterdessen, was er nicht laut erzählen sollte, dem Fräulein von Goldhand leise erzählt und fragte nun: »ist das nicht hübsch?« »Was denn?« fragte Frau von Willert. »Ach, nichts!« sagte er; »ich möchte nur Fräulein von Unruh bald zu Pferde sehen.« – »Das Vergnügen hätten Sie haben können,« sagte Solms; »sie ritt vor einigen Minuten fort.«

»Ah!« rief Herr von Rosen. »Und wie sah sie aus?«

»Ich glaube, ganz gewöhnlich;« antwortete Solms; »aber sie ritt die Lady Arabella, und so erwarte ich jeden Augenblick irgend eine schöne Neuigkeit von einem romantischen Unglücksfalle.«

»Die Lady Arabella?« wiederholte Herr von Rosen.

»Ja!« sagte Solms; »auf die Sie neulich nicht hinauf konnten. Haben Sie es denn vergessen?« Die Damen verbargen, so gut es ging, ihr Lachen; Herr von Rosen that, als habe er nichts gehört, und sagte: »da möcht' ich mir den Fuchs satteln lassen und nachreiten. Ich möchte sie gar gern zu Pferde sehen.« – »So gehen Sie in des Himmels Namen!« sagte Solms. »Ich will auch gehen;« erwiederte Herr von Rosen. Er rief dem Bedienten, der in der Ferne wartete, und ertheilte ihm seine Befehle. »Ist sie denn allein?« fragte Frau von Goldhand den Grafen. »Franz ist mit ihr,« antwortete dieser; »es scheint mit ihm ein lächerliches Verhältniß zu sein; Rosen wird da wol in Nebenbuhlerschaft gerathen. Aber zu Pferde wird der halbe Knabe ihr wenig nützen – wie gesagt, es ist ein Unsinn, sie mit ihm allein reiten zu lassen.« – »Mein Gott!« sagte Frau von Willert, »da sollten Sie wirklich nachreiten.« – »Meinen Sie?« fragte er, schon im Begriff aufzustehen, aber doch noch zögernd. »Gewiß!« sagte Frau von Willert; »das bringt sie ja in keine nähere Verbindung.« – »Nun, wenn Sie meinen;« sagte Solms. Er ging langsam fort; Frau von Willert sah ihm nach und schüttelte den Kopf.

Unterdessen waren Marie und Franz heiter durch die helle Gegend fortgeritten. Die Straße, welche zu den meisten Feldern des Barons führte, zog nach einigen tausend Schritten einen Hügel hinan und senkte sich dann wieder, bis sie endlich auf ebenem Boden in die Landstraße einbog. Ihrer ganzen Länge nach war sie mit den schönsten Kirschbäumen besetzt, deren blühende Zweige vom Thau naß waren und vom leisen Winde bewegt wurden, aber nur so leicht, daß nur von Zeit zu Zeit ein Thautropfen herunterfiel. Jede Blüthe duftete, und zu beiden Seiten glänzte die hellgrüne Saat.

»Hab' ich den Prinzen Frühling um die rechten Gnadenbezeugungen gebeten, schönes Fräulein?« fragte Franz.

»Das habt Ihr, schöner Page;« antwortete Marie; »aber wo sahet Ihr den Prinzen?«

»Vor den Gewächshäusern, wo er sich mit den Lorbeerbäumen unterhielt, nachdem er den Schneeglöckchen befohlen hatte, zu läuten.«

»Und war er gnädig?«

»Wie zehn Könige zusammen.«

»Und gewiß auch schöner, als die Könige gewöhnlich sind?«

»So schön, daß ich nur bedauerte, ihn Euch nicht als Gemahl zuführen zu können. Ich sagt' es ihm auch, und er bedauerte es auch sehr; aber er sagte, er dürfe sich nicht verheirathen.«

»Nun, so will ich ihm wenigstens meine Erkenntlichkeit bezeigen für Alles, was er Schönes hat entstehen lassen.« Sie grüßte anmuthig in die Ferne hinüber und sagte: »Prinz Frühling, ich danke!« Eine Lerche stieg aus der Saat singend in die Höhe, und Marie rief: »Sehen Sie, das ist der Bote, der meinen Dank überbringen wird.«

»Nein!« sagte Franz; »Prinz Frühling wohnt in keinem Luftschlosse.«

»Wo wohnt er denn?« fragte Marie lächelnd.

»Dort!« sagte Franz und bog aus der Straße hinaus und auf einen Hain ein, wo er still hielt und hinunter zeigte. Die Saaten zogen sich hier den sanften Abhang des Hügels hinab; dann kamen Wiesen, von einzelnen schönen Bäumen unterbrochen, und mitten in den Wiesen lag ein weiter Teich und an seinem diesseitigen Ufer, zwischen Erlengebüsch und unter einer schützenden Eiche, ein kleines Haus. »O wie hübsch!« rief Marie; »ein Fischerhäuschen! Wer hat denn den Gedanken gehabt?«

»Ich,« antwortete Franz, »und ich hab' es nicht erwarten können, Sie hier zu haben.«

»Guter Franz!« sagte sie herzlich; »wir wollen gleich hinunter.«

Auf dem Rain und über die Wiesen hinsprengend, waren sie bald unten angekommen. Franz band die Pferde an die Eiche und führte das Fräulein in das Haus, welches gar nett eingerichtet war und dicht an dem klaren Wasser des Teiches stand, so daß man aus dem Fenster angeln konnte. Dieses Vergnügen war jedoch für die jungen Leute keines, nur der Baron liebte es.

Franz saß mit Marien am Fenster, unter welchem das Wasser sich kräuselte, und erzählte, wie gleich nach ihrer Abreise das Häuschen unter seiner Anleitung angefangen und noch vor dem Winter fertig geworden sei. Seit es Frühling war, hatte er täglich einige Stunden hier studirt. Zuletzt sagte er: »auch die ›Sakontala‹ hab' ich hier gelesen.«

»Nicht wahr, da hab' ich Ihnen etwas Schönes geschickt?« fragte Marie.

»Ich fühlte, als wär' ich wirklich in Indien;« antwortete Franz. Sie sprachen weiter über diese Dichtung, welche wie eine Lilie aus dem perlenhellen See der indischen Sprache zu uns herübergebracht worden ist und nun, wenn auch weniger glänzend, doch immer noch märchenhaft lieblich unter unserm blassen Himmel blüht. Marie liebte sie, wie eine junge Dichterin sie lieben muß, und fand einen tiefen Genuß darin, ihre Schönheit betrachtend anzuschauen. Franz hörte dem jungen Mädchen mit Eifer und Verständniß zu. Marie verweilte besonders auf dem glücklichen Zuge, daß Duschmanta's Vergessen durch einen Zauber veranlaßt werde, indem so allein die endliche strahlende Lösung der dunklen Verwirrung möglich sei. Dann sagte Marie: »es wäre gut, wenn die Frauen Manches, das ihnen von den Männern widerfährt, auf einen solchen Zauber schieben könnten, besonders jenes entsetzliche Mißverstehen, das so oft vorkommt und so unversöhnbar scheidet.«

»Marie,« sagte Franz unruhig, »da müßte ja jeder Streit auf immer scheiden; denn da versteht doch unfehlbar Jeder den Andern falsch.«

»O, in der Leidenschaft, wenn das Auge getrübt ist,« rief Marie, »da kann der Mann noch so sehr beleidigen: die Liebe der Frau wird darüber schweben! Doch wenn er mit Ruhe, aus innerer Gemeinheit, unsere Seele mißversteht – ich weiß nicht, ob Sie das schon gesehen haben, aber es wird sich schon Gelegenheit finden, Ihnen Beispiele zu zeigen – solchen Mann kann eine edle Frau nicht länger lieben; ich wenigstens könnt' es nicht.«

»Glauben Sie denn überhaupt, daß es einen Mann giebt, der würdig wäre, von Ihnen geliebt zu werden?« fragte Franz ernsthaft.

Marie lachte. »Guter Franz,« sagte sie, »für was für eine vollkommene Närrin müßten Sie mich halten, wenn ich Ihnen auf diese Frage ernsthaft antworten wollte?«

»Aber Sie haben doch bis jetzt noch keinen gefunden?«

»Aber ist denn damit gesagt, daß es keinen gebe? Findet man denn immer, was da ist? Ich glaub' es nicht, lieber Franz, wenn es auch sehr gut wäre.«

»Marie, ich habe schon seit einem ganzen Jahre eine Frage auf dem Herzen, die ich an Sie thun möchte.«

»Warum sie da nicht thun, Franz?«

»Sie paßt sich nicht für mich, und ich fürchte, Sie könnten böse werden.«

»Das ist sehr meine Art, nicht wahr? Uebrigens weiß ich Ihre Frage schon.«

»Das ist wohl nicht gut möglich, Marie.«.

»Doch, Franz: Ob ich schon geliebt habe? Nun war es das nicht?«

»Ja, das war es; aber wie konnten Sie errathen?«

»Hätt' ich es nicht errathen sollen, so hätten Sie mich nicht immer so verstohlen ansehen müssen, wenn von Liebe gesprochen wurde.«

»Und werden Sie mir antworten?«

»Ihnen, ja. Sonst sprech' ich nicht gern davon.«

»Waren Sie unglücklich?« «fragte Franz, heftig bewegt

»Ich machte unglücklich, weil ich zu lieben glaubte und mich täuschte, und deswegen, – wie gesagt, ich spreche nicht gern davon. Es ist der Vorwurf in meinem Leben, obwohl ich nur aus Unwissenheit fehlte.«

»Es muß schrecklich sein, durch Liebe unglücklich zu werden.«

»Ich hoffe auch, es nie zu werden.«

»Marie, so sicher? Es ist das Loos der Dichter.«

»Ja, so heißt es in den alten Mährchen, welche Menschen erzählen, die nicht wissen, was Dichter sind. Glauben Sie es nicht, Franz, wenn man es Ihnen noch einmal erzählt. Unglück vernichtet die Seele – nun nennen Sie mir einen Dichter, der durch Liebe aufgehört hätte, einer zu sein. Er leidet an ihr, heftig und lange; aber dann besiegt er sie und verwandelt sie in Lieder. O nein, irdische Liebe ist nicht mächtig genug, daß eine Dichterseele ihr unterläge. Was den Dichter ernst macht, ist, daß er auf Erden niemals die rechte Schönheit sieht. Aber das ist ein edles Leiden.«

Marie sprach selten so lebhaft, selbst mit ihren Freunden nicht; meistens waren ihre Worte so einfach wie ihr Wesen. Franz hing an ihrem Munde, als er ein Pferd hörte, welches im Galopp näher kam. Er blickte hinaus und sah Herrn von Rosen, der schon ganz nahe war. »Mein Gott, jetzt dieser Mensch!« rief er halb laut, aber ganz verdrießlich. »Nun, was thut denn das, Franz?« fragte Marie. »Was es thut?« fragte Franz zurück. »Jedes Gespräch ist jetzt zerstört; was hat denn der Narr Ihnen nachzukommen?« – »Weil ich ihm gefalle, vermuthlich;« antwortete Marie. »Und das gefällt, Ihnen, vermuthlich? fragte Franz. »Ja wohl,« sagte Marie, »das gefällt mir immer.« Franz sah sie an und sagte: »bald eine Priesterin und bald ein Mädchen, wie alle andern – was sind Sie eigentlich wahrhaft, Marie?« – »Ein Räthsel, wie Alles, das Mensch heißt;« antwortete Marie sinnig; »aber sollten Sie mich nicht lösen können?« Franz konnte nicht antworten; denn Herr von Rosen war abgestiegen, hatte sein Pferd dem Reitknecht gegeben und trat ein, indem er sich sehr freute, Marie gefunden zu haben.

Marie, die heute keine Stellung zu behaupten hatte und sehr heiter war, empfing ihn freundlich und natürlich. Herr von Rosen fand, daß sie im Lächeln noch einmal so hübsch sei. Er sagte ihr auch, daß sie ihn heute überrasche, und fragte, warum sie gestern so ernst ausgesehen habe. Marie sagte: »man darf nicht immer lachen, oder selbst nur lächeln; gestern dürft' ich es auch nicht, aber mit Ihnen kann man natürlich sein, denn Sie sind gut.« – »Gnädiges Fräulein, welch ein Wort!« sagte Herr von Rosen. »Ich glaube, daß es Sie erschrecken mag;« sagte Marie; »aber erheben Sie sich über das Vorurtheil; es ist wirklich nicht so übel, gut zu sein, und Ihnen hilft es auch nichts, wenn Sie es abläugnen, denn ich trau' es Ihnen nun einmal zu.«– »Gnädiges Fräulein, rief Herr von Rosen, mit dem Gesicht eines Menschen, der seine Ehre retten muß, »ich kann auch boshaft sein; wahrhaftig, ich kann es!« – »Wenn Sie es müssen;« antwortete Marie. »Nein, auch ohne daß ich es muß,« rief er, »und jetzt gleich will ich es Ihnen beweisen. Sollten Sie wol glauben, daß ein Mann sagen könnte: er sei so unglücklich gewesen, Sie zu sehen? Gut, der Graf Solms hat es vor einer halben Stunde gesagt, und jetzt sag' ich es Ihnen aus freiwilliger Bosheit.« – »Die aber trotz Ihrer Mühe unschädlich bleibt,« sagte Marie; »denn dem Grafen wird es gleich sein, ob ich es weiß oder nicht, und ich bleibe, wie Sie sehen, auch ganz ruhig dabei.« – »Weil es Ihnen gleichgültig ist?« fragte Herr von Rosen. Marie bewegte lächelnd zur Verneinung den Kopf. »Nun, da weiß ich doch nicht –« sagte er; »oder sollten Sie ihn zu bekehren meinen?« – »Sollte das ganz unmöglich sein?« fragte Marie, naiv ernsthaft. »O nein!« sagte Herr von Rosen; »mir scheint es im Gegentheile gewiß, und ich lache jetzt schon, wenn ich denke, wie Solms durch vergeblichen Widerstand seine Niederlage verschlimmern wird.« – »Da reitet er eben;« sagte Franz in verdrießlichem Tone; denn als einen vernünftigen Menschen langweilte ihn diese Art von Unterhaltung immer über die Maßen, und die einzige Gelegenheit, wo er auch über Marie murren konnte, war, wenn sie ein solches Gespräch scherzend führte. Dieses hatte er durch die Wahrnehmung, daß Graf Solms die Straße heraufgeritten komme, glücklich unterbrochen; denn Marie bat ihn sogleich, ihr Lady Arabella vorzuführen. Er that es und warf sich, als auch er im Sattel war, zum Wegweiser auf, wo er denn aus Rache gegen Herrn von Rosen die glattesten Pfade aufsuchte. Herr von Rosen aber mußte heute einen Stern zum Beschützer haben, denn er folgte Marien mit unerschüttertem Selbstvertrauen und kam auf seinem Fuchs mit ungewohnten Ehren wieder auf ebenem Wege an.

Jeder Mensch hat seine kleine Schwachheit, die er liebkost oder ängstlich verbirgt. Wie Herr von Rosen eben so gern als schlecht ritt, so wollte Graf Solms durchaus scharfsehen, obgleich er so kurzsichtig war, als man nur sein kann. Er trug daher keine Lorgnette, machte aber jeden Tag neue Verwechselungen und Verwirrungen, die er dann regelmäßig auf Zerstreutheit schob. Auch heute hielt er einen Bauer, der zwei Kühe auf die Landstraße zutrieb, für Marie und Franz, und sah seinen Irrthum nicht eher ein, als bis er sich nicht mehr irren konnte. Unmuthig blickte er umher, konnte aber nirgends das Fräulein mit ihrem Pagen entdecken, und bequemte sich endlich, vollends an den Bauer hinanzureiten und ihn zu fragen, ob er nichts gesehen habe. Der Bauer, der ein dummer Alter war, glotzte ihn an und fragte: »Häh?« Der Graf wünschte den Bauer auf den Blocksberg und wiederholte, indem er schrie, seine Frage. Der Bauer kratzte sich im Kopfe, spuckte aus und sagte dann langsam und schwerfällig: »Ih nu – unser junger Herr mit der fremden Fräulen is« – hier zog er ein Kleidungsstück in die Höhe – »zum Wasserhäusel geritten.« Er hatte kaum ausgesprochen, als der Graf seinen wilden Russen herum warf und nach dem Fischerhäuschen hinsprengte. Natürlich kam er hier viel zu spät an und konnte nichts, als die Spur der Vorangerittenen verfolgen; aber da er nur vorsichtig reiten konnte, behielten sie ihren Vorsprung so lange, bis er aus den Wiesen heraus war. Dann aber jagte er in gestreckter Carriere nach und war in wenigen Minuten an Mariens Seite, wo er sein dampfendes Pferd mit einem Ruck zügelte.

Der Mann erscheint immer am vortheilhaftesten, wenn er mit Ruhe eine rohe Kraft bezwingt, und Marie, welche in dem Auge des Thieres las, erkannte die ganze Gefahr, es so zu reiten. Wenn wir nun noch hinzufügen, daß aus dem Auge des Grafen ein unwillkürlich brennender Blick sie traf, so wird man es nicht ganz unnatürlich finden, daß Marie den Eindruck, den sie vielleicht hervorzubringen wünschte, leise selber empfand. Sie beherrschte jedoch jede Aeußerung desselben; nur daß ihre Stirn sich hell färbte, konnte sie nicht verhindern, und wirklich glühend wie eine Rose, erwiederte sie den stummen Gruß des Grafen, denn Solms schwieg, weil es ihm mit einem Male unendlich thöricht erschien, daß er ihr so gefolgt war. Herr von Rosen und Franz schwiegen auch, jener, weil er die glücklich überstandenen Gefahren wohlgefällig überdachte, dieser, weil die beiden Herren ihn mit ihrer Gegenwart über alle Grenzen der Geduld trieben, und so ritt denn die Gesellschaft sehr feierlich in den Schloßhof ein.

Hier aber hatte das Schweigen bald ein Ende; denn ein Bedienter, der auf der Lauer zu stehen schien, eilte sogleich in das Schloß, und in wenigen Augenblicken kamen alle Zurückgebliebenen heraus und sahen Marien und ihren Rittern entgegen. Marie war wieder ernst geworden und begrüßte so die Damen und Haßfeld, der eben herunter gekommen war und die Begleiter des Fräuleins überflüssig finden mochte. Die Damen thaten einige Fragen an Marie: ob sie sich nicht ängstige – ein so feuriges Pferd ‹ sie wolle gewiß einst eine Heldin werden, und dergleichen mehr. Sie antwortete ruhig: daran habe sie noch nicht gedacht, und ihre natürliche Furchtsamkeit sei vor der Gewohnheit verschwunden. Dann ging sie in das Schloß, wo sie die Baronin fand. Diese bat sie, bald wieder herunter zu kommen – sie versprach es, wenn sie an ihren Vater geschrieben haben würde.

Der Brief mußte lang geworden sein, denn erst nach zwei Stunden trat sie in den Saal, aber nun auch bereits angezogen. Die Baronin saß mit Anlow an einem Tische, der mit Mappen und Kupferstichen bedeckt war, und hatte ein Heft mit architektonischen Blättern aus Frankreich vor sich. Sie rief Marien sogleich zu, sich neben sie zu setzen. Marie näherte sich unbefangen, obgleich sie wohl bemerkte, daß Anlow ihr prüfend entgegen sah. »Herr von Anlow;« sagte die Baronin. Marie grüßte und sah ihn nun auch an. Er war nicht groß, aber gut gewachsen und hatte die Haltung eines Diplomaten. Seine Züge waren nicht auffallend, aber bedeutend, und seine dunkeln Augen geistvoll, das heißt, der Geist verweilte mehr darinnen, als daß er aus ihnen gesprochen hätte. Um den Mund lag Ruhe, eben so in der gedämpften Stimme. Im Ganzen machte er auf Marie einen guten Eindruck, der noch erhöht wurde, als er fortfuhr, die Blätter zu erläutern und über die dargestellten Bauwerke hinaus geschichtliche Blicke zu werfen. Marie wurde im Gespräche schwer von Jemand befriedigt; Anlow befriedigte sie. Er sprach wie einer, welcher der Sprache mächtiger ist, als er es benutzt; völlig einfach, manchmal selbst nachlässig, aber immer bezeichnend und nie weder zu viel, noch zu wenig. Jetzt richtete er das Wort anfänglich noch an die Baronin, bald aber, erst von Zeit zu Zeit und endlich ausschließlich, an Marie. Er war mit der Baronin so vertraut, daß er sich diese Vernachlässigung wohl erlauben durfte; auch wünschte die Baronin sehr, ihn bald mit Marien bekannt zu sehen. So hörte sie denn mit Theilnahme eine Zeit lang zu und stand dann auf, um Beide ganz ungestört zu lassen.

Die Blätter waren zu Ende; aber Marie that Fragen nach mehreren Notabilitäten der Kammern. Anlow hätte weit eher erwartet, von ihr um Dichter befragt zu werden, und sagte ihr es auch. Sie antwortete offen: »von Dichtern kann mir ein Jeder erzählen; von jenen Männern aber können Sie es am besten; und da ich in allen Fächern immer gern das Wichtigste lernen möchte, so wär' es sehr freundlich, wenn Sie meine Unwissenheit über die Politik in Frankreich etwas aufklärten.« – »Gern,« antwortete Anlow lächelnd; »aber das läßt sich nicht so in einigen Augenblicken abthun; Sie müssen dann die Geduld haben, eine Reihe von Vorträgen anzuhören.« – »Ich werde Ihnen sehr dankbar sein;« sagte Marie, und Anlow fing sogleich an, ihr die verschiedenen Parteien im Allgemeinen zu schildern. Marie war in diesem Wunsche durchaus nicht unweiblich erschienen; für sie war Politik wie Geschichte, und sie hörte wie eine aufmerksame Schülerin zu. Anlow hingegen schien sich in diesem plötzlich ihm gewordenen Lehramte sehr zu gefallen, und man sah jetzt schon, daß er und Marie Freunde werden würden.

Während er seine diplomatischen Erfahrungen zu seinem ersten politischen Vortrage benutzte, und die übrige Gesellschaft allerlei that, oder nicht that, ging Graf Solms in seinem Zimmer auf und ab und war ganz in der Stimmung, in welcher man sich selber Ohrfeigen geben möchte. Er hatte sich, die Wahrheit mit einem Male zu sagen, mit dem ersten Blicke geradezu in Marien verliebt, und zwar war ihm dies in seinem achtundzwanzigjährigen Leben zum ersten Male geschehen. Als er zwanzig Jahr alt gewesen war, hatte er eine regelrechte Leidenschaft für die Braut eines Vetters gefaßt und sehr viel Dinte unnöthig zu Selbstbekenntnissen verschrieben. Als der Vetter seine Braut wirklich geheirathet hatte, war Graf Solms vier Wochen lang in der Stube geblieben und hatte nur allein essen können. Dann hatte er einen Entschluß gefaßt und war auf Reisen gegangen, von denen er viel Vergnügen gehabt haben würde, wenn er nicht hätte unglücklich sein müssen. Indessen kann man bei dem besten Willen nicht immer unglücklich bleiben, und so war er denn vor drei Jahren in einer Stimmung, die er männliche Fassung nannte, zurückgekommen. Seine Mutter hatte gewünscht, daß ihr männlich gefaßter Sohn nun heirathen möchte, und er hatte sich auch, ihren Wünschen gehorsam, dazu willig erklärt, aber bis jetzt noch kein Mädchen finden können, welches die Eigenschaften, die seine Frau haben mußte, auch nur theilweise gehabt hätte. So war er denn bis zu dem gestrigen unglückseligen Tage unverheirathet, aber auch würdevoll ruhig geblieben, und nun mußte er bei dem Erscheinen des Fräuleins in solche Bewegung gerathen und, von einer feinen Bemerkung der Frau von Willert plötzlich erleuchtet und von seinem eignen Scharfsinne unterstützt, die Entdeckung machen, daß er nicht Widerwillen, sondern eine unsinnige Neigung empfinde, gegen welche seine Leidenschaft mit einem Male als das erschien, was sie wirklich gewesen war, nämlich als abgeschmackt und eingebildet. Es war, wie man so sagt, erschrecklich; doch Solms war nicht der Mann, um sich nicht zu widersetzen. Er sagte: »Ich bin ein Thor, das kann ich mir unmöglich abläugnen; aber jeder Mensch muß der Weltnarrheit seine Zeit abdienen. Bei mir kommt es spät, aber das ist gut; ich werde jetzt um so schneller damit fertig werden. Frau von Willert aber soll selbst, so lange ich ein Narr sein muß, nicht mehr Gelegenheit haben, mich zu bemerken; das versprech' ich mir.« Als er in seinem Selbstgespräch so weit gekommen war, schlug es drei Uhr, und er ging hinunter zum Mittagessen.

Dieses war, wie immer, belebt. Der Baron besaß das größte gesellige Talent, welches er zur Meisterschaft ausgebildet hatte. Bis zu seinem vierzigsten Jahre war er bei allen civilisirten und bei vielen uncivilisirten Völkern Gast gewesen; dann war er zurück gekommen, hatte sich ein Gut gesucht und beschlossen, nun seinerseits Wirth zu sein. Um dieses aber sein zu können, mußte er eine Frau haben, und die konnt' er schwerer finden, als das Gut und die Gäste. Sie sollte hübsch sein, jung sein, frisch an Seele und Körper sein. Geist sollte sie haben, aber kein Genie sein, weil das nicht bequem ist; selbst keine Talente, weil man sich absondern muß, um sie zu üben. Der Baron suchte lange, endlich fand er Pauline; zu gleicher Zeit Marie. Wäre diese kein Genie gewesen, er würde um sie geworben haben; so aber wählte er Pauline und begnügte sich, Mariens Freund zu werden und sich unbefangen an ihrem reichen Wesen zu erfreuen. Paulinen hatte er kein romantisches Glück geboten, wohl aber ein reiches, sicheres Verhältniß, in welchem jede anmuthige Laune freien Spielraum hatte. Pauline hatte solche Launen und war für dieses Verhältniß wie geschaffen; von Schwärmerei wußte sie nichts, aber jedes tiefen Gefühls war sie fähig, und so liebte und schätzte sie ihren Mann, hing mit ganzer Seele an Marien, bildete sich fort, erfreute sich an Allem und Alle durch sich, und war, mit einem Worte, der Stern des schönen Hauses, welches, wie für lauter Feste erbaut, zwischen seinen Gärten lag. Der Baron hätte nicht glücklicher wählen können.

Heute besonders strahlte sie von Heiterkeit; denn Marie saß ihr gegenüber und grüßte sie mit den geistvollen Augen. Naturen wie Pauline haben den reinsten Genuß für Genie; es ist ihnen, was der Thau den Pflanzen ist; sie fühlen sich von ihm erfrischt und gekräftigt. Marie wußte das und liebte Paulinen eben um dieser schönen Empfänglichkeit willen. Sonst verhielt sie sich mehr beobachtend und sprach nur, wenn Anlow ihr eine leise Frage that, oder Herr von Rosen, ihr anderer Nachbar, sie mit einem Scherz herausforderte. Frau von Willert und der Baron waren die eigentlichen Redner; Graf Solms unterhielt Fräulein von Goldhand und sah nicht ein einziges Mal nach Marien hin. Es ist oft der Fall, daß die Leidenschaftlichkeit, welche eine Frau erregt, sich in Aufmerksamkeiten gegen eine andere Luft macht, und die Frauen sollten daher solche Aufmerksamkeiten sich nur vorsichtig aneignen. Vorsicht ist die Mutter der Weisheit, aber die armen Frauen, mit dem leichtbewegten Herzen, sind nicht immer Schwestern der Weisheit. Auch Fräulein von Goldhand war keine und nahm, was Graf Solms ihr bot, heimlich entzückt und sichtlich geschmeichelt und ohne alle weitere Ueberlegung an. Frau von Willert hatte das bemerkt und verfehlte nicht, ihrem Lieblinge nach Tische eine Vorlesung zu halten. »Jetzt gerade mußt Du gleichgültig scheinen, so schwer es Dir auch werde;« sagte sie. »Ich bin noch gar nicht sicher, daß er sich nicht in die Unruh verliebt hat; sie ist viel blühender und glänzender, als Du, und Solms ist ein Mann, der das liebt. Du, mit Deiner zarten Erscheinung, könntest eher dem Anlow gefallen, aber mir wäre Solms für Dich lieber, und wenn Du klug bist, kann ich noch immer etwas machen, nur halte Du Dich ganz ruhig und vor Allem traue nicht, wenn Solms von der Unruh nachtheilig spricht. Es ist eine weltbekannte Geschichte – was man am heftigsten schmäht, liebt man oft am brennendsten.«

Haßfeld hatte noch gar nicht an Marie herankommen können; jetzt endlich gelang es ihm, sie frei zu finden, und er bat sie sogleich, ein Blättchen zu nehmen, auf welchem folgende Verse standen:

Der Traum kam zu der letzten Nacht
Und sprach: ich will zu einem Dichter,
Schließ' ihm das Aug' mit deiner Macht; –
Sie that's, beim Flimmern ihrer Lichter.

Da sah ich Dich in meinem Traum,
Vom Abend bis zum frühen Morgen;
Und draußen, im Gebüsch am Baum,
Saß eine Nachtigall verborgen.

Marie blieb noch unbefangen. »Schon Verse auf mich!« sagte sie, nun auch mit Haßfeld scherzend; »nehmen Sie sich in Acht, mich nicht zu verwöhnen! Aber muß denn erst der Traum zur Nacht kommen und für Sie bitten, daß Sie schlafen können? Das wäre doch traurig.«

»Ich wache viel;« sagte Haßfeld. »Die Sorge, die Unruhe, die Hoffnung, die Wünsche, alle diese Gäste der Seele lassen mich nicht ruhen.«

»Wissen Sie aber, daß Sie dadurch krank werden?« fragte Marie. »Ich meine nicht am Körper, ich meine, am Geist. Wenn der ein Nachtwandler ist, sieht er das Leben nicht in der wirklichen, farbigen Gestalt; es liegt schattenhaft vor ihm, und in dieser Dämmerung verschwimmen die wahren Umrisse. Wer sagt doch, daß der Mond Unglaubliches glaublich mache? – Nun sehen Sie, so in der Nacht, da haben Geist und Mond Gelegenheit, Unsägliches mit einander zu reden, und da überredet der Mond dem Geiste allerlei, das vor dem Tageslicht unmöglich bestehen kann.«

»Sie haben gewiß Recht,« sagte Haßfeld; »aber geben Sie mir einen Mohnsaft, der mich betäube.«

»Ich will Ihnen einen nennen, der nicht betäubt, aber beruhigt,« antwortete sie: »fest gewollte Ergebung in das Leben.«

»Ergebung in das Leben!« wiederholte Haßfeld. »Nein; jetzt kann man mit ihm nur kämpfen, aber keinen Frieden schließen und noch weniger sich ihm ergeben.«

»Das Leben,« sagte Marie, »das Leben ist jetzt, wie immer, kein behaglicher See, sondern ein mächtiger Strom, der über Untiefen fließt und mit ihnen Strudel erzeugt. Mit diesen müssen wir kämpfen, aber nicht dem Strom entgegen aufwärts wollen, sondern uns vertrauungsvoll von ihm hinabtragen lassen, bis in das Meer und dann –«

»Ja, und was dann?« fragte Haßfeld.

»Das Dann des Stromes ist ein Geheimniß, wie der Tod, oder der Geist, oder das Herz!« sagte Marie.

»Wie Ihr Herz auch?« fragte Anlow, der unbemerkt heran getreten war.

»Halten Sie mein Herz denn für kein menschliches?« fragte Marie.

»Thun Sie denn jedem guten Herzen die Ehre an, es für ein Geheimniß zu halten?« fragte er. »Ich fürchte, das ist eine idealische Ansicht der Herzen. Die meisten sind so flach, daß man jeden Frosch darinnen sehen kann.«

»Und doch können Sie darinnen versinken!« sagte Marie. »Nein, nein; ich glaube von jedem Herzen Schauerliches. Zu oft hat ein scheinbar ganz stilles sich mir durch ein Wort von furchtbarem Sinn verrathen. Die schrecklichste innere Kraft ist doch der Haß, und wie regt der sich, wenn auch nur augenblicklich, doch oft, und gegen die Nächsten, in den sogenannten heiligsten Verhältnissen. Ja, in diesen wird er bisweilen mit einer Unbefangenheit ausgesprochen, die erstarren macht. Ich habe fromme Menschen gehört, wie sie einem andern, der ihnen lästig ist, täglich den Tod wünschen; sie rechnen es ihm fast als ein Unrecht an, daß er noch lebt. Sie wünschen den Tod des Ueberlästigen, wenn sie aus der Kirche kommen – ich weiß selbst nicht, ob sie nicht stillschweigend darum beten. Verlangen aber ist doch der Keim zur That. Wenn nun das Blut um einige Grade feuriger, der Charakter kräftiger, die Erziehung weniger glücklich gewesen wäre – wozu könnten diese Menschen nicht von dem Verlangen hingerissen werden, jenen Einen nicht mehr auf ihrem Wege zu sehen?«

Marie war sehr ernst geworden und blickte nun schweigend hinaus, wo die Blüthenbäume in sonniger Stille dufteten. Anlow's und Haßfelds Augen ruhten auf ihr; in diesen dämmerte eine Leidenschaft; Anlow betrachtete nur. Ihm kam Marie wie ein Gewässer aus den Bergen entgegen: schön, klar, mit wunderbarem Klange. Es erfrischte ihn, sie zu sehen und zu hören, und er wollte hinansteigen, um zu entdecken, welchem Grunde dieses durchsichtige und doch räthselhafte Wesen entsprungen war. Er sah ungewöhnliche, aber ruhige Stunden voraus.

Es wurde heute noch eine Spazierfahrt nach einer nahen Mühle gemacht, wo man Milch trank. Den späteren Abend verschönerte Fräulein von Goldhand, indem sie, theils allein, theils mit dem Grafen Solms, viel und schmachtend sang. Ihre Stimme klang jedoch etwas allzu traurig; dagegen sang der Graf wirklich schön, mit herrlichem Tone und mächtigem, erlebtem Gefühle. Frau von Willert hatte das Zusammensingen der Beiden in Gang gebracht, und da sie für heute nichts weiter wollte, setzte sie sich zu Marien und fing an, Bekanntschaft mit ihr zu machen. Sie war am Ende des Abends mit sich darüber einig, daß Marie wirklich interessant sei und leicht vielfaches Verlangen erregen, sowie, trotz ihrer Bücher und der Lady Arabella, eine sehr gefährliche Nebenbuhlerin des Fräulein Louise werden könne.


Am andern Morgen war Anlow bei seinem zweiten Vortrage begriffen, als Nachbaren vom Lande ankamen. Es war eine zahlreiche, Marien sehr anhängende Familie, und Marie daher den ganzen Tag über für die übrige Gesellschaft verloren. Anlow hörte nicht ohne Belustigung zu, wie sie sich von dem ehrlichen Landjunker die Kartoffelgeschichte des letzten Herbstes erzählen ließ, und von der guten Frau einige wunderbare Begebenheiten aus dem Leben ihrer ausgezeichneten Gänse erfuhr. Die jungen Mädchen hatten ihr ebenfalls unendlich viel mitzutheilen, und die kleinen Knaben ruhten nicht eher, als bis sie sich mit ihnen in ein entferntes Zimmer setzte und nun ihrerseits einige wunderschöne Geschichten von Füchsen, Pferden und Kaninchen erzählte. Anlow war ihr auch hierher gefolgt; sie gefiel ihm in diesem freundlichen Hingeben an die einfachen Menschen sehr; nur als sie beim Abschied der guten Frau versprach, auf mehrere Tage zu ihnen zu kommen, fand er, daß sie die Selbstverleugnung zu weit treibe, und fragte sie: ob sie sich denn nicht in etwas emancipiren könne? »Ich emancipire mich nie von Güte;« antwortete sie. Er neckte sie, daß sie so ganz zu den Conservativen ihres Geschlechts gehöre; aber dagegen verwahrte sie sich und sagte: keine Frau könne so sehr eine Emancipation ihres Geschlechtes wünschen, als sie: »Und wovon?« fragte Anlow; »von unserer Tyrannei oder von unserer Liebenswürdigkeit, die Sie zwingt, uns zu lieben?« – »Von der Unwahrheit;« antwortete Marie. Anlow wurde ernsthaft und sagte: »das wäre in der That zu wünschen.« – »Sie fühlen auch den Mangel an Wahrheit bei uns?« fragte Marie. »Welcher Mann wüßte nicht, daß wir nur Falten des Gewandes, nicht die Form der Gestalt sehen?« fragte Anlow. »Diese Einhüllung ist uns aber zur Pflicht gemacht;« sagte Marie; »sie heißt Weiblichkeit, und sich zeigen, wie man ist, heißt dagegen unweiblich. Das ist ein fürchterliches Wort; es enthält eine Aechtung, und die Frau, welche es trifft, ist für vogelfrei erklärt, das heißt, die allergewöhnlichste darf sich stolz über sie erheben. Einige geniale Frauen haben zwar gewagt, ihre Seele sehen zu lassen, – aber was war auch die Folge davon? Die zarten Frauen wurden blaß, die klugen wunderten sich, die vortrefflichen moralisirten. Es hat mir zur Warnung gedient.« – »Ich möchte nicht gern glauben, daß Sie unwahr wären!« antwortete Anlow.

»Ich bin nicht positiv unwahr,« sagte Marie; »ich bin nur nicht, was ich sein könnte, und die meisten Frauen könnten weit mehr sein, als sie sind, wenn man es ihnen erlaubte. Die Keime, welche keine Luft haben, verwelken, ohne zu treiben. Aber es ist Schade um Alles, was da zu Grunde geht.«

»So haben Sie im Ganzen Vertrauen zu Ihrem Geschlecht?« fragte Anlow.

»Ja,« antwortete Marie, »wir Frauen sind groß gegenüber den Männern, dem Kinde, dem Unglück, oder dem Großen. Wir sind es nicht, Frauen gegenüber; da stört uns das, was unseren Reiz ausmacht, die weiblichen Schwächen. Manche Frauen haben aber auch diese überwunden, und die sind dann wahrhaft herrlich.«

»Darf ich mich vor Ihnen, als solch einer Siegerin, neigen?« fragte Anlow lächelnd. Auch lächelnd schüttelte Marie den Kopf. »Streben Sie auch nicht danach, es zu werden!« sagte er; »Sie selber haben eben gesagt, daß die Schwächen der Frauen ihren Reiz ausmachen, und so ist es auch. Darum bleiben sie nur liebenswürdig – es können ja nicht alle Frauen vortrefflich sein.« – »Aber jede Frau könnte etwas Rechtes sein, und in ihrem Leben ein großes, erhebendes Gefühl gehabt haben!« sagte Marie. »Zum Beispiel, die Freundschaft zu einem Manne; wie oft wäre die zu finden, wenn die Welt nicht so albern darüber aburtheilte?« – »Wollen wir der Welt nicht etwas zu reden geben, Fräulein Unruh?« fragte Anlow. »Noch haben Sie mich nicht genug geprüft; aber ich dächte, wir könnten Freunde werden.« – »Es ist noch zu früh,« sagte Marie; »doch glaube ich auch, es kann werden, denn ich habe unwillkührliches Zutrauen zu Ihnen; wir wollen sehen.« – »Ja, wir wollen sehen;« wiederholte Anlow, und sie sprachen mit Herrn von Rosen, der herankam, von etwas Anderem.


Wenn sie auch noch nicht Freunde waren, so war doch Anlow am anderen Tage Mariens unzertrennlicher Gefährte, und Frau von Willert hatte schon die dritte Bemerkung darüber gemacht, als mehrere Wagen neuen Besuch vor das Haus gefahren brachten. Dieses Mal kamen nicht Nachbaren vom Lande, sondern Gäste aus der Residenz; zwei alte Grafen, eine junge Gräfin mit ihrer Mutter, ein Baron mit seiner Frau, ein Regierungsrath, eine Appellationsräthin und endlich ein junger Advokat, sämmtlich Mitglieder eines der dortigen literarischen Kreise, zu welchem auch Frau von Willert, sowie Frau und Fräulein von Goldhand gehörten. Diese letztere war die Freundin und Bewunderin der jungen Gräfin, welche als die Pythia jenes Kreises verehrt wurde, und beide junge Damen umfaßten einander zart, aber ausdrucksvoll. Marie, obwohl schon mehrere Jahre die Gräfin kennend, wechselte doch nur einige kurze Worte mit ihr, mit den andern Angekommenen nur stumme, kalte Grüße; dann setzte sie sich in dem Büchersaale mit Franz an das Schachbrett. Anlow, der nur die alten Grafen vom Hofe her kannte und keine besondere Verpflichtung gegen sie fühlte, folgte Marien und sah dem Spiele zu, welches sie verlor. Franz rief: »Marie, Sie müssen zerstreut sein, denn nur dann lassen Sie mich gewinnen.« – »Möglich,« antwortete sie und warf durch das nahe Fenster einen halben Blick in den Garten, wo die Gesellschaft spazierte, stand und saß. »Solms begleitet die junge Gräfin,« sagte Anlow, »woher kennt er sie?« – »Ich glaube, von Frau von Willert her;« antwortete Marie. »Und wollen Sie mir sagen, warum Sie sich hierher flüchteten?« fragte Anlow. »Stehen Sie und jene Geistreichen einander feindlich gegenüber?« Marie antwortete: »wir stehen einander gegenüber, wie die arabischen Stämme, wenn sie sich noch nicht den Krieg erklärt, aber große Lust haben, es nächstens zu thun. Scheinbar ist es noch Frieden, aber heimlich haben die Feindseligkeiten schon begonnen.« – »Und die Ursache?« fragte Anlow. »Ei,« sagte Marie, »die lieben Menschen lassen mir Byron nicht gelten, und nebenbei mich auch nicht.« – »Und Sie lieben Byron?« fragte Anlow. Marie lächelte nur; Franz sagte: »ich wollte, ich könnte Byron erst lesen.« – »Das können Sie ja,« sagte Anlow. »Nein,« sagte der junge Mensch ernsthaft; »Marie will es noch nicht.« Jetzt lächelte Anlow, Marie aber sagte auch, ganz als ob es sich von selber verstände: »ich habe eben daran gedacht, Franz; ich glaube, Sie können es jetzt; die Sakontala sollte eigentlich eine Probe sein, ob Sie schon genug fühlten. Sie müssen wissen,« setzte sie, zu Anlow gewendet, hinzu, »daß wir, Franz, die Baronin und ich, unsere Sprachen gemeinschaftlich vom Baron lernten, jedes Jahr eine andere. So haben wir auch viele Dichter zusammen gelesen, mit Franz aber nur Tasso, Guarini, Goldsmith, Shakspeare theilweise, und Cervantes, das heißt, Don Quixote.« – »Don Quixote,« sagte Franz, »das war besonders herrlich, wie wir den lasen. Aber, liebe Marie, können wir da heute Nachmittag nicht gleich Byron anfangen?« – »Das dürfte wol heute nicht gehen,« antwortete Marie. »Warum denn nicht?« rief Franz. »Bei der Gesellschaft haben wir Beide nichts zu thun; ich weiß Umstand für Umstand, wie Alles kommen wird. Wollen Sie's wissen? Nun – die Grafen disputiren mit dem Onkel über den Coriolan. – Diese unglücklichen Grafen, Herr von Anlow, sprechen nämlich nur von Shakspeare, und wenn sie zusammen sind, seit drei Jahren vom Coriolan; allein mit einem Anderen aber spricht Graf Ah vom Othello und Graf Hm von Romeo und Julie; ihre Namen haben sie daher, weil der eine immer mit Ah, der andere mit Hm anfängt. Die also sind Onkels Theil. – Die Appellationsräthin bleibt für sich, denn sie macht Verse; die Gräfin und Fräulein Louise lassen sich vom Grafen Solms moralisch unterhalten; die Baronin seufzt mit Frau von Willert darüber, daß sie den Baron hat, was ich ihr nicht verdenke. Der liebenswürdige Baron endlich, dieser einzige Mann mit der Brille, dieses Kleinod, diese Flasche, gefüllt mit der Essenz aller Mittelmäßigkeit und Anmaßung zugleich –« »Franz!« rief Marie, halb lachend, halb strafend. »Ach was,« erwiederte Franz, »Homer und Shakspeare lassen Götter und Menschen schimpfen – aber Sie haben mich ganz aus meinem schönen Zuge gebracht. Die übrige Gesellschaft also wird mit der Tante am Kaffeetische sitzen – was wollen Sie denn da?« – »Gründlich erwiesen!« sagte Anlow; »wir lesen Byron.«

»Liebe Marie, wir müssen etwas zusammen lesen;« sagte Hofrath Rein, der eben hereinkam; »ich habe mich unter diesem Vorwande von dem Grafen Hm losgemacht.« – »Gut, so fangen wir doch gleich an;« sagte Marie. »Franz, holen Sie Himmel und Erde.« – »Das ist auch gerade keine Erquickung bei solcher Hitze!« seufzte der Hofrath; »indessen, wenn es sein muß – eh' ich dem Grafen Hm wieder in die Klauen seines Geistes falle. – Lieber Freund, vor wem ziehen Sie denn ab?« fragte er Haßfeld, der auch hereinkam, von Herrn von Rosen eilig gefolgt. »Mir ist, als wär' ich auf jedem Schritte von feindlichen Gewalten und Gestalten umgeben;« antwortete Haßfeld und sagte zu Marien: »Madonna, ich bitte um Schutz!« – »Und ich,« sagte Herr von Rosen, »will lieber den ganzen Tag hungern und dursten, als da draußen bleiben. Der Himmel sei mir gnädig! Ich versuchte die junge Gräfin zu unterhalten – wenn sie mich nur angehört hätte. Fräulein Goldhand sah wie aus dämmernder Höhe auf mich herunter; der Graf Solms schritt nebenher wie ein Schlagschatten, der auf seine eigne Hand reis't; mir wurde am hellen Tage gespensterangst, und ich gehe nicht wieder hinaus – das weiß ich.« – »Und ich weiß, daß wir jetzt nicht Himmel und Erde lesen können,« sagte Anlow, »wohl aber Beppo.« Er holte das Buch, nahm seinen Platz neben Marien und las. So ernst er gewöhnlich war, mit so frischer Laune las er jetzt die köstliche Carnevals-Geschichte, in welcher Byrons Dichterauge aus der Maske Arlecchino's hervorblitzt. Marie fühlte sich sehr ergötzt; der Hofrath meinte: das sei eine Erquickung; Franz war außer sich vor Vergnügen; Herr von Rosen verstand nicht Alles, lachte aber immer mit; nur Haßfeld wollte nicht von dem sprudelnden Champagner der Erzählung trinken und saß, mit düsterm Blick auf Marie ruhend, in der Höhle seiner Gedanken da.

Unterdessen ging Graf Solms mit der Gräfin und dem Fräulein von Goldhand im Garten unter den Fenstern auf und nieder.

Der Baron hatte das Schloß gebaut – es war also ganz zu Gesellschaften eingerichtet. Nach dem Hofe hinaus lagen Küche, Gewölbe und die Zimmer der Dienerschaft; auf der Gartenseite führten fünf Glasthüren in eben so viele große Gemächer. In der Mitte war der Gesellschaftssaal; links von diesem der Tanzsaal und das Musikzimmer, rechts der Speisesaal und die Bibliothek. Die Fenster gingen alle bis auf den Boden herab und waren heute, bei dem tiefbewölkten Himmel, weder durch die Persiennen, noch durch die rothseidenen Vorhänge geschlossen. Aus eben diesem Grunde lustwandelte die Gesellschaft auf dem Raume vor dem Schlosse, der mit Orangerie, Blumengruppen auf Rasenplätzen und Marmorbänken gefüllt war, aber des mangelnden Schattens wegen sonst immer nur Abends benutzt wurde. Das Schicksal mußte wollen, daß Graf Solms Marien in dem Kreise ihrer Verehrer sah.

Er sah sie, anfänglich nur mit Anlow und Franz, und schwieg, das heißt, darüber daß er sie sah; sonst unterhielt er die jungen Damen auf das Gewaltsamste von Chemie und von Beständigkeit – sehr entgegengesetzten Dingen, über die er jedoch gleich tiefsinnig sprach. Er hätte aber eben so gern Maulthierlasten getragen.

Als sie wieder an dem Bücherzimmer vorüber kamen, waren drinnen die drei andern Herren dazugekommen und machten eben Anstalt, sich zu setzen. Graf Solms hatte eben gesagt: »der Stickstoff ist –« da blieb das nächste Wort ihm in der Kehle stecken, als sollte er an zu vielem Stickstoff ersticken. Die Gräfin sah nun auch in das Zimmer; Fräulein Louise hatte ihr in einigen unbewachten Augenblicken mit zitternden Worten die Vermuthungen der Frau von Willert mitgetheilt, und sie wollte nun den Grafen beobachten. Sie warf einen zweiten Blick in das Zimmer; Anlow hatte angefangen zu lesen, Marie saß, in einen der dunklen Lehnsessel geschmiegt, in der lieblichsten Stellung des Lauschens. Graf Solms sah das wohl; die Gräfin wandte sich jetzt zu ihm:

»Sie kennen Fräulein Unruh?« fing sie an.

»Seit drei Tagen seh' ich sie;« antwortete er.

»Gefällt sie Ihnen?«

»So wenig, als uns eine Dame nicht gefallen kann.«

»Mir mißfällt sie entschieden.« Die Gräfin war über alle Kleinlichkeiten so erhaben, daß es von ihr immer nur streng gerecht war, wenn sie andere Frauen ohne alle Schonung tadelte.

»Ein junges Mädchen so allein in einem Männerkreise« – fuhr die Gräfin fort – »was sagen Sie dazu, Graf Solms?«

»Ich habe Fräulein Unruh immer nur da gesehen, wo ich eine Frau nicht sehen mag.«

»Sie haben Sinn für Weiblichkeit – Graf – es erfreut, das zu finden; manche Männer, sehr viele selbst, reden jetzt jeder Unweiblichkeit das Wort. Genie soll Alles entschuldigen. Das kühne, freie Hervortreten einer Frau entschuldigt es aber nicht. Es muß ihr tiefstes Geheimniß bleiben, wenn sie Genie hat. Dann kann es zur Glorie werden, die ihre Stirn umleuchtet und Anbetung von den Menschen erzwingt, ohne daß sie wissen, warum die Glorie dieses demüthige Haupt krönt. Wenn, zum Beispiel, dieses junge Mädchen verstanden hätte, weiblich zu bleiben: wer würde sie lieber anerkennen, als ich, und würden Sie ihr nicht mit Begeisterung huldigen? Jetzt kann ich nicht anders – ich muß sie mit Widerwillen betrachten, und Sie fühlen sich abgestoßen und wenden sich, wär' es selbst mit Schmerz, zu Andern.«

»O theure Gräfin, Sie sind zu strenge!« sagte Fräulein von Goldhand. »Bedenken Sie, welch ein leidenschaftlicher Drang, sich zu offenbaren, dem Genie eigenthümlich ist! Diesen zu überwinden – dazu gehört gewiß eine unermeßliche Seelenstärke, und – ich glaube, ich hätte sie nicht.«

»Ja Sie hätten sie,« antwortete die Gräfin, »oder ich glaube lieber, daß Sie weder Kampf noch Stärke bedurft hätten, um sich in den Grenzen der Weiblichkeit zu erhalten; Sie können nicht darüber hinaus. Was aber meine Strenge betrifft – liebes Mädchen, Sie sind ein süßer Engel, der allen Menschen das Beste zutraut, aber Sie kennen die Menschen nicht so wie ich. Denken Sie immer daran, daß ich beinahe zehn Jahr älter bin, als Sie, – das ist viel in unserer Zeit, wo man so schnell lebt und daher auch schnell altert. Mit dem Alter aber kommt die Erfahrung, das werden selbst Sie schon wissen, und so glauben Sie mir immerhin, wenn ich Ihnen sage, daß Fräulein Unruh durch und durch unweiblich ist. Man muß sich auch vom besten Herzen nicht so weit hinreißen lassen, das Tadelnswerthe zu entschuldigen.«

Fräulein Louise hörte diese liebevollen Vorwürfe mit holdem Lächeln an und schmiegte sich dankbar und hingebend an die Gräfin; Graf Solms aber sah sich unruhig um, ob nicht irgend ein Herr komme, dem er seine Damen anvertrauen könne. Ein günstiges Geschick führte ihnen aus einem Nebengange den liebenswürdigen Baron und den jungen Advokaten entgegen, welcher schon von weitem Fräulein von Goldhand mit großen hungrigen Augen halb verschlungen hatte. Jetzt, in ihrer Nähe, erbleichte und erröthete er wechselsweise, wagte aber doch neben ihr herzusteigen und abgebrochen zu sagen: »mein gnädiges Fräulein – ich weiß nicht, ob – ich hatte einmal das Glück, Sie zu – ich weiß nicht, ob Sie sich dessen noch erinnern.« Fräulein von Goldhand erwiederte ziemlich kalt, daß sie sich erinnere, ihn einmal gesehen zu haben. Graf Solms hatte unterdessen, mehr höflich, als artig, dem liebenswürdigen Baron Marie seinen Platz an der Seite der jungen Gräfin überlassen und entzog sich allen weitern Versuchen, ihn für den Vormittag zu fesseln, in den tiefsten Schattengängen des Parks. Hier, von seinem neugierigen Blicke, selbst von keinem Sonnenstrahl gestört, verlor er sich ganz in Gedanken an Marie. Es war ein heißes Mitleiden mit ihr in ihm erwacht, ein Schmerz um dieses junge Wesen, welches so gar kein Mitleiden mit sich selber hatte und sich so harten, wenn auch gerechten Urtheilen aussetzte. »O, wer sie warnen, retten könnte!« Mit diesem Gedanken kehrte er endlich nach dem Schlosse zurück. Herr von Rosen gewahrte ihn. »Aha, Solms, sind Sie es auch müde geworden, mit den beiden Schwebenden auf und ab zu ziehen? Sie sehen übrigens noch ganz nach dem Vergnügen aus, man darf noch nicht recht in Ihre Nähe kommen – auch ist schon Nachfrage nach Ihnen gewesen, also Gott befohlen!« »Seien Sie vernünftig, Rosen,« erwiederte der Graf, »und sagen Sie mir: was hörtet Ihr denn Alle vorhin so andächtig an?« – »Ah, Sie meinen, als Anlow las?« fragte Herr von Rosen. – »Das war etwas von Byron, eine köstliche Geschichte – ich habe den Namen vergessen – aber eine schöne Venetianerin findet mit einem Male heraus, daß ihr Mann ein Türke ist, oder ein Türke ihr Mann – kurz es ist etwas von einem Türken, und ganz vortrefflich. Sie wissen – Byron – ich liebe keinen Dichter so wie Byron, aber den – Beppo – sehen Sie, nun hab' ich den Namen – ja, den hatt' ich noch nicht gelesen. Doch dort kommt die Gräfin – rette sich, wer kann!« Und er zog sich in das Schloß zurück.

Der Graf folgte ihm, ebenfalls ohne Neigung, das Herankommen der Gräfin abzuwarten. Solms hatte Byron so oft gelesen, daß er aus der verwirrten Schilderung des Herrn von Rosen sogleich herausgefunden hatte, Anlow habe den Beppo vorgelesen. »Mein Gott,« sagte er zu sich, »also Byron kennt sie auch. Dieser entzückende und eben darum so entsetzliche Mund hat also schon zu ihr gesprochen? Ich konnte mir's denken – aber welche Gefahr – es ist Pflicht, Einfluß auf sie zu gewinnen – oder hätte sie ihn heut erst kennen gelernt? Ich muß das wissen.«

Er wußte es so einzurichten, daß er bei Tische, scheinbar wider seinen Willen dahin gedrängt, an ihre Seite kam. Doch konnte er diese Gelegenheit nicht benutzen; denn Frau von Willert saß ihm gegenüber, und wir wissen, daß sie beobachten konnte. Er begnügte sich daher, in einer Unterhaltung im gewöhnlichen artigen Tone Marien wenigstens etwas näher zu treten, als er ihr bisher durch seine Schuld gestanden hatte. Marie nahm den Anrückenden nicht entgegenkommend und nicht abstoßend, sondern ganz ruhig auf; aber sie war, wenn wir so sagen dürfen, heimlich liebenswürdig, das heißt die Andern bemerkten ihre Liebenswürdigkeit nicht, aber Solms fühlte sie, und sie war mächtig genug, um ihn den ganzen Nachmittag über in Mariens Nähe festzuhalten. Dieses Nahebleiben fiel nicht auf, denn Marie trennte sich nicht mehr von der Gesellschaft, sondern saß mit ihrer Arbeit zwischen den andern Damen eben so regelrecht wie diese da.

Die Appellationsräthin hatte schon am Vormittag Verse gemacht, fehlte also auch nicht und strickte. Die Gräfin allein arbeitete nicht und sprach, wunderlich genug, über Byron. Natürlich sprach sie in der Art, wie tugendhafte Menschen von der Verderbniß Anderer sprechen, ohne Schonung und ohne Erbarmen und mit dem erhabenen Bewußtsein des eigenen hohen Standpunktes. Die alten Grafen und der liebenswürdige Baron sangen die andern Solostimmen und die übrigen Geistreichen den Chor. Frau von Willert, die zwar Mitglied des Kreises war, aber doch ihr eigenes Urtheil hatte, und Baron Feldner bildeten die laute Gegenpartei; zu der stillen gehörten alle Andern, selbst Graf Solms, der eigentlich den gemißhandelten Dichter leidenschaftlich liebte und nur für Frauen, die er nun einmal als die Säuglinge im Geiste betrachtete, zu gefährlich fand. Männer von Kraft und Grundsätzen konnten sich schon in der Verlockung erhalten, denn verlockend war Byron, das gab Solms der Gräfin gern zu; aber im Ganzen schien sie es doch zu arg zu machen, und überhaupt durfte eine Frau, nach seiner Ansicht, nie so vollständig verdammen, am wenigsten einen Mann, den sie vielleicht gar nicht einmal ganz verstand. Dieses Alles dachte Graf Solms aber nur; denn ihm fehlte gänzlich der Muth, seine Meinung auszusprechen, wenn sie von dem moralischen Herkömmlichen auch nur ein Haar breit abwich. Anlow hingegen, der als Mann von Welt keine solche Bedenklichkeiten hatte, trat, nach einem beobachtenden Schweigen, als Ritter von Mariens Dichter auf. Die laute Gegenpartei hatte an ihm eine kräftige Hülfe, die Gräfin einen Gegner gefunden, der ihr so weit überlegen war, daß sie zuletzt heftig gegen ihn wurde. Der liebenswürdige Baron folgte ihr darin nach; Anlow blieb Beiden gegenüber der ruhige Diplomat; in den Augen ihrer Anhänger behielten die beiden edlen Kämpfer für die Moral Recht.

Endlich fuhren die Geistreichen wieder ab, und es war den Meisten im Hause, als habe eine drückende Luft sich zertheilt. Frau und Fräulein von Goldhand entfernten sich, um zart spazieren zu gehen; die Uebrigen setzten sich recht gemüthlich zwischen das Blühen und Duften hinein und plauderten. Die Gräfin kam auch an die Reihe und wurde, leider, nicht ganz mit christlicher Liebe besprochen. Graf Solms hielt es um ihrer Gesinnung willen für Pflicht, die junge Dame zu vertheidigen, so wenig sie ihn auch erquickt hatte; zugleich rückte er mit seiner Ansicht, daß die Frauen Byron nicht lesen dürften, heraus. Die Männer lachten und die Frauen widersprachen; nur Marie war still und Franz, der ihr Seide hielt, auch. Solms wandte sich endlich mit der Frage an sie: ob er ihr Schweigen sich als eine Uebereinstimmung mit ihm auslegen dürfe? Sie antwortete ihm mit der Gegenfrage: wie er das von einer Frau und einer Verehrerin Byrons wol voraussehen könne? Er hatte nun den Anknüpfpunkt, den er suchte, gefunden, setzte sich zu dem Fräulein und legte ihr seine Ansicht weitläufig auseinander; sie hörte ihm mit Aufmerksamkeit zu. Er fragte endlich: »nun, gnädiges Fräulein?« Sie sagte: »es ist Ihre Ansicht.« – »Und die Ihrige?« fragte er. »Die meinige ist es nicht;« antwortete sie. »Mein Gott, nach Allem, was ich Ihnen gesagt habe!« seufzte der Graf. »Nach Allem, das Sie mir gesagt haben,« wiederholte sie lächelnd. »Sehen Sie, das ist nun einmal so; meine Ansichten sind nur auf meine Ueberzeugungen gegründet, nie auf die Anderer. Doch bin ich theilweise Ihrer Meinung – Byron ist für manche Frauen gefährlich, aber eben so gut für manche Männer. Er ist, wie ein edler Wein; die Starken erquickt er, die Schwachen berauscht er – diese dürfen ihn nicht trinken. In diesem Berauschen aber liegt auch die ganze Gefahr; denn eine Stelle, wo er ruhig, mit Ueberlegung und Absicht zum Bösen führt, werden Sie mir nicht zeigen können. Wissen Sie, wir wollen, wenn ich von meinem Besuche zurück bin, Himmel und Erde lesen – wir haben es heute Morgen verabredet – wollen Sie da nicht Japhet übernehmen? Sie bekommen Fräulein von Goldhand zur Anah; ich übernehme die stolze Schwester, die sich leider für mich auch weit besser eignet. In die Engel haben sich die Baronin, Herr von Anlow und Franz getheilt, und Noah ist der Baron. Wollen Sie?« Der Graf sagte »Ja«. »Nun so will ich jetzt mit Franz Ball spielen,« schloß Marie, »ich hab' es ihm versprochen.« Franz eilte, die Bälle zu holen. »Ich spiele mit,« sagte der Graf. »Ich auch,« sagte Anlow. »Ich auch!« rief Herr von Rosen, und alle Anderen bekamen ebenfalls Lust. Der Abend verging auf die heiterste Weise.


Der Graf hatte wenig in der Nacht und dafür tief in den Morgen hinein geschlafen. Endlich weckte ihn Pferdegestampf, Stimmenwechsel, Laufen auf den Treppen – kurz Alles, was einer Abfahrt vorauszugehen pflegt. Er rieb sich die Augen und überzeugte sich, daß er nicht wieder einschlafen könne. In sein Schicksal ergeben, stand er auf und trat im verhüllenden Schlafrock an das Fenster. Er traute kaum seinen Augen, als er vor der Thür eine große altväterische Kutsche, einen jener Glaskasten erblickte, in welchen seine Großonkel und Großtanten zu seinen Großeltern gefahren kamen. Der Kutscher war in alter Tracht und die Geschirre paßten zum Wagen. Graf Solms fragte sich, ob das vorige Jahrhundert zum Besuch gekommen sei; da hörte er die Stimmen der Andern alle unter dem Balkon lachen und Ausrufungen thun. Gleich darauf trat Marie hervor, in der Morgenkleidung eines alten, über zwanzig Jahr hinter der Mode zurückgebliebenen Fräuleins, mit großem Sonnenschirm und langem Schnupftuche. Franz, als die jüngste Blume der Mode erscheinend, führte sie an den Fingerspitzen; ihr niedliches Mädchen folgte in gleichem Aufzuge, dieser ein Bedienter mit einem dicken Mops und ein Jäger mit einem großen Rosenstocke. »Was soll das nun wieder?« fragte Solms sich selber unmuthig, und doch mußte er widerwillig lachen, als Marie der Gesellschaft unter dem Balkon einen feierlichen Knix machte und sich dann von Franzens Fingerspitzen in den Wagen helfen ließ. Das Mädchen stieg ihr nach, dann sprang Franz hinein, und nun wurden Mops und Rosenstock sorgfältig darin niedergesetzt; das Mädchen, zwischen Beiden sitzend, weinte vor Lachen, und die Kutsche rollte mit mächtigem Gerassel davon. Die andere Gesellschaft folgte in zwei leichten Wagen.

»Soll ich denn hier allein bleiben?« rief Solms unwillig, schellte und befahl seinen Russen, Hastig zog er sich an, ritt über Gräben und Hecken und kam gerade noch zeitig genug, um Mariens Empfang auf der Grenze zu sehen. Leo, der älteste Sohn des nachbarlichen Hauses, ein hübscher neunzehnjähriger Lieutenant, der jetzt auf Urlaub war, kam Marien an der Spitze eines Reiterzuges entgegen. Da sein Vater für die Bauern Pferde zog, so wuchsen seine kleinen Brüder wie Beduinenknaben auf dem Sattel auf und konnten ihm daher recht stattlich folgen; die sämmtliche Dienerschaft des Hauses und des Hofes, sowie die jungen Bursche aus dem Dorfe waren ebenfalls beritten gemacht. Als der Anführer Aller hielt nun Leo eine Rede und umgab dann mit seinen Reitern den Wagen, der in dieser Begleitung bis zu dem nicht mehr sehr entfernten herrschaftlichen Hofe fuhr, in dessen Mitte das nachbarliche Haus stand. Hier wurde Marie an der Thür von den jungen Mädchen empfangen, die stumm, weil sie beim Sprechen nicht ernsthaft hätten bleiben können, einen Kranz von Suppenkräutern überreichten. Marie nahm ihn gnädig an und sagte: sie schmecke schon im Geist alle die vortrefflichen Suppen, die sie ihr kochen würden. Dann stellte sie die mitgebrachte Gesellschaft der Hausfrau vor, und diese lud die Gesellschaft zum Frühstück ein. Die Gesellschaft aber, Solms und Haßfeld nicht ausgenommen, unterhielt sich so gut und war so vergnügt, daß sie erst gegen Mittag an den Rückweg dachte. Marie und Franz blieben hier.

Marie hatte versprochen, noch an diesem Tage zu schreiben, und sandte demnach noch spät am Abend der Freundin einen Brief, in welchem sie das Mittagsessen, die Gespräche beim Kaffee und die begonnenen Vorbereitungen zu dem Geburtsfeste eines nächstens erwarteten Großonkels, Alles herzlich und äußerst glücklich, schilderte. Franz und Leo hatten den Brief als Zeugen für seine Glaubwürdigkeit mit unterschrieben; Leo überbrachte ihn als hübscher ritterlicher Bote auf dem schlanksten Schimmel, der wie ein weißer Schatten durch das beginnende Dunkelwerden daher kam. Leo erbat sich als Botenlohn von der Baronin eine Rose und ritt dann wieder keck dahin.

Für den nächsten Tag war man übereingekommen, sich nicht zu sehen, weil man sich vermissen wollte. Gegen Abend aber fehlte Herr von Rosen, und wo konnte er anders sein, als auf einem Besuch im nachbarlichen Hause? Der Fuchs fehlte nämlich auch. Und wirklich kam gegen acht Uhr folgendes Schreiben von ihm an:

 

»Holdselige Schloßherrin.

Wenn Sie in Ihren liebenswürdigen Gedanken einen Raum für ein so uninteressantes Geschöpf, als ich, und daher bemerkt haben, daß ich fort und noch nicht wieder da bin: so erlauben Sie mir, Ihnen zu melden, daß ich heut auch nicht wiederkommen kann, da ich in der schönsten Haft als ein glücklicher Gefangener festgehalten werde.

Es hatte mich nämlich Sehnsucht nach der liebenswürdigsten aller Dichterinnen verlockt, wider die Uebereinkunft einen Besuch hier zu wagen. Ich kam glücklich an, hörte im Garten lachen, schaute von meinem Fuchs, der sich Ihnen zu Gnaden empfiehlt, über den Zaun und sah, daß Blindekuh gespielt werde. Ich dachte mich unversehens unter die Spielenden zu mischen, stieg leise ab, kam unbemerkt an die Thür und ebenso hinein; aber ich hatte vergessen den Fuchs anzubinden, und so kam das allzugetreue Thier mir nach und verrieth mich augenblicklich. Eh' ich mich versah, war ich umringt, gebunden und vor Donna Maria geführt, welche hier, wie überall, Königin ist. Sie entschied, daß ich bis morgen hier gefangen bleiben müßte, wenn nicht Einer mich befreie, indem er nämlich freiwillig meine Gefangenschaft auf sich nehme. Diesen Satz schrieb ich nur auf ausdrücklichen Befehl meiner Herrin hin, denn ich habe durchaus keine Lust, befreit zu werden, und fürchte sehr, daß einen meiner theuren Freunde die Lust anwandelt, es zu thun. Verbieten Sie es, schöne Baronin, denn nie gab es einen Glücklicheren, als

Ihren

in süßen Fesseln liegenden
E. v. Rosen.«

 

Die Baronin hatte diesen Brief laut gelesen; jetzt fragte sie lächelnd: »Nun, meine edlen Ritter, wer befreit nicht Herrn von Rosen, sondern Fräulein von Unruh?« – »Ich habe mir schon Lady Arabella ausgebeten,« antwortete Anlow; »ich will einmal versuchen, Paladin zu sein.« – »Ich dächte, Sie ließen das, Anlow;« sagte Graf Solms. – »Sie wissen ja, daß Ihnen das Reiten verboten ist; auch kommt ein Gewitter, und wenn Sie naß werden – lassen Sie mich in des Himmels Namen Paladin sein, da einmal gespielt sein soll.«

»Nein,« antwortete Anlow ganz ruhig, »mir macht es Vergnügen, auch den Scherz einmal kennen zu lernen – mein Leben läßt mir nicht viel Zeit dazu – darum will ich die jetzige benutzen. Uebrigens wird eine halbe Stunde zu Pferde mir hoffentlich nichts schaden.«

Er schickte nach einigen Sachen, saß auf und sprengte fort. Noch in weniger, als einer halben Stunde war er angelangt; Marie hatte eigentlich den Grafen erwartet; doch freute sie sich, auch Anlow zu sehen, um so mehr, da sie hörte, Solms habe kommen wollen. Herr von Rosen sollte nun fort, bat aber so beweglich, man möge ihn hier behalten, daß Marie endlich erlaubte, was die gute Hausfrau gar gern sah. Er störte auch nicht; seit Anlow da war, hatte er Marien diesem überlassen und sich selber mit seiner gutmüthigen Geckenhaftigkeit zu den jungen Mädchen verfügt, die seinen Anzug und seine Manieren bewunderten.

Anlow fühlte doch Brustschmerzen – seine Krankheit war durch einen Sturz vom Pferde entstanden, und so schadete ihm jede stärkere Bewegung, als ruhiges Gehen. Auch fühlte er sich in der heißen Gewitterluft beklommen und unwohl; aber es giebt ein Unwohlsein, in welchem Genuß liegen kann, weil es uns die ganze Wohlthat der Ruhe empfinden läßt. Das empfand auch Anlow, als er jetzt mit Marien in dem halbdunklen Zimmer saß, während das Licht und die Stimmen nur aus einem dritten hereindrangen. Marie war anfänglich besorgt um ihn gewesen, aber er hatte sie beruhigt. »Mir ist wohl, indem ich leide,« sagte er; – »so mit Ihnen – so sicher, daß nichts mich stören wird, kommt es mir vor, als würde mein Inneres mit einem magischen Schlüssel nach langer Zeit wieder aufgeschlossen, und ich könnte meine Erfahrungen, vergangenen Empfindungen und verborgenen Wünsche wieder einmal beschauen.«

Es mußte wol so sein, denn er sprach von sich, was er sonst fast nie that, so daß er selbst für seine Nächsten ein verschlossenes Buch war. Zu diesem jungen Mädchen aber sprach er wie zu einem Freunde, sogar von vergangenen Leidenschaften – wie man die flüchtigen Neigungen in der Welt zu nennen pflegt. Erst sehr spät, erst als das Gewitter, welches mit schönen Blitzen in das Gespräch hineingeleuchtet hatte, längst fern verhallt war, sagten die neuen Freunde, denn das waren sie heute wirklich geworden, sich gute Nacht, und vielleicht wär' es noch nicht geschehen, hätte die Hausfrau nicht zur Ruhe gerufen.

Am Morgen kam Marie mit den beiden Herren und einigen aus der Jugend des nachbarlichen Hauses bei der Freundin an, um diese und die Mutter auf ein Stündchen zu sehen und dann ein anderes Stündchen in der Gesellschaft zu sein. In ihrer Begleitung war auch Graf Solms, den sie unterwegs getroffen hatten, so zufällig, als man einen solchen Helden immer treffen kann. Er sah aber finster aus, wie ein Gewittertag; Marie hingegen war heiter wie ein Sonnenblick.

Nun kamen zwei stürmende Regentage, und alle Verbindung hörte auf. Die Baronin hätte wol einen Boten schicken können, aber sie that es nicht; warum? – Vielleicht aus etwas von der Bosheit, welche Solms vor einigen Tagen ihr zuschrieb. Endlich am zweiten Abend, wo es nicht mehr so stark regnete, hatte sie Mitleid und sagte: »ich muß meiner Freundin noch heute diese für sie gekommenen Briefe schicken.« – »Ich will sie überbringen,« sagte Solms; »ich wäre doch noch ausgeritten – so ist es ja einerlei, welchen Weg ich nehme.« Die Baronin gab ihm ganz ernsthaft die Briefe, lachte aber wie ein Kind, als er fort war. Erst spät kam er wieder – brachte aber dafür auch ein Briefchen von Marien an die Freundin.

 

»Liebe Schwester.

Wir sind ganz von einander abgeschnitten gewesen, von Fluten des Himmels und dunklen, donnertragenden Wolken. Jetzt aber wird es Frieden werden – Du weißt, ich bin ein Wetterprophet trotz einem Laubfrosch, und wie Alles in der Welt gut ist, so freue ich mich schon heute auf den frischen Morgen morgen.

Was machst Du mit Deinem Hausvoll Menschen? Wird gesungen, geschmachtet, gehypochondert? Einige Deiner Helden scheinen zu diesem Letztern außergewöhnliches Talent zu haben, und das Schmachten – o du weinender Himmel! Fräulein von Goldhand sah vorgestern ganz und gar wie eine Elegie auf den Tod eines Kanarienvogels aus.

Hier wird gekocht von der Hausfrau, gelärmt von der lieben Jugend und gedichtet von mir. An manchem Ort ist einmal poetische Luft – hier auch. In Eurem schönen, neuen Schlosse kann ich nur geistreiche Gedanken zu Novellen haben – hier nisten die Lieder wie Vögel an dem alten Hause und kommen Abends und Morgens aus ihren Nestern zu mir hereingeflattert und lassen sich fangen. Ich habe unter dem Wehen und Rauschen des Baches und der Bäume in meinem stillen, kühlen Stübchen die ersten Tage des Nachmittags, gestern und heute den ganzen Morgen gearbeitet und mein Abderrahman wird fertig, ehe ich wieder zu Dir komme. Es ist mir köstlich leicht geworden, zu glätten und umzudichten – mehrere Romanzen warf ich ganz fort und dichtete andere an die Stelle – ich hoffe, das liebe Gedicht wird Dir nun gefallen! Nur bitt' ich Euch Alle, diese letzten Tage nicht mehr herüber zu kommen – unsere liebe Hausfrau hat auch noch sehr viel vor dem Geburtsfeste zu schaffen.

Vor dem Siegeln.

Was fällt Dir ein, Liebste, mir solche Boten zu schicken? Man sieht die Herrin. Graf Solms war übrigens sehr angenehm; ein Bischen ernsthaft und moralisirend, aber das kleidet ihn gut. Manchmal nur seufzte er, wie der verscheidende Wind im Kamin. Lebe wohl auf vier Tage und grüße meine liebe Mutter und Freund Anlow. Einmal schreib' ich noch.

Marie.«

 

Der versprochene Brief kam am letzten der vier Tage.

»Liebe Schwester.

Die Bäume haben über ihre grünen Kleider sonnengoldene Mäntel geworfen, und der Bach schimmert ganz von goldnen Ketten mit Diamanten. Der Duft der Aepfelblüthen ist wie ein perlenheller, abendrosig angehauchter See, in welchem ich, weder als Schwan, noch als Gänschen, sondern als ein flinkes, schwarzes Wasserhühnchen entzückt umherschwimme.

Im hiesigen Backofen hingegen glüht es wie in einem Höllenschlunde. Drei Torten und drei Kuchen stehen jetzt darinnen, eine begeisternde Aussicht für die Jungen, die auch wirklich um den Ofen herumziehen, wie Geister um das Feld, wo blutige Thaten geschehen sollen. Ich habe sämmtliche Torten und einen Kuchen einrühren helfen. Ein Ei ist dabei meiner Hand entfallen und hat sich zu meinen Füßen zerschmettert. Die Mädchen haben es feierlich begraben und Leo will ihm eine Grabschrift setzen.

Unser kleines Possenspiel ist nun auch fertig und eingelernt. Ich soll durchaus die Liebste geben – so wollen wir es denn mit ländlicher Unschuld versuchen. Leo und Franz sind die Nebenbuhler – es wird aber kein Unglück daraus entstehen – sie sind viel zu vernünftig dazu. Gestern hörte ich sie unter meinem Fenster sprechen – sie saßen auf den Bänken am Bache und aßen Aepfel – die kein Anderer mehr mag. ›Nein,‹ sagte Leo, ›wenn ich ein Paar schöne Pferde und einen guten Hund habe, so frag' ich nichts nach allen Mädchen in der Welt. Zum Tanzen sind sie gut, aber sich in sie verlieben – da kann man was Besseres thun.‹ – ›Ja,‹ sagte Franz, ›ich will auch weiter nichts, als Mariens Freundschaft – die Liebe ist in unserer Jugend eine Thorheit.‹ – ›Durch eine solche Freundschaft ist man auch schon zu sehr gebunden,‹ meinte Leo. ›Ich bin völlig frei,‹ erklärte Franz würdevoll; ›meiner Freundschaft wegen könnte ich mich alle Tage verlieben, aber ich will nicht; wie du sagtest, man kann was Besseres thun.‹ Sie waren jetzt mit den Aepfeln fertig, Leo ging und lehrte einen unglücklichen Dachs Gemeint ist der Dackel (›Dachshund‹). tanzen, Franz blieb sitzen und las im Don Quixote. Es ist höchst belehrend, solche weise Leute reden zu hören und zu sehen, wie vortrefflich sie ihre Zeit anwenden.

Später.

Großonkelchen ist angelangt, steckte sein liebes, schwarzbemütztes Haupt aus dem Wagen und sah sich erst überall sorgfältig um, ehe er sich heraushelfen ließ. Ich habe nun keine Zeit mehr. Auf Wiedersehen morgen.

Marie.«

 

Die Baronin las den ersten Brief theilweise, den zweiten ganz vor. Anlow freute sich über die in beiden leuchtende Heiterkeit, Graf Solms hingegen seufzte. Das Geburtsfest im nachbarlichen Hause ging inzwischen vorüber, und Marie kehrte zu der Freundin zurück. Hier schrieb sie nach einigen Tagen:

 

Mein Vater.

Du hast mich verletzt, indem Du mich auffordertest, Vertrauen zu Dir zu haben. Du mußtest es wissen, daß der Kelch meines Herzens sich Dir, meinem hohen Lichte, freiwillig öffnen würde, wenn seine Zeit da wäre.

Ja, ich wünsche, Graf Solms möge mich lieben, und ich denke, er thut es. Noch ist er im Kampf mit seinen Vorurtheilen; doch ich hoffe, Deine Tochter wird siegen. Ist er entschieden, dann bin ich es auch.

Tadle mich nicht, daß ich dieses Gefühl so rasch gefaßt habe. Du weißt, ich glaube an ein unmittelbares Erkennen – wie Du. wie Du. Freilich ist Solms schön, und seine Schönheit war es, was mich zuerst bewegte; aber sie wird auch von Geist durchleuchtet, und jetzt glaub' ich auch, Solms achten zu können. Er ist streng, doch so will ich den Mann. Eine große Nachsicht artet bei dem Manne leicht in Schlaffheit aus; er soll aber Stahl sein, welcher das Schlechte tödtlich trifft und an dem man jeden Flecken sieht. An Solms haftet kein Flecken, und er hat die Kraft, seine Forderungen zuerst selber zu erfüllen. Er würde auch die Kraft haben, seine Neigung zu mir zu unterdrücken, und er soll auch nicht von ihr gezwungen zu mir kommen, sondern freiwillig, wie der Mann zu dem Weibe kommt, das er achtet.

Noch einmal, tadle mich nicht, aber fürchte auch nichts für mich. Die Liebe dieses Mannes ist ein herrlicher Schmuck, für den ich jeden Preis zahlen werde, nur einen nicht – die Lüge. Ich bin noch in jedem Augenblicke mit ihm – ich selbst gewesen – ich werde auch in keinem Augenblicke mich verläugnen. Könnte er das fordern, so hätte ich mich in ihm getäuscht, und es gälte dann, mich loszumachen. Und ich würde es können, mein Vater.

Der Mutter brauch' ich erst nichts zu sagen – sie hat mich längst errathen. Sie ist meine klare Quelle, Du bist mein hoher Palmbaum – in Deinem Schatten steht mein Zelt sicher in der Wüste des Lebens. Lebe wohl!

Marie.«

 

Um dieselbe Zeit schrieb Graf Solms:

Meine theure, hochverehrte Mutter.

Ich schrieb Dir neulich, ich fürchte, daß ich krank sei, und nannte einen Namen – Deine Liebe wird mich verstanden haben und mir ein Geständniß in Worten ersparen.

O, meine Mutter, ich wollte, Du sähest Marie von Unruh. Du würdest mit klarem Blick sehen; der meine ist durch mein wild jagendes Blut verdunkelt. Ich bin in unaufhörlichem Kampfe, Nachts ohne Schlaf, Tags ohne Ruhe. Bald denk' ich an Georg und an Alles, was er durch dieses Mädchen gelitten; bald seh' ich nur sie, und alles Andere verschwindet vor ihrem einzigen Bilde. Sie ist schön, meine theure Mutter, sie ist wunderbar schön. Sie ist liebenswürdig in der tiefsten Bedeutung. Keine Frau würd' es besser verstehen, das graue, alltägliche Leben mit zauberischen Regenbogen zu durchleuchten. Selbst für gewöhnliche Menschen verschwendet sie die Schätze ihrer Anmuth – es war neulich hier in der Nähe ein Fest für einen Greis – sie hatte dazu gedichtet, sie trat selbst in ihrem Festspiel auf – sie verklärte und verjüngte den Greis – was würde sie nicht erst für den Geliebten thun! Dann lasen wir vor wenig Tagen ›Himmel und Erde,‹ von ihr übersetzt – meine Mutter – mir war es bei den Tönen ihrer Stimme, als sei ich wirklich auf des Ararats urweltalten Gipfeln, als säh' ich die Engel niedersteigen, welche die Töchter der Menschen lieben, als hört' ich Raphael zürnend rufen: kommt zurück! und als fühlte ich, daß sie nicht zurück konnten und lieber den allmächtigen Zorn auf sich nehmen und dem Himmel entsagen, als die Geliebten lassen wollen. Mein Kopf brennt. Ich dürfte nicht ihre Hand berühren – ich würde nicht die Kraft haben, sie nicht an mich zu reißen. Meine frühere Liebe war ein Schatten gegen diese. Meine Mutter, komm', oder schreibe mir – bis dahin will ich suchen ein Mann zu sein.

Dein

Dich verehrender Sohn.«

 

Herr von Unruh antwortete bald:

»Ich habe immer gewünscht, daß Du mein Knabe wärest, und Deine Brüder meine Mädchen sein möchten. Sie werden gute Menschen werden, Du wärst ein ungewöhnlicher Mann geworden. Jetzt wird nur ein solcher nicht vor Dir erschrecken. Ist aber Graf Solms ein solcher? Ich fürchte, meine Tochter, Du täuschest Dich und wirst Deines Muthes bedürfen. Deine Mutter schreibt mir auch über Solms – sie sieht ihn anders; Du nennst ihn streng, sie nennt ihn pedantisch; Du glaubst an seine Kraft, – sie fürchtet ihn dem Urtheile Anderer unterworfen. Du weist, Deine Mutter sieht mit ihrem stillen Blicke richtiger, als wir mit unserem scharfen. Sie hätte Dir, wärest Du ihr gefolgt, die ganze schmerzliche Zeit mit Georg erspart; – Du wirst Dich erinnern, daß sie Dir gleich sagte: Du liebst ihn nicht. Jetzt glaubt sie allerdings, daß Du ein Gefühl hast, aber ob ein wirkliches, tiefes – nicht blos ein geträumtes – darüber ist sie nicht sicher. Ich bin es auch nicht, Marie. Wäre Graf Solms nicht schön, so würde ich ruhiger sein. So fürchte ich, daß Deine Phantasie bestochen ist, und auch, daß es Dich reizt, ihn zu gewinnen, weil Du etwas zu überwinden hast. Mich nimmt es schon gegen ihn ein, daß er Vorurtheile hat; – sie sind nichts, als geschonte Schwächen; Frauen und Schwächlinge mögen sie haben – ein Mann soll es nicht. Doch ertheile ich Dir keinen Rath, fordere nichts von Dir, wünsche meinetwegen nichts. Du sollst Deinen eigenen Weg gehen; möge er zum Glück oder zum Schmerz führen – es wird das Rechte sein, und Du wirst mein starkes, wahres Mädchen bleiben. Gott schütze Dich.«

Dein Vater.«

 

Als Marie diesen Brief empfing und las, stand Solms eben in ihrer Nähe an einen Baum gelehnt, um, auf ihren Wunsch, das Schloß aufzunehmen. Ihr Auge streifte von dem Blatte weg zu ihm hinüber – er war in leichter Morgentracht – seine hohe, männliche Gestalt zeigte sich in der natürlichsten Stellung malerisch und bedeutend; sein edler Kopf war halb geneigt, das lichtbraune Haar spielte zugleich mit den Schatten der Blätter auf seiner weißen, gedankenvollen Stirn; jetzt erhob er die schönen dunkelblauen Augen, wandte sie einen Augenblick mit leidenschaftlicher Schwermuth auf Marie und richtete sie im nächsten wieder auf den Gegenstand seiner Zeichnung. »Wenn der Vater ihn sähe!« dachte das reizbare, phantasievolle Mädchen; »O, ich liebe ihn!«

Daß Solms sie liebte, war für Keinen ein Geheimniß mehr. Frau von Willert gab ihren Plan auf und machte, da sie nichts gegen Marie thun konnte, lieber wirkliche Freundschaft mit ihr. Frau von Goldhand schob die Verstimmung ihrer Tochter auf schmerzliche Nachrichten von einer Jugendfreundin. Fräulein Louise zeichnete auch viel, und brauchte so wenigstens nicht zu sehen, wie Solms immer unabläßiger bei Marien war. Er sträubte sich nicht mehr gegen die Macht, in deren Gewalt er war. Noch einige Male hatte er es versucht; aber seit dem Abend von »Himmel und Erde« hatte er die Fruchtlosigkeit dieser Versuche erkannt und sie aufgegeben, sowie er sich dem Zauber Mariens hingab. Seine Ansichten waren zwar noch immer der Schriftstellerin entgegen; aber er sah es als sein Schicksal an, daß er eben sie lieben müsse, und würde schon gesprochen haben, hätte er nicht als musterhafter Sohn um keinen Preis gegen den Willen seiner Mutter handeln wollen. Ihrer Antwort sah er mit ungeduldiger Sehnsucht entgegen; fiele sie ungünstig aus, so wollte er selbst zur Mutter hin, ihr Marie mit Worten aus der Eingebung seiner Liebe ganz schildern, sie um Einwilligung anflehen, aber ohne diese nicht zu Marien sprechen.

Wie schwer die Behauptung dieses Entschlusses ihm werden würde, das hatte er noch nie so lebhaft gefühlt, als an dem Abend dieses Tages im Garten, wo es noch nie so herrlich Mai gewesen war. Der Flieder, die Lonicera, die Staphylea, der Berberitzenstrauch gaben dem Abendwind die Düfte ihrer farbigen und weißen Blüthen; der Cytisus hing seine goldnen Trauben aus; die Spiräa bewegte ihre federartigen Blüthenzweige; auf den Beeten schimmerten die Tulpen, die Ranunkeln, die Gentianen, die Stiefmütterchen, die Aurikeln, die Maiblumen, die Päonien. Die Rosen leuchteten wie Gold, die Wasserbecken schienen mit vergoldetem Silber gefüllt zu sein. Es war ein Gartenbild, wie aus einem Märchen. Marie saß auf einer der marmornen Bänke, unter einem schlanken weißen Fliederbaume. Das Plätzchen war dem Park nahe, der einen grünen geheimnißvollen Hintergrund dazu bildete. Vor der Bank war ein Beet; in der Mitte stand, von Rasen umgeben, eine prächtige Cydonia japonica; ein Kranz von Anemonen und italienischen Veilchen umblühte den Rasen und war wieder von solchem eingefaßt. Das Licht der tiefstehenden Sonne erreichte noch eben Mariens dunkles, glänzendes Haar und tränkte es mit feuchten Strahlen. Die dunklen Augen des Mädchens schauten mit siegenden Blicken in die Schönheit, die umher brannte. Franz saß neben Marien und sah sie wie eine unerwartete Erscheinung an.

»Marie,« sagte er endlich, »mir ist's, als hätt' ich Sie noch nie gesehen, so verändert sind Sie. Es ist, als ruhten Sie Licht in Licht; Ihre Augen sind, wie diese ganz dunklen Aurikeln in Ihrer Hand, eben so voll sammtnen Glanzes. Macht das die Sonne? Marie, und Ihre Lippen sind wahrlich noch dunkler, als die korallenrothen Blüthen hier am Strauche. Wovon sind Sie so verschönert, Marie?« – »Wie Sie sagten, die Sonne macht es;« antwortete Marie. Heimlich aber sagte sie: »Die Liebe macht es!« und dieser Gedanke verschönerte sie noch so viel mehr, daß Solms alle Gewalt über sich nöthig hatte, um nicht aus dem Fichtenschatten, wo er stand, zu ihr hin zu eilen. Zugleich ergriff ihn eine heftige Eifersucht auf Franz, der Marien so nahe war. Hätte Franz sie jetzt angerührt, Solms hätte es nicht ertragen; aber der Jüngling betrachtete sie nur, und als er das genug hatte, stand er unbefangen auf, sagte ihr, was er jetzt zu thun habe, und ging. Marie blieb noch sitzen und flüsterte leise vor sich hin in die warme Stille hinein, in der jetzt selbst die Akazienblätter still standen und nur die Nachtigallen länger und länger ihre Töne aushielten. Das Mädchen erschien so selber wie ein Gedicht, während sie vielleicht dichtete. Endlich zog sie einen Handschuh aus, stand auf, kniete auf den Rasen, drückte ihn leise mit der Hand, fuhr mit dieser über die Anemonen und Veilchen hin, streichelte die Blüthen und Knospen an der Cydonia, erhob sich dann träumerisch und ging durch die Flut des Sonnenlichtes, die auf den Wegen strömte, langsam nach dem Schlosse.

Der Graf kam diesen Abend erst spät herein, und der Gärtner fand am andern Morgen den Kranz auf wunderliche Weise halb zerstört; der Graf hatte in seinem Entzücken die Blumen, welche Marie berührt hatte, abgerissen und an seiner Brust zärtlich entzwei gedrückt.

Trotz dem fehlte es nicht an Stunden, in denen die Liebenden einander so schroff und feindlich als möglich gegenüber standen, und zwar traten diese jedes Mal ein, wenn der Graf das Fräulein im lebhaften Gespräche mit Haßfeld sah. Es war dann von des Grafen Seite eben so gut Eifersucht, als ein gewisser Widerwillen gegen den jungen Schriftsteller im Spiele. Haßfeld zeigte allerdings in seinem Wesen manches Rauhe; er hatte keine Gelegenheit gehabt, sich gesellig abzuschleifen, und trat mit allerlei Ecken der Anmaßung und der Unfeinheit auf. Marie verzieh ihm das anfänglich um seines bedeutenden Seins willen; Anlow schätzte ihn und war sogar in gewisser Bedeutung sein Freund; der Graf aber stieß sich an jene Ecken und trug dann seinen Verdruß immer auf Marie über, die durch ihre schriftstellerische Stellung sich solchen Menschen preisgegeben hatte und sie nun dulden mußte. So lange aber Marie noch Lust hatte, Haßfeld seine Unbildung hingehen zu lassen: so lange begünstigte sie jedes Mal, wenn der Graf sich so heftig zeigte, den Schriftsteller um so auffallender. Haßfeld hatte durchaus keine Hoffnung auf Marie gesetzt; er liebte sie mit einer Art von schmerzlichem Trotz, wie man Todte oder Träume liebt, aber er wollte die Stunden ihrer Nähe, welche sein Schicksal ihm gönnte, auch ganz leben. Ebenso starr demokratisch, als der Graf hocharistokratisch gesinnt, trat er diesem nicht fügsamer entgegen, als dieser ihm. Sobald sie sich gleichzeitig in die allgemeine Unterhaltung mischten, kamen sie zu Streit. Haßfeld war dem Grafen an Geist überlegen, dagegen war der Graf in allem Aeußerlichem im Vortheil. Anlow suchte zu vermitteln; er konnte es, er besaß sowohl Geist als Form. Marie hatte Haßfeld erkannt, würdigte ihn und trat wenigstens eben so sehr aus Gerechtigkeit, als um ihre Unabhängigkeit zu behaupten, für ihn gegen den Grafen auf. Sie veranlaßte aber dadurch, daß er eine Stellung bei ihr zu haben glaubte und sich nach und nach völlig gehen ließ, was kein angenehmer Anblick war. Anlow warnte, Haßfeld hörte nicht; plötzlich fand er Marie in stolzer, abweisender Kälte sich gegenüber. Er bereute und trat in die gehörige Stellung zurück; aber er hatte Marie einmal verletzt, und der Graf siegte. Haßfeld zeigte seinen Schmerz; Marie hatte die Geduld mit ihm verloren, – sie wollte ihn nicht mehr hören, und wenn sie es mußte, that sie es unwillig. Anlow stellte vor, beschwichtigte, wünschte, wie für sich, freundliche Verzeihung. Das half etwas, die Gespräche fingen wieder an, aber die Geduld konnte Marie nicht wieder finden. Von jetzt an bekämpfte sie bald mit unmuthigem Spotte, bald mit scharfem Ernst Haßfelds Lieblingsansicht, eine finstere, feindliche Ansicht des Lebens, nach welcher der Mensch der dunklen Macht des Schmerzes verfallen sei und nur dann nicht verzweifeln müsse, wenn er den schauerlichen, aber wahrhaftigen Geist statt des Lügengeistes der Freude liebe. Marie antwortete ihm hierauf: »die glühende Kohle und der kühle Diamant sind beide aus einem Stoffe; wer wird aber zum Schmuck diesen verwerfen, um jene zu tragen?«

Herr von Rosen war sehr vergnügt, daß ihn nicht ein gleiches Schicksal bei Marien traf. Es konnte ihn auch nicht treffen; er konnte Haßfelds Fehler nie begehen; er schadete nie, weder sich noch Andern. Wenn Marie Zeit für ihn hatte, so fragte er sie unaufhörlich aus und hob dann ihre Antworten in seinem für Kleinigkeiten großen Gedächtniß auf, um sie gelegentlich statt eigener Gedanken anzubringen. War Marie beschäftigt, so ließ er sich von Fräulein von Goldhand zeichnen. Er hatte sie darum gebeten; für eine junge Dame, sagte er; sie wären Gespielen gewesen; jetzt hätte sie geheirathet. Wenn er das gesagt hatte, seufzte er und schlug die Augen nieder und erst nach einigen Augenblicken wieder auf. Er sah dann so einzig aus, daß Jeder von der Gesellschaft einzeln ihn fragte, für wen er sich von so schöner Hand zeichnen ließe. Als Marie es that, setzte er nach dem Wiederaufschlagen der Augen hinzu: »Liebe ist nicht freiwillig, nicht wahr, schöne Dichterin? Oder bin ich strafbar, daß ich nicht lieben konnte, wo ich doch geliebt wurde?« Marie versicherte ihn, er sei es nicht, und er ließ sich als ein Mensch mit gutem Gewissen weiter zeichnen. Das Bild wurde wirklich vortrefflich, aber Graf Solms schenkte leider der schönen Zeichnerin darum nicht mehr Aufmerksamkeit.

Mit Anlow war Marie in dem ungestörtesten und wohlthuendsten Verhältnisse, welches der Graf auch unangefochten ließ. Außer ihrem Vater hatte noch kein Mann Marie so ganz kennen gelernt, als Anlow, weil sie sich noch keinem so unbefangen gegeben hatte. Selbst Baron Feldner wunderte sich bisweilen über ein begeistertes Aufblitzen ihres Gefühles; Anlow aber verwunderte sich nie, sie mochte thun, oder sagen, was sie wollte. Er hörte aus allen Tönen ihres Wesens, so abgerissen sie auch bisweilen klingen mochten, die innere Harmonie desselben heraus. Marie ließ daher vor ihm Alles laut werden, was dieser oder jener Augenblick mit flüchtigen Fingern auch immer in ihr anschlug; sie war manchmal mit ihm ein sorgloses Kind und eben so unendlich liebenswürdig.

Einmal erzählte sie ihm von den kleinen Erfahrungen ihres jungen Schriftstellerlebens. »Es sind ihrer erst wenige,« sagte sie, »und nur in einem beschränkten Kreise gemacht; aber ich glaube kaum, daß die mir noch bevorstehenden eigener sein dürften. Sie können sich gar nicht denken, was man eben in beschränkten und wohlgeordneten Kreisen Drolliges und Absonderliches erfährt. Wenn da nur irgend etwas vorkommt, so ist es gleich eine Erscheinung und, geschieht etwas, ein Ereigniß. Ich weiß nicht, wie es einem Schriftsteller gehen mag: einer Schriftstellerin, besonders einer jungen, geht es wunderlich. Erstens sind da Tanten und Vettern, Basen und Oheime. Die haben alle das Kind erziehen helfen, oder mit ihm gespielt und glauben, daß es niemals klüger werden wird, als sie. Thut es das dennoch, so halten sie es für eine Verletzung aller Rücksichten und machen ihm ihre Würde unaufhörlich fühlbar. Man kann das ganze Publikum befriedigen, die verehrten Verwandten sagen höchstens: ›ja es ist recht hübsch.‹ Die Jugendfreundinnen sind auch beleidigt, und bei den alten Hausfreunden braucht man eine unermeßliche Höflichkeit und stellt sie doch niemals zufrieden. Spricht man, so ist man anmaßend, und schweigt man, so hält man es nicht der Mühe werth zu sprechen; – was schlimmer ist, bleibt unentschieden – auf Erbarmen aber darf man in beiden Fällen nicht hoffen. Dieses Alles machte ich in meiner Geburtsstadt durch; nun führt einen das Schicksal unter Geistreiche, wie mich hierher. Ich weiß nicht, wer origineller ist, die Beschränkten oder die Geistreichen. Theilweise wird man ganz übersehen; – das geht an, – man übersieht wieder. Theilweise erhält man eine halbe Ermuthigung – ›es läßt sich etwas von Ihnen hoffen, fahren Sie fort.‹ Das geht auch, denn man denkt: ›das werd' ich thun.‹ Was soll man aber antworten, wenn man eine Viertelstunde von einem Gedicht hört, das zufällig gelesen worden ist? Auch hört man wol als erstes Wort bei einer neuen Bekanntschaft: ›Ich habe Ihr Buch gelesen – es hat mich recht interessirt.‹ Eine stehende Aeußerung ist: ›Ich hätte Ihnen das gar nicht zugetraut.‹ – Die genauen Freunde werden gefragt: ›Ach, das Fräulein hat wol schon recht unglücklich geliebt?‹ und die Frage, die fast von Jedem an einen selber gerichtet wird, lautet: ›mein Gott, sagen Sie mir, wo haben Sie das Alles herbekommen?‹«

Anlow lächelte und sagte: »Sie haben allerliebst übertrieben.«

»Indem ich Alles Schlag auf Schlag folgen ließ, allerdings,« antwortete Marie lachend; »aber einzeln ist jeder Umstand wahr, und die letzte Frage besonders könnten Sie alle Tage hören.«

»Ein guter Geist hat mich bewahrt, sie im Anfange nicht auch zu thun, nämlich an Sie;« sagte Anlow. »An mich habe ich sie gethan. Es giebt jetzt zu viele Dichter aus Erfahrung – man kann an einen Dichter aus reiner Eingebung nur nach genauer Prüfung glauben. Bei Ihnen war ich bald darüber im Reinen; aber eine andere Frage möcht' ich Ihnen thun – wie haben Sie sich entwickelt?«

»Nicht ohne Stürme,« antwortete Marie. »O, bitte!« sagte Anlow.

Marie sah in den dämmernden Saal, wie in die Vergangenheit, und sagte: »Ich soll ein träumerisches Kind gewesen sein und nicht gar große Fähigkeiten gezeigt haben. Das weiß ich, daß ich früh innerlich lebte und mir Geschichten erfand, nach denen, die ich hörte oder las. Als ich schreiben konnte, kritzelte ich sie auf, behielt sie aber für mich. Mit zehn Jahren fing ich zuerst an, gelegentlich Verse zu machen. Die zeigte ich. Die Mutter freute sich darüber; der Vater beachtete es nicht, leitete aber sehr sorgfältig meinen Unterricht. Ich sollte Musik und Zeichnen lernen und faßte auch den Geist von beiden Fertigkeiten; aber ich hatte einen ungeduldigen Widerwillen gegen das Mechanische, und mein Vater gab es auf, ihn zu überwinden. Alles Wissenschaftliche hingegen lernte ich mit Begier – Sprachen mit Leichtigkeit. Am liebsten war mir Geschichte; – wo sie großartig war, begeisterte sie mich zu den hochtönendsten Versen. Ich rechne es meinem Vater jetzt hoch an, daß er ernsthaft blieb, wenn ich ihm meine Elegien auf Curtius oder Brutus vorlas. Nach und nach fing ich an, in meinen Versen eigne Gefühle auszusprechen – natürlich konnte ich nur allgemeine und unbestimmte haben; – unser Leben, welches sich in dem ruhigen Gange einer Mittelstadt fortbewegte, bot zu einem besonderen nicht die kleinste Veranlassung. So war ich siebzehn Jahr alt geworden, als meine Freundin den Baron heirathete. Er sagt, er habe mich schon damals erkannt – so viel ist gewiß, er wirkte mächtig auf mich ein. Ich lernte hier neue Menschen und Verhältnisse, durch den Baron neue Sprachen und Dichter kennen. Er erzählte mir von seinen Reisen und erläuterte seine Erzählungen durch Bilder, Bücher, Pflanzen, durch Alles, was er mitgebracht hatte. Das Ferne wurde mir nahe gerückt und das Fremde bekannt. Ich versetzte mich aus den wirklichen Verhältnissen in andere, geträumte, und dichtete in diesem Sinne. Der Baron erfreute sich an meinen Versuchen; der Lehrer hofft immer etwas von einem lieben Schüler. Ich faßte den Gedanken, ich sei etwas, und kam mit achtzehn Jahren zu meinem Vater, ihn um die Erlaubniß zu bitten, einen Band Gedichte herausgeben zu dürfen. Mein Vater las durch, was ich ausgewählt hatte; dann sagte er: ›Dein Talent ist unbestreitbar, Deine Phantasie hat Blüthen und Deine Sprache Klang. Aber das sind nur Aeußerlichkeiten – das Innerliche fehlt. Du hast aus Dir herausgeträumt, aber in Dir noch nichts erlebt. Nur das Erlebte aber ist wahr und – neu. Was Du bis jetzt gemacht hast, kann jeder Andere auch; bringe mir etwas, das kein Anderer kann; kannst Du das nicht, so wirst Du mir einst danken, daß ich Dir rieth, zu schweigen.‹ –

Ich werde diesen Augenblick nie vergessen,« fuhr Marie nach dem Schweigen von einigen Sekunden fort. »Mein Vater hatte alle Täuschung mit jenen wenigen Worten vernichtet. Ich sah klar, daß ich nichts sei – der erste Schmerz setzte hinzu, daß ich nie etwas sein werde. Einige Tage blieb ich betäubt, mein Leben lag zertrümmert um mich her. Dann faßte ich mich und ergab mich darein, die Trümmer zu verlassen und das Tagewerk der Gewöhnlichen zu verrichten. Ich that es und klagte nie. Gedichte schrieb ich nicht mehr, aber Tageblätter. In ihnen sprach zum ersten Mal ächter poetischer Geist aus mir; – ich fühlte das bisweilen, aber ich hatte mir gelobt, mich nicht wieder zu täuschen. So lebte ich fort, scheinbar ganz wie bisher. Mein Vater beobachtete mich – sein Zutrauen ist der Lohn für diese Zeit; meine Mutter behielt ihren Glauben an meinen Beruf zur Dichterin.«

»Das mußte eine Mutter auch,« sagte Anlow. Marie sah ihn klar und innig an; er verstand den Dank ihres Auges. Dann sprach sie weiter:

»Einer der Collegen meines Vaters war auch verheirathet, hatte aber keine Kinder. Die Frau war wol an funfzehn Jahr älter, als ich; dennoch waren wir viel zusammen. Sie war ungemein anziehend, ohne je schön gewesen zu sein, sehr musikalisch und auch geistig ausgezeichnet, aber der Geist war still in ihr, und nur mir antwortete er, doch ohne Bedürfniß, sich auszusprechen, nur weil ich fragte. Ihr Mann war gänzlich unbedeutend, dabei aber gut; sie lebte in dem gewöhnlichen Sinne glücklich mit ihm, das heißt, sie lebte gar nicht; ich fühlte das; sie selber sprach nie, weder mit mir noch mit Andern davon; sie schien überhaupt nichts zu vertrauen zu haben. Endlich wurde sie leicht krank, ich besuchte sie sogleich und dann alle Tage – sie erholte sich nicht; der Arzt wurde bedenklich. Sie selber war ruhig, und so sagte sie mir auch eines Abends: ›ich fühle, daß ich sterben werde, und bin jetzt zum ersten Mal in meinem Leben glücklich.‹ Wir wurden gestört, ohne daß sie mehr sagen konnte, am andern Tage war sie todt – ich hatte ein Räthsel in meinem Geiste. Ich wußte, daß sie nie schrieb; daß ich also auf keine nachträgliche Aufschlüsse rechnen dürfe. Da sah ich sie als Leiche. Ich war allein bei ihr und betrachtete das ruhige Gesicht. Wie, weiß ich nicht, aber meine Kraft regte sich, das Leben der Ruhenden vor mir war mir offenbart und mein erster Plan gefaßt. Mehrere Monate hindurch ließ ich ihn in mir reifen, dann zog ich mich einmal, so viel ich konnte, zurück und schrieb mit fliegender Feder: ›Das Leben einer Frau.‹ Am Abend, wo ich fertig war, trug ich mein Buch in das Zimmer meines Vaters und legte es auf seinen Schreibtisch. Er war nicht im Zimmer, und ich hatte ihm kein Wort gesagt, aber ich wußte, daß er es noch an diesem Abende lesen würde, und ich erwartete ihn und die Entscheidung über mein Leben. Gegen Mitternacht kam er, küßte mich und sagte: ›ich werde morgen an einen Buchhändler schreiben.‹ Seitdem – streb' ich zu dichten.«

Anlow dankte Marien warm für ihre einfache Erzählung. Es war ihm, als hätte er gehört, wie eine Blume wächst. Die Baronin kam bald darauf in den Saal; er ging zu ihr und sprach über das Gespräch. Dann fragte er sie, ob sie Mariens Genie immer erkannt habe.

»Unbewußt, ja,« antwortete sie; »sonst kannt' ich, als ich mit ihr noch zusammen war, das Genie noch kaum dem Namen nach. Ich bewunderte ihre Verse, weil ich gewohnt war, Alles, was sie sagte oder schrieb, zu bewundern; bei ihrer Ueberlegenheit fiel mir gar nichts anderes ein. In jener dunklen Zeit, wo sie wunderbar reifte, vertraute sie mir nichts; ich hätte sie damals auch noch nicht verstehen können, denn ich war noch lange Zeit nach meiner Verheirathung ein sehr einfaches Wesen, das vor vielem Lernen gar nicht zum Denken kam. Als ich nun ausgelernt hatte und zu denken anfing, war Marie schon mit sich im Reinen und auf die Stelle, die ihr gebührte, hingetreten, also wieder hoch über mir. Zum Unsichersein über sie bin ich somit gar nicht gekommen, nur daß ich sie später mit Bewußtsein würdigte.«

»Es ist ein schönes Verhältniß, das Ihrige;« sagte Anlow.

»Ja,« antwortete die Baronin, »besonders darum, weil es so einfach mit uns aufgewachsen, ohne daß wir daran dachten, uns zur Nothwendigkeit geworden ist. Mit der Freundschaft ist's eben wie mit der Liebe; – sie muß da sein, ohne daß man weiß: warum. Die vorgenommenen Freundschaften sind nichts. Wir haben uns nie etwas vorgenommen, nehmen auch nie Rücksichten auf einander und verletzen uns doch nie. Daß ich Marie mehr liebe, als sie mich liebt, ist gewiß; aber das thut nichts. Ihre Seele ist mächtiger und bedarf noch eines andern Gefühles; meine hat genug an diesem einen, ist davon ausgefüllt, und bei Marien hab' ich doch meine Rechte, die kein Geliebter, und wär' es ein Halbgott, mir nehmen kann. Ich könnte nur eine Mutter mehr lieben, als Marie, aber ich habe keine gekannt, bin einem unfreundlichen Vater, unter oberflächlichen Verwandten erzogen, immer fremd geblieben, und so haben alle meine Empfindungen nur in der Liebe zu Marien Boden gefunden.«

Anlow sah nachdenkend vor sich hin; dann fragte er mit einem Male: »Glauben Sie, daß sie Neigung zu Solms hat?« Die Baronin schwieg; er fuhr fort: »meine Frage ist unpassend, Sie können mir das nicht sagen, aber ich kann es mir auch nicht denken. Eher, daß Haßfeld sie zu sich zöge. Bei dem ist die Leidenschaft wirklich lebendig da. Solms schwankt noch immer. Wie kann ein recht Liebender schwanken, nicht so sicher sein Ziel kennen, als die Nadel den Pol? Und dieses Schwanken, sollte es nicht wie ein kalter Luftzug jede etwa aufgeglimmte Neigung schon längst ausgelöscht haben, besonders bei Ihrer Freundin, die selbst so entschieden ist? Von jeder andern Frau kann ich mir denken, daß sie ein Schwanken verzeihen kann, von Fräulein Unruh nicht.«

Herr von Rosen kam dazu. »Ah, Anlow, sind Sie hier? Warum kamen Sie nicht einmal die Zeichnung zu sehen? – Es wird herrlich jeder Zug getroffen – mein ganzer Ausdruck – alle Verehrung vor Fräulein von Goldhand – sie ist wirklich schon eine Künstlerin. Nun ich werde auch morgen mein Bestes thun – Sie wissen doch, daß eine Fahrt nach dem finstern Grunde beschlossen ist – nicht? Und kennen auch die Gegend nicht? Da werden Sie etwas Romantisches kennen lernen, Felsen, Bäume, einen Bergstrom.« – »Das Alles pflegt gewöhnlich in Gründen zu sein,« sagte Anlow. »Ja wohl,« sagte Herr von Rosen, »aber hier sollen es ganz besondere Felsen und Bäume sein – es ist wahr, sie sehen beinahe schwarz aus, so tief ist der Grund. Wie gesagt, äußerst romantisch. Aber wollen Sie nicht einmal kommen, die Zeichnung sehen?« – »Ich sehe ja das Original,« antwortete Anlow; »aber nehmen Sie sich nur in Acht, Rosen, daß Sie nicht etwa Hoffnungen erregen, nämlich wenn Sie nicht etwa gesonnen sind, sie dann zu erfüllen.« – »Meinen Sie?« fragte Herr von Rosen; »aber mein Benehmen ist ja durchaus unverfänglich, nur artig –« – »Hm, das weiß ich doch nicht,« sagte Anlow bedenklich; »es ist doch immer eine Schmeichelei für das Fräulein, daß Sie sich ihr anvertrauten – allerdings nur eine Schmeichelei für ihr Talent, aber die Frauen trennen ihre Talente nicht von ihrer Persönlichkeit und glauben gar zu leicht, man huldige dieser statt jenen. Nein, nein, Rosen, nehmen Sie sich in Acht.« – »Sie machen, daß mir ganz unruhig zu Muthe wird,« sagte Herr von Rosen, indem er auf und nieder ging, wie Einer, der nicht aus noch ein weiß. »Es ist doch ein rechtes Unglück, daß die Frauen so entzündbare Phantasieen haben. Man darf nur einen Blick hineinwerfen, so fangen sie Feuer. Ich danke Ihnen, lieber Anlow, ich danke Ihnen herzlich, denn ich weiß, was es heißt, Liebe eingeflößt zu haben, ohne sie erwiedern zu können. Das ist eine Qual – ewig stumme Vorwürfe« – – »Ich kann mir es denken,« sagte Anlow. »Haben Sie es noch nicht erfahren?« fragte Herr von Rosen. – »Nein,« antwortete Anlow, »ich bin nicht einmal da geliebt worden, wo ich geliebt habe.« – »Das ist auch ein Unglück,« sagte Herr von Rosen, »aber jenes Gefühl ist noch quälender; denken Sie nur die Vorwürfe!« – »Allerdings!« sagte Anlow.

Herr von Rosen setzte sich tiefsinnig an einen Tisch, die Baronin war vorhin schon abgerufen worden; Anlow ging zu Fräulein von Goldhand und erzählte ihr, was er gemacht habe.

»Mein Gott,« sagte sie, »dieser Unsinn!« – »Eben weil es Unsinn ist, glaubt er es,« erwiederte Anlow; »ich bitte, lassen Sie ihn im Traum, es ist der Mühe werth. Uebermorgen will ich ihm sagen, ich habe mich geirrt; aber morgen lassen Sie ihn uns noch betrogen auf die Fahrt mitnehmen, als eine Erheiterung in dem finstern Grunde. Ich finde, daß wir Alle jetzt so verzweifelt ernsthaft geworden sind; es hat selbst Einfluß auf meine Gesundheit.« Fräulein von Goldhand konnte eben nichts machen, als der Gesellschaft mittheilen, sie hätten von Herrn von Rosen ein Schauspiel zu erwarten. Alles lachte und paßte auf. Herr von Rosen täuschte keine Hoffnung, er übertraf sie noch in einer Stellung des quälenden Nachdenkens. Frau von Willert sagte: er sähe aus, wie der himmelbelastete Atlas. Dann bat sie die romantische Jugend um Verzeihung wegen der klassischen Anspielung; sie sei aus ihrer Zeit. Zu Anlow gewendet, sagte sie darauf: »Nun will ich es mit einer morgenländischen versuchen; Sie haben für uns Alle den Scherbet dieses Scherzes bereitet und verschmähen selbst davon zu trinken? Ist das weise Gleichgültigkeit oder –« – »Laune?« fiel Anlow ein. »Ich glaube Laune und nichts Anderes.« – »Ich glaubte bis jetzt wirklich, für die habe Graf Solms ein Monopol,« sagte Frau von Willert. »Im Ernst, Herr von Anlow, Sie hätten ihm die Waare lassen können.« – »Ich gedenke, sie morgen wieder los zu sein,« antwortete Anlow. Man trennte sich frühzeitig, weil man am andern Morgen auch frühzeitig ausfahren wollte, um noch vor Beginn der Hitze den Weg nach dem finstern Grunde zurück zu legen.


Frau von Unruh und Hofrath Rein blieben zu Hause; Anlow sollte es auch, weil man für ihn die Anstrengung des Ganges fürchtete; aber er behauptete seinen Platz in einem der vier leichten Wagen. »Ich kann so selten in die Stimmung kommen, die Natur einmal wirklich zu genießen, daß ich sie wie einen unerwarteten Glücksfall festhalten muß. Aufs Klettern werde ich mich nicht einlassen.«

Sie fuhren zwei Meilen durch die schöne Hügel-, Wiesen- und Wassergegend; dann kamen sie zwischen Berge, die Anfangs nur waldig waren, bald aber auch felsig und allmälich recht keck wurden. Endlich konnten die Wagen nicht mehr weiter, wurden unter der Obhut ihrer Lenker gelassen und gegen Mitternacht wieder an diese Stelle befohlen. Der Baron hatte nämlich der Gesellschaft vorgeschlagen, den Rückweg in der Sternlichtnacht zu machen, und in einer romantischen Aufwallung hatte man eingewilligt.

Eine Stunde lang führte der Weg ein Seitenthal auf und ab; dann senkte er sich plötzlich zwischen grauen, starren Felsen und düstern Tannen tief hinunter, und hier war der Eingang zu dem finstern Grunde.

Dieser war seiner Abgelegenheit wegen lange Zeit nur Wenigen der Bewohner des höhern Gebirges bekannt gewesen, sowie seiner Unwegbarkeit halben gar nicht benutzt worden. Marie, die auf einer Fußwanderung mit Feldners hierher gerathen war, hatte ihn daher gewissermaßen entdeckt. Diese Entdeckung war bei dem Baron nicht verloren. Er ließ einige der ungethümsten Steinklumpen, die im Wege lagen, sprengen, Bäume, die gestürzt waren, fortschaffen, Stufen in Felsenvorsprüngen hauen, mit einem Wort, den Pfad wenigstens ohne große Gefahr klimmbar machen. Dann ließ er am Ende des Grundes, wo der kleine Strom aus den Bergen herunterfiel, ein Haus bauen, welches, fast rauh einfach, ganz zu dem Orte paßte und den Winterstürmen, den Schneelasten und den von Zeit zu Zeit herabpolternden Steinen bisher phlegmatisch Trotz geboten hatte. Dieses Jahr sollte es nun zum ersten Male Dienste leisten; auch im Sommer wurde es nur vom Baron und seinen Gästen benutzt; der finstere Grund war noch nicht Mode geworden, und eben darum liebte Marie ihn so sehr. Uebrigens waren die Felsen so hoch, oben so schwarz mit Tannen bewachsen und standen so trotzig dicht an einander gedrängt, daß der Grund seinen Namen ganz verdiente und der Baron bei dem kleinen Halt vor dem Eingange seine Gäste sowohl zu einem leichten Frühmahl auf den Steinen, als auch zum Abschiede von der Sonne aufforderte. »Wir werden sie nur Nachmittag auf einige Stunden sehen!« bemerkte er.

Marie sagte: das Amt des Führens lasse sie sich nicht nehmen. Graf Solms bot ihr den Arm, aber sie hieß ihn lächelnd für sich selber bedacht sein: sie brauche keine Hülfe. »Nein,« sagte Franz, mit der Miene eines erfahrenen Menschen, »Marie und Tante gehen hier eben so gut als ich; aber die andern Damen müssen gesichert werden. Lieber Onkel, Du führe Frau von Goldhand; lieber Haßfeld, Ihnen übergeb' ich Fräulein von Goldhand; Sie sind aus einer Berggegend, und darauf kommt es hier an; Frau von Willert, wollen Sie sich mir anvertrauen?« Franz und Frau von Willert waren nämlich durch Mariens Vermittelung nach und nach Freunde geworden. »Ist Alles in Ordnung?« fuhr Franz fort. »Herr von Rosen, nehmen Sie sich in Acht, heute kann ich nicht auf Sie sehen. Alles fertig, Marie!« rief er nun, und Marie stieg leicht eine Folge von schmalen einzelnen Stufen hinab, die sich zwischen zwei zerklüfteten Felsen und durch Gerank und Gestrüpp hinunter drängten und sie nach einigen Minuten an das Ufer des Bergwassers brachten, an welchem hinauf der Weg durch den Grund führte.

Wie der Baron gesagt hatte, lag Alles hier noch in Schatten und Kühle. Der Bergstrom, der ihnen rauschend entgegenkam, als wollt' er sie bewillkommnen, sprang dunkelgrün über die moosigen Steine in seinem Wege. Die Moose, die Kräuter, der Epheu, Alles stand in tiefer Feuchtigkeit; es war, als sei hier ein anderer Thau gefallen. Man hörte keine Stimme, als die des Stromes, und kein Grashalm bewegte sich, wenn nicht einer der klimmenden Füße ihn streifte.

Marie ging mit schwebender Sicherheit über die glatten Moose hin, oder die rohen Pfade hinan. Oft trat sie auf den Steinen, welche aus dem Wasser ragten, mitten in den Strom; die kleinste, trockne Spitze bot ihrem Fuß Raum genug; kaum daß sie sich bisweilen auf ihren leichten Stock stützte. Als sie einmal Allen weit voraus war und sich auf einen Felsen, der über dem Strom hing, einen Augenblick niedergelassen hatte, um sich eine Epheuranke in das Haar zu schlingen, sagte Haßfeld unwillkürlich: »Loreley!« – »Sie haben Recht,« sagte Frau von Willert; »es ist ganz ein solches Bild, Schade, daß sie nicht singt.« »Sie zieht uns doch nach,« murmelte Solms vor sich hin und eilte heftig den Andern voran in die Höhe. Marie kam ihm entgegen, Epheuranken über den Arm gehängt. »Da, – Schmuck zum Fest im finstern Grunde,« sagte sie und gab ihm und den Andern, als sie herangekommen waren, auch davon. Alle Hüte und Mützen wurden grün umwickelt; Marie hatte ihren Hut im Wagen gelassen; »ich muß hier frei in die Höhe sehen können,« sagte sie. Wenn sie es that, war es, als sei sie die junge Gebieterin der alten Felsenriesen. Solms sagte ihr das auch und fragte dann: »führen Sie uns in die Tiefe Ihres Gebietes, um durch Schrecken unsern Muth zu erproben, oder uns zu verzaubern? Ich wollt' es. Ich wollte, daß jener Felsen sich spaltete und sich wieder schlösse, wenn ich, Ihnen folgend, hineingetreten wäre. Wir hätten dann ein Zauberdasein, Jahrtausende hindurch, so lange der Fels stände. Lockt Sie es nicht hinein?« – »Nein,« antwortete Marie, »mir ist das menschliche Dasein zu heilig, ich wollte kein anderes.« – »Aber Sie wollen doch Glück,« sagte Solms, »ein ungemeines, zauberhaftes Glück.« – »Aber nur eines, das in der Welt geboren ist und mit mir in mein Haus tritt,« versetzte Marie. Solms fühlte die vollkommene laute Wahrheit ihres Wesens, aber er schwieg, denn er liebte sie in diesem Augenblick unaussprechlich. Ihr that es wohl, daß er schwieg; selbst ihrer Eltern Stimmen mochte sie so vor der Natur lieber nicht hören. Dafür wandte sie sich oft nach Solms um und zeigte ihm mit Blick und Hand jede einzelne, ihr vertraute Schönheit, ein Nest von Epheu, eine Tanne in ernster Stellung, einen hochaufstrebenden Felsen, einen Blick in tiefere Schatten, einen Stein, um welchen die Wellen sich rauschender drängten. Er sah Alles und hatte noch nie einen solchen Morgen erlebt.

Anlow schloß mit der Baronin den etwas unzusammenhängenden Zug. Diese Beiden sprachen – von Marien – das gestrige Gespräch hatte die Bahn zu noch vertraulicheren Mittheilungen gebrochen. Endlich erlaubte der Weg nicht länger, daß sie neben einander gingen; Anlow blieb etwas zurück und verfiel in unruhiges Nachdenken. Er sah Marie von weitem und konnte bei seinem sehr scharfen Gesicht ihre ganze Anmuth unterscheiden; eben so die Bewegungen des Grafen und was sie ausdrückten. »Sollte sie ihn denn wirklich lieben?« dachte er. »Warum? Weil er schön ist? Unmöglich! Und doch – warum sonst? Sie ist ihm nicht nur geistig überlegen, auch in der Seele. An Charakter ebenfalls. Er ist eigentlich kein Charakter. Er ist der Sohn seiner Mutter – die Weibererziehung hat ihm ihren deutlichsten Stempel aufgedrückt. Er kann Marien unmöglich die Achtung einflößen, welche sie vor ihrem Manne haben muß. Und wenn er sie nur noch verstände! Aber er hält noch immer seine Grundsätze für das Richtige in der weiten Welt und giebt Mariens Wesen nur nach, weil die Leidenschaft ihn dazu nöthigt. Wenn aber die einmal aufhört, wie sie es bei ihm muß, dann wird er Marien tyrannisiren. Unerträglich, wenn ich mir dieses Wesen in dem Tretrade einer unglücklichen Ehe denke. Es ist wahr, tausend und tausend Frauen haben dieses Schicksal, aber sie sind auch stumpf, kennen nichts Besseres. Marie aber! Und sie hat sich schon einmal getäuscht!«

Man war am Ende, oder eigentlich am Anfang des Grundes angekommen. Die Berge erhoben sich hoch, dunkel, ihren Schatten herabwerfend. Der Strom kam zwischen ihnen hervor und warf sich in sein Bett. Das Haus stand dicht dabei; war jener eben wild, so bewarf er es mit Schaum. Vor dem Hause waren Sitze und Felsenstücke zu Tischen eingerichtet. Einige von der Dienerschaft waren vorausgeschickt worden und hatten das Haus gezwungen, etwas gastfreundlich auszusehen; es that es wider Willen. Die Gesellschaft blieb lieber draußen – sie war körperlich ermüdet, aber geistig angeregt. Das Feuer loderte in der Küche des Hauses, der Rauch stieg an den dunkelgrauen Felswänden empor und verlor sich zwischen den schwarzen Stämmen der Tannen. Durch die Wipfel spielten schon einzelne Sonnenstrahlen, bald wurden die gegenüberliegenden Felsen erleuchtet, und das Grün an ihnen schien zu brennen. Die Diener brachten, was sie bereit gehalten hatten; man genoß Romantik und Gabelfrühstück zugleich und war sehr heiter. Fräulein von Goldhand fing an zu zeichnen; ihre Mutter, Frau von Willert, Herr von Rosen, der Baron und Anlow blieben zu der Zeichnung sitzen – Anlow nur, weil er fühlte, daß er ruhen müsse, Herr von Rosen, weil er wol zehnmal in Gefahr gerathen war, vom Wege in das Wasser zu fallen und daher todt müde war. Marie und die Baronin, mit Solms, Haßfeld und Franz, versuchten das Keckste im Klimmen und botanisirten. Endlich trat die Sonne um die Bergecke herum, machte den Wasserfall zu Silber und schien in den Grund. Nun wurde der Ort wirklich geheimnißreizvoll; Grün und Sonnenlicht loderten zu Flammen von köstlichem Feuer ineinander. Der Himmel blickte von fern herein, blau, wie er nur über Bergen ist; die Gesellschaft gab sich dem Einflusse der Natur hin und wurde besser und geistiger, als alle Tage; noch nie hatte sie so harmonisch zusammen gestimmt – sie glich einer Harfe, auf welcher ein Meister volle Akkorde greift, wozu ein Stümper nicht die Töne findet.

So verging der Tag nur zu rasch. Nach dem Mittagessen war man in die Berge zu der Quelle des Stromes gestiegen; als man zurückkam, lag der Grund schon wieder in grünem Dunkel. Diejenigen, welche nicht allzu ermüdet waren, suchten sich nun noch auf den Felswänden gegenüber dem Hause Stellen, von denen sie den Sonnenuntergang sehen konnten. Marie hatte die höchste gewählt; auf einem kühn vortretenden Felsen stand sie über dem waldigen Thale, welches auf dieser Seite lag; ihr gegenüber schwebte die Sonne eben zwischen zwei Bergen, unter sich goldgrüne Klarheit, über sich blaue Helle; zwischen beiden Farben verliefen rothe Hauche; die Vorgründe waren in Dämmer, die Linien der Berge aber deutlich auf den blauen Grund gezeichnet. Sicher, daß ihr nicht schwindeln würde, war Marie ganz vorgetreten; sinnend hörte sie Schritte hinter dem Felsen; sie wollte sich nicht umsehen, sondern erwarten, wer es sei. Plötzlich fühlte sie sich hastig, wie mit Angst, umfaßt; sie wandte den Kopf, es war Solms, athemlos, todtenbleich vom Schrecken, sie so nah dem Abgrunde gewendet zu sehen, daß die leiseste Unsicherheit sie ihm verfallen ließ. Mariens Herz klopfte heftig; mit bewegter Stimme sagte sie: »ich fürchte mich nicht, aber wenn Sie sich ängstigen, will ich zurückgehen.« – »O nein,« sagte Solms, »die Stelle ist so günstig; wenn ich Sie nur halte, bin ich ruhig.« Marie entzog sich ihm nicht, er hielt sie leicht umfaßt; so standen sie, bis die Sonne verschwand und der Himmel feurig roth wurde. Jetzt trat Marie leise zurück, Solms ließ sie los; aber er sah sie an, und sein Entschluß, nicht zu sprechen, zerfloß in seiner Liebe, wie dort das Himmelsblau in Gluthen. Marie fühlte das Wort kommen, sie wandte sich beklommen nach der Seite: da stand Haßfeld vor ihr, langsam zwischen den Felsen hervorgetreten, mit trübem Gesichte, die Schreibtafel in der Hand. – Die Scene, daß ein Dritter zweie stört, wurde hier zum ersten Male und sogleich mit vollster Naturwahrheit aufgeführt. Haßfeld konnte nicht zurück; er sagte dem Fräulein: er habe ihr ein Gedicht mittheilen wollen. Marie wußte sich zu fassen; Solms stand in stummer Wuth, zu dem Himmel gewendet, dem er wieder zusah. Haßfeld las:

Ich will Dich nicht befragen:
Warum Du mich nicht liebst,
Mir, statt des Glücks, Versagen,
Für Lieb', Verlassen, giebst.

Du mußt nicht anders können,
Sonst würdest Du mir wol
Den letzten Trost vergönnen,
Der bald ich sterben soll.

Ich geh' mit stillem Denken
An Dich zum Tod dahin –
Gieb mir Dein Angedenken,
Wenn ich begraben bin!

»Sehr gut!« sagte Marie, als Haßfeld schwieg und sie ansah; »aber in welcher Lage befindet sich denn der Klagende? Ist er ein Gefangener?« – »Ja wohl,« antwortete Haßfeld, »ein Gefangener in ritterlicher Haft, welcher als Opfer der Parteiwuth sterben muß. In seiner Haft hat er das Mädchen kennen gelernt.« – »In diesem Sinne gehört, ist das Gedicht bezeichnend,« sagte Marie; »aber wissen Sie wol, daß man nicht recht zur Theilnahme an dem Gefangenen kommen kann? Man denkt unwillkürlich: ›es ist ein rechtes Glück, daß das Mädchen ihn nicht liebt und so ihr ganzes Leben sich zu einer langen Qual macht.‹« – »So wär' es also immer ein Glück, wenn der Unglückliche kein Herz fände?« fragte Haßfeld bitter. »Wenn Sie im voraus wüßten, daß ein Schiff untergehen würde, wär' es dann weise, wenn Sie Ihre Güter ihm anvertrauten?« fragte Marie. Haßfeld biß sich in die Lippen; sie kehrten alle drei zur Gesellschaft zurück, aber so sichtlich verstimmt, daß sie den ersten Mißton in die Heiterkeit des Tages brachten. Herr von Rosen hatte Marie noch keinen Augenblick allein finden können; jetzt gelang es ihm, und er vertraute ihr Anlow's Mittheilungen wegen Fräulein von Goldhand an. Marie war eben gänzlich ohne Lust, den Scherz fortzusetzen, und antwortete daher: »Guter Herr von Rosen, seien Sie ohne Sorgen, sie sind wirklich überflüssig; Anlow hat sich und Ihnen etwas eingeredet.« – »Wie können Sie das so sicher wissen?« fragte Herr von Rosen; »Anlow ist der beste Beobachter unter uns.« – »Ich weiß es aber,« sagte Marie, »ich kenne Fräulein von Goldhands Geschmack – Sie sind ganz und gar nicht danach.« – »Und wie muß denn danach ein Mann sein?« fragte Herr von Rosen. »So groß wie hier die Tanne, und so finster wie der Grund,« antwortete Marie. »Aber erlauben Sie mir zu bemerken,« sagte Herr von Rosen, »daß das Herz sehr oft dem Geschmack ganz entgegen wählt.« – »Wenn ich aber Ihnen nun sage, daß Fräulein Goldhand Sie weder mit dem Geschmacke, noch mit dem Herzen gewählt hat!« rief Marie ungeduldig. »Ich erkenne Sie heute gar nicht wieder,« sagte Herr von Rosen.

Diese Worte trafen Marie. Ihr war nichts so verhaßt, als üble Laune, und jetzt fand sie sich auf dem besten Wege dazu. Sie ergriff das beste Mittel, sich davon zu befreien, und half in der Küche und in dem Saale des Hauses, wo der Abendtisch gedeckt wurde. Am Tische unterhielt sie sich mit Anlow, und als man aufstand und sich zum Aufbruch zu rüsten anfing, war ihre Stimmung schon wieder rein. Haßfeld und Solms aber blieben in der ihrigen, und Fräulein von Goldhand hatte an jenem einen unliebenswürdigen Führer. Solms wanderte anfänglich auf eigene Hand, fand aber auch hier alle Gelegenheit, seine üble Laune fortzusetzen, da er trotz aller Fackeln, die in Felsenspalten gesteckt und auf Steine im Strome befestigt worden waren, den Weg nicht sehen konnte. Herr von Rosen, der nicht weit von ihm war, konnte wol sehen, aber nicht steigen und sich nicht ohne Gleiten erhalten, und seufzte in seiner Angst einmal über das andere: »ist Feldner denn romantisch verrückt geworden, daß er uns diesen Weg in der Nacht zumuthet?« Solms hörte ihn endlich seufzen und sagte: »kommen Sie, Rosen, ich werde Ihnen die Hand geben.« – »Und ich werde für Sie sehen,« erwiederte Herr von Rosen, etwas getröstet. So kamen sie denn glücklich aus dem Grunde heraus, in das Thal, wo der Weg besser war, und über welchem eine klare Sternenmainacht ausgebreitet lag.

Ueble Laune steckt an; außer Marien, Paulinen und Anlow, welche auch zusammen gingen, schauten und sprachen, war die ganze Gesellschaft verdrießlich geworden und froh, als sie endlich in den Wagen saß. Graf Solms und Herr von Rosen kamen in einen mit Frau und Fräulein von Goldhand, und hier wurde Mariens nicht eben freundlich gedacht; Herr von Rosen beschwerte sich, daß sie gewiß dem Baron die alberne Idee der nächtlichen Wanderung eingegeben habe, und war mit einem Male ganz unzufrieden mit ihr und Allem, was sie gewesen war und gethan hatte. Die Damen nahmen sich in Acht; aber jedes Wort, das sie über Marie sagten, war geschickt, Solms in irgend einer seiner Ansichten zu verletzen. Er bezwang sich und schwieg, aber er kam in der heftigsten Aufreizung im Schlosse an, und in dieser Stimmung fand er den längst erwarteten Brief seiner Mutter.

Die Gräfin Solms schrieb:

 

»Mein geliebter Sohn.

Wenn Deine Briefe sonst immer die Lichtpunkte in meinem stillen, durch die Trauer um Deinen unvergeßlichen Vater auf immer getrübten Leben waren: so haben Deine beiden letzten einen tief erschütternden Eindruck auf mich hervorgebracht, und der Schlaf hat seitdem meine Augen geflohen, und die Stunden meiner einsamen Tage sind mir so langsam hingeschlichen, wie einem Gefangenen, den sein Kerker umschließt, während er ein geliebtes Wesen in Gefahr weiß. Du wünschest, ich solle kommen – O, wenn ich es könnte, Du sähest mich statt dieses Briefes bei Dir, und das treue Mutterauge prüfte, was der Liebling zu lieben glaubt. Aber meine Gesundheit ist seit einigen Wochen so leidend, daß eine Reise das größte Wagestück wäre, und wenn ich auch gern von der wechselvollen Erde scheidend heimginge in die Wohnungen des Friedens, so fühle ich doch, daß ich mich noch für Dich erhalten muß, bis ich die Sorge für Dein Glück in andere liebende Hände niederlegen konnte. Darum kann ich nicht kommen, nur schreiben und den gnädigen Gott bitten, daß er meinen schwachen Worten die Kraft verleihe, Dich von einem raschen Schritte abzuhalten, der Dich, o mein geliebter Albert, auf ewig von dem Pfade der Zufriedenheit abführen könnte.

Du sagst, Du liebst Fräulein von Unruh – ich mache Dir keinen Vorwurf wegen eines unwillkürlichen Gefühles; aber ich frage Dich, mein theurer Albert, was hat Deine Liebe zu ihr erregt? Ihr Herz? Das kannst Du in der kurzen Zeit Eures Zusammenlebens, um so mehr, da dieses ein mannichfach bewegtes gewesen, und kein Leben einer ruhigen Prüfung ungünstiger ist, als das gesellige, unmöglich genau geprüft haben. Ihre weiblichen Tugenden? Sie hat alle Weiblichkeit verlebt, indem sie die Gränzen übertrat, die uns von heiliger Sitte vorgezeichnet sind. Die Ueberzeugung, daß ihr Wesen ganz zu dem deinigen passe, daß Eure Ansichten ganz gleich seien, daß Du daher mit Recht eine glückliche Ehe erwarten dürfest? Im Gegentheile, keine ihrer Ansichten kann mit den deinigen übereinstimmen; die ganze Richtung ihres Wesens ist der des deinigen völlig entgegen; Du könntest immer nur tadeln, was sie thäte, und sähest Dich, mit Gewißheit kann ich es voraussagen, durch Dein Pflichtgefühl zu fortwährendem Kampfe mit ihren Neigungen, Wünschen und Forderungen genöthigt. Was hat Dich also so hingerissen, daß Du, allen Deinen sonstigen Ueberzeugungen entgegen, Dich an dieses Mädchen fesseln willst? Ihre Schönheit und ihre Liebenswürdigkeit. Ich glaube, daß sie beide Eigenschaften besitzen mag; zwar habe ich von einigen Bekannten, die sie auch kennen, Urtheile gehört, die ihr Aeußeres blos leidlich nennen; doch dergleichen Ansichten sind so sehr Geschmackssache, daß sich über sie nicht streiten läßt. Auch daß sie Dir liebenswürdig erschienen, find' ich natürlich, denn sie wird Ihren ganzen Geist aufgewandt haben, um Dich zu gewinnen. Aber ist denn Schönheit und Liebenswürdigkeit hinreichend, um ein Herz wie das meines Albert zu gewinnen? Bedarf es dazu nicht höherer, unvergänglicher Reize – stiller Demuth, jungfräulicher Reinheit, zarter Bescheidenheit, häuslichen Sinnes? O, mein Albert, das Alles hatte mein für Dich suchender Blick in der Tochter meiner geliebtesten Jugendfreundin, in Louisen von Goldhand gefunden, und dieser Engel besaß nicht allein diese Tugenden, sie besaß auch, was das Weib mit irdischer Holdseligkeit schmückt: Anmuth, Jugend, Geist, Talente. Doch Du kannst sie nicht lieben, und so lege ich in frommer Ergebung diese letzte vereitelte Hoffnung zu den vielen, die des Herrn weiser Rathschluß mich hat erfahren lassen. Was aber Fräulein von Unruh betrifft, da kann ich nie mit Freude sagen: ›führe mir meine »Tochter zu!‹ Denn wenn sie auch nichts von Allem wäre, was sie jetzt ist, so würde schon der Gedanke an Georg ewig störend zwischen mich und sie treten. Du sagst, Du denkest seiner auch – thust Du es auch wirklich, mein Albert? Hast Du wirklich ganz gefühlt, mit welcher Stirn Du vor ihn hintreten und zu ihm sagen kannst: ›Das Mädchen, das Dir Liebe versprach und Dich dann von sich wies, das Mädchen, welches Dein Leben in der schönsten Blüthe vernichtete, das hab' ich mir zur Gefährtin des meinigen erwählt.‹ Hast Du Dir das überlegt, mein geliebter Sohn?

Doch, Gott sei Dank, Du warst noch nicht entschieden, als Du zum letzten Male schriebst, Du wirst es auch jetzt noch nicht sein, und mein Brief wird nicht zu spät kommen, um Dich zu beschwören: prüfe, denke bei Allem, was Du siehst, an das weibliche Ideal, das Dir sonst vorschwebte, thue keinen Schritt in der Leidenschaft! Hast Du geprüft und bist dann noch überzeugt, daß nur dieses Band Dir das Glück fesseln könne, – wohlan, so werde ich in meiner unbegrenzten Liebe zu Dir die Kraft finden, es zu segnen.

Es ist spät – ich muß schließen. Grüße meine theure Goldhand und ihre süße Louise, und denke daran, daß mit ängstlicher Sehnsucht Nachrichten von Dir entgegen sieht

Deine

treue, zärtliche Mutter.«

 

Graf Solms war mehr, als je ein Sohn, von seiner Mutter abhängig, obgleich kein junger Mann freier zu sein glaubte, als er. Sie hatte ihm alle ihre Neigungen eingeflößt, sie hatte ihm alle ihre Vorurtheile als Grundsätze beigebracht und immer ihre Pläne ausgeführt, indem sie ihm scheinbar immer ganz seinen Willen ließ. So war er unentschlossen und ungewiß über Alles geworden und entschied sich nie, ehe er nicht seine Mutter gefragt hatte. Er nannte diesen Mangel an Kraft und Willen mit einem schönen Namen kindliche Rücksicht; er liebte es überhaupt, sich zu überreden, daß er immer nur aus moralischen Gründen handle, und erkannte es nie als ein Unrecht an, daß diese Rücksicht für seine Mutter ihn gegen Andere oft sehr rücksichtslos machte. Auch jetzt fiel ihm nicht ein, daß seine Mutter Marien zu viel thun könne; er las vielmehr alle die Anklagen gegen das junge Mädchen mit einer vollkommenen Ueberzeugung von ihrer Gerechtigkeit, und die einzige Vertheidigung, die er in seinem Herzen wagte, war der Gedanke, daß Marie sich ja noch ändern könne. Ja, der Brief hatte ihn wieder ganz auf denselben Punkt zurückgebracht, von dem er vor einigen Wochen seine Liebe noch als ein Unglück, wenn auch als keine Thorheit mehr, betrachtet hatte; er dachte sogar wieder daran, ob es nicht noch möglich sei, sich von ihr loszumachen. Dazu kam, daß er die Nacht bei dieser Aufregung natürlich ohne Schlaf hinbrachte und, wie alle verweichlichten Menschen, gegen körperliches Unbehagen sehr empfindlich war. Grollend mit Marien, welche seiner Meinung nach ihm diese schlaflose Nacht verursacht hatte, kam er zu Tische und fand dort keine große Veranlassung zur Erheiterung. Das Wetter war trübe, regnerisch, durchfröstelt von einem verspäteten Winterwind, der durch den Frühling seinen Brüdern nachreisete. Marie war blaß und abgespannt, und erschien dem Grafen fast nur als der Schatten ihres gestrigen leuchtenden Wesens. Es ist sehr oft so; daher sollten die Frauen sich nie am Morgen nach einem Tage, an dem sie besonders schön waren, höchstens am Abend darauf, am liebsten erst einige Tage später zeigen. Alles, aber vorzüglich eine Frau, hat glückliche, sterngefeite Tage. An diesen kann selbst eine häßliche Frau den Eindruck einer schönen machen; eine schöne Frau aber hat an solchen Tagen die Gewalt eines Zaubers, der jedoch mit dem Morgen aufhört. Marie hatte diese Gewalt gestern, und heute nicht mehr; Solms fand, daß Fräulein von Goldhand doch viel weißer sei, als Marie; daß eine Brünette nicht blaß aussehen dürfe, indem dann ihre Haut fahl aussehe; daß blaue Augen weiblicher seien, als schwarze. Marie fühlte mit dem feinen Takt der liebenden Frau, daß sie dem Grafen heute nicht gefalle, und dieses Gefühl drückte sie um so schmerzlicher, als sie sich außer Stande fühlte, auf ihn heute noch später einen bessern Eindruck zu machen. Sie sah fast krank aus und hätte sich gern in ihr Zimmer geflüchtet und dort recht kindisch ausgeweint. Die Meisten von der Gesellschaft sahen in ihrem Zustande nur Ermüdung von der gestrigen Wanderung; die fühlten sie ebenfalls, und so riethen sie Marien, ihrem Beispiele zu folgen und mit den Nachmittagstunden zu machen, was sie mit den Morgenstunden gemacht hatten, nämlich sie zu verschlafen. Aber Marie scheute das Alleinsein, weil sie sich nicht erweichen lassen wollte, und bat Franz, ihr etwas vorzulesen. Er war sehr willig dazu, konnte aber seinen Willen nicht durch die That beweisen. Anlow hatte nur wenige Minuten bedurft, um Mariens trübe Stimmung zu erkennen, und kam jetzt, um mit seiner stillen, unausgesprochnen Theilnahme und seinem Geiste einige feindliche Stunden zum Waffenstillstande zu zwingen. Es gelang ihm; Marie war nur anfänglich befangen und beklemmt; bald theilte Anlow's Stimme ihr etwas von seiner Ruhe mit, und endlich hörte sie ihm mit Aufmerksamkeit zu und vergaß sich und ihre Empfindungen in dem Blick auf die Welt, die er vor ihren geistigen Augen sich ausbreiten ließ. Als die Gesellschaft sich zum Thee aufs Neue versammelte, war Marie wieder, wenn auch nicht wie gestern, doch wie alle Tage, klar, sicher und freundlich; selbst ihre Wange hatte wieder Farbe und ihr Auge sein schönes Leben gewonnen. »Sie sind ein lieber, trefflicher Arzt, und ich bin recht von Herzen ihre Freundin,« sagte Pauline zu Anlow. – »Ich fürchte, es werden jetzt öfter solche Stunden kommen, und ich werde nicht immer die Macht haben, die ihre zu brechen!« antwortete er.

Graf Solms war noch in seiner unliebenswürdigen Stimmung, die übrige Gesellschaft aber an Laune und Kräften wieder gänzlich hergestellt. Man setzte sich um den Theetisch, und wie der Abend oft besser ist, als der Tag, so kam, statt der langweiligen, schleppenden Unterhaltung am Mittage, gleich ein lebhaftes und bedeutendes Gespräch in Gang.

Man hatte von rheinischen, thüringischen, spanischen, französischen, serbischen, kurz von allen möglichen Sagen gesprochen und war endlich auf die der hiesigen Gebirgsgegend gekommen. Sie waren noch wenig benutzt und noch niemals gesammelt worden, und Frau von Willert schlug Marien vor, es zu thun. Marie antwortete: sie getraue sich noch nicht, Sagen zu bearbeiten; der einfache Ton, in dem sie gehalten werden müßten, sei am aller schwersten zu treffen; aber sie forderte ihrerseits Haßfeld dazu auf. »O, Herr Haßfeld ist viel zu ritterlich, um etwas zu übernehmen, das Sie sich nicht zutrauen,« sagte Frau von Willert. »Werden wir aber nicht bald wieder etwas Anderes von Ihnen lesen?« fragte sie Haßfeld.

»Ich glaube nicht,« antwortete dieser.

»Und warum nicht?« fragte sie. »Es ist so lange her, daß Sie nichts geschrieben, wenigstens herausgegeben haben.«

»Das macht,« sagte er, »weil ich mich oft gefragt habe, ob es nicht eine Thorheit sei, überhaupt zu schreiben.«

»Was die Schriftsteller doch für Gedanken haben!« sagte Herr von Rosen. »Was fällt Ihnen denn ein?« fragte Frau von Willert zugleich; Sie haben ja mit dem größten Beifall geschrieben.«

»Ja, ich kann stolz sein,« sagte er spöttisch.

»Es sind Ihnen sehr gute und bedeutende Rezensionen geworden,« fuhr sie fort, »man kennt Sie – erwartet von Ihnen –«

»O ja,« antwortete Haßfeld, »nachdem ich Jahre hindurch geschrieben, weiß man, daß ich da bin; es steht in einem Journale, wenn ich in eine Stadt komme; der oder jener besucht mich, um anzusehen –«

»Und was wollen Sie denn?«

»Bin ich denn etwas? Meinem Lande etwas? Von den Millionen in Deutschland nur Tausenden etwas? Ist meine Vaterstadt stolz darauf, daß sie es ist? Und wenn ich heute sterbe, sterb' ich Einem?«

»Ja, mein Gott, Sie wollen jetzt schon die Stellung eines großen Dichters; die kommt nicht so schnell!« sagte Frau von Willert.

»Nein,« sagte Haßfeld, »sie kommt wie der Tod – am Ende.«

»Haßfeld hat Recht,« sagte Anlow; »es geht in Deutschland langsam mit der Berühmtheit. Wir fürchten immer, uns zu übereilen, und prüfen immer mit aller Gründlichkeit, deren wir nur fähig sind. Der Ruhm eines Dichters wird zugleich mit seinem Hause regendicht und sicher fertig. Sitzt er erst in diesem, und hat so an fünfzig Jahre, so ist auch sein Ruhm da und wächst mit jedem Jahre, bis er endlich mit siebzig Jahren des Dichters seinen Höhepunkt erreicht. Es ist eigentlich schön, daß wir dem Alter dieses Gute aufheben, aber – es werden nicht alle Dichter alt. Wenn einer nun jung stirbt, muß er seinen Ruhm ungenossen hinter sich lassen.«

»Ich bitte Sie, wie viele Dichter sind nicht jung berühmt geworden!« rief Frau von Willert »Hat Schiller nicht gleich gewirkt? – Goethe nicht ebenso? Erregte Körner keinen Enthusiasmus?«

»Körners Loos war, wie seine Zeit, ein besonderes, ihn dürfen wir nicht zum Beispiel nehmen,« sagte Anlow. »Aber Goethe und Schiller – die haben gewirkt und zwar unmittelbar, allerdings – das heißt, man las, oder sah auf der Bühne und wurde begeistert; das war auch solchen Gedichterscheinungen gegenüber nicht anders möglich; die Deutschen hätten dann nicht so poetisch sein müssen, wie sie, trotz aller Langsamkeit und Vorsicht, denn doch sind. Aber trug denn die Begeisterung für die Werke sich auch gleich auf die Dichter über? Wurden sie das Ziel aller Blicke, die von allen Beobachtern Beobachteten? Ich glaube nicht. Goethe hatte vollkommen Zeit, seine Jugend phantastisch zu durchleben, und auch nachher hätte man ihn noch lange ruhig in Frankfurt gelassen, hätte nicht ein genialer Fürst in ihm seinen Freund gefühlt und ihn an seine Seite gerufen, wie späterhin Schiller. Aber die Stellung, die ein Einzelner, sei er immerhin von Macht, giebt, ist noch keine zur Nation. Ein Dichter, der zu seiner Nation als berühmt dasteht, muß selber einen Gedichtstoff abgeben; man muß eifrig wissen wollen, wie er lebt, liebt, haßt; man muß ihm tausend Abenteuerlichkeiten zuschreiben; er muß die Phantasieen der jungen Mädchen beschäftigen; die jungen Leute müssen unsinnige Pläne entwerfen, wie sie ihn sehen können; die Bürger in der Stadt, wo er wohnt, müssen von den nach ihm fragenden Fremden von ihrem berühmten Manne hören, und nach und nach stolz auf ihn werden und endlich ihrerseits den Fremden von ihm erzählen. Ja, zuletzt muß der Dichter eine Art mythischer Person werden, wie ein großer Held, oder ein kühner Räuberhauptmann. Lächeln Sie nicht,« setzte Anlow, zu Marien gewendet, hinzu, »der Ruhm der Galeeren und der der Salons ist nicht so verschieden, wie man glauben sollte.«

»Ich lächle nicht,« antwortete Marie, »denn ich finde es grausig, daß Sie Recht haben.«

»Goethe hat aber diese mythische Art von Ruhm ganz gehabt,« sagte Frau von Willert.

»Ja, Goethe war doch sehr berühmt,« bemerkte Herr von Rosen.

»Ja, es schwebte ein Nimbus um seine herrliche Stirne, den selbst die blöden Augen eines Kindes, wie ich damals war, sehen mußten,« sagte Frau von Goldhand. »Wenn ich an seinen großen Blick zurückdenke, wird mir noch jetzt wunderbar, und diesen Eindruck muß er mir doch schon damals gemacht haben. Eine Erscheinung aber, die auf ein Kind so wirken kann, muß auch äußerlich eine fast halbgöttliche sein.«

»Es kommt auf das Kind an,« sagte Anlow, der die Geschichte dieser kindlichen Bekanntschaft mit Goethen schon so oft gehört hatte, daß er sie zu unterbrechen wünschte; »auf alle Kinder würde selbst Goethe keinen Eindruck hervorbringen.«

»Ich war ein sehr gewöhnliches Kind, Herr von Anlow,« antwortete Frau von Goldhand lieblich.

»Erlauben Sie mir daran zu zweifeln,« bemerkte Anlow höflich. »Und Sie, gnädige Frau,« sagte er zu Frau von Willert, »sagen mir gütigst, zu welcher Zeit Goethe diesen Ruhm hatte?«

»Schon als er zum ersten Mal nach Italien ging, wie Sie weitläufig lesen können,« antwortete Frau von Willert, »und damals war er noch nicht vierzig Jahr alt, und auch Schiller starb vor Ihren geforderten fünfzig Jahren. Sie haben das ja nicht erlebt, mein Freund, ich aber kenn' es aus meiner Mädchenzeit, und wenn ich es auch nicht eben als ein Glück ansehe, daß ich damals schon dergleichen Dinge begreifen konnte, so will ich doch, da es einmal so ist, meine alte Kenntniß geltend machen. Sie mögen ein vortrefflicher Diplomat sein, aber von der Geschichte unserer Dichter wissen Sie nichts, und dann sind Sie auch wie alle unseren jungen Leute, die vornehm auf Deutschland herabsehen, wenn sie einen Monat im Auslande gewesen sind.«

»Also wollen Sie mir beweisen, wir seien genial im Enthusiasmus?« fragte Anlow, etwas ironisch.

»In der Begeisterung,« antwortete Frau von Willert.

»Ich spreche nur vom Enthusiasmus,« erwiederte Anlow; »Begeisterung, das durch den Brennspiegel an der Sonne angezündete Feuer, das haben wir, ich weiß es mit einer erhebenden Gewißheit. Enthusiasmus aber, den Blitz der Bewunderung, haben wir den unter unserm Himmel?«

»Wir hatten ihn,« sagte der Baron. »Sie thun jener Zeit Unrecht, weil Sie sie mit der jetzigen vergleichen. Sie enthielt wirklich Zündstoff und fing Feuer. Aber freilich, in der jetzigen möcht' ich lieber Kärner, als Dichter sein.«

»Nein, Feldner, kein Mensch ist doch barocker, als Sie!« rief Herr von Rosen. »Jetzt wo mehr geschrieben wird, als je, –«

»Eben deswegen!« sagte der Baron.

»Nun, es muß doch gelesen werden, wie könnt es denn sonst gedruckt werden?« entgegnete Herr von Rosen. »Denken Sie doch nur alle die Schriftstellerinnen schon, und nun –«

»Die Novellisten und Mystiker und Romantiker und Kritiker und Historiker, und die schwäbischen Dichter und die neue deutsche Schule –« sagte der Baron. »Können Sie sich denn nicht denken, wie einem jungen Dichter in dieser babylonischen Verwirrung zu Muthe sein muß?«

»Und der Fürst Pückler und die Gräfin Hahn?« fragte Herr von Rosen, »sind die nicht berühmt?«

»Weil sie Rang haben,« sagte Haßfeld laut.

»Und Genie,« sagte eben so betonend Graf Solms, über seine verletzte Aristokratie vergessend, daß er auch eine Schriftstellerin vertheidige.

»Das werde ich nicht läugnen,« sagte Haßfeld.

Weil Sie es nicht können,« antwortete der Graf.

»Frieden!« rief der Baron; »Haßfeld, Sie gehen zu weit, aber ganz Unrecht hat er nicht, Solms. Bei uns hilft wirklich der Rang des Dichters seinem Buche. Goethe, Herder, Schiller wurden geadelt; und ein anderer Beweis dafür ist die jetzige Sucht, jedes anonyme Buch einem fürstlichen Verfasser zuzuschreiben, wie es zum Beispiel mit Godwie Castle »Godwie Castle« (1838) und »St. Roche« (1839): weitläufige, umfangreiche historische Romane von Henriette Paalzow (1792-1847). der Fall war.«

»Ach, Godwie Castle!« sagte Frau von Goldhand, mit einer Miene entzückenden Nachgefühles; »da haben Sie, Herr von Anlow, gleich ein Buch, welches selbst in unserer Zeit Enthusiasmus erregt hat.«

»Es war auch gar zu herrlich!« sagte Fräulein von Goldhand. »Ich war entzückt davon, aber von St. Roche erst ordentlich begeistert.«

»Ja, beide Romane sind recht hübsch,« sagte Franz, der nun auch sein Wort dazu geben zu können meinte. »Recht hübsch,« wiederholte er, »kommt mir in Godwie Castle die Heldin gar zu oft in Lebensgefahr, und in St. Roche muß die Elmerice zu lange vor dem Thurme warten.«

»Es ist erquicklich, so ein logisches Gespräch zu hören,« sagte der Baron. »Jetzt sind wir nun vor dem Thurme in St. Roche; wohin werden wir weiter kommen?«

»Zu Bettina,« Bettina von Arnim (1785-1859), Gattin des romantischen Dichters Achim von Arnim und selbst schriftstellerisch tätig; ihr Buch »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde« (1835) wurde ein Verkaufserfolg und beeinflusste das Goethe-Bild der Folgezeit stark; Ludwig Tieck schrieb in einem Brief: »Sie können es nicht so wissen wie ich, wie dieses fatale Buch eine einzige grobe Lüge ist. Mich hat in unsern Zeiten noch nichts so sehr, wie dieses Geschreibsel empört.« Das Werk war, wie die anderen Brief-Bücher dieser Autorin, nach den Grundsätzen der romantischen Poetik komponiert, wurden aber von den Lesern oft für authentische Dokumente gehalten, was auch zu Fälschungsvorwürfen gegen Bettina von Arnim führte. erwiederte Frau von Willert; »unser Weg führt gerade zu ihr. Hat die nicht wenigstens gewirkt, lieber Anlow?«

»Leider,« sagte Graf Solms. »Leider?« wiederholte Frau von Willert. »Ja,« sagte er, »weil es die höchste Unweiblichkeit ist, ein solches Gefühl so auszusprechen.«

»Meiner Ansicht nach wär' es ein unendlicher Verlust gewesen, wenn sie es nicht ausgesprochen hätte,« sagte Frau von Willert; »Doch wir wollen uns nicht streiten. Aber Sie, lieber Anlow, antworten Sie mir.«

»Es wäre nicht möglich gewesen, daß eine so einzige und so einzigschöne Erscheinung nicht hätte treffen sollen,« antwortete Anlow; »aber lassen Sie alle Dichter, von denen wir gesprochen haben, mit gleichem Genie englisch, oder französisch geschrieben haben, und Sie hätten eine andere Wirkung erlebt. Lord Byron schreibt: ›ich erwachte eines Morgens und fand, daß ich berühmt sei.‹ Welcher deutsche Dichter hat das sagen können? Und dieser Fall ist nicht einzig – er wiederholt sich; in Deutschland aber ist er unmöglich, ebenso wie der, daß vierzehntausend Exemplare von einem Gedicht an einem Tage verkauft würden, wie wir es vom Korsaren » The Corsair« (1814), von Lord Byron. wissen.«

So ein Fall kann nicht vorkommen,« sagte der Baron. »In Frankreich und England ist das geistige Leben in einen Punkt zusammengedrängt; die literarische Verfassung ist dort rein monarchisch; die Hauptstädte herrschen und zwar fast absolut; wir aber sind in dieser Hinsicht strenge Republikaner; kein Ort ist so klein – er hat seine Stimme, daher Meinungsverschiedenheit, Mißtrauen, Prüfung, Verzögerung des endlichen Spruches. Brauchte der Blitz des Geistes bei uns auch nur einen großen Kreis zu elektrisiren, so würden wir ganz gleiche Wirkungen erleben, wie dort.«

»Auch dann nicht;« sagte Anlow. »Wir sind zu schlechte Leiter. Wir haben durchaus nicht den Genius des Ergreifens, und noch weniger das Talent der Oeffentlichkeit. Sei es im Erzählen, im Entwerfen, im Fühlen – das Beste verschweigen wir, wenn nicht auf immer, so doch lange, und dasselbe fordern wir von Andern. Oeffentlichkeit hat bei uns eine Menge Synonymen: Unklugheit, Unerlaubtheit, Unzartheit. Deshalb ist auch das Loos der geistreichen Frauen bei uns kein glückliches. Wir verzeihen ihnen sehr schwer, daß sie aus der Stille treten, in welche wir ihr Geschlecht verwiesen haben.«

»Wo wir ihm den sichern Ort gegen alles Unreine des Lebens bereitet haben!« verbesserte Solms mit einem Tone, der nicht aus diesem stillen Orte kam.

»Nennen Sie es, wie Sie wollen,« antwortete Anlow; »ich setze für den Augenblick meine Ansichten bei Seite und spreche nur von der unbestreitbaren Wahrheit, daß die Stellung der geistreichen Frauen und noch viel mehr die der genialen eine zweideutige und äußerst peinliche sei. Ich glaube, es war Frau von Helwig Anna Amalie von Imhoff, verh. von Helvig (1776-1831), deutsche Schriftstellerin; sie führte einen bedeutenden Salon in Berlin, der als zentraler Treffpunkt der Vertreter der Weimarer Klassik und der Romantik in Berlin galt., welche gesagt hat, sie suche durch die größte Rücksicht gegen die Menschen sich Verzeihung für ihren Geist zu erwerben. Nie hat ein Wort die Stellung der genialen deutschen Frau treffender bezeichnet; aber es verräth uns zugleich, was eine solche Frau zu überwinden hat, wenn die bloße Duldung zu erkaufen, ihr schon so schwer wird. Wie soll sie sich nun erst den Einfluß gewinnen, welchen jeder höhere Geist als sein Recht fordert? Viele mögen endlich entmuthigt von einem fruchtlosen Kampfe ablassen; einigen ist der Sieg über die Meinung gelungen, weil Name, Verhältniß, Rang und Glück ihre Verbündete waren. Durch die Macht des Genies allein kommt keine Frau bei uns zur Herrschaft, noch weniger ein junges Mädchen. Was Lady Morgan Sydney Morgan (geborene Owenson; 1778-1859), irisch-britische Dichterin und Schriftstellerin der Romantik. uns von ihrem ersten Rout in London erzählt, wie sie als junges, nur durch ein Buch bekanntes Mädchen der Mittelpunkt des glänzenden Kreises wurde, das dürfte hier Keiner nur zu versuchen wagen: die Gesellschaft erhöbe sich wie ein Volk gegen den Erbfeind. Und wenn man den Frauen wenigstens erlaubte, die Wirklichkeit kennen zu lernen!«

»Sie sind ein guter Anwalt,« sagte Frau von Willert, »aber Sie stellen auch, wie ein solcher zu thun pflegt, Ihre Klienten unglücklicher und verfolgter dar, als sie sind. Das Leben kennen zu lernen, ist uns hoffentlich nicht verwehrt.«

»Doch!« antwortete Anlow. »Sie dürfen nicht zu ihm hintreten und seine Gestalt berühren. Wir fordern, daß Sie ihm fern bleiben, daß Sie es nur aus dieser Ferne ansehen. Nun trägt aber unser ganzes Leben einen Schleier, welcher alle Formen mit Ungewißheit überfließt. Wie soll eine Frau da wissen, ob sie wahr oder falsch sieht? Nur die vollste dichterische Ahnungskraft kann sie dann eine richtige Entscheidung lehren.«

»Darum sollte eine deutsche Frau nie schreiben,« sagte Graf Solms heftig.

»Wenn sie es nicht muß, um zu leben, ist es ein Unsinn,« versetzte Marie bitter.

»Und den Gedanken zum erbärmlichen Erwerb benutzen, niedrig,« antwortete er eben so.

Marie sah ihn einen Augenblick an; dann sagte sie zu Anlow: »erklären Sie mich dem Grafen doch.«

»Sie meinen,« sagte Anlow, »wenn eine Frau sich aussprechen oder verzehren muß, mit einem Worte, wenn sie Genie hat.« – »Und meinen Sie, daß eine Frau Genie haben könne?« fragte Solms höhnisch.

»Solms,« sagte der Baron ernst, »man kann in Allem zu weit gehen.« – »Liebe Marie, das dürfen Sie nicht so hingehen lassen!« rief Frau von Willert. Marie war glühend roth geworden; jetzt verließ die Farbe allmälich ihre Wange gang, und blaß, aber kalt sagte sie: »was sollte ich thun? Wer blind sein will, den kann ich nicht zwingen zu sehen.« – »Aber widerlegen können Sie ihn!« rief Frau von Willert. »Das ist nicht nöthig,« erwiederte Marie; »Worte vernichten keinen Geist, selbst wenn sie vom Grafen Solms gesprochen werden.« Sie stand auf und ging an das Schachbret. »Wollen wir eine Partie, Herr von Anlow?« fragte sie. Anlow ging sogleich zu ihr, und sie setzten sich nieder.

Am Theetische sagte Frau von Willert: »Graf Solms, Sie sind wirklich noch ungezogener, als es Mode ist.« – »Ja, das find' ich auch,« sagte Franz.

Solms wandte sich um und sah den jungen Menschen starr an; dieser begegnete seinen Blicken mit ganz ähnlichen und hoffte im nächsten Augenblick eine Herausforderung zu hören. Zu seiner Beschämung und Erbitterung wandte der Graf sich wieder ganz ruhig von ihm ab und stand auf. »Sie erlauben, daß ich mich für heute zurückziehe?« sagte er zur Baronin. »Mit wahrem Vergnügen,« antwortete Pauline. Er ging. »Ist er denn nicht bei Sinnen?« fragte Frau von Willert. »Den ganzen Tag unangenehm und jetzt gradezu unartig?« – »Ich weiß, was er ist,« sagte Franz, dem vor Ingrimm fast die Stimme versagte. »Man weiß meistens besser, was ein Anderer, als was man selber ist,« sagte der Baron trocken. Franz antwortete zwar nicht, aber er sprang trotzig auf und ging fort. Haßfeld folgte ihm, Frau von Unruh und die Baronin standen auch auf und entfernten sich. Der Baron schloß sich ihnen an; Hofrath Rein, der bis jetzt auf seinem Zimmer gewesen war, kam ihnen entgegen; sie gingen Alle in den nächsten Saal.

Bei den übrigen drei Damen saß nun nur noch Herr von Rosen, der immer wichtiger aussah, je mehr Herren sich entfernten. Als er endlich der einzige war, sagte er mit entschiedenem Tone: »auch ich begreife Solms nicht; aber ich hätte große Lust, ihm begreiflich zu machen, daß sein Betragen eine Ungezogenheit gegen die ganze Gesellschaft war.« – »Wenn er diese Belehrung annimmt, so könnten Sie sich sehr verdient um ihn machen,« sagte Frau von Willert. »Ich begreife ihn nicht,« wiederholte Herr von Rosen, »er muß eine lächerliche Meinung von sich haben.« – »Ja, das geht den Männern manchmal so,« antwortete Frau von Willert, »gehen Sie nun Fräulein von Unruh trösten.« – »Sie hat ja schon einen Tröster,« sagte er unlustig. »Trost kann man nie zu viel haben,« antwortete Frau von Willert, »und dann sind Sie uns eben jetzt unbequem.« Herr von Rosen stand, sich verbeugend, auf; aber gegen Marie war er noch von gestern her empfindlich, und so ging er sich auf einen Divan im Fenster halb hinstrecken.

Kaum war er entfernt, so rief Fräulein von Goldhand leise: »es ist nicht möglich, daß Graf Solms die Unruh liebt!«

»Grade das Gegentheil,« sagte Frau von Willert. »Nur was man liebt oder haßt, beleidigt man mit solcher Absichtlichkeit. Aber es ist unverantwortlich, daß er sie so verletzt, und ich denke auch vergebens darüber nach, wie er es mit einem Male kann. Sie waren ja gestern scheinbar schon auf dem Punkte, sich zu versprechen.«

»Aber wie er mit uns nach Hause fuhr, schien er schon in keiner guten Stimmung gegen sie,« sagte Fräulein Louise.

»Ihr habt doch nicht etwa unvortheilhaft über sie gesprochen?« fragte Frau von Willert.

»Sie wissen, sie sagt uns nicht ganz zu,« antwortete Frau von Goldhand; »das mag er wol gemerkt haben, denn von ihr gesprochen haben wir allerdings.«

»Ihr hättet Euch das aber nicht merken lassen sollen,« sagte Frau von Willert; »bei einem Menschen wie Solms hat dergleichen immer Einfluß, und ich möchte doch, daß etwas aus der Sache würde, wenn die Unruh nämlich nach seinem heutigen Betragen nicht zurücktritt.«

»Ich würde es thun,« sagte Fräulein Louise; »aber ich glaube, sie liebt ihn zu sehr.«

»Nun höre, sie hat ihm nicht geantwortet, als fragte sie viel nach seiner weitern Annäherung,« antwortete Frau von Willert. »Es hat mich gefreut von ihr. Ich will mit ihr darüber sprechen, auch wegen Haßfeld, auf den Solms noch immer eifersüchtig scheint. Vielleicht ist die ganze heutige Verstimmung auch nur um dieses Menschen willen entstanden. Die Unruh muß ihn entschieden von sich weisen; was will sie denn mit ihm? Es ist unangenehm, zu einem solchen Mittel greifen zu müssen; aber er wird nicht eher aufhören, sie zu verfolgen. Ich will es ihr rathen und selbst mit ihm in ihrem Namen sprechen, wenn sie es wünscht. Ich habe sie wirklich lieb gewonnen, und so müßt Ihr auch nichts mehr gegen sie sagen. Hört Ihr?«

»Recht gern,« sagte Frau von Goldhand. »Ob der Anlow sie nur auch lieben mag?«

»Nein, erwiederte Frau von Willert, das ist ein kühler, ernster Mensch, der nicht lieben kann. Und sie bloß zu heirathen, weil sie ihm gefällt, dazu ist die Partie nicht glänzend genug.«

Eben standen Marie und Anlow auf. Sie hatte, dem ruhigen Freunde gegenüber, auch wieder Ruhe gewonnen und näherte sich den Damen, während Anlow gedankenvoll stehen blieb. Frau von Willert ging Marien entgegen, führte sie mit sich an ein Fenster und fing an, wie sie sich vorgenommen, mit dem jungen Mädchen zu sprechen. Die Andeutungen über ihr Verhältniß mit Solms ließ Marie unbeantwortet; aber was Haßfeld betraf, so gestand sie, daß sein fortwährendes Verfolgen ihr unerträglich sei. Frau von Willert redete ihr jetzt nur noch lebhafter zu, sich von ihm zu befreien; Marie war schon von selbst gar zu geneigt dazu, denn auch sie gab Haßfeld die Schuld von Solms unerklärlichem Betragen. Eben trat Haßfeld zur Glasthür herein; Frau von Willert entfernte sich, mit Marie einen Blick des Verständnisses wechselnd; diese blieb stehen und Haßfeld näherte sich ihr. Ein dunkles Vorgefühl ergriff ihn, als er den Ausdruck ihrer Züge sah; langsam fragte er: »macht solch ein düsterer Himmel Sie auch beklommen?«

»Manchmal,« antwortete Marie, »doch eigentlich lieb' ich ihn. Ich möchte den von England sehen, der so ganz phantastisch ist.« Sie schwieg einige Augen blicke; dann fragte sie: »wollten Sie nicht diesen Frühling noch nach England?«

Haßfeld sah sie an; sie blickte durch das Fenster hinaus. »Sie wollen, daß ich gehe?« fragte er.

»Ja!« antwortete Marie, als sie sich nach einigem Zögern für kalte Aufrichtigkeit entschieden hatte.

»Also meine stumme, nichts fordernde Gegenwart ist noch zu viel?« fragte er, indem er noch blässer wurde, als er schon war. »Das hätt' ich nicht gedacht!« setzte er bitter hinzu.

Marie schwieg. Sie war so ungeduldig unwillig auf den ewigen Störer, wie sie ihn in Gedanken nannte, daß sie nur den heftigen Wunsch empfand, ihn sich entfernen zu sehen, während seine Empfindungen dabei ihr völlig gleichgültig waren.

»Ich werde gehen,« sagte er. »Ein Wort ist ja meistens entscheidend.«

»Das ist gut,« antwortete sie.

»Weil so die Qual kurz wird?«

»Ja, ich denke.«

»Wenn ich nur einen Zweck wüßte.«

»Der findet sich, wenn die Welt vor uns liegt.

»O, mein Gott, die Welt ist öde!«

»So sieht sie ein krankes Auge. Es schatten tausend Bäume, es stehen tausend Aehren im Felde, der Himmel steht über Allem.«

»Und das Glück ist auch da; nicht wahr?«

»Das Glück geht herrlicher durch die Welt, als die kühnsten Träume es träumen; man muß ihm nur zu begegnen wissen.«

Der Hofrath kam und trat hinzu. Die Gesellschaft fand sich allmälich wieder zusammen; endlich saß sie am Abendtische. Aber das Gespräch kam nicht recht in Gang, obgleich Marie sich bezwang und daran Theil nahm. Haßfeld saß stumm, mit zerstörten Zügen. Als die Gesellschaft sich zum Auseinandergehen Bereitete, trat er zur Baronin. »Ich sage Ihnen nicht gute Nacht, sondern Lebewohl, auf lange, vielleicht auf immer!« sagte er; »ich habe heute Nachrichten bekommen – ich muß morgen in der Frühe fort. Empfangen Sie meinen Dank für Ihre Güte; vergessen Sie mich nicht ganz.« Die Baronin sah ihn zweifelnd an. »So plötzlich?« fragte sie; »und Sie sehen ganz verändert aus – ich muß fürchten, daß Ihre Nachrichten sehr unangenehm sind.« Haßfeld starrte vor sich hin; sie sah, daß er ihr nichts sagen könne, und setzte daher hinzu: »doch wenn Sie müssen – ich darf Sie nicht zurückhalten, nur bedauern, daß wir Sie verlieren.« – »Ich danke Ihnen noch für dieses letzte gütige Wort,« sagte er bewegt; »Gott segne Sie, wie Sie gut sind!« Er ergriff ihre Hand und drückte sie an die Lippen; die Baronin war auch bewegt, denn sie hatte ihn gern. »Kommen Sie uns denn nicht wieder?« fragte sie ernst. »Vielleicht;« antwortete er; »wahrscheinlicher aber nie.« – »So geleite Sie Gott!« sagte sie gütig. »Sagen Sie es den Damen, während ich Ihren Herrn Gemahl um Pferde bitte,« schloß er. Die Baronin that es. Marie athmete auf und doch regte sich jetzt leises Mitleid in ihr. Sie beschloß ihm freundlich Lebewohl zu sagen, aber er ließ ihr keine Zeit dazu; er empfahl sich rasch den Damen insgesammt und bot eben so hastig dem Hofrath und Franz die Hand. Als er sich zu Anlow wandte, sagte dieser: »ich begleite Sie!« grüßte und verließ mit Haßfeld den Saal. Draußen fragte er: »Haßfeld, was ist das?« – »Alles auf Ihrem Zimmer,« antwortete der Schriftsteller. Sie waren nun bei Anlow und gänzlich sicher vor Störung. Haßfelds Verzweiflung brach hervor. Er erzählte Anlow Mariens Forderung und die Art, wie sie gefordert. »O sie stand wie ein Bild von Stein!« rief er; »keine Regung von Mitgefühl, kein Gedanke, daß ich Folterqualen leiden mußte, war in ihr. Ich war ihr lästig, sie befahl mir zu geh'n. Was aus mir wird – was kümmert sie das, wenn sie mich nur nicht sieht? O mein Gott, diese eiskalte Stimme! Hatte sie denn keinen andern Ton, um es mir zu sagen?«

»Sie kennt nicht Ihre ganze Liebe!« sagte Anlow; »und dann – Sie haben sie damit verfolgt, während sie mit ihrer Liebe allein sein wollte. Ein Mann fordert Sie in diesem Falle zum Duell – die Frau verwundet Sie mit dem Worte und kann dann ohne Mitleid sein – ich hätt' es Ihnen voraussagen können.«

»Allein mit ihrer Liebe sein!« wiederholte Haßfeld. »Und wem giebt sie die? Das macht mich eben rasend, daß ich sehe, wem ich aufgeopfert werde. Aber freilich, der reiche Graf und der arme Schriftsteller – da fand erst keine Wahl statt.«

»Sie sind ungerecht!« sagte Anlow, aber Haßfeld hörte ihn nicht.

»Und sie soll mich doch nicht fortgewiesen haben,« rief er, immer heftiger. »Ich werde sie doch verfolgen, wenn nicht mit meinen Blicken, so mit meinen Liedern; so sehr ihr Stolz sich dagegen sträuben mag, sie soll es doch ertragen, meine wilde Liebe zu sein, und daß Jeder sie so nennen soll: Ich werd es ausrufen – ich werde lügen – wer weiß das, wenn ich lüge. O, und dann –»

»Rache an einem jungen Mädchen, Haßfeld?« fragte Anlow.

Der Schriftsteller warf sich in einen Sessel und senkte den Kopf in die Hände. »Wenn Sie wüßten, wie ich dieses Mädchen geliebt habe!« rief er dumpf.

»Ich weiß es,« sagte Anlow; »ich verlange auch nicht, daß Sie nicht leiden sollen. Fräulein Unruh ist der Liebe und des Schmerzes eines Mannes werth, aber deswegen soll auch Ihre Liebe und Ihr Schmerz des Mädchens werth bleiben.«

»Was soll ich thun?« fragte Haßfeld schmerzlich, doch ruhiger.

»Schweigen,« antwortete Anlow, »und das Mädchen nicht durch Ausbrüche von Leidenschaftlichkeit verletzen. Der Augenblick, in welchem sie Ihre Liebe würdigt, kommt sicher, und hat sie Ihnen dann noch für zartes Schweigen zu danken, so können Sie noch ihr Freund werden, und das ist auch etwas.«

»O, was für meine Sehnsucht!« rief Haßfeld.

»Es ist viel, vielleicht selbst das Höchste,« sagte Anlow. »Gewiß ist es, daß Leidenschaft verwirrt und zerstört; ich hoffe auch, damit abgeschlossen zu, haben, und hoffe auch, Marie bald daraus befreit zu sehen, denn jetzt ist sie allerdings darin befangen. Aber, wie gesagt, diese Befangenheit muß bald verschwinden; Solms ist nicht der Mann, wie Marie sich ihn geträumt haben muß; ich wüßte überhaupt für den Augenblick keinen, den ich mir als die Verwirklichung ihres Traumes denken möchte; ich weiß selbst nicht, ob man nicht wünschen soll, daß sie nie liebe, sondern nur als Freundin für Männer fühle.«

Er sah nachdenkend in die Flamme des Lichtes; Haßfeld sagte: »Ich fahre um zwei Uhr; lassen Sie mich bis dahin hier bleiben, opfern Sie mir eine halbe Nacht. Bei Ihnen bekämpf' ich mich, allein hielt ich mich nicht.« – »Gern!« antwortete Anlow, »es ist kein Opfer, wenn ich wache, ich hätte doch noch gearbeitet, um eine krankhafte Aufregung zu bezwingen, die mich schon mehrere Tage immer bis gegen Morgen wach hält.« – »Geben Sie mir auch Papier und Feder,« sagte Haßfeld. Anlow that es und ließ ihm eine Kerze; bei der andern setzte er sich an seinen Schreibtisch. Die Kerzen brannten ruhig in die Nacht hinein; die Thurmuhr aus dem Dorfe zeigte mit fernem, schwachem Schlage dem Schriftsteller an, wann wieder eine der schleichenden Viertelstunden abgelöst wurde. Er saß, den Kopf auf die Hände gestützt, schweigend am Tische; endlich, als es halbzwei schlug, ergriff er hastig die Feder und schrieb seinen Abschied an Marie:

Sie lebe wohl! Es schatten tausend Bäume,
Es stehen tausend Aehren in dem Feld,
Es öffnen überall sich traute Räume,
Und über allem steht des Himmels Zelt;
Und herrlicher, als selbst die kühnsten Träume
Es träumen geht das Glück noch durch die Welt? –
So kann auch ich noch einmal Ruhe finden,
So kann auch mich ein gold'nes Land noch binden.

Jetzt aber ist es mir, als wäre Alles,
Das, des Begehrens und Erkämpfens werth,
Herabgesunken leisen, welken Falles,
Wie Blätter, wenn der Winter wiederkehrt;
Als sei vom Wüsten eines Wogenschwalles
Hinweggetrieben Hoffnung, Boden, Heerd,
Ich aber ständ', als Einer, der nicht wüßte
Wohin, gedankenlos an öder Küste.

Er hatte mit fliegender Feder geschrieben; nun ging er und gab Anlow das Blatt. Während dieser las, starrte Haßfeld am Fenster hinaus; kein Stern flimmerte in der trüben Luft; der Wind war zum hohlstimmigen Sturm geworden. Anlow hatte gelesen und sagte: »Ihr Gedicht klagt an; Sie sind noch bitter und wollen noch nicht hoffen, doch das darf man auch noch nicht fordern. Soll ich es geben?« – »Ich bitte Sie darum,« antwortete Haßfeld – »und – wenn sie von mir spricht – Sie sollen erfahren, wo ich sein werde –« – »Ich hoffe Ihnen bald einen Gruß senden zu können,« sagte Anlow, »und dann – treffen wir uns vielleicht bald irgendwo in der Welt; wir gehören Beide ja noch zu den Beduinen der Gesellschaft.« – »Und zu den Kämpfern,« antwortete Haßfeld. »Auch,« sagte Anlow; »und dieses Wort giebt mir Sicherheit über Sie; wer an den Kampf denkt, siegt auch!« – »Leben Sie wohl,« sagte Haßfeld; »sagen Sie der Baronin die Ursache meiner Entfernung, und auch, daß ich ihrer stets als eines milden Lichtes in meinem Leben gedenken werde.« Die jungen Männer, die sich gegenseitig achteten, reichten sich die Hände; dann ging Haßfeld, und nach einer halben Stunde hörte Anlow das Rollen des Wagens.

Auch Marie schrieb in dieser Nacht:

 

»Mein Vater.

Es ist kein Stern am Himmel, und ich bedürfte doch des Sternlichtes. Und Du bist auch nicht bei mir, und Deine Nähe würde mich doch beruhigen. So ist es immer – in den Stunden der tiefsten Bedürftigkeit sind wir allein, auf uns selbst zurückgeworfen, auf die stürmende Flut unserer Seele.

Mein Vater – ich bin jetzt nicht, wie Du es wünschest, nicht klar; nicht ruhig, verloren in den, Wolken streitender Empfindungen. Aber lies die Tageblätter, welche ich Dir mitsende und an denen ich bis jetzt geschrieben habe, treu, so viel ich nur konnte. Dann verzeihe mir, daß ich in jenem Augenblicke, wo Solms sein letztes beleidigendes Wort sagte, gern jedes Liebesglück der Zukunft hingegeben hätte, um ihn zu meinen Füßen zu sehen und dann von mir weisen zu können. Verzeihe mir, Du weißt, ich bin nichts, als ein Weib. Ich habe mit meinem Zürnen gekämpft – ganz ist es noch nicht überwunden. Ich glaube, die Beleidigungen des Grafen waren Liebe, aber er soll mich nicht auf solche Art lieben; ich bin nicht seine Sklavin, an der er die Laune jedes Augenblickes auslassen kann. Will er eine solche, so will ich ihn nicht. Auch mit Haßfeld habe ich heute entschieden geendet. Ich konnte Dir mein Gespräch mit ihm nicht mehr niederschreiben – es hat bewirkt, daß er heute Nacht noch abreis't. Er schien zu leiden – ich kann nicht dafür – ich habe ihm keine Liebe einflößen wollen. Wir sind nicht verpflichtet, Liebe zu ertragen, die uns drückt. Dazu reizte er Solms unaufhörlich auf, und ich habe heute genug gesehen, was das für Folgen hat. Solms ist dadurch in meinen Augen nicht etwa entschuldigt, aber ich wollte doch die Veranlassung zu seinen Uebereilungen forträumen, da ich es konnte. Wie gesagt, ich habe mir gegen Haßfeld kein Anziehen vorzuwerfen. Mit Solms muß es sich morgen entscheiden. Abderrahman ist fertig. Anlow, Alle haben mich gebeten, ihn vorzulesen; ich werde es thun. Solms soll sehen, daß ich dichten kann und daß es mein höchstes irdisches Gefühl ist. Erkennt er mein Gedicht nicht an, – gut, so geb' ich ihn auf, nicht ohne Schmerz, aber mit Entscheidung. Ein Mann, der nicht die Dichterin in mir liebt, kann mich nie verstehen; da ist es besser, schnell zu enden. Fürchte nicht für mich! Ich setze mit Ruhe mein Schicksal auf diesen einen Wurf. Wie er falle: ich stehe und werde nicht unglücklich. Das mich zu machen, dazu hat Solms nicht die Macht; er müßte noch anders sein, ich mich ihm nicht so gleich fühlen. Ist zu viel Stolz in mir, mein Vater? Was kann ich dafür, daß kein Mann ihn beugt? Ich wollt es – es muß das Schönste sein, sich einem Herrlichen unterworfen zu fühlen; aber mir lügen, ich sei unterworfen, kann ich nicht. Ueberhaupt, was für Mängel immer in mir sein mögen, wahr wenigstens will ich bleiben und, mein Vater, Dein treues Kind,

Marie.«

 

Als Anlow am andern Morgen einige Augenblicke mit Marie allein war, gab er ihr Haßfelds Gedicht.

Sie las es und blieb nicht unbewegt. »Daß ich ihn so leiden machen würde, hätt' ich nicht gedacht,« sagte sie.

»Das hab' ich ihm gesagt,« antwortete Anlow und theilte ihr, so viel es ging, sein Gespräch mit dem Schriftsteller mit.

Sie blickte Anlow dankbar an und sagte: »wenn wir doch immer Freunde hätten, die so gut machten, wo wir fehlten. Ich danke Ihnen herzlich dafür und auch für Ihr Vertrauen zu meinem Herzen.«

»Wo ich einmal vertraue, thue ich es ganz,« erwiederte Anlow. »Jeder Zweifel ist ungerecht, ein Unrecht, und ich möchte mir gern das Bewußtsein erhalten, daß ich Ihre Freundschaft noch in jedem Augenblicke verdiente.«

Frau von Willert kam aus dem Eßsaal. »Liebe Marie!« rief sie, eben hör' ich von der Baronin, daß Sie uns heute Abend Ihr Gedicht vorlesen wollen. Es ist sehr schön, daß Sie es endlich thun.«

»Ich hätt' es schon früher gethan, da Sie es mir sagten,« antwortete Marie; »aber es ist ja heute erst der zweite Regentag, seit ich fertig bin, und im Sommer darf man nur an Regentagen vorlesen.«

»Ich freue mich sehr darauf,« sagte Anlow.

»Ich auch,« rief Herr von Rosen, der sein Schmollen aufgegeben hatte, da er sah, daß Marie es gar nicht bemerkte. »Aber um etwas bitt' ich, gnädiges Fräulein,« setzte er, nahekommend hinzu, »wie heißt es? Ich kann den Namen nicht behalten.«

»Abderrahman,« sagte Marie; »und wenn man mir recht gesagt hat, denn ich verstehe nicht arabisch, so heißt das: Knecht des Erbarmenden oder Barmherzigen.«

»Abderrahman, Knecht des Barmherzigen, sehr sinnreich!« sagte Herr von Rosen. »Der Name ist mir aber schon bekannt gewesen – ich erinnere mich jetzt.«

»Sehr möglich; denn fünf Könige von den spanischen Ommaijaden hießen so.«

»Und der eine König, der einmal vor die Thür seiner Geliebten – sie hatten einen Streit gehabt, und sie hatte gelobt, ihm ihr Zimmer nicht mehr zu öffnen – wie war es doch? – ja, er ließ ihre Thür mit Goldstücken belegen und sagte, so würde sie von selbst wieder herauskommen, was auch geschah.«

»Das war der dritte Abderrahman; ganz recht.«

»Sehen Sie, das wußte ich. Und Ihrer?«

»Ist der erste, und auch der erste der spanischen Ommaijaden.«

»Und die Ommaijaden?«

»Sind ein arabischer Stamm, der zuerst das Khalifat besaß.«

»Und das Khalifat?«

»Ist die Nachfolgerschaft des Propheten.«

»Und der Prophet ist Muhammed. lachen Sie nicht, gnädige Frau, man muß doch wissen, was man hören wird.«

»Ich lache gar nicht, lieber Rosen; im Gegentheil – Sie haben ganz Recht. Wenn es so einer Dichterin einfällt, uns, Gott weiß wohin, zu bringen, so muß sie uns auch Rede und Antwort stehen über alles Fremde, das wir sehen und hören. Uebrigens wissen Sie noch mehr, als ich; denn die Geschichte von dem dritten Abderrahman war mir noch ganz neu.«

»Dem meinigen, Frau von Willert, sind Sie schon in Tiecks Genoveva begegnet, wo er sterben muß und von seiner Geliebten, Zulma, wunderschön beklagt wird.«

»Aber das ist nicht geschichtlich!«

»Nein, er hat nicht persönlich gegen Karl gekämpft und starb auch erst zehn Jahr später. Ich habe daher den Einfall der Christen auch gar nicht erwähnt.«

»Gnädiges Fräulein, wie kommt denn aber Ihr arabischer Held nach Spanien?«

»Das sollen Sie im Gedicht hören, Herr von Rosen. Und wissen Sie was, ich werde den Baron bitten: es historisch einzuleiten; da sind alle Dunkelheiten auf einmal gehoben.«

»Thun Sie das, liebe Marie. Graf Solms, wissen Sie schon, wir hören diesen Abend das Gedicht von Fräulein Unruh.«

»Ich habe gehört. Wie haben Sie geschlafen, gnädiges Fräulein?«

»Nicht so fest, daß ich den Sturm nicht gehört hätte. Hat er Sie auch gestört?«

»Allerdings; wer hätte bei dem Heulen schlafen können? Ein herrliches Maiwetter!«

»Seien wir nicht undankbar. Wir haben so schöne Tage gehabt, daß wir uns eine Sturmnacht schon gefallen lassen können. Ueberdies lieb' ich den Sturm bei Nacht.«

»Ich auch,« sagte Anlow.

»Ich nicht,« sagte der Graf. Man sprach über alle möglichen Stürme weiter, und der gestrige schien bei dem Grafen vorüber. Er dachte zwar nicht daran, daß er Unrecht gehabt haben könne – er hatte mit einer Meinung nie Unrecht – doch fühlte er, daß er diese Meinung etwas bestimmt ausgesprochen habe, und daß daher Marie und Frau von Willert einige Entschuldigung wegen der Art ihrer Antworten verdienten; auch die Baronin wäre wegen der Freundin gereizt gewesen, und so wollte er dieses Mal über Alles hinweggehen, welchem großmüthigen Entschlusse man sein frühes und ruhiges Erscheinen verdankte. Er ertrug es auch mit Nachsicht, daß Marie noch sehr kühl gegen ihn war, und daß die Baronin ihn, so viel es ging, gar nicht beachtete. Mariens Eitelkeit mußte natürlich verletzt sein und die Baronin sich doch bald wieder an ihre Pflicht als Wirthin erinnern. Franz und seine Gesichter übersah er, wie das sich von selbst verstand, ganz und gar.

So war seine Stimmung den Morgen hindurch; als er aber zu Mittag wieder herunterkam und weder Marie, noch die Baronin verändert, und auch die Uebrigen nicht übermäßig freundlich gegen sich fand, wurde er doch etwas unsicher. Es ist schwer, daß ein Einzelner, dem stillschweigenden Tadel einer Mehrheit gegenüber, sich das Bewußtsein von der Richtigkeit seines Benehmens erhalte; Graf Solms verlor es nach und nach. Er fing an zu meinen, er könne doch wol etwas zu weit gegangen sein. Er näherte sich Marien mit einer gewissen Befangenheit; sie erschien ihm wieder schön; er wünschte, er hätte gestern lieber geschwiegen und eine bessere Gelegenheit, etwa eine zärtliche Stunde im Brautstande, abgewartet, um Marie für seine Ansichten zu gewinnen. Er dachte nicht daran, daß er Marie deswegen verlieren könne; er wußte, daß es nur von ihm abhinge, sie heute noch als Braut zu haben; aber es that ihm leid, sie verletzt zu haben, und er wollte sie durch Zeigen seiner Neigung wieder erheitern und gewissermaßen berechtigen, die ihrige aufs Neue hervortreten zu lassen. »Denn natürlich, wenn ich mich Marie so kalt zeige, muß sie sich auch verstellen,« dachte er. Als er so weit gekommen war, wurden die Lampen angezündet, und die Baronin fing an den Thee zu machen.

Marie kam mit Anlow und Franz aus dem Eßsaal. Der Baron war im Glashause gewesen und brachte einen Blumenstraus mit, den er unter die Damen vertheilte. Marien gab er eine wunderschöne immerblühende Rose, mit Blättern und Knospen. »Stecke sie ins Haar!« sagte die Baronin. Marie that es nachläßig; die Blume leuchtete schön zwischen den glänzenden Locken. Marie setzte sich auf den einen der dunkelrothen Divans, halb in Dämmerung. Sie neigte sich auf die Kissen und sann nach; die Andern tranken Thee und plauderten. »Ich bin recht neugierig, wie das Gedicht sein und wie der Graf sich dabei benehmen wird,« flüsterte Fräulein Louise der Frau von Willert zu. »Ich freue mich sehr, daß sie es gerade heute vorlieset,« sagte Frau von Willert, auch leise. »Sie thut es nicht ohne Absicht wegen Solms, und sie thut Recht; es ist die passendste Antwort auf seine gestrigen Ungezogenheiten.«

Die Baronin hatte zum letzten Male Thee angeboten, und Allen war zu heiß, um noch welchen zu trinken. Franz schellte, und die Bedienten beseitigten rasch und leise Alles, was an irdischen Genuß erinnern konnte. Jetzt waren die Thüren auf einige Stunden geschlossen, und der Baron sagte lächelnd: »Sie sehen hier einen neuernannten Professor der Geschichte. Fräulein Marie hat mir den Auftrag gegeben, Ihnen die Vorzeit ihres Gedichtes in kurzen Worten vorzutragen. Ich bin ganz bereit dazu; es frägt sich nur noch eines, nämlich, ob die Damen Lust haben, meinen Vortrag anzuhören?«

Die Damen versicherten einstimmig: die Gegend, in welche ihr zu folgen, Fräulein von Unruh sie aufgefordert habe, sei ihnen so fremd, daß eine Erklärung derselben ihnen nur höchst angenehm sein könne.

»So wäre ich also wegen meiner Zuhörerinnen beruhigt!« sagte der Baron. »Was meine Zuhörer betrifft, so bitte ich sie im voraus um Verzeihung, wenn ich Dinge erzählen sollte, die sie schon wissen.«

»Lassen Sie sich durch diese Rücksicht nicht abhalten, auch das Einfachste zu erzählen!« sagte Anlow. »So interessant jene Zeit auch in dichterischer Hinsicht ist, so liegt sie doch unsern gegenwärtigen Interessen zu fern, als daß Weltleute, wie wir, sich viel mit ihr beschäftigen könnten. Ich für meinen Theil, lieber Baron, erkläre daher, daß Ihre Erklärung mir vielleicht noch nöthiger, als den Damen ist.«

»Ich habe diesen Morgen gefunden, daß ich nicht fremd in jener Zeit bin,« sagte Herr von Rosen, »doch dürfte nicht Alles mir bekannt sein.«

»Nein,« bemerkte Frau von Willert, »die Geschichte von dem dritten Abderrahman ist gewiß nicht die einzige, welche damals vorfiel. Fangen Sie also an, Herr Privat-Professor.«

»So versetzen Sie sich mit mir in die Patriarchenzeit der Bibel, welche auch die des Korans ist,« sagte der Baron. »Sie sehen dort den bekanntesten und frömmsten der Patriarchen, Abraham, wie er Hagar und mit ihr seinen und ihren Sohn, Ismael, verstößt. Dieses Bild aus unserer Kindheit ist das erste, welches uns, tief bedeutend, hier vom Geist des Morgenlandes gezeigt wird. Dann folgt ein zweites; Hagar ist mit Ismael nach Arabien gekommen; Wunder bereiten ihr und dem Knaben einen Wohnsitz; der Knabe wird Jüngling und Mann und gewinnt Einfluß auf die Stämme des Landes; Abraham kommt zu seinem Sohne, hilft ihm seine Herrschaft befestigen, giebt den Ismaeliten seinen Glauben, und der wahre Gott hat eine Stätte in Arabien.«

Anlow sagte: »Sie haben das rechte Mittel gefunden, uns in dem neuen Lande gleich heimisch zu machen. Ein bekannter Namen, in einer fremden Gegend der Geschichte genannt, wirkt eben so, als das Erblicken eines Freundes in einer fremden Stadt; man ist sicher, nun Alles weit leichter kennen zu lernen.«

»Darin liegt eben das Anziehende der arabischen Geschichte für uns, daß wir keines mühsamen Studiums bedürfen, um sie zu verstehen,« sagte der Baron; »daß es ist, als läsen wir die Erzählungen unserer Mütter wieder, nur in andern Worten. Die ganze arabische Ueberlieferungszeit ist in uns vertrauten Zügen einfach auf den Boden unsers heiligen Landes geschrieben. Erst bei Eröffnung der geschichtlichen Zeit treten uns ganz unbekannte Gestalten entgegen. Die erste ist Adnan, der Nachkomme Ismaels und der Urahn des Propheten, sowie der aller Khalifengeschlechter. Wir sehen nämlich die ganze Zeit des Khalifats von einem mächtigen Baume überschattet, dessen Boden Arabien, dessen Pflanzer Abraham, dessen Wurzel Ismael ist. Mit Adnan beginnt der Stamm; durch Name auf Name wächst er fort, bis zu Caab; da theilt er sich in mächtigere und kleinere Aeste, alles Geschlechter, aus denen Khalifen hervorgingen. Ich habe hier eine flüchtige Zeichnung entworfen, die Ihnen einen noch bessern Ueberblick gewähren wird.«

Er ging und holte seine Zeichnung. Sie war auf großem, schönem Papier leicht, aber sicher entworfen; Abraham und Ismael erschienen kenntlich und bedeutend an dem Tempel zu Mekka; Kameele und Zelte deuteten das Land an; der Baum erhob sich großartig; unten an seinem Stamm las man Adnan, dann Namen auf Namen, welche der Baron den Damen aussprechen half. Endlich kam man zu Caab, und der Stamm theilte sich in Aeste. Die untersten waren die Geschlechter der ersten Khalifen, deren Namen, purpurn geschrieben, sich auszeichneten. Etwas höher hinauf trennte sich mit Ommaija der mächtige Ast der Ommaijaden vom Stamme; ihre Namen waren blau geschrieben. Um eine Spanne tiefer als Ommaija's Namen las man den Haschems in goldener Schrift; ihm folgten zwei andere, auch goldene, und dann stand der des Propheten golden und purpurn in kühnen Buchstaben da. Der Baron forderte Ehrerbietung für ihn; aber die Damen verweigerten sie, wie sie sagten, weil der Prophet so wenig artig gegen ihr Geschlecht verfahren sei. Diesem ganz weiblichen Grunde konnte der Baron keinen andern entgegensetzen, und zeigte ihnen daher ohne weitern Aufenthalt die eilf Oheime des Propheten. Von dem ältesten derselben ging durch seinen Sohn Ali der Zweig der Aliden aus, welche den grünen Turban tragen durften, und deren Namen daher auch hier in grüner Farbe prangten. Mit dem neunten dieser Oheime, mit Abbas, entsprang der Ast der Abbassiden, der stärkste von allen. Schwarz, die Farbe der Abbassiden, war bei ihren Namen angewendet worden. Hier hörte der Baum auf; an seinem Fuße aber zeigte der Baron den Damen noch die Länder, welche er einst, in der Zeit seines Sommers, mit seinem mächtigen Schatten bedeckt hatte: Persien, Armenien, Mesopotamien, Syrien, Palästina, Arabien, Aegypten, Nordafrika, Spanien. In den Schattenzügen der Feder erschien die Herrlichkeit des Prophetenreiches.

Fräulein von Goldhand bat den Baron um die Erlaubniß, den Baum abzeichnen zu dürfen; er bat sie dagegen, die Zeichnung zu behalten, unter der einzigen Bedingung, daß sie dabei an seinen ersten Versuch als Professor der Geschichte denken sollte. Dann rückte die Gesellschaft sich wieder in die Stellung des Hörens, und er nahm seinen Platz in ihrer Mitte aufs Neue ein.

»Der Prophet,« fuhr er fort, »ist eine von den Erscheinungen, die Jedem gezeigt worden sind; von ihm sprechen, hieße nur wiederholen. Treten Sie also mit mir erst nach seinem Tode unter die Araber. Schon haben sie erobert; er hat sie geführt; er hat ihnen nicht nur seine Lehren, sondern auch den Durst nach Thaten hinterlassen. Um aber mit Glück Thaten ausführen zu können, müssen sie an des Propheten Statt einen Andern haben, der, wie der Prophet, sie führe und ihnen rathe. Sie wählen zu seinem Statthalter, oder Khalifen, seinen Schwiegervater Abubekr.

»Der den Koran sammelte?« fragte Frau von Willert.

»Derselbe!« antwortete der Baron. »Sie sehen, ich erzähle Ihnen nichts Neues. Aber es ist mir darum zu thun, Ihnen den Begriff der Khalifen recht deutlich zu machen. Uebrigens konnt' ich das mit zwei Worten: sie waren die Päpste des Islam, eben so gut sein geistliches wie sein weltliches Oberhaupt. Verzeihen Sie mir, was ich überflüssig sprach.«

»Nur weiter!« sagte Frau von Willert. »Wollten Sie uns nichts als Neues sagen, müßten Sie die Geschichte ja erst erfinden.«

»Abubekr stirbt bald,« fuhr der Baron fort. Die Söhne des Islam wählen Omar. Dieser ist ein Krieger und Führer seiner Heere. Syrien und Aegypten werden erobert – die Perser fortwährend geschlagen. Auch fällt Omar von dem Dolche eines erbitterten Persers. Der dritte Khalif, der erste Ommaijade, Othman, wird gewählt; doch herrscht er nur kurze Zeit und ohne besondere Ehre. Schon Greis, ist er geizig und begünstigt seine Verwandten zu sehr. Das Volk zu Medina steht wider ihn auf, und er fällt in der Empörung.«

»Wann kommt denn Ali?« rief Herr von Rosen, der unterdessen an dem Baume studirt und bei Ali's Namen das Zeichen E. A. M. gefunden hatte, welche Buchstaben, wie der Baron erklärt hatte, immer einen Khalifen bedeuteten, da die Khalifen auch Emir al Mumenin oder Herr der Gläubigen hießen. »Ali ist ja sowohl der Schwiegersohn, als der Vetter des Propheten?« setzte Herr von Rosen hinzu, mit einer Miene, als habe er eine große Entdeckung gemacht.

»Trotzdem wurde er doch bisher übergangen und auch jetzt nur zu Mekka und Medina erwählt,« antwortete der Baron.

»Warum?« fragte Herr von Rosen.

»Das Ihnen zu sagen, ist mir nicht möglich,« sagte der Baron. »Die Wähler haben ihre Gesinnungen, den Inhalt ihrer Herzen, den Geschichtschreibern nicht überliefert.«

»Das ist aber doch sehr unangenehm!« sagte Herr von Rosen. »Wenn man die Gesinnung, aus welcher die That hervorgeht, nicht kennt, kann man die That unmöglich richtig beurtheilen.«

»Schade, daß Sie kein Geschichtsforscher geworden sind,« sagte Frau von Willert; »Sie würden gewiß Verborgenes an das Tageslicht gefördert haben; für jetzt aber beruhigen Sie sich nur damit, daß Ihr Schützling Ali endlich doch gewählt wurde.«

Aber nur in Arabien,« wiederholte der Baron. »Zu Damaskus erhob sich, unmittelbar nach Ali's Erwählung, ein Ommaijade, Moavia, der unter seinem Verwandten, Othman, Statthalter in Syrien gewesen war. Er beschuldigte Ali der Theilnahme an Othmans Ermordung und gelobte sich, Rache zu nehmen, indem er sich zugleich in Syrien und Aegypten die Khalifenwürde anmaßte. Ali nahm den Kampf an, den Moavia ihm bot; er unterlag; Moavia blieb Khalif, nicht unangefochten, aber doch Khalif, und noch mehr, das Khalifat wurde jetzt in dem Stamm Ommaija erblich. Moavia's Sohn und Enkel folgten Moavia darin nach; dann ging es an eine andere Familie über, aber diese war auch ommaijadischen Geschlechts. Der erste Khalif daraus hieß Meruan; ihm folgte sein Sohn, Abdelmelic; diesem folgten vier Söhne und ein Neffe. Der erste der Söhne Abdelmelics war Walid I. Unter ihm erreichte die Khalifenherrschaft ihre höchste Herrlichkeit. Er baute die große Moschee zu Damaskus. Nordafrika war bis zum atlantischen Meere, das die Araber das finstere nannten, unterworfen. Spanien wurde von unzufriedenen Großen freiwillig überliefert und bald fast gänzlich arabisch. Stämme schifften hinüber; die Bevölkerung war bald eine neue. Walid starb. Seine Brüder herrschten noch gut. Die Aliden kämpften vergebens um das Khalifat. Ihre Aufstände wurden unterdrückt, ihre Köpfe auf die Mauern von Damaskus gesteckt. Aber jetzt kam die Reihe zu herrschen an die Enkel Abdelmelics. Sie waren nicht, was ihre Väter waren. Das weite Reich erforderte kräftige Herrscher, und Abdelmelics Enkel waren Schwächlinge. In den Provinzen verlor ihr Ansehen immer mehr an Kraft. Spanien, als die entfernteste, fiel so ziemlich ganz der Willkür der einheimischen Fürsten anheim. Jetzt treten auch die Abassiden auf den Schauplatz und verlangen das Khalifat. Ihre ersten Versuche sind unglücklich, wie die der Aliden. Ein Neffe Abdelmelics, der zweite Meruan, der letzte kräftige Ommaijade, hat die Herrschaft ergriffen und kämpft mit der Zeit und ihren Abgesandten, den Abassiden. Aber die Zeit will ihr Recht über den stolzen Stamm Ommaija. Meruan fällt zu Saida, in der letzten Schlacht, und das Haus Ommaija hat aufgehört, das der Khalifen zu sein.«

»O wie interessant!« rief Fräulein von Goldhand, als der Baron hier einen Augenblick innehielt; »dieser große Kampf zwischen diesen beiden mächtigen Stämmen: welch ein bewegter, bedeutender Hintergrund für das Gedicht!«

»Sie haben das Ganze mit einem Blicke richtig erfaßt,« sagte der Baron. »Dieser Kampf bildet den Hintergrund des Gedichts. Während in dem Hause der Ommaijaden die Flamme der Zerstörung wüthet, leuchtet das Haus der Abassiden von Pracht und steht der Huldigung offen. Der erste abassidische Khalif thront, sicher des köstlichen Besitzes, zu Cufa, der von den Arabern unter dem zweiten Khalifen erbauten Stadt am Tigris in Mesopotamien. Dahin kommen auch die noch übrigen Ommaijaden; unter ihnen die Meruanen, die Söhne und Enkel des zweiten Meruan, der noch unbegraben am Strande vor Saiba liegt. Hier erblicken wir auch zuerst den Prinzen Abderrahman, den Helden des Gedichts. Sein Vater, Moavia, ist auch ein Enkel Abdelmelics gewesen, aber nicht Khalif. Seine Mutter ist aus dem berberischen Stamme Zeneta. Sein Oheim Suleiman ist auch nur Prinz, aber ein vornehmer; ebenso Abderrahman. Weiter aber darf ich jetzt nicht gehen, denn ich habe schon der Dichterin vorgegriffen.«

»Die geschichtlichen Hindernisse unsers Verständnisses haben Sie siegreich gehoben,« sagte Frau von Willert. »Sollten sich aber nicht noch geographische finden?«

»Das könnten doch nur wenige Namen sein,« antwortete der Baron. »Damaskus, in seiner Ebene, mit seinen Gärten und Gewässern, mit dem Thore Gottes, durch welches der Pilgerzug nach Mekka auszieht, mit seiner gepriesenen Moschee und mit dem nahen Gebirge, von welchem Abderrahman es zum letzten Male betrachtet, ist Ihnen längst vertraut; der Klang seines Namens erweckt in unserm Geiste alle morgenländische Gartenpracht, allen Zauber der Rosen, der Springbrunnen und der Nachtigall. Von Damaskus durch die Gebirge führt der Weg der Gedanken uns schnell in das heilige Land. Von dort aus kommen wir nach Aegypten, von hier aus nach Barka, wo wir Beduinen finden, die aus den arabischen Wüsten in die afrikanische Wüste gezogen sind. Almagreb ist die Berberei; Algarbe Marokko. Hier wohnt am Atlas, in dem Bezirk Tahart, welcher aus vielen Dörfern besteht, der Stamm Zeneta, der Mutterstamm Abderrahmans. Mekinese, das heutige Mequinez, bedarf nur dieser Andeutung. In Spanien finden Sie die gegenwärtigen Namen, nur statt Granada Elvira. Und so hätt' ich denn den mir gewordenen Auftrag erfüllt, und an Ihnen, liebe Marie, ist jetzt die Reihe zu lesen, wenn Sie das Gedicht nicht etwa frei sagen können. Ich hätte es lieber; ein Gedicht wird dadurch lebendiger; es erscheint weniger als Ueberlieferung und mehr unmittelbar aus dem Geiste des Dichters entsprungen.«

Aller Augen hatten sich nach Marien gewandt; sie hatte sich aus ihrer sinnenden Stellung aufgerichtet, ihre schwarze Mantille war zurückgefallen und hatte ihren schönen Hals enthüllt, an den das gleichfalls schwarzseidene Kleid sich dicht anschmiegte. In dieser Kleidung, auf dem dunkelrothen Grunde des Divans, mit ihren südlichen Augen aus den langen Wimpern aufblickend, schien sie ein spanisches Bild. Noch nie war sie so anmuthig gewesen, als in der langsamen Bewegung dieses Augenblicks. Noch nie hatte ihr Geist so auf ihrer Stirn geleuchtet, ihre Seele so ihre Augen erfüllt. Graf Solms sah sie mit unverhehltem Entzücken an, als die Baronin die Lampe so rückte, daß ein volles, aber mildes Licht auf Marie fiel. Anlow hatte sich mit seinem Stuhl in Schatten gerückt.

Marie erhob die Hand und strich die Locken noch mehr aus der Stirn, als glühe diese zu sehr. Dann sagte sie zum Baron: »Sie haben noch einen Vorzug des Hersagens vergessen; man kann sehen, ob man die Hörer gar zu sehr langweilt. Schon darum werd' ich es thun. Nur den Titel werd' ich lesen.« Sie nahm das Heft, welches neben ihr gelegen hatte und las: » Abderrahman, Sohn Moavia, der erste Ommaijade in Spanien;« und dann die Motto's:

» My native Land! Good Night!

Lord Byron.«

und:

» Elle est belle une couronne au front.

Fel. Marande.«

Endlich las sie noch: » Der Fall der Ommaijaden.« Dann legte sie das Heft wieder neben sich und fing im ruhigen Tone der Erzählung an zu sprechen.

I.
Der Fall der Ommaijaden.

Auf des Morgenlandes Erde
                Lag, der in dem Sturm zerbrach,
                Lag der Stamm der Ommaijaden,
                Und die Erde bebte nach;

Länger prangte nicht Damaskus
                Als die auserwählte Stadt,
                Wo die Herrn der Gläub'gen wohnten –
                Cufa war's an ihrer Statt;

Er, der Ommaijaden letzter,
                Der im Morgenland gebot,
                Meruan, der Sohn Muhammeds,
                Lag am Strand von Saida todt;

Ihm, dem ersten Abassiden,
                Welcher herrschte als Khalif,
                Abulabbas, Sohn Muhammed,
                Neigten sich die Sklaven tief.

Alle Ommaijaden waren
                Nicht getödtet und entfloh'n;
                Viele kamen, Schutz begehrend,
                Zu des Abassiden Thron.

Als der Edelste der Edlen
                Sprach der tapf're Suleiman
                Den Khalifen Abulabbas
                Um das Wort der Schirmung an.

Suleiman sprach zum Khalifen:
                »Wehr', o Herr, der Gläub'gen Wuth;
                Wenn sie unser Blut vergießen,
                Ist's, als wär's dein eignes Blut.

Wo ist Sicherheit zu finden
                In der Welt, wenn nicht bei dir?
                Wo in Widerwärtigkeiten
                Eine Zuflucht, wenn nicht hier?«

Der Khalife Abulabbas
                Sah die Prinzen gnädig an,
                Seine edlen Anverwandten,
                Und er sprach zu Suleiman:

»Ich erkenn' euch als Verwandte
Und gewähre, was du batst;
Unantastbar bist du worden,
Seit in Cufa's Thor du tratst.«

Um die Brüder, die gefallen
                In den Kämpfen dieser Zeit,
                Trauerten die Ommaijaden,
                Doch für sie war Sicherheit.

In der Zahl der Ommaijaden
                War der Prinz Abderrahman,
                Moavia war sein Vater,
                Und sein Oheim Suleiman;

Dieser hatt' ihn auferzogen,
                An des todten Vaters Statt.
                Keines Menschen Auge blickte
                Sich an seiner Schönheit satt;

Seine Lippen waren röthlich,
                Wie zwei Kirschen unter Laub,
                Seine reichen Locken bräunlich,
                Und bestreut mit goldnem Staub;

Seine Augen blau, wie Lilien
                An den Ufern eines See's,
                Seine Glieder fein geschmeidig,
                Denen gleich des jungen Reh's;

Eilend war er aufgewachsen,
                Wie der Stamm der Myrte schlank,
                Wer ihn sah, der ward erquicket,
                Wie von einem fühlen Trank;

Doch in Trauerwolken hüllte
                Jetzo sich der schöne Mond,
                Denn er blickte nach Damaskus,
                Wo er sonst im Glück gewohnt.

—————

Zu dem Euphrat nimmt der Tigris
Mit Verlangen seinen Lauf;
Ueber ihm ist Nacht geworden,
Und die Sterne gehen auf.

Und Abderrahman steht einsam,
Da berührt ihn eine Hand,
Und es winkt ihn eine Sklavin
In den Schatten einer Wand.

»Schöner Prinz, um deinetwillen
Komm' ich her, nun Andre ruh'n;
Eine Lippe, süß wie eine,
Will dir eine Warnung thun.«

Und er folgt, und leise geh'n sie,
Kommen heimlich an ein Haus,
Abgelegen steht's und schweigend,
Und kein Schimmer dringt heraus.

Und die Sklavin klopft, und offen
Ist es und sie treten ein,
Und der Prinz wird ganz umflutet
Von dem hellsten Lichterschein.

Denn vom Säulengang herunter
Hängen Lampen, dicht gereih't,
Und aus jeglichem Gemache
Strahlt der Kerzen Herrlichkeit;

Zarte Hände aber theilen
Einen Vorhang, welcher wallt,
Und der Prinz steht, wie geblendet,
Vor der herrlichsten Gestalt.

Mächtig fallen ihre Locken,
Ihre Stirn' ist reines Licht,
Doch, die Schönheit ihrer Augen
Malt der kühnste Dichter nicht.

Ganz verwirret steht der Jüngling
Vor dem schönen Räthsel da;
Auch verwirret spricht das Mädchen:
»Wisse, ich bin Zahira;

Zahira, Abdalahs Tochter,
Welcher des Khalifen Ohm –
Einmal sah ich dich am Ufer,
Als ich niederfuhr den Strom.

Und nach dir gesendet hab' ich,
Dich zu warnen, weil geheim
Der Verrath entwächst dem Hasse,
Wie ein gift'ges Kraut dem Keim.

Noch ist nicht die Blüth' entknospet,
Minder noch gereift die Frucht,
Aber harre nicht des Tages –
Fliehe, noch gelingt die Flucht.«

Also spricht sie, doch der Jüngling
Hört nur träumend, daß sie spricht;
Lange schwieg sie schon, da seufzt er:
»»Herrin, ich verstand dich nicht.««

Da erglühen ihre Wangen
Hell in purpurfarb'nem Schein,
Und der ersten Liebe Morgen
Bricht in seiner Pracht herein.

Und noch eh' die Stern' erlöschen,
Da vereint durch Schwüre schon
Ist die Abassidentochter
Mit dem Ommaijadensohn.


Und wenn nun die Sternenstrahlen
Untertauchten in den Tigris,
Klopft' Abderrahman am Pförtchen,
Und es öffnet ihm die Sklavin.

Einsam wohnte die Prinzessin,
Im Palaste wohnt Abdalah,
Missen konnt' ihn der Khalife
Nicht bei Nacht und nicht bei Tage.

Einsam wohnte die Prinzessin
Länger nicht; die Liebe wohnte
Mit ihr im geschmückten Hause,
In dem springquellhellen Garten.

Länger hießen ihre Lippen
Nicht den Prinzen Cufa meiden;
Sie vergaß, daß sie gefürchtet,
Sie vergaß, daß sie gewarnet.

Und wie unten in der Laube
Reb' und Rebe sich verrankten,
So umschlang der Ommaijade
Fest die Abassidentochter.


Zum Khalifen Abulabbas
Trat Abdalah ein mit Schweigen,
Seine Stirne tief gefaltet,
Seine Blicke schwer gesenkt.

Der Khalife sprach: »mein Oheim,
Sage, bei dem Namen Gottes,
Was bekümmert dich so drückend?«
Doch Abdalah stand und schwieg.

Zornig sprach nun der Khalife:
»Ich gebiete, daß du redest!«
Da erhob die Stimm' Abdalah,
Sprechend: »»Herr, mit dir sei Glück!

Keine Hülfe giebt's auf Erden,
Außer beim erhab'nen Gotte!
Herr der Gläub'gen, deine Großmuth
Hat ein thöricht Werk gethan.

Eingeladen hast du Feinde,
Mit in deinem Haus zu wohnen;
Nah' genug sind die Verräther,
Um zu sehen deinen Schlaf.

Wissen mußt du, wen ich muthig
Feinde nenne und Verräther –
Herr, sind dir die Ommaijaden
Wolken vor der Sonne nicht?

Herr, sie sind's den Abassiden,
Und es harren diese knirschend,
Daß du ihre Händ' entfesselst,
Die gebunden hat dein Wort.

Und für meine Schlachten alle
Fordr' ich nichts, als dieses eine:
Herr, gieb uns, den Söhnen Abbas,
Derer von Ommaija Tod.««

Schweigend hört ihn der Khalife,
Doch nicht unbewegt; er wußte,
Daß Abderrahman der Schönste
Und der Fürst der Herzen sei.


Der Verrath ist reif geworden,
Auf den edlen Stamm Ommaija
Ward der letzte Streich geführt;
Unter Peitschenhieben starben
Seiner besten Ritter neunzig
An Abdalah's falschem Tisch;
Am Palaste des Khalifen
Liegt im Blute Suleiman.

Offen steh'n die Grabgewölbe,
Vor dem Haß der Abassiden
Schützt die Söhne von Ommaija
Selbst der Tod, der heil'ge, nicht;
Die noch leben, sind entflohen,
Irren lang' umher und zittern,
Wenn die Luft im Grase rauscht.

Und Abderrahman – wie ließ er
Sie, die er so heiß geliebt?

Mitten in dem Haus des Schlachtens
Hielt sie fest umfangen ihn,
Schloß mit Küssen ihm die Lippen,
Als das Mordgeheul erklang.

Bleich in Ohnmacht sank er nieder,
Sie erlag dem Grauen nicht;
Wachend saß sie bei dem Liebling,
Bis verstummt das Todesröcheln
Und der Jubel des Gelags,
Bis die Nacht den Mantel über
Die Gemordeten geworfen –
Dann erhob sie sich mit Kraft.

In die Kleidung eines Bettlers
Mußte Hüllen sich der Prinz;
Schweigend nahm sie aus den Kästchen
Ihre köstlichen Juwelen, –
Sie wird keine wieder tragen
In dem nächtlich schwarzen Haare,
Um den mondlichtweißen Hals.

Wie von einem Schlag betäubet
War der Prinz von seinem Schmerz;
Irre kniet' er auf dem Teppich,
Starrt empor zu Zahira;
Ohne Thränen sah sie nieder,
Faßte mit den kalten Händen
Schmerzlich sein geliebtes Haupt;
Seine todtenbleiche Stirne,
Seine Lippen küßte sie.

Durch den Garten zu dem Strome
Leitet' ihn der treue Sklav';
In das Wasser sank das Ruder,
Schweigend glitt stromab die Barke
Und verschwand, – und es war Nacht.


Langsam schlichen ihr die Lage,
Nicht gegrüßt und nicht erharrt,
Bis sie still und ohne Freude
Mutter eines Knaben ward.

Lieben kann sie nicht den Säugling,
Ihre Seel' ist kalt und arm,
Und sie leget ihn mit Schätzen
In des treuen Sklaven Arm.

»Ziehe fern vom Ort des Fluches,
Fern von meinem Gram ihn auf;
Wenn ein Jüngling er geworden,
Suche seinen Vater auf.

Frägt der Knab' nach seiner Mutter,
Sprich: es decket sie das Grab;
Frägt sein Vater, dann erwied're:
Herr, sie sank vor Schmerz hinab.«

Und der Treue schied, und einsam
Blieb sie wieder, wie zuvor,
Bis der Wille des Khalifen
Sie zu seiner Braut erkor.

Da sprach sie zu ihrem Vater:
»Eines Andern Weib bin ich;«
Da empfing vom Dolch des Vaters
Sie den sichern Todesstich.


Klage tönt, wenn Schönheit welket;
Trauervoll hinauf die Ströme
Zieht von Mund zu Mund die Kunde:
Daß Abdalahs schöne Tochter
Von der Hand des Vaters starb.

Auch zu ihm gedrungen kommt sie,
Welchen an des Euphrats Ufer
Immer noch die Treu' gebannt;
In des Fischers kleiner Hütte,
Wo er bei der Nacht voll Schauer,
Ohne Sterne, bat um Obdach,
Hört' er, daß nun nichts mehr sein.

Draußen in dem Rohre klagte
Dumpf der Nachtwind, der Beraubte
Um die Liebe klagte nicht;
Schweigend saß er auf der Matte,
Seine Hände fest gefaltet,
Seine Augen ohne Thränen,
Seine Wangen tief erbleicht;
Falben Lichtes kam der Morgen,
Da verhieß er seinem Gastfreund
Gottes Lohn und ging. – Wohin?

Vier Lustgärten giebt's der Erde;
Als den schönsten priesen Dichter
Stets die Eb'ne von Damaskus –
Dorthin wendet er den Schritt.

In der Beduinen Mantel,
Mit dem Kopftuch um die Locken,
In der Hand die kurze Lanze,
Tritt er ein zum Thore Gottes,
Tritt er ein in die Moschee;
Von der hohen Thürme einem
Wird zum Frühgebet gerufen,
Und das Licht der Lampen leuchtet
In dem Grau'n der Dämmerung;
Nieder ist der Prinz geknieet,
Weinet laut; er ist ja ärmer,
Als der ärmste von den Bettlern,
Welche noch im tiefen Schlafe
Draußen auf den Stufen ruh'n.

»Hebe deine Stirn; der Thränen
Sind genug; nicht darf verzagen
Vor dem Leid, wer von Ommaija's
Edlem Stamm entsproßt sich rühmt.
Ein Khalife deines Stammes
Hat dies Haus für Gott erbaut;
Vor dir liegen alle Länder;
Such' in ihnen dir ein Reich,
Und hast du's gefunden, baue
Gott noch prächtiger ein Haus.«

So zu seinem innern Ohre
Spricht sein junger kühner Geist,
Und er hat sich aufgerichtet
Von dem Jammer ohne Hoffnung,
Schauet zu den Marmorsäulen
Stolz und fest empor, wie sie.

An den Marmorbrunnen geht er,
Tauchet seine beiden Hände
In das kühle Wasser tief,
Eilet aus dem Säulenhofe
Und durch schlafestrunkne Gärten,
Eilt den hohen Berg hinan.

Dort hat er sich umgewendet,
Und noch einmal blickt er nieder
Auf die schöne Vaterstadt;
Und noch einmal trinkt sein Auge
Von dem Reiz der tausend Gärten;
Und er sieht die Wässer schimmern,
Und die schattenden Cypressen
Und die schlanken Pappeln weh'n.


Da hat er sich hingeworfen
Mit dem muthigen Entschluß;
Auf den heil'gen Boden drücket
Er den Mund zum heißen Kuß.

Herrlich ruht am Berg Damaskus,
Steht in morgenrothem Licht;
Der Verbannte geht von dannen
Mit verhülltem Angesicht.

Abend ist's; die Wasser schimmern
Und die schlanken Pappeln weh'n –
Er ist ferne von Damaskus,
Er wird's nicht mehr wiederseh'n.


II.
Das Leben des Flüchtlings.

Wo fand Schutz der edle Flüchtling,
Seit die Erde von Damaskus
Er geküßt zum ew'gen Abschied?
Wo verweilt Abderrahman? –

Irre Wand'rer sind wir Alle,
Fliehen oft, verfolgt vom Unglück;
Aber keinen giebt's verfolgter,
Bänger irrend wol, als ihn.

Kommt die Nacht mit ihren Schrecken,
Da hat Jeder eine Stätte,
Selbst der Wüste scheuer Vogel,
Aber nicht Abderrahman.

Ruhlos schläft er unterm Baume,
Wo sein Lager er gewählet,
Wach im Schlaf, die Hand am Säbel –
Ein Verfolger könnte nah'n.

Ruhlos schläft er auch im Zelte,
Wo er gastfrei ward empfangen;
Wenn im Dunkeln er gekommen,
Vor dem Morgen zieht er fort.

Irre Wand'rer sind wir Alle,
Fliehen oft, verfolgt vom Unglück;
Aber Keinen giebt's verfolgter,
Bänger irrend wol, als ihn.


Wieder ist es Nacht geworden,
Wieder schläft der arme Flüchtling,
An dem Säbelgriff die Rechte,
Sollten die Verfolger nah'n.

Da gewahrt er, wie ein Schleier
Sich auf seine Augen leget,
Und er fährt empor und siehet
Eine Jungfrau vor sich steh'n.

Schlank im dunkelblauen Kleide
Siehet, wie die Nacht, sie milde,
und ihr Angesicht ist lieblich,
Bleich und lieblich wie der Mond.

Und von ihren Lippen tönt es,
Wie das Murmeln einer Quelle:
»Warum schläfst du hier, o Fremdling,
Deine Augen nicht bedecket
Vor der bösen Macht des Thau's?
Nah' sind meines Stammes Häuser,
Warum kamst du nicht zu ihnen?
Keiner hat an unserm Feuer
Noch die Ruhe so verschmäht.«

»»Bist du von den Kindern Ghaleb's,
O dann führe mich, du Schöne,
Denn bei ihnen Schutz zu suchen
Kam Giafar Almansor her;
Aber keines Feuers Leuchten
Konnt' ich sehen in der Dämm'rung,
Eh' ermattet ich entschlief.««

»Fremdling, Ghaleb's Tochter bin ich,
Und das Feuer brennt im Thal;
Führen will ich deine Schritte,
Aber erst gieb meinen Schleier
Wieder mir.«
Er thut's auf Knie'n.

Und sie geh'n, voran die Jungfrau,
Er das Pferd, das schöngehaarte,
Von Damaskus, sorglich führend,
Minder schwer bedrückt das Herz;
Und vor Ghaleb's schwarzem Zelte
Sieht er nun das Feuer lodern,
Und der Vorhang stehet offen,
Und er tritt als Gast hinein.


Und er bleibt bei Ghaleb's Kindern,
Und er ist auf Ghaleb's Teppich,
Und er schläft in Ghaleb's Zelt;
Tage schwinden hin und Wochen,
Und er bleibt, geschützt, geliebt.

O, wie thut es wohl, zu rasten,
Ihm, der irrer, als die Eidechs',
Aufgeh'n sah so oft die Sonne
Und den Mond und alle Sterne!
Und wie klingt das Wort der Freundschaft
Und die Rede voll Vertrauen,
Ach, von ihm so viele Monde
Nicht vernommen, fremd und süß!

Und er wird ein leuchtend Vorbild
Schnell den Jünglingen des Stammes;
Keiner sitzt so schön im Sattel,
Keiner lenkt so leicht die Füllen,
Keiner wirft so weit die Lanze,
Und wie spielt er Schach als Meister,
Und wie ist er Herr der Sprache,
König der Beredtsamkeit!
Wenn zum Nachtgespräch die Männer
Um den Brunnen sich versammeln,
Wie die Sterne um den Mond:
Wer gedenkt an Unterbrechung,
Wenn Giafar Almansor spricht,
Oder mit der schönsten Stimme
Lieder alter Dichterfürsten,
Oder eig'ne Verse sagt!

Wo die Männer alle glühen
In Bewund'rung und in Liebe:
Sollte kalt ein Mädchen bleiben,
Sollte Selma lieben nicht?
Ja, sie liebt Giafar Almansor,
Und er fühlt ihr süßes Lieben,
Und ihm ist, als käm' ein Säuseln
Aus dem Garten seines Vaters
Himmlisch kühlend zu ihm her.

Schöner, als die Tochter Ghaleb's
War des Abassiden Tochter,
War die fürstliche Cypresse,
Prangend im Palastesgarten;
Nur das schlanke Schilf ist Selma,
Welches zitternd weht im Wind;
Jener Aug' gebot die Liebe,
Aber Selma's Aug' ersieht sie,
Und wer ist, bei solchem Flehen,
Hart genug, zu widersteh'n?

Nicht verriethen es die Sträucher
An dem Quell bei Ghaleb's Zelte,
Wann zuerst zum blassen Mädchen
Lockend sprach Giafar Almansor,
Doch vernommen haben sie's;
Denn geharret hatt' er Selma's,
Bis sie kam, am Quell zu schöpfen,
Und da sprach er leiser Stimme,
Aber laut genug, denn Selma,
Sie vergaß, was sie gehöret,
Nimmermehr bis an den Tod.


Reiter kommen, vom Statthalter
Der Provinzen von Almagreb
Nach Abderrahman gesendet,
Ihn zu suchen und zu fah'n;
Auf den schnellen Pferden Barca's
Halten sie vor Ghaleb's Zelt.

Ghaleb stehet auf vom Teppich,
Tritt hervor aus seinem Zelt,
Und es spricht der Reiterführer
Ihn und andre Männer an;
Fräget nach Giafar Almansor,
Ob er hier nicht Schutz gesuchet.
»That er es, so fahet ihn;
Denn es ist ein Ommaijade,
Der Gefürchtetste, der Kühnste
Vom verflucht gefall'nen Stamm;
Und sein Kopf ist werth an Golde,
Was er wieget, und des Prinzen
Wahrer Nam' Abderrahman.«

Wer hat Scharfsinn, zu entdecken,
Was verbirgt ein Beduine?
Wer kann sicher jemals schwören,
Lügen sprech' er, spreche wahr?
Ohne Wechseln einer Miene
Höret Ghaleb an den Reiter,
Ohne Unruh einer Wimper
Seh'n ihn alle Männer an.

»Schwer ist der Verrath am Gaste –«
– Langsam, zögernd spricht es Ghaleb
»Doch vor Allem sind wir Knechte
Deines, unsers hohen Herrn.
Dein Gesuchter ist im Lager
Mondenher, und jetzo streifend
Auf der Löwen Spur – so reite
Stark und unverrückt nach Osten,
Durch die sand'gen Hügelreih'n;
In dem dritten von den Thälern,
Die du findest auf dem Wege,
Denkt mit unsern jungen Männern
Er zu rasten diese Nacht.«

Ghaleb spricht's; die Reiter trinken
Eilend von der Milch der Ziegen,
Reiten gegen Morgen zu;
Heim vom Tummeln junger Stuten
Kommt Abderrahman und höret,
Was geschehen; mit erbleichten
Wangen spricht er: »noch nicht Ruh!«

Und mit Thränen spricht er weiter:
»Ja, ich bin der Ommaijade,
Der Verfolgte, Unglückselige,
Dessen Name unablässig
Ausgerufen wird vom Haß.
Weh' dem Manne, der die Reiter
Ausgesendet, meine Vettern
Haben ihm die Macht gegeben,
Die mich nun von hier vertreibt;
Vor dem Morgen muß ich fliehen,
Doch wie fällt das Scheiden schwer!«

An dem Herzen Ghaleb's liegt er,
Und sie küssen traurig sich;
Und der Mann mit starkem Herzen
Fräget, wie ein Knabe weich:
»»O, du Armer und Geliebter,
Sprich, wo hast du eine Zuflucht?
Bleibe hier; wir ziehen tiefer
In die Wüste; lieber dursten,
Als dich ziehen lassen so.««
Doch Abderrahman erwiedert:
»Eine Zuflucht, o mein Vater,
Weiß ich, in dem Land Algarbe,
Im Bezirk Tahart, dem Wohnsitz
Von dem edlen Stamm Zeneta,
Welcher meiner Mutter Stamm.
Aber eh' von dir ich scheide,
Mache reich den armen Flüchtling,
Gieb zum Weibe Selma mir.«


Abderr.

Weh', die Qual sich loszureißen
Von der Liebsten, dieses Wühlen
Eines kalten Stahls im Herzen,
Muß ich es schon wieder fühlen!

Selma.

Ja, bereit sind deine Freunde,
Und gesattelt steh'n die Stuten,
Und verlassen werd' ich bleiben,
Mag mir auch das Herz verbluten.

Abderr.

Sieh' mich nicht so an, wie sterbend,
Mit den Augen der Gazelle,
Oder es entfließt das Leben
Mir in meiner Thränen Welle.

Selma.

Schließen will ich meine Augen,
Daß sie nicht dich scheiden sehen;
Einen Kuß noch, du Geliebter,
Und dann magst du leise gehen.

Abderr.

Diesen Schleier will ich rauben,
Meine Augen zu bedecken,
Wenn ich, um von dir zu träumen,
In den Sand mich werde strecken.

Selma.

Diese Locke will ich nehmen,
Auf dem Herzen sie zu tragen,
Bis es wiederschlägt an deinem,
Oder aufgehört zu schlagen.

Abderr.

Segen über dich, Geliebte!
Neuvereinigung uns Beiden! –
Ihre Augen sind geschlossen
Und sie siehet nicht ihn scheiden.


Gegen Westen, gegen Westen,
Durch die Wüste, durch die Oede,
Durch die Flächen, durch die Hügel,
Alle brennend heißen Sandes,
Ohne Schatten, ohne Quellen,
Mit den Löwen zu Beherrschern,
Mit Gazellen zu Verfolgten,
Rastlos mit sechs Söhnen Ghaleb's
Flieht er, rastlos fort und fort.

Einmal sind erschöpft die Schläuche;
»Meine Brüder,« spricht mit Thränen
Da Abderrahman, »wie leidet,
O wie leidet ihr um mich!«

Sie erwiedern heitern Blickes:
»Bist du nicht der Heißgeliebt2
Unsrer Seelen? Ist die Perle
Unser's Stammes nicht dein Weib?
Bei dem Throne Gottes, höher
Giebt's auf Erden keine Freude,
Als mit dir zu zieh'n.«
                            Sie finden
Einen vollen Brunnen bald.

Lange Tage braucht's, zu ziehen
Aus den wüsten Thalern Barca's
Nach den schönen von Algarbe,
Langsam hat der Weg, der heiße,
Sie geführet an das Ziel;
Und von eines Berges Abhang
Schauen sie entzückt die Thäler,
Wo der Stamm Zeneta wohnt.


Lieblich ruhen diese Thäler
Zwischen schroffen Felsengipfeln;
Bäche rauschen durch die Schluchten,
Eichen schatten ob den Pfaden,
Zwischen Dornen drängt die Myrte,
Die Granate sich hervor;
Ueberall ist golddurchblitzte
Grüne Nacht, gefüllt mit Kühlung,
Und wie schöne Wasservögel
In des See's geliebte Fluten,
Tauchen der Genossen Augen
Tief und sehnsuchtsvoll hinein.

Auf umlaubtem Pfade reitet
Nah daher ein schlanker Jüngling,
Edlen Ansehns, reich gekleidet,
Einen Falken auf der Hand;
Als die Fremden er gewahret,
Kommt er leicht herangesprengt.

Voller Anstand sie begrüßend,
Spricht er höflich: »meine Herren,
Ihr seid Fremde; saget Alles,
So ihr wünschet, euerm Diener,
Dessen Haus das eu're ist!«

Mit dem anmuthvollsten Neigen
Seines Hauptes dankt der Prinz;
»Herr, Verwandte aufzusuchen,
Kam ich her, sehr edle Fürsten,
Ihre Namen sind Ambisa
Und Asama, Söhne Hassan –
Sind sie dir bekannt, mein Herr?«

»Freund, Ambisa ist mein Vater,
Und Asama ist mein Ohm.«

»Dann, o Freund, hast in dem Fremdling
Du den Vetter eingeladen,
Denn auch ich bin Hassans Enkel,
Raha's Sohn, Abderrahman.«


Sehnsucht scheuchet fort den Schlummer,
Löschet aus der Sterne Licht,
Selma auch verweint die Nächte,
Und der Himmel glänzt ihr nicht.

Da tritt der geliebte Vater
Einst am Abend hin zu ihr:
»Er, dem ich dich hingegeben,
Er begehrt dich nun von mir.«

Und er reichet ihr das Schreiben
Von des Prinzen schöner Hand,
Daß mit Lippen sie es küsse,
Glühend von der Liebe Brand.

Und sie lies't: »An die Geliebte,
Welche ferne von mir wohnt,
Meiner Tage helle Sonne,
Meiner Nächte holden Mond.

Komm, o komm! Es hat dein Gatte
Eine Stätte nun für dich,
Und die treuen Augen sehnen
Nach dem Blick der Deinen sich.

»Komm, o komm – schon ganz bereitet,
Ganz geschmücket ist dein Haus,
Und es blicket dein Geliebter
Stündlich sehnsuchtsvoll hinaus.

Selber wär' er ausgezogen,
Folgend seinem schönen Licht;
Doch der Bruder seiner Mutter
Liebet ihn und läßt ihn nicht.

Aber nicht sollst ungeschirmet,
Liebliche, du zieh'n zu mir,
In dem Sohn Ambisa's send' ich
Einen tapfern Schützer dir.«

Also spricht der Brief, und Selma
Steht, gesenkt das Angesicht,
Schweigend da vor ihrem Vater,
Und auch Ghaleb redet nicht.

Denn er weiß, was sie erwählet,
Ihre Liebe hat kein Hehl,
Und bereit am andern Morgen
Steht das röthliche Kameel.

Einmal noch betrachtet Ghaleb
Nun sein Liebstes auf der Welt,
Dann, verhüllt vom schwarzen Schleier,
Tritt hervor sie aus dem Zelt.

Ihre Seele will vergehen,
Ihre Liebe sieget doch,
Nur des Vaters weiße Stute
Küßt sie auf die Stirne noch.

Dann besteiget sie den Sattel,
Folget still Ambisa's Sohn
Als die Sonn' im Mittag scheinet,
Ist sie fern auf ewig schon.


Die Gedanken edlen Ruhmes
Spricht der Prinz aus seiner Seele,
Hält mit seiner Mutter Brüdern
Und mit Selma feurig Rath.

Gluth im Blick und auf der Wange
Hört der Wüste freie Tochter
Auf die Träume des Geliebten,
Träume, wie sie Helden haben
Und verwirklichen zugleich.
Und die greisen Fürsten sinnen
Und Ambisa spricht: »mir dünket
In dem Land Andalusien
Wäre jetzt die Zeit für dich.

Von dem Reiche der Khalifen
Hat's im Aufruhr sich getrennt,
Doch aus seiner Fürsten Mitte
Stand ein neuer Herr ihm auf.

Jussuf ist's, vom Stamme Fehri,
Edlen Blutes, hohen Rufes;
Mit dem Rechte seines Schwertes
Will er herrschen – hat's versucht;
Aber and're Fürsten haben
Lust zur Herrschaft auch und Schwerter
Schnell und scharf und schon, gezücket
Wider Jussuf, blitzen die.«


Nach dem Land Andalusien
Schickt Ambisa seinen Sohn;
Bei Verwandten und bei Fremden
Wohnt der Jüngling, frägt und prüft.
Wieder kehret er und giebet
So dem Prinzen treu Bericht.

»Ausgebrochen ist in Flammen
Alle Feindschaft wider Jussuf;
Zu Toledo ist der Kampfplatz,
Da wird stromweis Blut vergossen,
Doch auch anderwärts im Lande
Brennt der Haß und trinkt das Schwert;
Dreien Fürsten gegenüber
Steht mit seinen Söhnen Jussuf,
Siegend bald und bald besiegt.

Müde sind so recht von Herzen
Alle Bessern dieser Kämpfe,
Und geschickt das zu benutzen,
Hab' ich nicht versäumt, o Freund!
Hier und dort und immer wieder
Ließ ich fallen deinen Namen,
Mischte, als geschäh's aus Zufall,
Ihn in jegliches Gespräch;
Achtsam hörten ihn die Meisten,
Und schon geht er, halb geflüstert,
Halb gesprochen durch das Land.«


Nicht zu viel hat seiner Schlauheit
Sich gerühmt Ambisa's Sohn;
Noch hat sich kein Mond geschlossen,
Und Gesandte nahen schon.

Immer wirrer ward's im Lande,
Wüster immer lag es da,
Und es haben achtzig Fürsten
Sich vereint zu Cordova.

Was ward für Andalusien
Vom Khalifen wol gethan?
Herrsch' er glücklich, unser König
Aber sei Abderrahman.«

Also klang es eines Rufes,
Und der edlen Fürsten zwei
Kommen nun ihn anzuflehen,
Daß er ihr Beherrscher sei.

Freudig werden sie empfangen
Von den Fürsten zu Tahart,
Lust verbreitet ihre Botschaft,
Jubel ihre Gegenwart.

Und am Abend nach der Ankunft
Dürfen sie dem Prinzen nah'n;
O, wie sie von Lieb' entbrannten,
Als sie seine Schönheit sah'n!

Würdig in dem Namen Aller
Sprach der eine nun, Hayut,
Seine Bitten aus, dem Prinzen
Ward das Antlitz ganz zu Gluth.

Und in seinen Augen flammt' es
Wie ein Siegesfeuerschein,
Als er sprach: »Im Namen Gottes,
Ich will euer König sein.«


An dreihundert Reiter stellen
Ihm die Fürsten der Zeneten,
Die von Mekinesa senden
Ihm zweihundert, doch Asama
Thut am meisten für den Liebling,
Rüstet außer fünfzig Reitern
Hundert Lanzenknechte aus.

Auch nach Barka sendet eilig
Einen schnellen Boten Selma;
»Nimmer,« spricht sie zum Geliebten,
»Würde mir verzeih'n mein Bruder,
Wenn ich seinen Arm nicht heischte,
Wo es deine Rechte gilt.«

»Thue, wie du willst, du Holde,«
Giebt der Prinz entzückt zur Antwort;
»Darf ein Sklave widersprechen,
Und bin ich der deine nicht?«
Da kommt seiner Sklaven einer,
Eilig meldend, daß Ambisa
In der Vorhall' ihn erwarte,
Und er eilt und führt den Oheim,
Welchen er verehrt, herein.

Freundlich ist des Greises Antlitz,
Aber leicht getrübt von Wehmuth,
Nicht entgehet das dem Prinzen,
Liebevoll befragt er ihn;
Und der Greis erwiedert offen:
»Traurig bin ich, daß die Andern
Alle dir so reich mit Thaten
Ihre Lieb' bezeigen können,
Und daß ich es nicht vermag.«

Doch Abderrahman erwiedert:
»»O mein Vater, deine Liebe
Rühret mich im tiefsten Herzen,
Doch wie kannst du jemals sagen,
Daß du nichts für mich gethan?
Ist das Pferd, das auserles'ne,
Das ich soll zur Schlacht besteigen,
Sind die Rüstungen für hundert
Reiter, sind die scharfen Schwerter
Und die Sättel, deine Gabe
Alle, ist das Alles nichts?««

Wie mit Zorne spricht Ambisa,
»Was ist Alles, das du herzählst,
Als ob du ein Kaufmann wärest,
Welcher seine Waaren preist?
Wär' ich auch das Haupt des Stammes,
Könnt ich dir auch Streiter geben,
Wär' ich doch zufrieden nicht;
Denn dasselbe thun die Andern,
Und was Keiner sonst vermöchte,
Das nur möcht' ich thun für dich.

Und ich könnt' es thun, ein Kleinod
Ohne Gleichen auf der Erde
Hab' ich im Besitz; o wolltest
Du's empfangen nur, mein Sohn;
Ohne Bitte dir's zu geben
Wäre meine Lust, o sage,
Willst Du's nicht verschmäh'n? willst morgen
Meine Tochter du zum Weib?«

Tief verneiget sich der Jüngling:
»Herr, du ehrst mich hoch; wer könnte
Wol verschmähen, was so herrlich,
Was so fürstlich wird geboten?
Demuthvoll neigt der Beschenkte
Sich vor deiner Huld, empfangend,
Und gelobend ew'gen Dank;
Ja, dein Sohn bin ich geworden,
Und als meinen Vater küss' ich
Dir die tapf're off'ne Hand.«


Nachtstill ist's, nur die Gewässer
Geben leisen, fernen Klang,
Und Abderrahman geht langsam
Vorwärts in dem Myrtengang.

Fernher blinkt das Haus des Gartens,
Welches er sich hier erbaut,
Alle Zeugen sind entfernet,
Und es harret sein die Braut.

Aber er hält inn' im Wandeln,
Bleibet trüb' und denkend steh'n,
Der Vergangenheit Gesichte
Sind's, die ihm vorübergeh'n.

Jenes Augenblicks gedenkt er
In der wundervollen Nacht,
Wo zuerst im Schau'n der Schönheit
Er gefühlt der Liebe Macht.

»Niemals wird es wieder kommen
Ueber mich so süß und heiß;
Ihre Lippen purpurdunkel,
Ihre Stirne silberweiß.

Glühend blühen hier Granaten,
Blendend scheint des Mondes Licht –
Röther war ihr Mund gefärbet,
Ihre Stirn' erreicht es nicht.«

Dann gedenket er an Selma,
Die so bleich und lieblich scheint,
Ihn so treu geliebt im Unglück,
Ach, und heut' so schmerzlich weint.

»Bebst du vor der neuen Schönheit?
Zage nicht, ich bleibe dein;
Ihr auch werd' ich Gatte, aber
Dir nur der Geliebte sein.«

Und er kommt zum Haus und öffnet –
Marmorsäulen steigen auf –
In der Dämmerhöh' der Halle
Sich verlierend mit dem Knauf.

Schöner ist dies Haus, denn alle,
Welche hier in Thälern steh'n, –
Einen Schatten von Damaskus
Wollte der Verbannte seh'n.

Und so ist der Hof von Marmor
Und die Zimmer sind ein Kranz,
Wie er sich von bunten Blumen
Schlingt um einer Vase Glanz.

Mild auch, wie bei Mondlicht Blumen,
Sind mit Schimmer sie gefüllt,
Nur das Fernste gegen Morgen
Liegt in Dämmerung gehüllt.

Diesem naht der Ommaijade,
Hebt den Vorhang auf, und tief
Eingehüllt in ihre Schleier
Stehet sie, die nicht ihn rief.

Und er faßt, voll Achtung nahend,
Ihre Hand, die, kaum berührt,
Glühend bebt, und in das Mondlicht
Hat er sie hinausgeführt.

Um den Brunnen stehen Rosen,
Sehnend steigt die Flut herauf;
Doch der Prinz hebt mild und langsam
Nur der Jungfrau Schleier auf.

Und sie steht vor seinem Blicke,
Und ihr junges, reines Blut
Quillt in allen zarten Adern
Auf als lichte Rosengluth.

Und er beugt sich tiefer nieder,
Und ihr Mund schwillt leis empor,
Wie die frische Rosenknospe,
Die noch keinen Duft verlor.

Und er ziehet lind sie näher,
Und sie schlägt die Augen auf,
Und es blinkt wie Sterngeflimmer
Hell aus nächt'gem See herauf.

Da besiegt ihn ihre Schöne,
Und er hält sie fest mit Gluth,
Doch der Mond sieht voller Mitleid
Nach dem Haus, wo Selma ruht.


Nie verstehen im Geheimsten
Wird der Mann das Herz der Frauen –
Zu der ersten Gattin führet
Er die zweite mit Vertrauen.

Amina blickt hold und lieblich,
Wie erwacht aus sel'gem Traume;
Keine Blume lächelt schöner
In des Gartens grünem Raume.

Aber Selma's Lippen beben,
Wie im kalten Luftgeschauer
Rosenblätter, und ihr Antlitz
Blickt aus Dämmerung der Trauer.

Friedlich wohnen sie zusammen,
Wie in einem Schlag zwei Tauben;
Wer sie schauet, sollte scheinbar
Sie vereint von Liebe glauben.

Aber in der Wahrheit gleichen
Sie zwei Sternen, hoch im Blauen,
Ewig von einander ferne,
Wenn gleich nah sich anzuschauen.


Liebesglück ist Sporn dem Helden;
Auf den dunkelblauen Wegen
Fährt das Schiff Abderrahmans;
Rauschend zeigt's den Weg den Andern,
Welcher soll zum Ruhme führen,
Nahe glänzt der Tag der That.

Silberwolken zieh'n am Himmel
Und Delphine durch die Flut;
Nach der Gegend ihrer Heimath
Ziehen still, wie treue Vögel
Amina's und Selma's Blicke;
Doch Abderrahmans Gedanken
Sind wie Adler, kühn entgegen
Fliegend nahem, wildem Sturm.

Und die Sonne taucht hinunter,
Purpurglühend, und noch einmal
Wird es seinen durst'gen Augen
Dunkel auf dem schönen Meer;
Aber als die Wogen wieder
Funkeln und der Himmel flammt,
Siehet er die Küste nahe,
Siehet ihre Berge leuchten,
Siehet Thürme, grüne Schatten,
Sieht das Volk sich zahllos drängen,
Und begrüßt mit einem Blicke
Stolzer Lust den Strand, der sein.

Und des Volkes Augen sehen
Seine Schönheit, seine Jugend,
Seine fürstlichen Geberden,
Seine Huld in Gruß und Lächeln,
Aber stille bleibt es noch;
Schweigend läßt's die Fürsten nahen,
Die des Prinzen Hand berühren,
Treu' geloben feierlich;
Doch, geschehen das Gelübde,
Bricht, ein Sturm, hervor das Rufen
Aller Stimmen, das Gejauchze
Al' der lustberauschten Herzen,
Und Andalusiens König
Steht am Meer Abderrahman.


III.
In Andalusien.

Aus Andalusiens Süden,
Wie mit tausend Wellen Ströme,
Zieht das Volk; es deckt die Felder,
Füllt die Thäler mit Bewegung,
Ruhet unter jedem Baume,
Trinkt aus jeder Quelle, klimmet
Jeden Pfad hinauf, hinab,
Denn den Schönen, den Ersehnten,
Welcher soll den Frieden bringen,
Seinen König will es schau'n.

Aus Elvira, Almeria,
Arcos, Malaga und Xeres
Stoßen zwanzigtausend Streiter
Zu den Herr'n Andalusiens,
Die am Meer empfangen ihn;
An elftausend zählt man Fußvolk,
Mehr noch denn neuntausend tränken
Im Guadalquivir die Rosse,
Denn im Schlosse zu Sevilla
Wohnet jetzt Abderrahman;
Eingeholet und begrüßet
Von den edelsten der Fürsten,
Mit den Richtern und den Priestern,
Von dem Volk mit Jubelrufe,
Zog er in die schöne Stadt.

Und Sibonia, Carmona,
Castelona und Offena,
Aue Städte der Provinz,
Nur nicht Cordova, das stolze,
Senden ihre Stellvertreter,
Ihm zu huldigen als Herrn.


Und das Jubeln und das Rauschen,
Jussuf hört's, der stolze Fehri,
Zu Toledo, wo er weilet, –
Und erhebet sich im Zorne.

Mit dem lauten Ruf des Grimmes
Schmähet er den Ommaijaden
Einen aufgedrung'nen König
Und den Sohn von einer Hündin.

Mächtig ruft er seinen Freunden;
Eilend schickt er seine Söhne,
Nach Valencia den einen
Und nach Murcia den andern.

Merida durchstreift er selber;
Seinem kühnen Erstgebornen,
Gleichen Namens mit dem Feinde,
Hat er Cordova vertrauet.

»Geh', Abderrahman, du heißest
Wie der Hund, der Ommaijade;
Mache nun, daß bald nur eurer
Einer diesen Namen trage.«


Selma.

Herr, es ist ein Tag des Glückes,
Meine Augen seh'n dich hier,
Und bereit bin ich zu hören,
Was du willst gebieten mir.

Abderr.

Lebewohl komm' ich zu sagen,
Heut' ist meines Auszugs Tag,
Und wer weiß es, ob ich jemals
Wieder dich umfassen mag!

Selma.

Bist du schon bei ihr gewesen,
Die mit solchem Recht du liebst?

Abderr.

Selma, wo ist deine Liebe,
Daß du solche Antwort giebst?

Selma.

Meine Liebe sitzet trauernd
Still an meiner Hoffnung Grab,
Und die Blüthen meiner Freuden
Brach sie, es zu kränzen, ab.

Aber Deine Liebe hat sich,
Unbeständig wie der Wind,
Fortgewendet, und verlassen
Steht die Mutter und ihr Kind.

Abderr.

Nein du bist noch stets die Herrin,
Die in meinem Geiste thront.

Selma.

Aber nicht mehr deiner Tage
Sonne, deiner Nächte Mond.

Nein, du kannst mich nicht betrügen,
Wolltest Du's aus Mitleid auch,
Selenlos ist deine Stimme,
Eisig deiner Küsse Hauch.

D'rum verlaß mich; nicht um Thränen,
Nicht um Täuschung bitt' ich dich,
Nur um eines – wenn verwundet,
Dann, ja, dann laß rufen mich.


»Nun, Abderrahman el Fehri,
Durch Carmona's Ebne ziehet
Schon der Ommaijade her;
Nun hinaus und ihm entgegen,
Seinen Uebermuth gezüchtigt,
Abgekämpft das Leben ihm!«

Und der Fehri ist kein Zaudrer,
Ist des Stamm's, dem er entsprossen,
Ist des edlen Namens werth;
Auf zu kühnem, raschem Zuge
Ruft er seine muth'gen Krieger,
Und sie sind bereit und zieh'n.

Die sich suchen, sei's in Liebe,
Sei's in Haß, sie finden sich;
Auf den Ebenen der Höhe
Blickt, wie er's gewollt, der Fehri
In des Ommaijaden Blick.

Doch nur wenig sind der Seinen
Gegen der Andalusier
Mächtiges, gedrängtes Heer;
Und so läßt nur eine Stunde
Flüchtig muthvoll er sie kämpfen;
Dann die edlen Rosse wendend,
Eilen sie voran den Feinden,
Kriegerisch sie zu empfangen
An den Thoren Cordova's.

Und es zittern diese Thore,
Und die Mauern hallen wider
Von dem Schlachtruf der Belag'rer,
Von der Kämpfenden Geschrei;
Da kommt Jussuf, heeresmächtig,
Stolz verbündet mit den Freunden,
Und es gilt den letzten Kampf.


Abderrahman der Ommaijade.

Sohn Alcama's, mit Zehntausend
Bleibst du, Cordova zu wahren,
Mit Zehntausend zieh' ich hin;
Kehr' ich mit dem vierten Morgen
Wieder nicht, bin ich gefallen,
Und du schirmst, die ich verlassen,
Und du rächest meinen Tod.

Temam Sohn Alcama's.

Ziehe, König; der allmächt'ge
Herr des Himmels und der Erde
Wird beschützen dich für uns;
Käm' es aber, wie du sagest,
Dann, bei meines Knaben Haupte
Schwör' ich dir's, dann ist kein Mitleid,
Kein Gelübde, kein Versöhnen
Zwischen mir und Fehri mehr.

Jusuf der Fehri.

Gehet ihr den Aufgedrungnen,
Sehet ihr den letzten Sprößling
Vom verfluchten Haus Ommaija,
Wie er thöricht kommt zum Tod?
Denn was sind wol uns die Feinde?
Eine kleine Grube Wassers,
Welche wir vertheilen sollen
Unter uns, die durst'ge Schaar.

Abderrahman der Ommaijade.

Auf, Zeneten, euer Bruder
Ist's, für den ihr kämpfen werdet!
Auf, Andalusier, Söhne
Ferner, heldenstolzer Stämme,
Euer König hofft auf euch!

Abderrahman der Fehri.

Cordobaner, sieben Tage
Fordr' ich noch; – sind ohne Hülfe
Die verflossen, dann geschehe,
Was ihr feig' und falsch begehrt.


Sieben Tage sind verflossen,
Fruchtlos späht er nach den Höhen,
Drohender begehrt der König,
Wilder dränget ihn das Volk;
Und er flucht des Volkes Undank,
Bricht entzwei sein Schwert, sein schönes,
Ziehet aus, wie sie's begehret;
Aber herrlich, wie die Sonne,
Welche bricht durch Wetterwolken,
Glanz verbreitend durch den Himmel,
Blendend die entzückten Augen,
Zieht der König ein ins schöne
Schwer erkämpfte Cordova.


Und zur Stadt, wo er in Hoheit
Und in Herrlichkeit will thronen,
Hat er Cordova erwählt;
Und mit Prangen hergeleitet,
Kommen Amina und Selma,
Mit der Schönheit Licht zu leuchten
Im Palaste ihres Herrn.

»Herr, wie wohnst du reich und prächtig!«
Flüstert Amina, »nicht träumend
Sah ich solchen Glanz.«
                            »»Und dennoch
Ist das Haus nicht deiner würdig,
Spricht der König, liebeglühend,
»»Und ein schön'res bau' ich dir.««
Und gebieten zu erscheinen
Lässet er dem Sohn Alcama's,
Und Befehle sendet dieser
Auf das Land und in die Städte,
Und es hallen die Gebirge
Von dem scharfen Klang der Aexte,
Von dem dumpfen Sturz der Bäume,
Und gebrochen wird der Marmor
Und begonnen ist der Bau.

»Reichlicher noch giebt es Marmor
In den Bergen von Elvira,«
Spricht Temam, der Sohn Alcama's;
»Aber Jussuf ist dort Herr.«
»»Ich will mir Erlaubniß holen!««
Spricht der König und zieht aus.

Und vom Morgen bis zum Mittag
Währt die Schlacht von Almuñecab,
Und bezwungen giebt der Fehri
Seine Waffen, seine Städte
Knirschend hin mit seinem Wort;
Und der König kehret wieder
Und spricht zu Temam mit Lachen:
»Lasse Marmor holen dir.«


Zu dem Thor von Alcantara
Ein mit dreißig jungen Männern
Seines Stammes, alle dreißig
Schön beritten, hell gepanzert,
Reich bewehrt mit edlen Waffen,
Reitet Khaled, Ghaleb's Sohn.

Hellerleuchtet sind die Straßen,
Von den Thürmen glänzen Lampen,
Tausendfältig funkelt wieder
Farb'ger Schimmer aus den Brunnen,
Und an bunten, vollen Tischen
Schwelgt das Volk; »was mag das sagen?«
Denket Khaled und er fragt.
Und die Antwort ist: »der König
Feiert die Geburt des Sohnes,
Den die schönste seiner Frauen
Gestern ihm gegeben hat.«

Sinnend über diese Worte,
Reitet Khaled zum Palaste,
Und es sagt den Sohn von Ghaleb
Bei dem Kön'ge an der Kämm'rer,
Und der König hat mit Thränen
Vor den Augen aller Edlen
Fest umschlossen Ghaleb's Sohn.

Und im prächtigsten Palaste,
Ihm zum Eigenthum gegeben,
Lebt fortan er hochgeehrt;
Und geehret als Sultanin,
Von erles'ner Pracht umleuchtet,
Schön im Schmucke von Juwelen,
Im gestickten Seidenkleide
Sieht er seine holde Schwester,
Doch er sah auch Amina;
Und die Lippen, die nicht reden,
Weil sie schmerzlich sind geschlossen,
Klagen oft am allermeisten –
So im Lustgeräusch des Hofes
Bleibt er finster und zerstreut.


Auch die noch gespart das Schicksal
Von dem edlen Haus Ommaija,
Kommen jetzt, bei dem Verwandten
Suchend die ersehnte Ruh.

In Iraca, in Aegypten
Haben sie die langen Jahre
Irrend zugebracht; mit Rührung
Küßt der edle König sie.

»Ja, wir haben viel gelitten;
Wie von Gottes Hand zerstreuet
In die Lüfte, und dem Sturme
Preisgegeben waren wir.

Aber still sind nun die Stürme;
Und erstanden aus dem Schutte,
Schöner, herrlicher denn jemals,
Sehet ihr Ommaija's Haus.

Und ihr meine Brüder alle
Sollt darin geschützet wohnen.«
Weinend hören alle Prinzen
Wie der König edel spricht.

Und der eine sagt: »o König,
Reich genug sind wir geblieben,
In der Armuth zu vergelten,
Was du uns versprochen hast.«

Staunend blickt ihn an der König,
Doch aus seiner Kinder Mitte
Winkt der Prinz dem schönsten Knaben,
Führt ihn zu Abderrahman.

»Siehst du ihn, vom treuen Sklaven
Vor dem Tod mir anvertraut?
Nimm ihn, Herr, er ist der deine,
Ist der Knabe Zahira's.«

Tieferbleichend hielt der König
An der Brust das Kind des Unglücks;
Alles, das er je erduldet,
Schnitt ihm wieder durch das Herz.

Abend war's, zu Selma führte
Er das Kind, das mutterlose;
Alles sagt' er ihr und weinte
Mit dem Haupt auf ihrer Brust.


Oftmals mit den Anverwandten
Spricht der König von dem Land,
Wo in seines Vaters Garten
Seiner Mutter Wohnung stand;

Das da bindet an die Heimath, –
Nie zerrissen wird dies Band,
Nicht zernaget vom Vergessen,
Nicht verkohlt vom Haß in Brand.

In dem Garten des Palastes,
An des schönsten Brunnens Rand,
Pflanzet eine junge Palme
Er mit liebevoller Hand.

Fremd ist sie am duft'gen Orte
Als die erst in diesem Land,
Doch Andalusiens Lüfte
Werden bald mit ihr bekannt.

Lust gab ihr Gedeihn dem König;
Aber wenn er vor ihr stand,
Dacht' er doch mit tiefer Sehnsucht
Derer an des Euphrat Strand.

Und in einem Lied der Klage
Sprach er aus, was er empfand,
Und des Königs stille Trauer
Ward gefühlt im ganzen Land.


Noch ist nicht der Tag der Ruhe,
Nicht hielt seine Treu' der Fehri,
Steht zu Merida in Waffen,
Ruft heraus den König, nennet
Wieder ihn den Aufgedrung'nen,
Den Verfluchten, sich Emir.

Finst'rer Stirne hört's der König,
Gönnte gern dem Lande Frieden,
Khaleds falt'ge Stirne aber
Glättet bei der Nachricht sich;
Denn er spricht: »mir ward schon bange,
Ich sei ganz umsonst gekommen –
Etwas giebt's nun doch zu thun.«

Auch die edlen Meruanen
Und die andern Ommaijaden
Rüsten sich mit Heldenfreude;
Lange haben sie die Wollust
Offnen Männerkampfs entbehrt.

Führen soll das Heer zum Siege
Einer von den Meruanen,
Abdelmelic, Sohn Omar;
Unter ihm gebieten Andre;
Sorgend läßt sie zieh'n der König
In die ernste Schlacht, er selber
Bleibt zu Cordoba, es fordert
Seine Gegenwart der Staat.

Lorca hat die Schlacht gesehen
Zwischen Abdelmelics Schaaren
Und des Fehri Heer; der Fehri
Fiel von Khaled's mächt'gem Schwert.
Ihm zur Seite fielen muthig,
Wild die meisten seiner Krieger –
Nur dem Tode sich ergeben
Hatten sie von ihm gelernt.


Aber noch steh'n unbezwungen
Zu Toledo seine Söhne –
Wider sie schickt Abdelmelic
Khaled und Alcama's Sohn.

Bei dem Himmel und der Erde
Hat Abderrahman der Fehri
Khaled's Tod geschworen; wüthend
Schreit er nun durch das Getümmel:
»Wo ist Khaled, Ghalebs Sohn?«

Tönend gab ihm Khaled Antwort,
Kam herangesprengt wie Sturmwind,
Hörte, was der Rufer wollte,
Ließ sich nicht zum Kampfe bitten,
Und es ward ein rechter Kampf;
Nimmer endet er, bis Beide
Niedersanken wund zum Tode,
Erst der Fehri, Khaled dann.
Mühsam stützte mit dem Arme
Khaled sich und blickte schweigend
In des tapfern Feindes Antlitz,
Das, zu ihm gewendet, ruhte,
Denn der Fehri hatte Muth;
Stille war sein wildes Auge,
Still auf immerdar, und Khaled
Streckte sich an seiner Seite
Nieder und starb auch.
                            Mit Thränen
Ließ Alcama's Sohn begraben
Zu Toledo ihn; der König
Schrieb voll Kummer diese Verse:

»Der du vom Sieg mir brachtest Botschaft,
Hättest du doch von Verlust gesprochen,
Aber dann auch nicht, daß er gestorben,
Mir gesagt und meinen Muth gebrochen!
Wer das edelste von allen Herzen,
So in edlen Männerbusen pochen,
Mit dem kalten Todesstoß durchbohrte,
Hat das meine feindlich mit durchstochen.
Kann mir etwas meinen Kummer lindern,
Ist es das: er blieb nicht ungerochen;
Dennoch ist, bis einst sie mich betrauern,
Endlos meine Trauer ihm versprochen.«

Also schrieb der König; Selma
Aber starb; war es aus Trauer
Um den Bruder, den geliebten?
Alle sagten es, sie selber
Schwieg und lächelte noch einmal,
Und verlosch wie eine Kerze,
Und dem König war, als würd' es
Plötzlich dunkel in der Welt.


Lange, kampfesreiche Jahre
Waren es, seit die Cypresse
Er gepflanzt auf Selma's Grab;
Er bedachte, wie sein Leben
Ewig unruhvoll gewesen;
Und er faßte Abdelmelic
Bei der Hand und sprach bewegt:
»Freund, wir haben schwerer Mühe
Viel gehabt, des Lohnes wenig;
Müde wird, wer schafft; ich könnte
Wünschen, daß es Schlafenszeit.«

Abdelmelic sprach: »»o König,
Was entmuthigt dich? Wem wäre
Größeres, denn dir gelungen?
Wer empfing für edle Arbeit
Herrlicher den Lohn, als du?««

Doch der König sprach: »wer einmal
Viel gelitten, der wird nimmer
Mehr so glücklich, als ein And'rer,
Immer blicket er zurück.
Heilen können seine Wunden,
Doch es bleibt der Schmerz darin.

Kennest du das Wort: Vergessen?
Kennest du's? Ich kenn' es nicht;
Was ich litt, und was ich liebte
Und verloren: eine Stimme
Saget es, wie alte Lieder,
Mir im Herzen leise vor.
Und ich sage dir, dem Greise,
Ich, der Mann voll Kraft, ich möchte
Sein, wo uns're Todten sind.«

Sanften Blickes nun gedachte
Selma's er: »in meinem Leben
War sie wie ein kühler Schatten,
Und das Leben fühlt' ich heißer,
Seit sie nicht mehr war.«
                            Die Sterne
Waren, während sie geredet,
Aufgegangen rings umher,
Von den Thürmen klang es, nieder
Knie'ten sie zum Nachtgebet.
Als es tiefer dunkel wurde,
Gingen sie zur Ruh' sich legen,
In der Nacht starb Abdelmelic
Einen sanften Tod, im Schlafe.
Bleich sah in das Grab der König,
Doch der Feind war nah; er raffte
Sich empor und zog in's Feld.


Königlich gebildet wurden
Seine Söhne; edle Männer,
Aller Wissenschaften Meister
Waren es, die sie belehrten;
In den Sitzungen der Richter,
Wie im Staatsrath hörten täglich
Sie der Weisheit ernstes Wort;
Lernten nach dem heil'gen Buche
Recht abwägen und ertheilen,
Alles eifrig und mit Lust.

Gleich an Schönheit und an Gaben
Waren sie, doch nicht an Seele;
Von dem Blut der Abassiden
Blühte mächtig Suleiman;
Kühn war Selma's Sohn, Abdalah,
Furchtlos, doch auch unbezähmbar,
Sanft von Herzen war nur Hirem,
Amina's geliebter Knabe,
Darum auch des Königs Liebling
Und zum Thron bestimmt nach ihm.

Nicht mehr sandte der Khalife
Heere nach Andalusien,
Müde war er dieses Streits;
Auch der starke Stamm der Fehri
War getroffen bis zur Wurzel,
Später Frieden war im Land.
Und der edle König dachte
Des Gelübdes: dem Allmächt'gen
Aufzubau'n ein würdig Haus.

Nah dem Schlosse ward's erbauet,
Prächt'ger war's, als die Moscheen
Zu Damaskus und zu Bagdad,
Nur vergleichbar der vom Felsen
Prangend zu Jerusalem.
Herrlich überlegt mit Kupfer,
Mit Verzierungen von Golde,
Oeffneten die Thüren sich;
Schlank, aus buntem Marmor standen
Da die Säulen, wie ein Wald;
Reich vergoldet war die Kanzel,
Ganz aus Silber war der Boden
In des Königs Betgemache,
Und des Thurms Bedachung Kupfer,
Die Verzierungen der Spitze
Waren ganz aus reinem Gold.
Zahllos fast die Lampen brannten;
Die Cisternen in dem Hofe
Der Orangenbäume waren
Tief in Marmor ausgehau'n.

Nicht zu sagen war die Schönheit;
Doch der edle König sollte
Nicht vollendet seh'n den Bau.


Einmal noch vereint vom Kön'ge
Sind zu Cordova im Schlosse
Alle hohen Reichsbeamten;
Und von Allen wird vom Kön'ge
Feierlich der Eid gefordert:
Seinem Sohne Hirem sollen
Treu sie bleiben ohne Wanken,
Wie sie's ihm gewesen sind.
Als sie das gelobt, berührte
Jeglicher die Hand des Prinzen,
Dann gab während dreier Tage
Feste, reich und groß, der König,
Bis voll Milde, mit Geschenken,
Die Gelad'nen er entließ.
Und es war sein Werk auf Erden
Nun erfüllt, und zu des Himmels
Heiligen Freuden, die er hoffte,
Rief ihn der erhab'ne Gott.
Gnädig sei er ihm! Nur wenig
Herrscher gab es, gut wie er.

Hirem, welcher auf ihn folgte,
Betete für ihn und hegte
Die Erinn'rung an den Vater
Als den Talisman, der schützend
Seine Seele rein bewahrte.
Heilig war ihm auch die Mutter;
Alles that er, ihre Thränen
Sanft zu stillen, doch nicht lange
Flossen diese mehr; dem Volke
War der König nur gestorben,
Seinen Söhnen nur der Vater,
Ihr Abderrahman; sie folgte
Bald und sehnsuchtsvoll ihm nach.

Zwischen Beiden, die so innig
Er geliebet, die so heilig
Ihn geliebet, ruht der König
Nun im langen tiefen Schlaf.

Gegen ihres Vaters Willen
Standen auf die andern Söhne;
Doch mit Lieb' und Großmuth siegte
Hirem über sie und herrschte
Als der Erbe, so der Tugend
Wie des Reich's Abderrahmans.


Das Volkslied wirkt am Meer, oder auf den Bergen, wo es entstand, das glänzende Capriccio im Salon, Alles besonders zu seiner Zeit und an seinem Orte. Für Mariens Gedicht war heute Zeit und Ort. An jedem andern Ort, zu jeder andern Zeit hätte man es vielleicht »recht hübsch« gefunden; heute fand man es schön und wetteiferte darin, Marien das zu sagen.

Doch mußte sie auch auf viele Fragen antworten. Die erste war, ob sie nicht den Cid zum Muster gewählt habe.

»Ihn zum Muster wählen, hätte ihn nachahmen heißen,« antwortete sie. »Das will man aber doch nicht gern, um so mehr, da man fühlt, man würde sein Muster doch nicht erreichen. Da macht man es lieber auf seine Weise, und so hab' auch ich es gemacht, indem ich den Cid nur studirte, wie man solche Werke immer studiren soll.«

»Der ganze Ton hat mich aber doch an den Cid erinnert,« sagte Frau von Goldhand.

»Weil beide Gedichte in der Tonart der Romanze sind,« sagte Marie. »Wäre es nicht thöricht, anmaßend, das meine mit dem Herderschen vergleichen zu wollen, so könnte ich Ihnen die Verschiedenheiten deutlich zeigen.«

»O bitte, thun Sie es!« sagte Frau von Goldhand.

»Ich habe mich fangen lassen, weil ich nicht dachte, daß Sie mich beim Worte halten würden,« antwortete Marie. »Ich kann nicht improvisiren, weder Gedichte, noch Analysen; vielleicht geht es mit Andeutungen. Die Vorwürfe sind schon ganz verschieden; der des Cid das spanisch-christliche Leben, der Abderrahman's das spanisch-arabische. Im Cid bildet das Geschichtliche die Handlung und das Romantische dient nur als Verzierung; im Abderrahman ist das Romantische die Handlung und das Geschichtliche giebt nur den Hintergrund ab. Im Cid herrscht das dramatische Element im Gespräche vor; im Abderrahman das Lyrische als Beschreibung. Endlich haben beide Gedichte das gleiche Versmaß, aber ganz andere Verse; wenn sie im Cid tönen und rauschen, so klingen und fließen sie im Abderrahman; in jenem ist die Sprache markig, rücksichtslos, mit einem Worte männlich; in diesem weich, geglättet, also weiblich. Aber jetzt bin ich auch ganz von Gegensätzen erschöpft,« setzte Marie hinzu.

»Wie haben Sie denn diesen schönen Stoff gefunden?« fragte Fräulein von Goldhand.

»Wie man ein vierblätteriges Kleeblatt auf der Wiese findet, ohne daran zu denken,« antwortete Marie. »Der Baron hatte mir Conde's Geschichte der Maurenherrschaft in Spanien » Historia de la dominación de los árabes en España, sacada de varios manuscritos y memorias arábigas« (1820/21) des spanischen Orientalisten und Historikers José Antonio Conde; das Werk gab es seit 1824/25 auch in einer deutschen Übersetzung: »Geschichte der Herrschaft der Mauren in Spanien«. gegeben, damit ich mich im Spanischen üben sollte, wie er sagte, eigentlich aber, um mich plötzlich vor jene prachtvolle Zeit zu führen. Ich war auch entzückt, und bald zu Anfang fand ich Abderrahman.«

»Und Ihre Phantasie ergriff ihn auch gleich?«

»Sie ward von Liebe ergriffen und hing fortan an ihm wie an einem Bräutigam.«

»Wie lange ist das?«

»O, schon Jahre her. Ein solches Gedicht muß sich erst in Gedanken vollenden, eh' es zu Worten werden kann. Ich hab' es so innerlich vielleicht zehn mal immer wieder gedichtet.«

»Ich kann mir es denken. Es muß sein, wie wenn die Bildsäule allmälich aus dem Marmorblock hervortritt.«

»Dieses Gleichniß ist das richtigste, wenn es sich darum handelt, einen Helden zu erfinden. Aber der war mir gegeben, die Geschichte hatte mir ihn schon ganz fertig gemacht. Ich hatte es nur mit seinen Umgebungen zu thun, und das war genug. Erstens mußte ich mir ganz neue Farben suchen, um das fremde morgenländische Leben zu malen, dann aus der Verwirrung der Kämpfe meinem Helden eine Begleitung von Gestalten auswählen, nicht zu zahlreich, um den Zuschauer nicht zu verwirren, und doch hinreichend, ihm die Bedeutung jener Kämpfe zu zeigen. Im Anfange hatte ich mich auch weit ausführlicher über das Geschichtliche verbreitet; aber dann fühlte ich, daß die Wirkung des Gedichtes dadurch geschwächt werden müßte, opferte an zwanzig Romanzen und begnügte mich damit, nur das Nothwendigste einfach zu erzählen.«

»Und haben Sie gar nichts dazu erfunden?«

»Sie haben so viel Feinheit des poetischen Gefühles – hat es Sie noch nie gestört, wenn ein Dichter Ihnen in Anmerkungen sagte: ›das ist wirklich geschehen und das hab' ich erfunden‹?«

»Sie haben Recht, ich nehme meine Frage zurück. In dem Augenblicke, wo der Dichter spricht, wird uns Alles, was er sagt, zur Wirklichkeit, wenn es nur menschlich wahr ist.«

»Sie haben mich recht erfreut,« sagte Marie freundlich, aber ich bedarf etwas Kühle.«

Sie ging durch den Tanzsaal in das Musikzimmer, wo heute nur eine Lampe mit blassem Mondlichte brannte.

»Wie Schade, daß dieses Mädchen nicht natürlich ist!« dachte Marie. Da öffnete die Glasthür sich, und aus der dunklen, aber heute stillen Nacht trat Solms in den Saal.

Marie stand an einem der beiden Seitenfenster und sah in das Dunkel hinaus. Die Lampe warf hierher nur einen gedämpften Schimmer.

Solms näherte sich rasch und blieb bei Marien stehen. Sie wandte sich ruhig um und sah ihn ebenso an.

»Fräulein Marie, Verzeihung!« sagte er.

»Daß Sie mich gestört haben?« fragte sie. »Es ist nichts daran gelegen, ich suchte hier blos etwas Kühlung.«

»Sie wissen weswegen;« sagte er, »doch will ich es auch sagen. Also Verzeihung wegen gestern!«

»Meinen Sie wirklich, ihrer zu bedürfen?« fragte sie.

»Sie wollen mich strafen – Sie brauchen es nicht, ich bin es genug durch das Gefühl, Sie beleidigt zu haben.«

»Und warum hat Graf Solms ein junges Mädchen beleidigt?«

»Weil ich bis zur Qual gereizt, weil ich unsinnig eifersüchtig war; weil ich Sie haßte, – wie ich Sie liebe.«

»Und wenn ich mich nun Ihrem Hasse wie Ihrer Liebe auf immer entziehen wollte?«

»Das werden Sie nicht; Sie wissen, daß Sie mir dann das Leben meines Lebens entzögen, und Sie sind gut!«

»Das trauen Sie mir also doch zu?«

»O Alles, Marie, alles Schöne und Herrliche; nur ein Schatten darf noch von einem Hauche Ihres Mundes verweht werden, und Ihr Bild steht ganz von Licht vor mir.«

»Und welcher Argwohn wirft denn diesen Schatten?«

»Kein Argwohn, Marie – ich verstehe Sie nur nicht ganz in etwas – aber ich bin sicher, Sie zu verstehen, wenn – o, zürnen Sie nicht!«

»Graf, woran man zweifelt, das liebt man nicht!«

»Ich zweifle ja nicht, ich bin nur nicht ganz sicher – Marie, nur wenig Worte, bei aller Ihrer Frauenmilde bitt' ich. Georg ist mein Freund.«

»Ah!« sagte Marie.

»Mein Freund für das Leben und darüber hinaus,« fuhr Solms fort; »erst seit zwei Jahren, aber erkannt und geprüft, und mein, wie ich sein. Er hat mir zuerst Ihren Namen genannt; er hat mir, als ich mit der Gewalt meiner Liebe in seinen verschlossenen Gram eindrang, gesagt, daß Sie sich ihm verlobt und dann, ohne seine Schuld, sich von ihm getrennt hätten. Er klagte Sie nicht an, er sagte nur, wie ich jetzt, er verstände Sie nicht. Aber sein Gram, der seine Jugend farblos macht, der klagte Sie an, und ich will offen sein, Marie, oft hab' ich diesen Namen, den ich jetzt schon tausend Mal zwischen meinen Lippen küßte, wenn ich ihn einsam als die süßeste Musik aussprach, ja, oft hab' ich ihn mit Unwillen genannt als den eines Mädchens, das mit einem edlen Manne gespielt hatte.«

»Und darüber soll ich mich rechtfertigen?« fragte Marie.

»Marie,« sagte Solms mit aller Schmeichelei des zärtlichsten Tones, »können Sie mir zürnen, wenn ich wünsche, an meine Madonna mit ungetrübtem Entzücken glauben zu können? Daß Sie mit Georg haben spielen wollen, das glaub' ich nicht länger; wer könnte das auch, der Sie kennt! Aber warum haben Sie ihm eine Liebe versprochen, die Sie nicht hatten, und eine Treue, die Sie nicht halten konnten?«

»Weil ich Liebe zu haben glaubte und Treue halten wollte,« antwortete Marie. »Haben Sie noch nie im Traume gefühlt und gemeint, es sei Wahrheit? Und wenn wir im Dunkel sind, und es begegnet uns Einer, den wir nach seiner Stimme für den Geliebten halten – dann wird es Licht – Morgen – und wir erkennen den nicht, dem wir die Hand gereicht – sind wir da strafbar? Ich war im Dunkel – das ganze Leben war mir Nacht geworden. Warum? – will ich Ihnen einmal erzählen, genug, daß ich tief unglücklich war, als Georg vor vier Jahren in unsere Stadt versetzt wurde. So nahe wir verwandt sind, so wenig kannten wir uns; nur als kleine Kinder hatten wir uns gesehen und lieb gehabt. Diese Erinnerung war mir geblieben, als Georg auf Bitten meines Vaters zu unserem Gericht versetzt wurde. Sie kennen Georg ich brauche Ihnen also seine engelhafte Herzensgüte, sein kindliches Gemüth, sein ganzes reines Jünglingswesen nicht zu schildern. Auch wie er mich liebte, vom ersten Augenblicke an, wird er Ihnen gesagt haben. Mir brachte er wunderbaren Trost. Es hatten sich mir schon Männer genähert, aber nur wie gewöhnliche Männer sich uns nähern – um uns zu heirathen. Ich hatte mich von ihnen mit Widerwillen abgewendet; jetzt wurde ich zum ersten Male geliebt und – ich war unglücklich. Meine Mutter warnte mich – ich glaubte ihr nicht – ich glaubte meinem sehnsüchtigen Herzen, welches sich selber täuschte. So versprach ich dem, den ich wie einen Bruder liebte, die Liebe der Braut, und als ich dieses Versprechen gethan hatte, fühlte ich, daß ich es nicht halten konnte. Es war eine düstere Zeit, voll entsetzlicher Schwüle, die auf uns Allen lastete; denn Georg fühlte, daß ich nur seine Schwester war. Doch forderte er nicht mehr, nur sein sollte ich werden. Aber ich erkannte, daß ich noch anders lieben könne, daß ich als Georgs Frau nicht sicher sei, einst nicht das Schlimmste zu verschulden. Da sagt ich ihm, er müsse mich frei lassen. Er that es – ich habe damals wahrlich mehr gelitten, als er, denn er war ohne Schuld, und ich lernte zuerst kennen, was Selbstvorwürfe sind. Noch lange haben sie mich gequält, jetzt hab' ich mir endlich vergeben, weil ich ja nur aus Irrthum fehlte. Ihnen aber hab' ich nun Alles gesagt.«

»Und Sie haben mich beseligt!« sagte der Graf, indem er ihre Hände faßte und mit glühenden Küssen bedeckte. »Jetzt reis' ich freudig ab – zu meiner Mutter und zu Georg –« setzte er lächelnd hinzu, als Marie ihn befremdet ansah. »Ich will mir die Weihe meiner Liebe holen. Wenn ich aber wiederkomme, Marie, – dann darf ich um ein Wort bitten.«

»Wenn Sie mir die Einwilligung Ihrer Mutter bringen!« sagte Marie mit einem stillen Ernst, der seltsam gegen das Entzücken des Grafen abstach.

»O, deren bin ich sicher!« rief er; »aber sie soll mir auch freudig gegeben werden, und Georg wird es mir auch verzeihen, daß ich da glücklich werde, wo er es nicht sein konnte.«

»Das wird er,« sagte Marie. Sie sah in des Grafen schönes Auge, welches so glühend freudig auf ihr ruhte, und ihre leise Blässe wich dem feurigsten Erröthen und ihr Ernst verschwand in dem lieblichsten Lächeln.

»Gehen Sie!« fuhr sie fort. »So kann ich unmöglich zu Tische kommen.«

»Ich auch nicht,« sagte er lächelnd und legte die Hand an die glühende Stirne. »Welche Gluth doch im Glücke ist! Doch draußen wird selbst für mich Abkühlung sein.«

Er küßte noch einmal leidenschaftlich Mariens Hand und eilte dann in den dunklen Garten. Marie sah in einem der Spiegel, was sie ohnedies schon wußte, daß sie jetzt noch nicht zu den Andern zurück konnte, ohne sich zu verrathen. Sie öffnete ein Fenster und athmete den Duft der Violen ein, die dicht darunter in Büschen wuchsen. Sie hatte erreicht, was sie gewollt hatte; Solms liebte sie leidenschaftlich. Ihr schlug das Herz heftig – an dem ganzen Abende war sie in einer fortwährenden Aufregung geblieben. Solms konnte wol in solche versetzen – er war ein Mann, an dessen Seite sich jedes junge Mädchen mit geschmeicheltem Stolze denken konnte, und Marie besonders legte hohen Werth auf äußern Glanz. Es lag schon in ihrer Dichterphantasie, welche Schmuck und Pracht aller Art liebte, wie in der Sprache, so im Leben. Marie sah sich in Gedanken als schöne Braut neben dem schönen, hohen Manne, aller Augen auf sich gerichtet, als die Beneidete der Mädchen, als die Bewunderte der Männer. Dann sah sie sich in vornehmen, reichen Verhältnissen, über die kleinen und unerträglichen Rücksichten des Lebens hinweggehoben, mit freier Aussicht und freiem Willen. Bedeutende Reisen, herrliche Anschauungen, interessante Bekanntschaften folgten einander in der Gallerie ihrer Traumbilder, und Solms war es, der sie von einem zum andern führte. Sie war ganz Mädchen; sie dachte mit einem natürlichen Triumphgefühl an die langen Gesichter, welche die Geistreichen machen würden. Auch was die Damen hier im Hause sagen würden, fragte sie sich, und wie Anlow sich freuen würde. Zugleich fiel ihr ein, daß Anlow ihr noch kein Wort über das Gedicht gesagt, sondern den Augenblick des darauf folgenden Schweigens benutzt hatte, um sich leise zu entfernen, nachdem er der Baronin einige Worte zugeflüstert hatte. Sollte er krank sein? Dieser Gedanke brachte Marie auf einmal in die Wirklichkeit zurück und machte sie zugleich die Besorgniß, sich zu verrathen, vergessen, so daß sie unbefangen wieder zu den Andern zurückkam.

Solms war noch nicht da, aber auch Anlow nicht. Sie fragte die Freundin nach ihm. Die Baronin antwortete, er habe ihr gesagt: es würde mich stören, jetzt über das Gedicht sprechen zu hören; ich will den ersten Beifall vorübergehen lassen. »Er ist also nicht krank?« fragte Marie. »Ich denke nicht,« sagte die Baronin; »Solms ist ja auch hinausgeeilt, Du hast sie alle in solches Entzücken versetzt, daß sie es in der Einsamkeit ausseufzen müssen.«

Solms kam eben herein, und die Baronin, zum ersten Male etwas freundlicher gegen ihn, sagte ihm, was sie Marien eben gesagt habe. Er erwiederte, sie habe, was ihn betreffe, ganz Recht, und sprach lebhaft über das Gedicht und jene Zeit, weil er so am Besten seine neue Seligkeit verbergen konnte. Marie hörte ihm lächelnd zu, dachte aber dazwischen doch an Anlow. Plötzlich erblickte sie diesen; er war leise hereingekommen, schien aber nicht gesonnen, sich ihr zu nähern, denn er unterhielt sich mit Fräulein von Goldhand. Diese aber stand jetzt auf, um etwas zu ihrer Arbeit Fehlendes zu holen, und die Baronin sah Anlow nun auch und rief ihn. Er kam und sie sagte: »wollen Sie denn Marie um Ihren Beifall betrügen? Sie wartet mit Schmerzen darauf; Dichter bekommen von dieser Götterspeise nie genug.« Eben winkte der Baron seiner Frau; sie ging zu ihm, und Solms wandte sich zu Frau von Unruh, die in der Nähe saß, mit der Absicht, liebenswürdig zu sein. Anlow setzte sich zu Marien.

»Was soll ich Ihnen sagen?« fragte er.

»Etwas geistreich Schönes,« antwortete Marie lächelnd.

»Das wäre unnöthig,« sagte er. »Sie wissen, ich liebe Alles, was Sie dichten.«

»Ein für alle Mal?«

»Gewiß. Wenn etwas aus Ihrer Seele geschrieben – und anders schreiben Sie nicht – mir nicht zusagte: wäre das nicht eben so, als wenn Sie zu mir sprächen und ich Ihnen ohne Interesse zuhörte?«

»Und könnte das nicht leicht einmal geschehen?«

»Es kann vielleicht einmal geschehen; können wir sagen: unsere Herzen werden jung bleiben, und ihr Feuer wird nicht erlöschen? Es kann sein, daß ich Sie einst gleichgültig anhöre; aber es wäre ein Unglück, denn ich wäre dann doch nicht mehr Ihr Freund, und wenn ich in meinem Herzen nicht mehr die Kraft fände, das zu sein, dann wäre mein Herz auch todt.«

»Bin ich Ihnen so viel?«

»Soll ich Ihnen sagen, was Sie mir sind? Die Jugend des Lebens.«

»Und Sie sind alt?«

»Ich bin es, an Gedanken und Wissen, selbst schon an Erfahrungen. Man kann schnell leben, und ich bin acht und zwanzig Jahr alt. Nur die poetischen Menschen können leben und jung bleiben, wir andern bezahlen das Leben mit der Jugend.«

»Seit wann haben Sie keine Täuschungen mehr?«

»Schon seit Jahren, und da ich auf lauter Täuschungen angewiesen war und in der letzten Zeit noch dazu auf recht langweilige: so können Sie sich denken, daß ich schon halb in Gleichgültigkeit versunken war, als ich Sie kennen lernte. In Ihnen sah ich poetische Wahrheit und hielt es nun wieder für der Mühe werth, mit dem Gefühl zu leben. Nun wissen Sie, was Sie mir sind.«

»Ich wünsche Ihnen, immer mehr zu werden! Aber wissen Sie wol, daß wir nun auf dem Punkte sind, wo die Welt immer am albernsten redet?«

»Die Welt wird vielleicht nicht einmal erfahren, daß wir Freunde sind. Ich bin ruhig, Sie sind unbefangen; wir fühlen Beide kein Bedürfniß, uns Vertraute zu suchen. Dann schließt ja auch unsere Freundschaft nicht die Liebe aus, und wenn erst einer von uns liebt, wird man ihn dem Andern um so eher als Freund lassen.«

»Ich würde mich recht freuen, Ihre Vertraute in einer glücklichen Liebe zu sein, denn ich werd' es doch; nicht wahr?«

»O lieben Sie nur erst, ich brauch' es noch nicht. Ich will selbst nicht Ihr Vertrauter sein – ich wünsche überhaupt nichts.«

»Ich wünsche Ihnen Gesundheit; Sie sind heute wieder nicht wohl.«

»Nein, aber selbst dieser Zustand läßt sich mit Ruhe ertragen. Sie sehen, einige Vorzüge hat das Altern auch – man kann, was in der Jugend unmöglich scheint, gehen lassen und zusehen.«

Marie sah ihren Freund mit Befremdung an; diese Leidenschaft, alt sein zu wollen, mußte ihm mit einem Male gekommen sein, denn er hatte sie noch nie geäußert. Auch der bittere Ton, in dem sich deutlich ein inneres Gereiztsein aussprach, war Marien neu an ihm. Sie fragte sich, was ihm begegnet sein könne, und sie wollte eben ernstlich auch ihn befragen, da rief der Baron ihnen zu: »zu Tische!« Solms kam schnell, ihr den Arm zu bieten, Anlow aber so zu sitzen, daß sie ihn nicht sah. Auch nach dem Essen näherte er sich ihr nicht mehr. Solms sagte jetzt, daß er morgen abreise, bat aber zugleich um die Erlaubniß, etwa in vierzehn Tagen wiederkommen zu können. Die ganze Gesellschaft ahnte, was es mit dieser Reise für eine Bewandtniß habe, und nicht ohne Bedeutung wünschten die Damen sie ihm recht glücklich. Er sagte leise zu Marien, so, als wären es gewöhnliche Abschiedsworte: »ein Glücklicher wird doch glücklich reisen.« Dann eilte er, noch diesen Abend einzupacken. Frau von Willert sagte zu Marien: »Solms reis't etwas getrösteter ab, als Haßfeld; nicht wahr, liebe Marie?« – »Gegen den armen Haßfeld hab' ich Unrecht gehabt,« antwortete Marie und machte ein ernstes Gesicht. »Es ist »manchmal recht bequem, so ein Unrecht einzugestehen zu haben,« sagte Frau von Willert.


Es war schon tief in der Nacht, als Anlow noch immer am Tische saß, die Arme verschränkt, den Blick auf den Boden geheftet. Draußen hatte es sich erhellt, im Zimmer war es dunkel geworden, weil die Wachslichter tief herunter gebrannt waren. Anlow bemerkte es nicht, das peinliche Sinnen hielt ihn wie in einem Netze. Doch war die schlimmste Stunde schon vorüber, die, welche er vorhin hier zugebracht hatte. Da hatte er sich zuerst in der Macht Mariens und alle die tausend und tausend ruhelosen Stunden, welche nun schleichend folgen mußten, vorausgefühlt. Bis jetzt hatte er sein Gefühl für Marie auch vor sich selber immer Freundschaft genannt; es war anders, als jedes andere, das er bisher für Frauen gehabt hatte. Marie sprach auch immer mehr zum Geist und zum Herzen, als zu den Sinnen; erst wenn die Männer sie liebten, entdeckten sie, daß sie auch schön sei; auf Solms hatte sie nur ausnahmsweise einen andern Eindruck gemacht. Anlow hatte seit einigen Tagen eine beginnende Unruhe ertragen, ohne über ihre Ursache nachzudenken; heute, als das Licht der Lampe auf Marie gefallen war, hatte ihn bei ihrem Anblick eine heftige Empfindung durchzuckt, welche er wieder zu fühlen, nie mehr erwartet hatte. Erstaunt hatte er sich beobachten wollen, aber das schnell als überflüßig erkannt, da jedem Liebesworte des Gedichtes die Leidenschaft in ihm als mächtiges Echo geantwortet hatte. Er war hinaufgegangen, um sich für das Erste zu fassen. Jetzt, wie wir schon sagten, sann er nach.

Anlow war der Mann der großen Welt, aber er hatte von ihr nur die Formen angenommen; was sie ihm sonst angepriesen, das hatte er gleichgültig zurückgewiesen, und war sein eigener Mensch geblieben. Wenn es für ihn keine Täuschungen mehr gab, so gab es doch noch Wahrheiten. Als solche erkannte er auch seine Liebe. Nicht in seinen Gedanken entwürdigte er sie mit dem Namen Thorheit. Er beschloß nur, sie Marien nie zu zeigen, um durch keine schmerzliche Empfindung das Glück des jungen Mädchens zu stören; denn daß es zwischen ihr und Solms so gut als entschieden sei, hatte er vor allen Andern gesehen. Können, was er wollte, das hatte ihn das Leben gelehrt; er erschien in der Gesellschaft und mit Marien allein ganz, wie er immer gewesen war. Sein geheimes Leiden reizte ihn zu keiner Ungerechtigkeit. Er wollte edel bleiben, und er blieb es; er konnte sich in jedem Augenblick achten.

Das Leben im Schlosse wurde eben jetzt durch häufige Besuche geräuschvoll. Anlow fühlte einige Erleichterung in dem Gedanken, daß die Bewegung, in der Jeder erhalten wurde, ihn vor Beobachtung schütze.

Marie entzog sich dieser allgemeinen Bewegung nicht; sie suchte sie vielmehr, aber sie wurde oft still darinnen. Es war, als ob das Sinnen wie ein Geist sie verfolge und in manchen Augenblicken unabwendbare Macht über sie habe. Wenn Anlow sie so in einen Gedanken versunken sah und sich sagen mußte, daß dieser Gedanke dem Grafen gelte: dann entfernte er sich und ging Stunden lang in seinem Zimmer auf und ab. Als ob man die Seele ermüden könnte!

An ihren Vater hatte Marie noch nicht wieder geschrieben, es war, als scheue sie das Geständniß; aber sie empfing folgendes Schreiben:

 

»Dein letzter Brief, mein Kind, war nicht von der Art, daß er mich erfreuen konnte. Du weißt, mir ist unter allen Zuständen die Leidenschaftlichkeit am wenigsten zusagend, und eben in dieser scheinst Du ganz befangen gewesen zu sein. Ich sage: gewesen; denn ich hoffe, Du bist es nicht mehr; ich wünsche, Du hast Dich ganz wiedergefunden. Ich wünsche auch noch etwas, Marie; daß Du dem Grafen Solms keine bindende Zusage giebst, eh' ich ihn kennen gelernt habe, was der Fall sein wird, wenn ich, nach Paulinens Geburtstag, Euch abholen komme.

Auch mit Deinem Betragen gegen Haßfeld kann ich nicht zufrieden sein. Du hattest das Recht, ja selbst die Verpflichtung, seine Liebe, die Du nicht erwiedern konntest, zurückzuweisen; aber Du hattest nicht das Recht, es verletzend zu thun. Haßfeld ist ein bedeutender Mensch – Du hättest aber selbst gegen den unbedeutendsten auf diese Weise Unrecht gehabt. Du selber wirst das fühlen, oder Du hättest den reinmenschlichen Standpunkt verloren, von welchem herab uns alle äußeren Verhältnisse als Formen, welche nöthig sind, um die Massen zur Gesellschaft zu bilden, aber auch nur als Formen erscheinen.

Lebe wohl, mein Kind, und schreibe bald einen ruhigeren Brief

Deinem Vater.«

Marie antwortete:

»Was Du nicht wünschest, mein Vater, ist schon geschehen; wenn auch nicht dem Worte, so doch dem Sinne nach, bin ich dem Grafen versprochen. Verzeihe, wenn ich es zu rasch that; die Augenblicke sind mächtig – ich ließ mich von einem hinreißen und habe nun nichts mehr zu verweigern, als das letzte Ja, welches Solms fordern will, wenn er von seiner Mutter mit ihrer Einwilligung zurückkommt. Soll ich es ihm nun verweigern? Befiehl – Dein Brief kann noch früher hier sein, als Solms zurück sein wird.

Dein Tadel wegen Haßfeld hat mich schon schärfer von meinem eigenen Herzen getroffen. Auch will ich nicht diesen Fehler begangen haben, ohne ihn, so viel ich kam, wieder gut zu machen. Anlow hat es übernommen, mein Fürsprecher bei Haßfeld zu sein, und ich bin sicher, daß die versöhnendsten Worte Haßfeld vergessen machen werden, was ich in der Uebereilung gegen ihn fehlte.

Zürne mir nicht mehr, mein theurer Vater; dieser Brief ist ja ruhiger. Ich bin es auch – nur eine leise Bangigkeit weht in der Luft um mich her, und ich muß oft sinnend in die Gewässer, oder auf die Blumen sehen. In zehn Tagen kommt Solms wieder; ich erwarte also bald Deine Entscheidung.

Marie.«

 

Anlow empfing um diese Zeit ein Blatt von Haßfeld. Es war aus Prag und in leidenschaftlichen Zügen geschrieben.

 

Ich schreibe Ihnen von hier aus; ich wollte weiter, aber es hielt mich wie an Ketten. O der Thorheit! Als wenn sie mir nicht gleich ewig fern wäre, ob zwanzig oder hundert Meilen zwischen den Orten liegen, wo sie glücklich ist, und ich, ein Fremdling in der Freude, wandere. Dennoch blieb' ich hier – es war, als schiene ihr dunkles Auge wie ein Stern durch die Luft, und ich könnte es nur hier sehen und müßte sterben, wenn ich es nicht mehr sähe. Das Alles in einem Gedanken von Nahesein, der mich belügt – ich frage mich oft, was ich denn in der Welt zu thun hoffe, zu was ich denn Kraft zu haben meine, da alle meine Vorsätze, die in die Ferne stürmten, sich hier halten lassen von einer Lüge meiner Leidenschaft.

Haben Sie mir etwas zu sagen? Ein Wort – ein einziges Wort der Theilnahme? Oder bleibt sie Marmor für mich, während sie für den Andern die Liebe ist. O dieser Andere! Wenn ich nicht im Geist Ihr ruhiges Gesicht mir gegenüber sähe, ich knirschte meinen Haß heraus. Jetzt bekämpf' ich mich, um Ihnen kein Schauspiel zu geben. Zu leiden haben Sie mir ja erlaubt. Sie sehen, sie sind mein Herr – die Kalten herrschen immer, und ich könnte wünschen, ich wäre aus Ihrer Welt, welche die der Herrscher ist, wenn sie nicht gar zu widrig erlogen wäre.

Ich habe versucht, in der alten Zeit, welche hier noch einen Wohnsitz hat, einen Gedichtstoff zu finden; aber ich kann nichts, als in die blauen Wellen der Moldau starren und in ihr Rinnen Lieder dichten von dem einzigen Gefühle, das jetzt für mich lebendig ist. Schreiben Sie mir bald, auch wenn Sie mir nichts zu sagen wissen.«

 

Ein bitteres Lächeln spielte um Anlow's Lippen, während er diesen Brief las. Er holte tief Athem, wie um zu fühlen, wie heftig sein Brustschmerz sei. Dann stand er auf und ging hinunter, um Marie zu suchen. Sie pflegte um diese Zeit meistens in der Bibliothek zu sein.

Auch heute saß sie an einem Fenster und schrieb. Im Grunde des Saales saß Hofrath Rein, auf einem Sopha Frau von Willert. Beide lasen; doch setzte Anlow sich so, daß er ihnen den Rücken wandte, Marie hatte aufgehört zu schreiben; er bat sie, sich nicht stören zu lassen, er könne warten. Sie schob Feder und Papier zurück. »Ich bin eben fertig,« sagte sie.

»Ich habe einen Brief von Haßfeld,« bemerkte Anlow. Marie erröthete. »Darf ich ihn vorlesen?« fragte Anlow.

»Thun Sie es,« antwortete Marie; »ich verdiene es, seine Vorwürfe zu hören.«

»Er enthält keinen Vorwurf, wenn der Schmerz nicht einer ist,« sagte Anlow. Er las mit Ueberwindung – nur die Worte über Solms überging er. Als er fertig war, ließ er die Hand mit dem Briefe läßig sinken, blickte Marie einige Sekunden an, bedeckte dann die Augen mit der andern Hand und sagte: »Nun?«

»Sie haben etwas ausgelassen,« sagte Marie.

»Ja,« erwiederte Anlow.

»War es nicht ein Vorwurf?« fragte sie.

»Nein,« antwortete Anlow.

Marie machte es unwillkürlich wie Anlow, nur daß sie die Hand noch dichter an die Augen legte. So saßen sie Beide sinnend und stumm; endlich bemerkte Anlow: »wollen Sie ihm nicht etwas sagen lassen? Er verdient es; er liebt sie mit voller Kraft. Vielleicht können Sie es sich nicht so denken.«

»Warum?« fragte Marie.

»Weil den Frauen der Maßstab für Männerliebe fehlt.«

»Er fehlte uns?«

»Gewiß; Ihre Liebe giebt Ihnen keinen.«

»Wir lieben doch treuer.«

»Aber wir stärker! Die Frau hat Ranken in ihrer Seele, um zu umschlingen, aber keine Gewalt, um zu umfassen.«

»Doch; wir dürfen nur nicht stark und feurig lieben. Ich träumte eben jetzt davon, auf dem Blatte dort. Nehmen Sie es – Sie darf ich es lesen lassen – Sie werden sich nicht davor entsetzen.« Ein Sonnenstrahl, der durch die zugezogenen Vorhänge fiel, vergoldete das Blatt, auf welches Marie deutete. Anlow nahm es, legte dafür den Brief auf den Tisch und las:

Die Liebe einer Frau.

1.

Ich liebe Dich, Du bist der hohe Stern –
Ich liebe Dich, Du bist der kühne Adler –
Du bist der starke Baum – ich liebe Dich;
Du bist der goldne Tag, der klare Abend,
Du bist der mächt'ge Strom – ich liebe Dich;
Was Großes und was Schönes nur auf Erden:
Du bist's, Du bist es, und ich liebe Dich!

2.

Als Du zum ersten Mal mich angesehen,
Ich weiß es noch; o dunkles Auge,
Mit tiefer Schwermuth sahest Du mich an,
Und wurdest heller in dem Blick auf mich.
Wär' es ein Abgrund tief und kalt gewesen,
Ich hätte dennoch meiner Seele
Nicht wehren können, als Du ihr gerufen
Mit jenem Blick, der langsam heller ward.

3.

Rede nicht; horch, eine Stille ist es,
Tief und wunderbar;
In dem Wald die Rehe kannst Du hören,
In der Luft den Dämm'rungsfalter
Horche denn und rede nicht zu mir,
Denn zu hören hab' ich auf mein Herz,
Wie es deutlich sagt mit jedem Schlage:
Unaussprechlich lieb' ich ihn.

4.

Du bist kein Jüngling mehr, Du bist der hohe Mann,
Du hast gelebt, Du hast gekämpft,
Du hast geliebt und wieder aufgegeben:
Jetzt liebst Du mich und ich bin Dein!
Was, mein Geliebter, willst Du, daß ich thue?
O, gieb mir ein Gebot!
Verlange eine That, ein unermeßlich Opfer –
Für Dich zu sterben wäre kein's!

5.

Sie fragten Dich, ob meine Liebesflamme
Dein Auge nicht mit ihrer Gluth ermüde?
Da sprachst mit Deiner lieben Stimme Du:
Ich kann am Mittag in die Sonne blicken,
Und ihre Lieb' ist Sonnenlicht. Das ist's;
So wollt ich Dich, mein Held; ja – meine Liebe,
Für einen Schwächling war sie nicht, Dich aber,
Dich kann mit tausend Flammen sie umlodern.

»Warum das eben jetzt?« dachte Anlow, als er gelesen hatte. Der Athem versagte ihm fast, und er war leichenblaß. Marie sah ihn jetzt an und erschrak. Er sah es und faßte sich gewaltsam. »Das Gedicht ist schön!« sagte er. »Aber nur geträumt?«

»Ja,« antwortete Marie, »weil kein Mann diese Liebe ertrüge. Selbst Sie würden dafür danken.« – »Meinen Sie?« fragte Anlow. Ein augenblicklicher Aufruhr erhob sich in ihm; er fühlte ein wildes Verlangen, einmal wenigstens seine Qual auszusprechen, wenigstens einen Theil davon auf Marie zu werfen, aber er hielt sich. »Es wäre Selbstsucht,« dachte er; »und soll es denn eine Empfindung geben, die ich nicht mit Schweigen beherrschen kann?« Einen Augenblick blieb er noch still, um wieder Ruhe der Stimme zu gewinnen; dann fragte er noch einmal: »wollen Sie Haßfeld nichts sagen lassen?« – »Sagen Sie ihm, daß er mir seinen Schmerz verzeihen soll,« antwortete Marie, »daß ich hoffe: nicht, er werde mich vergessen, aber bald anders an mich denken; daß er dann meine Freundschaft für sich bereit finden wird.«

Anlow ging und schrieb an den Schriftsteller. Er schrieb, als ob er wirklich kalt wäre; denn er fühlte keinen Beruf, Haßfeld durch Unglücksgefährtenschaft zu trösten. Der Brief war also eine Lüge, und Anlow litt unerträglich, während er ihn schrieb. Als er gesiegelt hatte, warf er sich auf das Sopha, das Gesicht in die Kissen gelehnt, und blieb so bis zum Essen. Seine körperliche Kraft ertrug die Heuchelei seines ruhigen Wesens nicht.

So viel er nur konnte, vermied er Marie. Ihre Stimme machte ihm körperliche Schmerzen. Oft klopfte ihm das Blut in den Schläfen so heftig, daß er den Kopf auf die Hand stützen mußte. Trotz aller seiner Ueberwindung wurde man doch endlich aufmerksam auf ihn. Der Mangel an allem Schlaf, den er erduldete, ließ sich in Zügen und Bewegungen nicht verbergen. Er sagte nun, er sei nicht wohl, bat aber, ihn unbeachtet zu lassen; Ruhe sei ihm das Beste. Man ließ ihn, wie er es wollte, wenn auch nicht ohne Sorge, denn Alle nahmen Antheil an ihm. Marie allein schien, sonderbar genug, die Veränderung an ihrem Freunde nicht zu bemerken; wenigstens sagte sie nichts darüber, fragte ihn nie und war mit einem Male die Lehrerin Herrn von Rosens im Spanischen geworden. Herr von Rosen hatte ihr jene unfreundlichen Worte im finstern Grunde jetzt gänzlich vergeben und sich auch darein gefunden, daß Fräulein von Goldhand nicht unglücklich um seinetwillen sei; er dachte jetzt nur daran, sich als gelehrigen Schüler zu beweisen, was ihm jedoch Frau von Willert nicht recht glauben wollte. Anlow schrieb bisweilen in sein Taschenbuch; diese wenigen Blätter werden uns ihn noch besser kennen lehren.

 

»4. Juni.

Es geschieht ewig dasselbe in der Welt. Ich schreibe, wie ein junges Mädchen, die Gedanken der Tage auf. Aber ich muß – mein Zustand verlangt diese einzige Linderung.

Die Macht der Gewohnheit bewährt sich an mir. Ich habe mich gewöhnt, ruhig zu scheinen, und scheine es auch jetzt, selbst wenn ich allein bin. Ich gehe langsam; keine Bewegung verräth das innerliche Zucken des angeketteten Verlangens, das Beben der weichen Sehnsucht. Ich will mich wenigstens äußerlich überwinden.

Mitten in der Qual, die in der Luft um mich her brennt und mir jeder Nerve versengt, fühl ich Ruhe in dem Gedanken, daß meine Liebe keine Thorheit ist, sondern das Beste, das ich je empfunden habe.

Auch die Empfindung hat Gehalt, daß ich mich nie so kleinlich gefühlt habe, um mich gegen die Uebermacht des Heiligen durch Spott schützen zu müssen. So kann ich jetzt in den langen Stunden des nächtlichen Wachens, ohne gezwungen zu sein, Zugeständnisse zu machen, mich zu ihm wenden und von ihm Gewißheit des Endes und Ahnung einstiger ewiger Ruhe in ihm empfangen.

 

5. Juni.

Die Nacht gießt Ströme von Duft aus, welche um das Haus wallen, wo ich der einzige Wachende bin. Auch sie schläft und ahnet nicht, daß ich wache. Sie soll es auch nicht erfahren und nie – nie. Um mich würde sie leiden, wie sie sich jetzt selbst um Haßfeld sorgt. Mein Gott, welcher Himmel in diesem Wesen!

Ich will ihn nicht hassen, der sie mir im Voraus abgewonnen hat; wenn ich ihn nur im höchsten Sinne achten könnte.

Ich weiß, dieser tausendrankige Schmerz wird allmälich verwelken; aber mir graut vor diesem Absterben, denn ich werde innerlich mit sterben.

Wäre diese Liebe vor acht Jahren zu mir gekommen, so hätte ich mir verzeihen können, durch eine Kugel zu enden. Jetzt fühl' ich ebenso das Bedürfniß des Todes; aber die Mittel, es zu befriedigen, sind mir verwehrt.

 

6. Juni.

Meine Mutter ist mir noch nie so todt gewesen, wie jetzt. Warum mußte sie sterben, eh' ich liebte? Mit ihrem Tode schloß sich meine Jugend, und meine Weltzeit begann. In der Welt verlernt man zu weinen, und ich wollte, ich könnte es noch.

 

7. Juni.

Ich werde abreisen, sobald Solms zurück und sie Braut ist. Eher will ich nicht. Ich hoffe, er wird bald kommen.

Man frägt mich, ob ich kränker sei? Es ist mir recht, daß ich es bejahen kann. Die Brustschmerzen werden täglich heftiger, und mir ist es manchmal, als würde das Blut wieder hervorbrechen und sich dieses Mal nicht hemmen lassen.

 

8. Juni.

Nur zwei Stunden lang ganz vergessen können, um wieder Kraft zu gewinnen und einige Tage noch ausdauern zu können! Dann muß Solms zurückkommen. Eher will ich nicht fort – ich will das letzte gesehen haben, um mich mit keiner Hoffnung mehr zu betrügen. Dann – der Onkel schreibt, der Minister habe ihm Aussicht nach London gemacht, und ich solle ihn begleiten. Ich glaube, das Klima wird mir dort zusagen, das heißt – – Doch Ruhe – Fassung! Mein Gott, bin ich denn ein Mann? So fragt' ich mich auch heute, als ich eine Blume, die sie hatte liegen lassen, an meinen Lippen fand.

 

9. Juni.

Heute, als wir uns zuerst sahen, reichte sie mir ungewöhnlich bewegt die Hand. Ich könnte nicht sagen, welch ein schneidendes Wehethun diese Berührung mir verursachte. Noch einen Augenblick länger, und ich hätte es nicht mehr ertragen. Es ist Zeit, daß es ende.

Die Baronin scheint mich zu ahnen. Ihr Blick ruhte heute mehrmals forschend auf mir. In manchen Augenblicken könnt' ich dem Drange, mich auszusprechen, unterliegen, darum werd' ich sie vermeiden.

 

10. Juni.

Solms kommt heute. Ein verspäteter Brief an den Baron – Ruhig, ruhig! Ich werde sie heute noch sehen. Gott segne sie! Ich werde meine Liebe bewahren. Einst ihr Freund – so sagte ich vor kurzer Zeit zu Haßfeld. Seitdem – ihr Freund sein! Einen Augenblick sie umfangen halten – es ist schwer, ein Mann zu sein. Diesen Abend kann ich sie noch sehen!«

 

Diese letzten Zeilen schrieb Anlow an einem Fenster im Eßsaale, wo der Baron ihm von der zu erwartenden Ankunft des Grafen gesagt hatte. Der Sonnenschein, welcher draußen auf den Beeten und dem Rasen lag, wurde blässer und blässer; endlich zogen die Wolken sich zusammen und verbargen ihn ganz. Anlow hatte ermüdet zugesehen; jetzt hörte er Mariens leises, ruhiges Kommen und wandte sich langsam um, seinen Blick mit allem Ausdruck seiner Liebe auf ihre Gestalt heftend. Sie sah es nicht, sie legte ihre Handschuhe auf ein Tischchen. Franz kam herein und zu ihr. »Marie, Georg kommt ja mit;« sagte er. »Ich freue mich recht,« antwortete Marie, aber ihr Ton und ihr Blick waren ernst. »Wer ist Georg?«, fragte Frau von Willert. »Mein Vetter, der Assessor von Seebach;« erwiederte Marie.

»Ein artiger Mensch?«

»Noch mehr, als das; ein guter und liebenswürdiger Mensch.«

»Macht er auch Verse?«

»Sehr hübsche.«

»Nun – sehen Sie einmal, das ist ja recht gescheut von dem Solms, daß er den Vetter mitbringt.«

Man setzte sich zu Tische, aber die Unterhaltung war nicht sehr lebhaft. Jeder dachte daran, daß Solms zurückkomme; die, welche Marie liebten, waren unruhig, die Andern neugierig, Alle beschäftigt. Marie war still in sich gekehrt und suchte auch nicht es zu verbergen. Sie hatte gestern einen Brief von ihrem Vater erhalten; Herr von Unruh gab ihr Freiheit. Sie hatte den Brief ihrer Mutter gegeben, und auch diese hatte gesagt: »folge Deinem Herzen, wenn Du wirklich fühlst, daß es spricht.« So hielt sie ihr Schicksal in der Hand und erwartete den, welchem es zu übergeben sie versprochen hatte.

Anlow betrachtete Marie während seines Gesprächs über Tische mit scheinbar zufälligen Blicken. »Es ist das letzte Mal, daß ich sie sehe, ehe sie einem Andern gehört,« dachte er. Tiefe Wehmuth wechselte mit heftigem Schmerz in seiner Seele. Er sah die Geliebte an, wie man sich ein schönes Bild einprägt, das man nie mehr wiedersehen wird. Die Augen der Baronin ruhten auf ihm; sie hatte ihn nicht nur geahnt, sondern errathen. Ob Marie ihn auch errathen hatte? Sie sah nicht einmal zu ihm hinüber.

Die Luft war drückend geworden, als man aufstand; dennoch hielt die Neugier die Gesellschaft zusammen. Marie wickelte schottischen Zwirn, den Franz hielt. Der junge Mensch war dabei halb vergnügt, weil Georg, und halb verdrießlich, weil Graf Solms kommen sollte. Herr von Rosen kam nach abgewickeltem Zwirne mit spanischen Vocabeln in seinem Kopfe, und Marie hatte wirklich die Fassung, sie ihm zu überhören. Anlow litt fast unerträglich.

Als die Zeit kam, wo man Solms erwarten konnte, ward es Marien unmöglich, im Saale zu bleiben, ihn vielleicht in jedem Augenblicke eintreten zu sehen und vor den Augen allen, die darauf warteten, begrüßen zu müssen. Sie war mit Herrn von Rosen fertig, nahm ein Buch und ging in den Garten. So lange sie vom Saale aus gesehen werden konnte, ging sie langsam; kaum aber war sie zwischen die Bäume des Parks getreten, als sie ängstlich fast eilte, bis sie da, wo der Park an die Wiesen stieß, sich auf einer Bank zwischen Gebüsch niederließ. Von hier aus konnte sie die Landstraße übersehen und wollte nicht eher wieder in den Saal zurückkehren, als bis sie Solms eine Zeit lang angekommen wußte. Solms wäre auch schon da gewesen; aber ein Rad seines Wagens war etwa eine Stunde weit von hier, vor einem kleinen Städtchen entzwei gegangen. Es mußte nothdürftig hergestellt werden, und doch konnte man nur langsam damit fahren. Da hatte Graf Solms mit seinem Freunde den Fußpfad eingeschlagen, der durch die Wiesen nach dem Park führte, und Beide standen plötzlich vor Marien.

Sie erschrak heftig, faßte sich aber doch gleich so viel, um scheinbar ruhig aufzustehen und die Freunde freundlich zu empfangen. Der Graf küßte ihr zärtlich die Hand; Georg zögerte einen Augenblick, dann schloß er sie wie ein Bruder in die Arme und sagte innig, wenn auch etwas schmerzlich: »meine liebe Cousine, meine liebe Marie!«

Marie hatte Georg seit jener Zeit nicht gesehen, und damals war ihr Abschied natürlich gespannt und peinlich gewesen. Sie hatte daher dem von ihr Aufgegebenen nicht ohne leise Bangigkeit entgegengesehen, obwohl sie überzeugt war, daß er nicht fremd gegen sie sein würde. Aber so als Freund, als Bruder hatte sie ihn nicht erwartet; es erweichte, es überwältigte sie, und sie senkte den Kopf an seine Brust und weinte leise.

Georg hielt sie umfaßt, und auch in seinen Augen schimmerten Thränen. Doch hatte sie ihre Rührung bald zurückgedrängt und lud nun beide Freunde ein, sich zu ihr auf die Bank zu setzen. Hier vergingen die ersten Minuten in herzlichen Fragen an den Vetter; er schien besser unterrichtet zu sein und that keine. Der Graf ließ Marie einige Zeit gewähren, dann aber forderte er scherzend ihre Aufmerksamkeit und ihren Dank, daß er ihr den Vetter mitgebracht.

Marie wandte sich zu ihm und stattete ihm den Dank ab, aber seine scherzhaften Worte waren wie Mißtöne in ihre ernste Stimmung gedrungen. Ein Mann, der in dem Augenblick scherzt, wo er ein Mädchen gewinnen will, ist entweder sehr sicher, oder liebt sehr bequem, und beides lieben die Frauen nicht.

»Wie herrlich, daß wir Sie hier finden mußten,« fing Solms wieder an; »oder hätte eine Hoffnung darauf Sie eben jetzt hierher geführt, liebe Marie?«

Marie hätte diese vertrauliche Sprache dem Grafen vielleicht erlaubt, wenn sie allein mit ihm gewesen wäre; in Gegenwart eines Dritten, mochte dieser Dritte selbst Georg sein, fühlte sie sich davon verletzt und antwortete sehr gehalten: »Nein, Graf; hätte ich geahnt, daß Sie diesen Weg kommen würden, so wäre ich nicht hierher gegangen.«

»Und wenn ich auch nicht diesen Weg gekommen wäre, so hätte ich Sie doch von der Landstraße aus hier entdeckt,« sagte der Graf. »Also gestehen Sie es immer, es macht mich so eitel.«

»Das thut mir leid, daß ich es verneinen muß,« antwortete Marie. »Bis hierher würde übrigens Ihr Blick von der Straße aus schwerlich gereicht haben.«

»Kleiner Eigensinn!« sagte der Graf.

»Wollen wir gehen?« fragte Marie, indem sie aufstand. Sie werden schon lange erwartet.«

»Nein, Marie, bleiben Sie!« rief der Graf, der auch aufgestanden war. »Die Gelegenheit ist zu günstig, und ich bin zu ungeduldig.« Georg wollte sich entfernen, der Graf hielt ihn zurück. »Bleibe auch Du,« rief er, »Du bist ja ich. Marie, Georgs Liebe zu mir und seine großmüthige Seele haben jedes andere Gefühl überwunden; er wird sich freuen, Sie durch mich glücklich zu sehen.«

»Ich bitte selbst für meinen Freund bei Dir,« sagte Georg, der seinen Freund in einen andern Ton bringen wollte. »Deine Eltern werden ihm hoffentlich nicht entgegen sein, theure Marie.«

»Wie sollten sie das?« fragte Graf Solms.

»Haben Sie doch auch erst um die Einwilligung Ihrer Mutter reisen müssen,« sagte Marie.

»Ja, das war etwas Anderes,« antwortete der Graf. »So frei, wie Sie sich gestellt haben, liebe Marie, und so fein, wie meine Mutter darin fühlt, mußte ich ihre Einwilligung immer als ein Opfer ansehen, das sie meinem Glücke brachte.«

»Wirklich?« fragte Marie.

»Albert, ich bitte Dich!« rief Georg.

Der Graf sah recht gut Mariens Empfindlichkeit; seine Mutter hatte ihm auch gesagt, daß er sie finden würde. Aber sie hatte ihm auch gesagt, er solle sie nicht beachten, sondern gleich beim Antrage fordern, was er fordern könne. Mariens Stolz müsse so schnell als möglich gebrochen werden, und wenn sie noch zu fürchten habe, den Grafen zu verlieren, werde sie sich in Alles fügen, was er verlange. Diesen Vorschriften folgend, that der Graf denn, als habe er weder Marie noch Georg gehört, und fuhr ruhig in seiner Rede fort.

»Meine Mutter hat eingewilligt,« sagte er, »aber freilich nur unter einer Bedingung.«

»Und diese eine Bedingung?« fragte Marie.

»Daß Sie Ihre schriftstellerische Oeffentlichkeit aufgeben,« sagte der Graf. »Auch ich hoffe das von Ihrer Liebe. Ich könnte es eben so wenig als meine Mutter ertragen, meine Frau öffentlichen Urtheilen preisgegeben zu sehen.«

»Ah, Sie könnten es nicht ertragen?« wiederholte Marie, deren Farbe sich zum brennendsten Roth erhöhte.

»Was sagen Sie, Marie?« fragte der Graf zärtlich.

»Daß ich für die Ehre danke, Ihre Frau zu werden, Graf Solms,« antwortete sie mit bekämpfter Stimme. Ihr Buch war vorhin von der Bank auf den Boden gefallen; sie wollte es aufheben, Georg kam ihr zuvor, sie nahm es und sagte: »ich halte Sie nicht länger auf.«

»Marie!« rief Solms, »entscheiden Sie nicht so rasch, nicht in aufgereizter Empfindlichkeit; bedenken Sie, daß es sich um unser Glück handelt!«

»Um das meinige nicht,« antwortete sie.

Er versuchte ihrem Blick zu begegnen, den sie auf die ferne Gegend richtete. »Ich habe geglaubt, Sie lieben mich, Marie,« sagte er.

»So haben Sie sich geirrt,« gab sie zur Antwort.

»Sie müssen mich anhören!« rief er.

Der Zorn blitzte in ihren Augen auf. »Ich habe gewünscht, allein zu bleiben,« sagte sie heftig.

»So bleiben Sie es!« rief er noch heftiger und eilte auf einem Seitenwege in den Park. Georg stand einen Augenblick zweifelhaft zwischen dem Freunde und der Cousine; diese hatte sich von ihm abgewandt und sah wieder in die Gegend; er ging jenem nach.

Er fand ihn auf einem der Rasenplätze in der heftigsten Aufregung auf und nieder gehend.

»Nun, was sagst Du?« rief Solms ihm entgegen.

»Ich habe Dich nicht begriffen, Albert,« sagte Georg. »Es war, als hättest Du es darauf angelegt, Marie zu verlieren.«

»Was hab' ich denn gethan?«

»Du hast gethan, als erwiesest Du ihr eine Ehre, indem Du um sie würbest.«

»Es ist auch eine Ehre für ein Mädchen, wenn ein Mann von Achtung, Ansehen und Vermögen sie wählt.«

»Keine größere Ehre, als es für den Mann ist, wenn ein solches Mädchen sich von ihm wählen läßt.«

»Ich bitte Dich, laß uns nicht noch streiten. Das war es auch nicht. Ihre Eitelkeit wollte nicht die Lobhudelei einiger erbärmlichen Journale aufgeben, das war die Ursache. Und ich mußte doch fordern, was ich forderte; ich kann keine Frau haben, die schreibt.«

»Ich begreife nicht, daß Du es nicht kannst. Indessen wenn Du es meinst, und meintest, Deine Forderung thun zu müssen: so mußtest Du sie anders thun, als Bitte, und erst dann, wenn Marie Dich so liebte, daß sie Dir zu Liebe Alles that. Dann hätte sie gethan, was Du wolltest; es wäre für sie das größte Opfer gewesen, denn sie bedarf wie jedes Genie der Bewunderung der Mehrheit, aber sie hätte das Opfer gebracht. So aber sprachst Du von diesem Aufgeben wie von einer Bedingung – ich wußte augenblicklich, wie es enden würde, aber Du sahest gar nicht auf mich.«

»Weil ich nicht wollte.«

»Das ist allerdings die einfachste Ursache. Aber so mußte auch entstehen, was entstanden ist.«

»Ich bitte Dich, mache nicht etwa Versuche, uns auszusöhnen.«

»Ich denke nicht daran, lieber Albert. Zwischen Marien und Dir ist es auf immer geendet, darauf kenne ich sie. Aber Deine Stellung wird ihr gegenüber jetzt sehr unangenehm sein.«

»Ich bleibe nicht hier. Ich sage dem Baron, daß unvorhergesehene Geschäfte mich ohne Aufschub nach der Residenz fordern. Du bleibst hier; in einigen Wochen fahre ich vor, um Dich abzuholen.«

»Aber Du hast ja die Postpferde zurückgeschickt, und Dein Wagen ist zerbrochen.«

»Der Baron giebt mir Wagen und Pferde.«

»Sollen wir sagen, daß wir Marie schon sahen?«

»Allerdings; wenn wir es auch nicht sagten, würde man uns danach fragen.«

»Aber man wird sich verwundern.«

»Alberner Verwunderung kann ich in keinem Falle entgehen; ich hoffe jedoch, man wird sie gegen mich nicht aussprechen. Komm.«

Sie gingen durch den Park und traten bald in den Saal, wo man überrascht war, sie von dieser Seite ankommen zu sehen. Solms gab die nöthigen Erläuterungen, sagte zugleich, er müsse in einer Stunde wieder fort und bat um Pferde. Die Baronin verbarg ihr Erstaunen und sagte, ihr Mann werde ihn gern nach der Residenz fahren lassen. Sie sah sich nach dem Baron um; er war vor einigen Minuten Anlow aus dem Saale gefolgt. Sie bat Herrn von Rosen, zu schellen; er wollte es thun, da entstand draußen Bewegung, durch welche Franz rief, man solle Douglas satteln. »Mein Gott, was ist denn?« sagte die Baronin und ging nach der Thür, als Franz diese öffnete. »Was ist, Franz?« fragte sie. »Liebe Tante,« sagte er so ruhig, als er konnte, »der Onkel läßt Dich bitten, Du möchtest heraufkommen zu Herrn von Anlow; er hat den Blutsturz wieder bekommen.« Alle erschraken, die Baronin ging sogleich hinauf; Franz mußte erzählen. Er sagte, Anlow's krankes Aussehen sei dem Onkel aufgefallen; er sei Anlow nachgegangen; dieser habe auf des Onkels Frage schon nicht mehr antworten können; der Onkel habe gerufen und befohlen, den Arzt zu holen. »Ich will selber reiten,« sagte Franz; »ich bin am schnellsten in der Stadt.« Er hatte nur noch Zeit, seinen Freund Georg zu begrüßen; dann sprengte er durch die Wiesen nach jenem Städtchen, von welchem er nach einer Stunde mit dem Arzt zurückkehrte. Der Baron, der nicht ohne medizinische Kenntnisse war, hatte unterdessen schon mit Erfolg die zweckmäßigsten Mittel angewandt, und der Arzt gab die Versicherung, daß keine Gefahr, nur die größte Schonung und Sorgfalt nöthig sei. – Der Graf war bisher in der allgemeinen Unruhe ziemlich übersehen worden; jetzt gelang es ihm endlich, sich Gehör und dann auch Wagen und Pferde zu verschaffen. Er fuhr ab, der Baron ging wieder zu Anlow, die Baronin aber kam jetzt herunter, und indem sie nun erst Georg eigentlich bewillkommte, fragte sie zugleich nach Marien. Man sagte ihr, Marie sei noch im Garten; Georg sagte nichts, denn sie waren glücklicher Weise nicht gefragt worden, ob sie Marien gesehen hätten, und so hatte Graf Solms doch nicht für gut gefunden, es zu erwähnen. Die Baronin sagte, sie wolle Marien entgegen gehen und ihr Anlow's Zufall mittheilen; sie setzte hinzu: »man kann über Alles erschrecken, wenn es einem ungeschickt erzählt wird.« – »Ja,« sagte Herr von Rosen, »besonders da Fräulein Marie so befreundet mit dem armen Anlow war, wird es ihr leid thun um ihn.« – »Sie thun ja, als ob er schon aufgegeben wäre,« sagte die Baronin. »Er wird auch sterben,« sagte Herr von Rosen ernsthaft. »Ja, an seinem Todestage, aber heute und morgen, so Gott will, nicht,« antwortete die Baronin etwas unwillig und ging hinaus. Herr von Rosen eilte ihr nach. »Darf ich Sie begleiten?« – »Bleiben Sie,« antwortete Pauline, »ich mag keinen Todtenvogel bei mir haben.«

Sie ging durch den Park, in dem es zu dämmern anfing. »Marie!« rief sie, »Marie!« – »Hier, Paule!« antwortete Marie aus einem dunklen Gange. »Hattest Du Angst um mich?« fragte sie, als Pauline sie umfaßte. »Nein,« antwortete Pauline, »aber ich wollte Dir einen Schrecken ersparen, indem ich Dir sage, daß Anlow recht krank war.« Marie fuhr zusammen; Pauline fühlte es, aber sie that, als hätte sie es nicht bemerkt, und erzählte ruhig weiter von Anlow. Als sie schwieg, sagte Marie mit einer Stimme, die eben erst Laut bekommen zu haben schien: »laß uns noch etwas hier bleiben.« Sie gingen in dem dunklen Baumgange auf und ab; es war nicht feucht darinnen, weil der Boden von Kies war.

Nach einer Pause sagte Pauline: »Und Solms ist wieder abgereis't.«

»So?« fragte Marie.

»Du wußtest es nicht?«

»Nein; doch ich konnte mir es denken. Unter welchem Vorwand denn?«

»Unter dem nothwendiger Geschäfte. Georg ist hier geblieben. Sie kamen aus dem Garten – Du mußtest sie schon gesprochen haben?«

»Ich hatt' es.«

»Marie – was hat Solms Dir gesagt?«

»Daß er die Güte haben wolle, mich zu heirathen, wenn ich erst seiner würdig, das heißt, nicht mehr Schriftstellerin wäre.«

»Marie, ich bitte Dich!«

»Das war der Sinn, Pauline. Und dazu ein Benehmen, als ob er schon Herr wäre.«

»Aber waret Ihr denn nicht schon einig, ehe er abreis'te? Du sagtest mir nichts darüber, doch ich glaubte es.«

»Ich konnte Dir nichts sagen, Paule, ich habe auch der Mutter nichts gesagt. Es war mir unmöglich; ich konnt' es nur an den Vater schreiben. Auch war noch nichts fest besprochen. Solms hatte mir blos gesagt, wenn er zurückkomme, werde er um ein Wort bitten.«

»Und kam so wieder, und Alles ging in Georgs Gegenwart vor?«

»Und kam so wieder, und Alles ging in Georgs Gegenwart vor.«

»Da konntest Du nur eine Antwort haben, aber nun ist es auch aus. Arme Marie!«

»Bedaure mich nicht, Paule, es ist gut so gekommen.«

»Dann liebtest Du ihn nicht!«

»Nein.«

»Das hätte ich nicht geglaubt.«

»Auch ich habe mich einmal getäuscht, aber anders, als das erste Mal. Zu Georg zog mich die allgemeine Liebessehnsucht, zu Solms die Phantasie. Er war schön und glänzend, er liebte mich und widerstrebte mir zugleich. Da verstrickte ich mich in meinen Träumen.«

»Und wann fühltest Du, daß Du Dich verstrickt hattest? An dem Abend des Gedichtes?«

»Nein, da war noch Alles Täuschung um mich her, und ich hatte noch etwas Unerreichtes vor mir – Solms zu bezwingen. Als ich das erreicht hatte, da zog er mit Liebesblicken einen Kreis um mich her, in welchem ich gebannt blieb und träumte: ich liebte. Erinnerst Du Dich noch der einen Stelle aus ›Melanie‹ – ihrer Antwort, als sie der Koketterie beschuldigt wird?«

»Gewiß. ›Es giebt Stunden, wo unter dem Einflusse des Mondes oder der Abendröthe aller Stolz in Weichheit schmilzt, alle Selbständigkeit zum Bedürfniß der Abhängigkeit wird. Dann können wir uns von jedem Menschen fragen: könnte ich ihn nicht lieben? Dann sehen wir ihn darauf an, und dann sind wir am Morgen wieder vernünftig, und dann nennt man uns kokett.‹ War es nicht so?«

»Ja, meine Paule, und so war es auch mit mir. Ich sah Solms an und wünschte so unaussprechlich zu lieben, daß ich dachte, ich thät' es. Und am Morgen fühlte ich Bangigkeit, und dann Tag für Tag mehr, daß ich mich getäuscht. Deshalb wurde ich auch so ernst. Hast Du das nicht bemerkt?«

»Wohl, und ich verstand Dich nicht. Aber Marie, wenn nun Solms zurückgekommen wäre, wie er gegangen war, und Dich ohne Bedingung um Deine Liebe, um Dein Glück gebeten hätte – was hättest Du ihm geantwortet?«

»Nicht daß ich ihn liebe, wie die Wahrheit meines Lebens, aber mein unausgesprochenes Wort hätt' ich gehalten.«

»Und wärest unglücklich geworden?«

»Vielleicht, aber zum dritten Male einen Liebenden von mir weisen, das hätt' ich nicht gethan.«

»So ist es recht gut, daß seine Mutter ihm den Kopf verdreht und ihm eingeredet hat, es sei eine Ehre für Dich, daß er Dich liebe. Ich athme überhaupt recht auf, nun ich weiß, daß es geendet ist. Ich hatte mich in Solms auch getäuscht; je näher ich ihn kennen lernte, desto weniger gefiel er mir, und nur mit großer Besorgniß sah ich Dich seine Annäherungen annehmen; aber ich bin nicht dazu da, um Dich zu hofmeistern.«

»Nein, blos dazu, mich zu verstehen und zu entschuldigen, wenn Andre mich sehr natürlich nicht verstehen, mein liebes Herz!«

»Wer sollte Dich denn auch verstehen, wenn ich es nicht thäte, Marie? Uebrigens thut Anlow mir es jetzt ganz gleich darin.«

Hier kam Georg den Freundinnen entgegen und sagte: »Verzeihung, daß ich Euch störe; aber die Tante fragte mich, ob ich nicht Marien entgegengehen wollte, um sie nicht so vor der ganzen Gesellschaft begrüßen zu müssen, und da that ich es, denn ich wünschte nicht, daß sie ahnen sollten, wir hätten uns schon gesehen.«

»Georg,« sagte Marie, »Du bist gewiß recht unwillig auf mich, denkst selbst recht schlimm von mir?«

»Nein; Solms war unzart. Von Dir denk' ich nur, daß Du ihn nicht geliebt hast.«

»Wie, Georg, das hättest Du errathen?«

»Ich habe in trüben Tagen Dein Wesen genug durchdacht, um es endlich zu verstehen. Du wirst immer mehr geliebt werden, als Du lieben wirst.«

»Das hoff' ich nicht.«

»So wird Deine Hoffnung sich nicht erfüllen, aber meine Worte werden es. Du wirst noch oft unglücklich, aber nie glücklich machen.«

»Da müßte ich leichtsinnig und gewissenlos sein.«

»Nein, Du kannst nur nicht lieben. Du sagtest zu mir: ich habe mich getäuscht; Du wirst es jetzt zu Paulinen von Solms gesagt haben; Du wirst es wieder und wieder sagen.«

»Du bist bitter, Georg.«

»Ich bin es. Hätte ich Albert glücklich durch Dich gesehen, so hätte ich vergessen können, was ich durch Dich gelitten habe; jetzt aber kommt jede Erinnerung daran mir zurück.«

»Um dieser Erinnerung willen verzeih' ich Dir auch. Aber meine Seele vor mir zu erniedrigen, gelingt Dir nicht. Ich weiß, daß sie einst lieben wird.«

»Im Traum einen Traum.«

»Nein, Gottes Ebenbild, einen Menschen. Ich bin wie ein Pilger, der von einem Heiligenbilde weiß, vor dem er knieen soll, aber den Pfad in der Morgendämmerung noch nicht finden kann.«

»Und auch nicht finden wird. Ich mache Dir das nicht zum Vorwurf, Marie; Du kannst nicht dafür, es ist ein Mangel in Deiner Natur, aber wahr ist es.«

»Georg,« rief Pauline unwillig, »so dürfte kein Anderer vor mir zu Marien sprechen.«

»Nein,« antwortete er, »denn Keiner kennt sie so. Ich aber kenne sie.«

»Das heißt, Du kennst meine Fehler,« sagte Marie, »aber meine Seele nicht. Sei nicht unwillig, Pauline, Georg kann noch viel sagen, ehe ich zürnen darf. Es darf ja keine Verschuldung ohne Büßung bleiben, und ich habe es verschuldet, daß er an mir zweifelt. Ich will ihm einst antworten, wenn ich den Erwecker meines Herzens zu ihm führen kann. Und jetzt wollen wir hinein gehen.«


Einige Tage waren vergangen und auch die leisesten Besorgnisse wegen Anlow vorüber. Nur war er noch matt, sprach noch wenig und hatte auch noch nichts von der Wiederabreise des Grafen gehört, da er keine Fragen thun wollte und Jeder den Kranken so viel als möglich durch Schweigen schonte.

Der Baron, Hofrath Rein und Franz hatten sich treulich an seinem Bette abgewechselt, und jetzt war die Reihe wieder an Franz. Es fing draußen eben eine leise Kühlung an; Franz hatte die Fenster alle geöffnet, saß, von der Abendsonne malerisch beleuchtet, an einem derselben und sah, mit der Miene eines Bekümmerten, in die Lindenwipfel hinein, denn das Zimmer ging auf den Hof.

Anlow rief ihn und begehrte zu trinken. Franz kam willig, aber mit demselben bekümmerten Gesicht. Anlow sah ihn an und fragte freundlich, was ihm fehle. »Ach, es hat so Jeder seinen Kummer!« sagte Franz, stellte das Glas fort und wollte wieder an das Fenster zurückkehren.

»Bleiben Sie, lieber Franz,« sagte Anlow. Erzählen Sie mir Ihren Kummer.« – »Ich weiß nicht, ob ich darf,« sagte Franz bedenklich. »Ist etwas vorgefallen?« fragte Anlow und richtete sich auf.

»Herr von Anlow, Sie bleiben liegen,« sagte Franz mit Ansehen, »ich muß für Sie stehen. Ja, es ist etwas vorgefallen;« fuhr er fort, indem er sich an das Bett setzte; »der Graf Solms ist eine Stunde nach seiner Ankunft wieder abgefahren und Marie seitdem ein anderes Wesen.«

»Inwiefern?«

»Ich kann es nicht so sagen, man muß es sehen – als wäre sie vergeistigt, so still, so schwebend. Es ist, als betete sie mit jedem Blicke um Kraft, schweigen zu können.«

»Und was glauben Sie?«

»Daß Solms sie verrathen hat, daß sie gehofft hat, er komme um ihretwillen zurück; daß er ihr nun durch diese neue Abreise gezeigt hat, es sei aus zwischen ihnen. Mein Himmel, Marie unglücklich durch diesen unerträglichen Grafen – der Gedanke macht mich heimlich rasend.«

»Fragen Sie doch, Franz.«

»Wen denn, Herr von Anlow? Marie vermeidet jedes Alleinsein mit mir, und mit einem Andern von ihr sprechen – nimmermehr, selbst mit der Tante möcht' ich es nicht; nur zu Ihnen hab' ich über Marie Vertrauen. Aber woran ich schon gedacht habe – daß ich ihr schriebe und sie um Wahrheit beschwöre.«

»Thun Sie das, lieber Franz, und zwar gleich. Dort ist alles Nöthige – gehen Sie schreiben.«

Franz setzte sich dazu nieder. Er war gewöhnt zu schreiben und brachte nach einigen Minuten folgende Epistel:

 

»Theure Marie.

Wenn Ihnen an meiner Ruhe, an meiner Fassung etwas gelegen ist, so beschwör' ich Sie, geben Sie mir wahrhaftige Antwort auf die Frage, die ich jetzt thun werde!

Hat Graf Solms Sie hintergangen? Sind Sie verlassen von ihm, unglücklich durch ihn? Sagen Sie mir es, dann werde ich wissen, was ich zu thun habe.

Wenn Sie nicht aus Mitleid mit sich selber reden wollten, so thun Sie es jetzt aus Mitleid mit

Ihrem

Franz.«

 

»Gut, sehr gut,« sagte Anlow, der in seiner Ungeduld den größten Unsinn gelobt haben würde. »Schellen Sie jetzt, lieber Franz, und heißen Sie den Bedienten auf Antwort warten.«

Franz that es, und in wenigen Minuten kam der Mensch leise mit einem duftenden Briefchen zurück. Franz riß es auf und las:

 

Mein guter Franz.

Ich bin nicht hintergangen, nicht verlassen, nicht unglücklich; im Gegentheile, ich bin in meiner Seele nie glücklicher gewesen, als eben jetzt. Warum? das kann ich Ihnen freilich nicht sagen; glauben Sie aber meiner Versicherung, daß dem so ist, und daß der gute Graf Solms auch nicht den kleinsten Theil daran hat. Ich glaube gern, daß Sie zu allen Ritterthaten bereit wären; doch dieses Mal muß der gute Wille für die That gelten. Morgen fahren Sie mich auf dem Teiche, heute pflegen Sie Ihren Kranken gut.

Marie.«

 

»Sie lacht mich aus!« sagte Franz, nachdem er gelesen hatte. »Nun, das will ich mir gern gefallen lassen.« – »Geben Sie einen Augenblick her –« sagte Anlow und durchlief noch einmal das Briefchen. Er behielt es, scheinbar ohne Absicht, in der Hand, während er mit Franz weiter über Marie und Solms sprach. Nach einer Unterhaltung von einer Viertelstunde schien er müde zu werden und plötzlich einzuschlafen. Franz wagte nicht, ihm das Briefchen aus der Hand zu ziehen, sondern ging vorsichtig an das Fenster zurück. Anlow erwachte nicht eher, als bis der Baron kam, und in der Gegenwart des Onkels mochte Franz das Briefchen nicht fordern. So behielt es Anlow, und es war, als sei es ein Talisman gewesen, denn der Arzt fand am andern Morgen seinen Kranken so merklich besser, daß er ihm erlaubte, das Bett mit dem Sopha zu vertauschen.

»Darf er auch den Besuch der Damen annehmen?« fragte der Baron.

Der Arzt war ein trockner, etwas ironischer Mann. »Wünschen die Damen Herrn von Anlow zu sehen?« fragte er.

»Sehr lebhaft!« antwortete der Baron.

»Sehr schmeichelhaft,« sagte der Arzt.

»Nur neugierig,« fuhr der Baron fort. »Sie wollen sehen, ob er interessant aussieht.«

»Einige Zerstreuung ist gut, zu viele wäre schädlich,« sagte der Arzt. »Ich muß daher bitten, daß die Damen nicht zu viel sprechen; Frau von Willert ersuche ich besonders darum. Alles sehr Geistreiche ist streng zu vermeiden. Endlich dürfen nur drei Damen auf einmal ihn unterhalten.«

»Gut,« sagte der Baron und ging den Damen die ärztliche Verfügung mittheilen. Sie freuten sich, Anlow von nun an die Zeit vertreiben zu können, denn sie hatten ihn alle gern. Ein Zimmer neben dem seinigen wurde rasch zum Gesellschaftszimmer eines Kranken eingerichtet, und er empfing eine Stunde darauf den Besuch der Baronin und der Frau von Unruh. Dann wurden diese durch Frau von Goldhand abgelöst, welcher Fräulein von Goldhand folgte. Frau von Willert war einstimmig für die geistreichste erklärt worden und sollte deswegen zuletzt kommen. Marie war gesucht, aber nicht gefunden worden, weil sie nach dem Teiche gegangen war. Franz wartete bei dem Fischerhäuschen schon mit dem Kahn auf sie, sah aber zu seinem nicht geringen Verdruß Herrn von Rosen mit ankommen, welcher Marie durchaus hatte begleiten wollen. Marie hatte es ihm endlich erlaubt, aber nur unter der Bedingung, daß er nicht mitzufahren gedenke, weil sie im Teiche Bilder fischen wolle und in seiner unruhigen Gegenwart nicht die Angel des Sinnes auswerfen könne. Herr von Rosen hatte sich darein gefunden und blieb denn am Ufer zurück, was Franzens Laune wieder herstellte. Eine Zeit lang stand Herr von Rosen noch am Ufer; dann aber fand er, daß er sich langweile, und kehrte nach dem Schlosse zurück.

Der Teich war spiegelhell, sein Wasser wallte kaum in dem leisen Lufthauch, welcher aus den Gebüschen herüberschlich. Das Grüne an den Ufern glänzte in Saft, Thau und Sonnenlicht; von den Wiesen klangen Heerdenglocken und das Rauschen von Sensen in dem hohen Grase. Dazu sangen die Lerchen.

Marie saß im Kahne wie die Jugend, die sich auf der Sorglosigkeit wiegt. Wer Franzens gestrige Beschreibung gehört und jetzt Marie gesehen hätte, würde dem jungen Menschen gewiß abgerathen haben, sich je wieder auf Beschreiben einzulassen. Auch Marie sah den guten Jungen mit lachenden Augen an.

»Lieber Franz,« sagte sie, als sie weit genug vom Ufer waren, um von Herrn von Rosen nicht mehr gehört zu werden, »lieber Franz, ich habe Sie gebeten, mich zu fahren, weil ich Ihnen den Dank, den ich Ihnen schuldig bin, in einer poetischen Umgebung abstatten wollte. Empfangen Sie ihn denn jetzt, hier auf der silbernen Flut des Teiches, vor den Ohren aller vortrefflichen Fische darinnen und im Angesicht der Hängeweiden, von denen ich, Gott sei Dank, noch keinen Kranz brauche.«

»Ich wußte schon, daß so etwas kommen würde,« sagte Franz. »Indessen wenn Sie nur lachen können, liebe Marie, so will ich mir gern gefallen lassen, daß Sie über meinen guten Willen lachen.«

»Ueber Ihren guten Willen lache ich nicht, Franz, denn dann verdient' ich ihn nicht,« antwortete Marie. »Aber darüber lache ich, daß Sie so ohne Weiteres angenommen haben, ich sei sitzen geblieben.«

»Und was sollte ich denn glauben, nachdem ich Solms früher so eifrig bei Ihnen gesehen hatte und nun mit einem Male so gleichgültig sah, daß er, kaum gekommen, wieder davonfährt?«

»Franz, sie sind kostbar mit Ihrer Naivetät, in welcher schon die ganze Eitelkeit des künftigen Mannes erscheint. Sinnen Sie doch einmal nach – läßt sich denn keine andere Erklärung von der Abreise des Grafen finden?«

»Etwa, daß Sie ihn fortgeschickt haben?«

»Endlich! Nicht wahr, jetzt tagt es? Aber es ist lange nächtlich gewesen.«

»Nein, das wäre mir nicht eingefallen. Ich dachte immer, Sie liebten den Grafen so, und bin im Stillen unglücklich genug darüber gewesen, denn ich fand ihn unausstehlich.«

»Ich will nichts Nachtheiliges über den Grafen gesagt haben, und bitte Sie auch, Alles, was ich Ihnen gesagt habe, so anzusehen, als hätt' ich es vor Ihren Augen in den Teich geworfen. Dergleichen Verhältnisse dürfen so wenig als möglich besprochen werden, nur so viel, als zu Erklärungen unumgänglich nothwendig ist. Auch wir haben über dieses zum ersten und letzten Mal gesprochen, und wenn Sie je darüber gefragt werden, so sagen Sie nur, Sie könnten nichts sagen, das ist nicht gelogen, denn Sie können es auch nicht, weil ich es Ihnen hiermit feierlich verbiete.

So muß auch ein Mann es verschweigen, wenn er eine Neigung erregt, die er nicht erwiedern kann. Es ist selbst feiner, wenn er sich auch einer Neigung, die ihn beglückt, nicht rühmt. Die Geliebte wird ihm dieses Schweigen sicher vergelten.«

»Ich werde mir das alles merken, Marie, um Gebrauch davon machen zu können, wenn ich einmal lieben werde.«

»Deswegen sag' ich es Ihnen, Franz. Ein junger Mann, der auf solche Worte von einer Freundin gehört hat, wird es nie bereuen.«

»Es hat aber nicht jeder eine solche Freundin.«

»Wenn nur jeder sie haben wollte – die Frauen sind gutherzig und bringen auch gern ihr bischen Weisheit an. Aber eben denk' ich daran – was macht Anlow heute?«

»O, er ist außerordentlich wohl; ich war, ehe ich hierher ging, einen Augenblick bei ihm. Gestern Abend war ich schon wieder unruhig, denn er schlief immerwährend und hat bei der Gelegenheit auch noch Ihr Briefchen behalten.«

»Wie das?«

»Er schlief ein, während er es in der Hand hatte, und heute war ich noch nicht allein mit ihm und konnte – aber, Marie, wie unvorsichtig – der Kahn konnte im Nu umschlagen! Wenn Sie die Lilie wollen, warum sagen Sie mir's denn nicht, statt sich so hinaus zu biegen? Sehen Sie, wie roth sie vom Schrecken geworden sind. Ich kann ja hier stillhalten. – So – nun pflücken Sie sich die Lilie.«

»Und die dort will ich auch noch haben, Franz.«

»Nun, hier sind wir. Welche schöne Gruppe! Wo stand das doch, von der Nymphäa, die nur bei Mondlicht blühet?«

»Ich weiß nicht mehr, Franz. O, ihr meine weißen Blumen, auf der grünen Blätterinsel!«

»Die Sage von jener Nymphäa ist indisch, wenn mir recht ist.«

»Ich glaube – in Indien leben die Blumen. Diese Sage ist die Memnonssage Anspielung auf die tönende Memnon-Statue (aus Stein, nicht aus Erz, wie ältere deutsche Text von der sog. »Memnonsäule« sprechen): es handelt sich um Geräusche, die der rechten Statue der beiden Memnonkolosse im oberägyptischen Theben jeden Tag bei Sonnenaufgang entwichen; ihr Ursprung dürfte in Vibrationen der großen Bruchstelle des Kolosses beim schnellen Durchgang der nächtlichen Kälte durch die Erwärmung der ersten Sonnenstrahlen zu suchen sein. Die namentliche Verbindung der Kolosse mit Memnon, einem halbgöttlichen König der Äthiopier, stammt aus griechisch-römischer Zeit und steht im Zusammenhang mit der homerischen Erzählung um Troja. Dort ist Memnon der Sohn der ›Göttin der Morgenröte‹ Eos und Tithonos, dem Sohn des trojanischen Königs Laomedon. Er wird vor den Toren Trojas durch Achilleus getötet. Seine Mutter Eos entführt Memnons Leichnam nach Aithiopia und beweint ihn noch immer. Ihre Tränen, die jeden Morgen als Tau vom Himmel fallen, rührten den obersten olympischen Gott Zeus so sehr, dass er Memnon Unvergänglichkeit gewährte. Seitdem antwortet er morgendlich seiner Mutter Eos mit einem Klagelaut, wenn sie ihn mit den ersten Sonnenstrahlen streichelt., in die Pflanzenwelt übersiedelt. Das Erz tönt, und die Blume bricht auf. Und so tönt das Herz und bricht auf, wenn es ihm Morgen wird, oder sein Mond ihm aufgeht.«

»Und wird Ihr Herz wol einmal tönen und aufbrechen?«

»Das wird's, aber Keiner wird es hören und sehen. Franz, sehen Sie, dort hängen die Vergißmeinnicht fast in das Wasser.«

»Und da wollen Sie hin?«

»Noch näher, guter Franz. Jetzt kann ich sie erreichen. Ah, das Gras schneidet einen in die Finger.«

»Warum haben Sie denn die Handschuhe ausgezogen?«

»Ich will mir sie nicht verderben.«

»Also eher die Hände, als die Handschuhe?«

»Ja, die Hände hab' ich, die Handschuhe muß ich kaufen, und ich muß erst wieder eine Novelle schreiben, um Geld zu bekommen.«

»Wie, ist das letzte schon alles fort?«

»Alles fort für Bücher und Handschuhe. Ja, wir Dichter können nicht wirthschaften – fliegen und singen wie die Vögel, das ist unser eigentliches Treiben, wie es uns angeboren ist.«

»Fliegen Sie mir nur nicht fort, Marie.«

»Nein, Franz. Da steht Kalmus – von dem will ich ein Paar Blätter, und von dem Schilfe dort etwas – so – nun sind meine Geschäfte am Ufer beendigt; nun fahren Sie mich hin mitten auf die blaue Wasserfläche, und ich binde meinen Strauß, und wenn wir nach Hause kommen, geben Sie ihn unserm Kranken.«

Franz fuhr sie mitten auf den Teich, und sie band den Strauß; die Lilien, mit Vergißmeinnicht vermischt, in die Mitte des Kalmus und des Schilfes. Franz aber gab ihn nicht ab, denn als sie nach Hause kamen, wartete der Baron schon auf Marie, um sie zu den übrigen Damen an Anlow's Divan zu führen, und sie selber brachte ihrem Freunde den Strauß.


Es folgte nun eine recht stille, heitere Zeit. Die Tage waren zwar glühend heiß, aber die Abende dafür auch köstlich warm. Diese brachte man im Garten zu, jene in den kühlen Sälen, welche im Dämmerlicht dalagen. Anlow wurde von Allen gemeinschaftlich gepflegt und konnte bald Abends mit im Garten sein. Marie war am seltensten bei ihm, doch ihr Erscheinen dann auch immer desto lieblicher, um so mehr, da eine wunderbare Heiterkeit sie jetzt verschönerte, sie mochte sprechen oder schweigen. Wer ihr noch abgeneigt gewesen wäre, hätte ihr jetzt hold werden müssen: so erquickend strömte ihr ganzes Wesen wie eine blühende Pflanze Duft, Jugend und Leben aus. Warum sie so heiter war, das sagte nicht; wenn man sie fragte, so lachte sie und antwortete: »ich habe kein Darum zu sagen. Vielleicht weil jetzt der Himmel so blau ist und der Mond so golden scheint, und weil die Rosen so duftend blühen. Das Gefühl des Glückes quillt manchmal im Herzen auf, wie eine Quelle aus dem Verborgenen des Lebens, ohne äußerliche Ursache. Genug, ich bin glücklich.«

Auch Anlow war glücklich, nur daß es sich bei ihm nicht so offenbarte; aber er war es, denn er hörte in jedem Worte Mariens einen wunderbaren Klang, und dieser Klang hieß Hoffnung. Der Arzt sagte: »ich thue an Herrn von Anlow nichts mehr, den behandelt ein Geist.« Der trockne Mann hatte Recht; Marie brachte an jedem Morgen ihrem Freunde Gesundheit, bis sie ihm keine mehr zu bringen brauchte.

Die Stelle des Grafen Solms war durch seinen Freund Georg mehr als ersetzt. So anmaßend und launisch der Graf gewesen war, so anspruchslos und gleichmäßig in seiner Stimmung war Georg. Er hatte in den Mittelstädten, wo er bisher angestellt gewesen war, keine Gelegenheit gehabt, sich das moderne Wesen anzueignen, welches die jungen Männer im Salon schon unliebenswürdig, im engeren Kreise aber ganz unerträglich macht. Er hielt es noch für seine Pflicht, aufmerksam gegen die Frauen zu sein, und gewann sich dadurch hier bald eine gute Stellung. Er hörte nur freundliche Worte und sah nur freundliche Blicke, und wo Herr von Seebach nicht war, da fehlte Alles.

So wie er recht hübsche Verse machte, sang und zeichnete er auch recht hübsch. Beides brachte ihn natürlich in vielfache Berührung mit Fräulein von Goldhand, und ein Plan, den Frau von Willert faßte, mußte die jungen Leute ganz zusammen bringen.

Dieser Plan bestand in einem gemeinschaftlichen Aufnehmen der schönsten Punkte im Park und in der Umgegend. Diese Skizzen sollten dann in ein zierliches Album geklebt und dieses der Baronin an ihrem Geburtstage, der in vierzehn Tagen war, überreicht werden. Der Zeitraum war sehr kurz, aber wenn nur der Eifer groß war, so konnte man schon noch ein mäßiges Album zuwege bringen; denn wie Frau von Willert mehrmals wiederholte, es durften ja nur Skizzen sein. Georg war gern bereit dazu, Zeichenmaterialien waren in Fülle vorhanden, Frau von Willert besorgte das Album aus der Residenz und klebte die fertigen Blätter ein, und so ging das Unternehmen ganz nach Wunsch vorwärts. Daß auch noch etwas Anderes dabei vor sich gehe, das sahen sowohl Frau von Goldhand, als Frau von Willert; aber sie sahen darin nichts Unerwünschtes, sie begleiteten vielmehr immer lieber die Spaziergänge, welche das junge Paar machte. Von den Andern erfuhr dieses denn auch keine Störung, und so wurden die beiden Herzen zugleich mit dem Album voll.

Franz war auch beschäftigt, aber nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Scharfsinne, und zwar an der Erleuchtung, welche den Abend des Geburtsfestes verherrlichen sollte. Durchsichtiges von allen Gestalten und Kugelförmiges von allen Farben ging unter seinen Händen hervor, und er versprach Marien, der Garten solle an diesem Abende wie der einer Fee aussehen.

Herr von Rosen hatte sein Herz auf das Spanische gesetzt und war den ganzen Tag hindurch darüber her, eine Novela des Cervantes mit Hülfe Mariens und des Wörterbuches und mit großer Mühe in eine Novelle zu verwandeln. Unbeschäftigt waren also nur der Baron, die Baronin, Frau von Unruh, Hofrath Rein und Marie, und sie waren es auch, die Anlow's Gesellschaft ausmachten. Schöne Stunden wurden von diesen Uebereinstimmenden im Gespräche verlebt, und die Blüthen an den Granatbäumen und Lorbeerreisern, welche meistens die Umgebung der Redenden bildeten, entfalteten sich nicht glänzender, als die Gedanken. Wie die Orangenblüthen Duft, so hauchten Mariens Lippen Poesie dazwischen. Es kamen keine Gewitter über das Land und keine stürmischen Empfindungen in die Herzen. Der Geist leuchtete wie die Sonne, und Sommerstille war in Allen, wie auf den Feldern voll reifender Aehren.

In dieser Stille wäre das leiseste Wort von Bedeutung vernommen worden, aber weder Marie, noch Anlow, ließen eines über die Lippen. Sie sprachen selbst nicht viel mit einander, aber Jedes hörte zu, wenn das Andere sprach, und was sie sagten, klang immer harmonisch in einander.

Marie vermied auch, mit ihrem Freunde allein zu sein; und auch Anlow suchte es nicht. Die Baronin wollte ungeduldig werden, aber Frau von Unruh sagte: »schweige, Liebe, ein Wort kann Liebende für immer verstören und Alles zerstören. Ich will Marien in das Handwerk pfuschen und ein Bild brauchen. Bei der Hebung eines Schatzes darf kein Wort gesprochen werden; spricht man eines, so versinkt der Schatz. Laß die Beiden ruhig – ich ahne es, daß sie sich sicher und zum reinsten Glück finden.« Die Baronin schwieg, und die Liebe in den beiden verschlossenen Herzen wuchs, wie das Gold im Schachte, heimlich fort.

Anlow schrieb keine Tageblätter mehr, auch keine Briefe an Freunde; Marie aber schrieb an ihren Vater.

 

»Die Mutter hat mir gesagt, sie habe Dir Alles erzählt – sie hat mir auch gesagt, Du seiest beruhigt und auch nicht unzufrieden mit mir. Gewiß auch nicht unzufrieden mit mir, Vater, lieber Vater? Du, der so fest und so klar ist, kannst Du Dir Dein träumendes Mädchen wirklich denken? Deine nachsichtige Liebe muß es thun, sonst müßtest Du, Ruhiger, mich tadeln. Und doch, kann das Herz, das so oft in einer Minute schlagen muß, so viel zu thun hat, sich immer gleich auf das Wort besinnen, das der Rechte sagen muß? Die Falschen sagen auch schöne Worte, die beinahe wie das des Rechten klingen, und das Herz hat sich immer schon halb geöffnet, ehe es seinen Irrthum gewahr wird und sich eilig wieder schließt.

Noch mehr Schuld aber hat die Phantasie, die liebe Lügnerin, die immer in die Welt hinausschaut und bei Jedem, der da kommt, ausruft: ach, da ist der Rechte! Gutes Herz, der Rechte kommt! Und, die Rosen wissen es, so oft sie einen schon belogen hat; man glaubt ihr immer wieder, wenn sie einem so treuherzig etwas versichert, vielleicht weil sie selber an ihre Lügen glaubt. Es ist auch wahr, sie tanzt auf dem Regenbogen von der Erde in den Himmel – wie kann sie da wissen, daß wir nicht darauf gehen können! Und wenn sie vom Sehen und Hören satt wird: wie soll sie da begreifen, daß wir grobe Nahrung brauchen?

Du siehst, ich kann nicht von ihr lassen, so irre sie mir mein armes Herz auch schon geführt hat. Ich hoffe nämlich, das Herz wird jetzt klüger geworden sein und nun seinerseits der Phantasie sagen: ›Da flattre einmal hin, von dort, ahnt mir es, wird der Rechte kommen.‹ Lebe wohl, mein Vater! Ich bin sehr glücklich und liebe Dich sehr innig als

Dein verzogenes Kind

Marie.«

N. S.

Du weißt, daß Georg hier ist. Im Anfange mocht' er gar nicht viel von mir wissen; doch ist er so allmälich wieder in die alte Gewohnheit, mich liebzuhaben, hineingekommen. Aber auch nur lieb hat er mich. Sonst regiert ein anderer Stern.«

 

Nach diesem Briefe schrieb Marie folgendes Gedicht:

Ich habe sonst in vielen Stunden
Mein liebeloses Herz verklagt,
Jetzt hab' ich meine Liebe 'funden,
Jetzt hat sie mir mein Herz gebunden,
Und ich bin eines Mannes Magd.

Ich hatte nur geträumt von Lieben,
Jetzt lieb' ich und bin freudig wach;
Die Ungewißheit ward vertrieben,
Kein Zweifel ist zurückgeblieben,
Daß auf in mir die Blüthe brach.

Doch still und heimlich will ich tragen
In meiner Brust das süße Glück;
Wird er mit leisem Wort mich fragen,
Dann werd' ich ihm die Wahrheit sagen
Bis dahin blüht und schweigt mein Glück.

Auch mit diesem Gedichte hatte Marie die Bewegung ihrer Seele noch nicht ausgesprochen. Sie trat an das Fenster, der Mond stand da, und das Heer der Sterne um ihn her. Marie faltete die Hände und sah inbrünstig empor. Sie dachte an den Ewigwachenden über allen Schlafenden; Worte an ihn entstanden in ihrer Seele, und sie ging leise zum Tische zurück und schrieb in ihr Tagebuch dieses Gebet:

 

»Ich bete zu dir in der Nacht, wo die Sterne dich verkündigen.

Ich danke dir, daß du die Rosen erschaffen hast, den Abendstern und die weißen Blüthen am Orangenbaume. Ich danke dir, daß du, wie den Früchten den Saft, den Lippen das Wort der Liebe gegeben hast. Ich danke dir, daß du dem Herzen das Gefühl der Liebe gegeben hast, das eine, unaussprechliche, in welchem wir vergessen könnten, daß wir noch nicht unsterblich sind.

In einer Nacht ist der Welt das Heil geboren worden, und in der Stille der Nacht fühle ich jetzt, daß ich liebe. Ich war stolz und ich bin demüthig geworden, ich fühlte mich innerlich kalt, und ich glühe, als hätte mich die Sonne mit ihrem Feuer gefüllt. Das ist die Liebe, die zu fühlen, du Allliebender, mir gegeben hast. Sei gepriesen, dein Kind dankt dir! Ich bitte dich um nichts Irdisches mehr, denn ich habe mein Maaß von Glück empfangen. Thue mit mir, wie du willst, dieser Segen bleibt mir. Rufe mich ab, wann du willst – ich habe gefühlt, was ein Mensch an Entzückung fühlen kann – nun kann es nur bei dir noch größere Seligkeit geben!«

Als Marie das geschrieben hatte, legte sie sich still zur Ruhe.


Das Geburtsfest der Baronin war erschienen und in dem Schlosse und um das Schloß herum Alles in Bewegung. Die Glieder des nachbarlichen Hauses und die übrigen Landherrschaften, zwei Stunden in der Runde, waren aus Herzlichkeit gekommen, die Freunde aus der Residenz desgleichen, die Bekannten aus der Residenz aus gemischten Gefühlen. Unter ihnen waren auch die Geistreichen, welche dieses Mal von Marien so freundlich begrüßt wurden, daß sie zwischen ihren Grundsätzen und ihrer Höflichkeit nicht wenig in die Klemme geriethen. Marie ließ sie darinnen stecken und sich von dem Feste und ihrer Freude weiter tragen. Sie hatte für diesen Tag das Amt der Wirthin übernommen und verwaltete es mit scherzhafter Würde, aber mit wirklichem Glücke. Franz und Leo, der sich wieder Urlaub verschafft hatte, waren ihre Kammerherren. Anlow hielt sich zurück, wurde aber bald mit Fragen und Beileidsbezeugungen überschüttet, da seine Krankheit von Herrn von Rosen der ganzen Welt als etwas Romantisches erzählt worden war. Anlow fand die Fragenden sehr überlästig, mußte aber nichts destoweniger antworten.

Das Album war schon übergeben und sehr schön gefunden worden; nur waren die Geistreichen unzufrieden, daß eine aus ihrem Kreise mit einem Vetter Mariens in so nahe Beziehungen getreten sei. Nachdem sie unter sich mißbilligend darüber gesprochen hatten, sagte die junge Gräfin es dem Fräulein von Goldhand. Diese antwortete: man dürfe sich von einem Vorurtheile auch nicht zu weit hinreißen lassen. »Sie werden unsere gerechte Abneigung gegen die Unruh doch kein Vorurtheil nennen?« fragte die Gräfin. »Doch, theure Gräfin,« antwortete Fräulein von Goldhand; »Sie sind ungerecht gegen Fräulein Unruh.« – »Und Sie sind jetzt gerecht gegen sie geworden?« fragte die Gräfin. »Das war wol natürlich, da ich sie so viel genauer kennen gelernt habe,« erwiederte Fräulein von Goldhand. »Allerdings war es natürlich,« antwortete die junge Gräfin spöttisch; »was macht so ein Vetter nicht?« – »Ich bitte Sie, liebe Gräfin, aus dem unschuldigen Umstande, daß ich mit Herrn von Seebach gezeichnet habe, durchaus nichts zu folgern,« sagte Fräulein Louise empfindlich, und wer weiß, welche Wendung das Gespräch noch genommen hätte, wäre man nicht eben zu Tische gegangen. Hier saß die Gräfin schweigend in verletzter Würde da; Fräulein Louise aber ließ sich von ihrem Nachbar Georg, ohne alle Rücksicht auf sämmtliche Geistreiche, mit dem größten Vergnügen unterhalten.

Nach Tische ging die Gesellschaft auf die Wiese hinter dem Park, wo die jungen Bursche aus dem Dorfe und der Umgegend allerlei trieben. Der Baron sagte, es sei ein sogenanntes Volksfest, und wirklich fehlte auch aller eigentliche Geist bei den Spielen; doch gab das Ganze ein hübsches Bild, und auch die Gesellschaft bekam Lust, nach dem Vogel zu schießen. Mehrere Damen, unter ihnen vorzüglich Marie, die Baronin und die junge Gräfin, schossen sehr gut; Franz, Georg und Leo zeichneten sich aus; Fräulein von Goldhand aber traf nicht, und Herrn von Rosen ging es nicht besser. Er sagte dem Fräulein etwas Zierliches über das Glück, ein gleiches Schicksal mit ihr zu haben; sie antwortete: sie hätte dieses Glück lieber nicht gehabt. Georg sagte: »Ihre Nerven sind von dem Getümmel angegriffen worden, deshalb war ihre Hand unsicher. Erholen Sie sich einen Augenblick im Park – dann versuchen Sie wieder.« Zugleich bot er ihr den Arm, als ob er ihr helfen müsse sich erholen. Marie bemerkte es, daß die Beiden sich entfernten: »Ah, ihr sucht Stille!« rief sie ihnen leise zu. »Ja, das Geräusch kann ermüden, obwohl ich es so in freier Luft bisweilen liebe, wie Rauschen von Wasserfällen und Schwärmen von Vögeln. Aber geht – im Park ist es still wie in einer Karthause.«

So still war es dort nun nicht, wohl aber so einsam, und die Abendsonne erleuchtete auf eine Art, die Franz niemals erreichen konnte. Georg führte das Fräulein zwischen den vergoldeten Bäumen weiter und weiter, bis an eine Stelle, wo man das Geräusch nur gedämpft hörte. Hier bat er sie, sich niederzulassen, und auch um die Erlaubniß, dasselbe thun zu dürfen. Fräulein Louise lächelte holdselig, und Beide saßen nun da und betrachteten den Kies.

Das Schweigen dauerte lange; das Fräulein fing an verlegen zu werden. Georg war es schon, und er hätte um den höchsten Preis kein Wort herausbringen können. Endlich sagte das Fräulein: »es wundert mich, daß Fräulein Marie sich in dem Geräusche wohl fühlt; ich dachte sonst immer: Dichter liebten die Stille.«

Der Bann war gebrochen, und Georg fand seine Stimme wieder. »Ich glaube, Marie liebt so ziemlich Alles,« sagte er, »Geräusch und Stille, Hitze und Kälte, Sturm und Sonnenschein. Sie sagt, es sei Alles aus der Natur.«

»Ich beneide ihr diese allseitige Empfänglichkeit,« sagte Fräulein Louise. »Ich armes, beschränktes Wesen bin nur sehr einseitig empfänglich und gegen alles Uebrige empfindlich – so, zum Beispiel, gegen Lärm, gegen Kälte. Ich kann krank davon werden.«

»Sie sind auch eine zartere Natur, als meine Cousine,« sagte Georg.

»Weichlicher!« sagte das Fräulein.

»Erlauben Sie mir meinen Ausdruck beizubehalten,« sagte Georg, »es giebt kein Wort, das für Ihr Wesen passender wäre.«

»Sie wollen mich idealisiren,« sagte das Fräulein sehr verlegen, »aber es wird Ihnen nicht gelingen.«

»Weil man ein Ideal nicht idealisiren kann,« antwortete er.

Sie schwiegen wieder; dieses Schweigen war noch schlimmer, als das erste; doch Georg faßte darin einen verzweifelten Muth.

»Wissen Sie, gnädiges Fräulein,« fing er wieder an, »wie ich Sie in meinen Träumen am häufigsten sehe? – Wie Sie Unglückliche trösten.«

»Ich muß Ihren Träumen sehr dankbar sein,« lispelte das Fräulein.

»Ich bin auch schon sehr unglücklich gewesen,« sagte er und sah auf den Boden.

»Aber Sie sind es nicht mehr?« fragte sie leise.

»Aber auch nicht glücklich,« sagte er.

Das Fräulein schwieg; Georg fühlte seinen Muth abnehmen; er raffte die Ueberbleibsel zusammen.

»Würden Sie einen Menschen glücklich machen wollen, gnädiges Fräulein?« fragte er.

»Wenn ich es könnte.«

»Selbst wenn ich es wäre?«

»Ich bin nicht so eitel, Herr von Seebach, das zu glauben.«

»Es ist genug, gnädiges Fräulein,« sagte Georg und stand auf.

»Mein Gott, Herr von Seebach,« rief das Fräulein, »geben Sie meinen Worten keine falsche Deutung!«

»Wie soll ich es anders deuten, wenn Sie vorgeben, Sie wüßten nicht, daß ich Sie liebe?« fragte er.

»Haben Sie mir denn das gesagt?« fragte das Fräulein erröthend.

»O, so oft schon!« rief er; »in jedem meiner Blicke, in meinem ganzen schüchternen Nahen!«

»Auf solche Geständnisse dürfen wir aber nicht antworten!« flüsterte das Fräulein.

»Aber auf ein solches, wie ich eben gethan habe?« fragte Georg, indem er seinen Platz wieder einnahm und die Hand der jungen Dame zärtlich ergriff. Fräulein von Goldhand glaubte mit Recht, auf ein solches Geständniß dürfe sie antworten. Georg glaubte, der Park sei in den Himmel verwandelt worden. Die Abendsonne schien, die Blätter lispelten, eine Springquelle im Rasen plätscherte. Es war sehr poetisch.

So sehr Dichterin sie auch war, so prosaisch kam Marie jetzt zwischen die neuen Liebenden und das Entzücken derselben. Auch sagte sie: »ich bitte hundertmal um Verzeihung und bedaure tausendmal; aber man frägt nach Dir, Georg, Du hast Dir drei Preise erschossen und sollst sie jetzt empfangen.: Herr von Rosen wollte schon eine Parkdurchsuchung veranstalten: da sagte ich, daß ich doch ins Schloß ginge und Dich nebenbei suchen wollte. Geh' denn und nimm Deine Preise, aber geh' eilig; sonst kommt Herr von Rosen noch her. Sie, liebe Louise, kommen mit mir und auf einem andern Wege zurück.«

Georg hatte Fräulein von Goldhand angesehen und seine Cousine angehört; sie hatte Recht; er seufzte, stand auf, küßte erst Fräulein Louisen und dann der Cousine die Hand und ging. Nicht ohne Verlegenheit blieb Fräulein von Goldhand Marien gegenüber; aber Marie bemerkte die Verlegenheit Anderer nie, und so hatte auch Fräulein von Goldhand die ihrige bald überwunden. Arm in Arm traten nach einer Viertelstunde die beiden Mädchen auf die Wiese hinaus und sahen sich nach den übrigen Damen um. Da fuhr Marie leise zusammen, denn ihr gegenüber stand Graf Solms, der eben angekommen war und jetzt die ersten Fragen der Hausgesellschaft beantwortete.

Man hatte ihn während der Zeit seiner Abwesenheit so glücklich vergessen, daß man ungemein überrascht war, ihn mit einem Male wieder zu sehen. Er sagte, er würde schon eher gekommen sein, wenn seine Geschäfte ihn nicht gebannt gehalten hätten. Von welcher Art diese gewesen seien, das sagte er nicht, und überging auch die Frage, ob er nur auf heute bleiben könne. Sein Auge suchte unruhig umher; Marie hatte sich unter eine zahlreiche Gruppe gemischt, aber Solms erblickte sie doch. Seine Farbe wechselte, er bezwang sich und eilte nicht; aber er näherte sich jener Gruppe und grüßte das junge Mädchen. Sie hatte sich inzwischen gefaßt und grüßte unbefangen und freundlich wieder. Der Graf blickte sie düster an, als wolle er in ihrer Seele lesen; sprechen konnte er, ihrer Umgebung wegen, nur das Gewöhnliche. Marie nahm sich in Acht, aus der Umgebung herauszutreten, selbst nicht auf dem Rückwege nach dem Schlosse.

Mehrere bedeutende musikalische Talente befanden sich unter der Gesellschaft; man verfügte sich in das Musikzimmer, um sie zu bewundern. Marie hielt sich auch hier immer mitten unter den Damen, und Solms konnte sie nur von fern beobachten. Herr von Rosen beobachtete ihn, das heißt, er ging von einer Stelle zur andern und sah dabei den Grafen immer an, als ob dieser ein Verdächtiger sei und entwischen könne. Franz hatte, so voll ihm der Kopf von der Erleuchtung auch war, doch einen Augenblick gefunden, um sich zu fragen, was Solms denn wieder hier wolle. Auch die übrigen Hausgenossen waren nicht ohne Neugier; Anlow allein schien ganz ruhig.

Während man Eis aß und die Damen und Herren singen hörte, war es allmälich so dunkel geworden, als es in einer sternhellen Juliusnacht werden kann. Die Glasthüren der Säle wurden plötzlich alle geöffnet, und man erblickte den Park in dem Glanze der wirklich sehr gelungenen Erleuchtung.

Eine Zeitlang wurde das schöne Nachtbild von den Sälen aus betrachtet; dann ordnete man sich in Paare, um unter den Lampen umherzuwandeln. In diesem Augenblicke trat Solms zu Marien und bot ihr den Arm. Sie hatte keinen Vorwand, um ihm zu entgehen; sie nahm, schnell entschlossen, seinen Arm an, er ließ die Andern alle vorausgehen und trat mit Marien zuletzt in die duftende, farbige Nacht hinaus.

Marie widerstrebte ihm nicht. Sie fühlte, daß er mit ihr sprechen wolle, und wünschte die Unterredung, die sie nicht abschlagen konnte, wenigstens so bald als möglich überstanden zu haben.

Der Graf schlug einen andern Weg ein, als den, welchen die Gesellschaft genommen hatte. Sie waren allein, er blieb stehen und sagte: »Marie!«

»Was wollen Sie von mir, Graf?« fragte sie. »Können Sie mir verzeihen?« fragte er. »Ich habe Ihnen schon verziehen,« antwortete sie.

»Ja, wie Sie alles verzeihen, weil es Ihre Pflicht ist,« sagte er, »aber nicht wie die Liebe verzeiht.«

»Nein,« antwortete sie, »das kann ich nicht.«

»Auch wenn ich mit der tiefsten Reue komme?« fragte er. »Wenn ich Alles widerrufe, was Sie verletzen mußte? Wenn –«

»Graf,« unterbrach Marie ihn, »ich will nicht als Opfer vor Ihnen erscheinen. Sie haben mich nicht unglücklich gemacht. Was Sie in mir verletzten, war mein Stolz, nicht meine Liebe zu Ihnen. Die hatte ich nicht und habe sie nie gehabt. Ich sage es Ihnen, damit Sie sich ungerechte Vorwürfe ersparen. Mein Unrecht ist größer, als das Ihre.«

»Sie haben mich nie geliebt?« fragte der Graf.

»Nie!«

»Und Sie ließen mich mit Hoffnung gehen?«

»Ich habe mich selbst getäuscht.«

»Und wenn ich Sie nicht beleidigt hätte?«

»So wäre ich die Ihrige aus Treue geworden, aber nicht aus Liebe.«

»Wirklich?« fragte der Graf bitter; dann aber sah er in ihr Gesicht und rief heftig: »Marie, es kann nicht sein! Sie sagen es, um mich zu strafen, aber es kann nicht sein!«

»Ich sagte Ihnen die Wahrheit,« erwiederte sie.

»O, mein Gott, so haben Sie mich betrogen?«

»Wenn Sie mich einen Engel glaubten, ja. Ich bin nur ein schwaches, irrendes Geschöpf.«

»Es kann nicht sein!« rief er wieder.

»Graf,« sagte Marie, »könnte ich Sie geliebt haben und doch jetzt ruhig bleiben?«

»Die Frage traf seinen letzten Zweifel mit tödtlicher Sicherheit. »Sie haben Recht!« sagte er. »Ich war nicht so glücklich. Darf ich Ihnen wieder meinen Arm bieten?«

»Bleiben Sie noch einen Augenblick, Graf,« sagte Marie. »Können wir nicht als, Freunde scheiden?«

»Sie ehren mich,« sagte er frostig.

»Graf,« sagte sie noch sanfter, »Sie glaubten meiner Verzeihung zu bedürfen; ich habe Ihnen das Recht des Gekränkten gegeben, und Sie können jetzt die Großmuth üben, die Sie von mir erwarteten. Wenn ich Sie geliebt hätte, so hätten Sie mich damals eben so tief gekränkt, als ich Sie jetzt gekränkt habe. Und doch kamen Sie her, um zu bitten, und kamen hoffend her. Wollen Sie nun weniger thun, als ich thun sollte?«

Sie wartete einen Augenblick, daß er antworte; er schwieg. »Wollen Sie mir verzeihen?« fragte sie noch einmal und bot ihm die Hand. Er verbeugte sich, aber er ergriff nicht ihre Hand; er bot ihr nur auf das Neue seinen Arm.

Ein halb bitteres, halb wehmüthiges Lächeln spielte um Mariens Mund. Sie ließ sich schweigend auf den Platz vor dem Schlosse zurückführen. Dort aber grüßte sie den Grafen und ging allein nach dem Schlosse.

Sie trat in das Bücherzimmer und setzte sich auf einen der Divans nieder. Einzelne Thränen fielen aus ihren Augen. Es that ihr weh, daß Solms in seiner verletzten Eitelkeit sich so kleinlich gezeigt hatte, daß sie von dieser Neigung keine edle Erinnerung behalten sollte. Mit Anerkennung dachte sie an Haßfeld, mit innigem Gefühle an Anlow. Da trat dieser aus dem Garten herein, wie etwa vor einem Monate Solms eingetreten war. Marie sah ihrem Freunde bewegt, aber ohne Verlegenheit entgegen; er machte die Thür hinter sich zu, kam langsam zu Marien, setzte sich neben sie auf den Divan und ergriff ihre Hand.

»Fräulein Marie,« sagte er mit leicht bewegter Stimme, »Sie haben mir immer gesagt, ich verstände Sie. Ich meine, ich habe Sie auch in dieser letzten Zeit verstanden. Sie würden mir nicht mit Ihren Blicken Hoffnung gegeben haben, wenn Sie keine Erfüllung zu geben hätten. Um diese bitt' ich Sie jetzt. Habe ich nicht Recht, es zu thun?«

»Sie haben Recht,« antwortete Marie mit leisem, aber festem Tone.

Er nahm ihre Hand aus seiner rechten in seine linke und legte dann seinen rechten Arm um die Schulter des jungen Mädchens. Eben so linde berührte er mit seinen Lippen ihre Stirn. Dann zog er den Arm zurück und hielt nur ihre Hand in seinen beiden Händen. So sah er mit dem Blicke seiner edlen Neigung tief in Mariens dunkle große Augen. Eine Strahlenfülle von Liebe drang ihm daraus entgegen; seine Seele tauchte tief hinein. Das war das gegenseitige Gelübde: zwischen diesen Beiden bedurfte es keines andern. In diesem Augenblicke rief eine männliche Stimme gedämpft Mariens Namen, und an der Thür, welche in den Tanzsaal führte, erschien die hohe Gestalt eines älteren Mannes; Marie rief freudig: »mein Vater!« und eilte dem Eintretenden entgegen.


Am andern Mittag, wo die von der großen Gesellschaft ermüdete Hausgesellschaft sich zuerst vollständig versammelt hatte, machte der Baron derselben die Verlobung Mariens und Anlow's bekannt. Alle waren überrascht, sie hatten sich dessen von den beiden ruhig Befreundeten gar nicht versehen. Doch fanden sie einstimmig die Verbindung äußerst passend und wünschten den Verlobten wirklich von Herzen Glück.

Die Verlobung Georgs mit Fräulein Louise hatte der Gesellschaft noch ein Geheimniß bleiben sollen, weil der Vormund des Fräuleins doch erst einwilligen mußte. Georg aber fand seit dem Anblick des Brautpaares es so unerträglich, ja so unmöglich, noch auf sein Glück zu warten, daß Frau von Goldhand sich endlich bewegen ließ, der Gesellschaft, mit der Bitte um einstweilige Verschwiegenheit, das zweite Brautpaar vorzustellen.

Nun gab es gleich etwas von Georgs Zärtlichkeit zu sehen. Marie und Anlow hingegen waren, dem Anschein nach, gar nicht verändert, und nur bei den abendlichen Spaziergängen bewiesen sie durch allmäliches Zurückbleiben, daß sie einander vielleicht Einiges zu sagen hätten.

Marie beschrieb dem Freunde den traumhaften, angstvollen Zustand, in dem sie gewesen sei, als sie sich schon zu dem Freunde hingezogen und noch an Solms gebunden gefühlt habe. »Ich habe da gesehen, wie wir uns selber belügen können, wenn wir es wollen,« sagte sie. »Es ist aber eine eben so große Sünde, als die Lüge gegen Andere, und noch dazu eine Sünde, deren Folge unermeßliches Elend sein kann. Auch ich hätte mich auf immer unglücklich machen können.«

»Ich habe es noch nie versucht, mich selber zu täuschen,« sagte Anlow; »wie fängt man es eigentlich an?«

»Man schließt geistig die Augen,« antwortete Marie.

»Aber man hat doch das Bewußtsein des Vorhandenen?«

»Man läßt aber dieses Bewußtsein sich nicht als Anschauung darstellen. So schloß auch ich die Augen, um nicht zu sehen, was in meinem Herzen war, und dem Gedanken, daß Sie mich lieben könnten, setzte ich beharrliches Abläugnen entgegen.«

»Also ist er Ihnen doch gekommen? Ich dachte, meine Neigung besser verborgen zu haben, denn das wollte ich, um Sie nicht in Mitleid mit mir zu verwirren.«

»Doch kam die Ahnung Ihres Zustandes über mich, als Sie ›die Liebe einer Frau‹ lasen.«

»Das war auch ein Augenblick des heftigsten Kampfes.«

»Ich las es auch in Ihren Zügen, daß Sie kämpften; aber ich überredete mich, es sei gegen eine Erinnerung.«

»Und überredeten Sie sich auch, Sie liebten Solms noch?«

»Das nicht. Ich sagte zu mir: ›ich kann nicht lieben, so will ich denn so aus Gutsein heirathen. Eine Frau thut doch besser, wenn sie sich in ein bestimmtes Verhältniß begiebt, und ich komme hier wenigstens in ein äußerlich glückliches.‹ Mein Freund, man sinkt, sobald man unwahr ist!«

»Und als nun Solms Ihnen Gelegenheit gab, ihn aufzugeben?«

»O Gott, da kam es über mich, wie Luft zu einem Erstickenden. Mein Stolz war verletzt, aber mein Herz schlug in ungestümer Freude. Und als Solms mich verlassen hatte, warf ich mich in den Gedanken meiner Freiheit, wie ein Entflohener in das Meer, auf dem er ein befreundetes Schiff siehet.«

»Und dachten Sie da an mich, Marie?«

»Ich ließ mich von der Ahnung, Sie könnten mich doch lieben, wie von den Blättern umlispeln. Ich betrachtete Ihren Charakter, wie man eine große Landschaft betrachtet, um sich von dem Kleinen zu erholen. Daß ich denken konnte, Sie erkennten mich an, erhob mich wieder nach der Demüthigung, die ich erfahren hatte. Da kam Pauline, und ich hörte, Sie seien krank. Von dem Augenblick an fühlte ich entschieden für Sie und gestand mir es auch ein. Sobald es sich um einen Leidenden handelt, wird unsere Liebe immer muthig.«

»Und wenn ich nun damals gestorben wäre?«

»Dann wäre ich die Braut eines Todten gewesen; ich hätte keinem andern Manne mehr angehört.«

»Und wenn Sie sich mit Solms verlobt gehabt und einen Augenblick darauf meinen Tod erfahren hätten?«

Dieser Gedanke war Marien noch gar nicht gekommen und erschütterte sie heftig. »Mein Gott!« rief sie, »nein, da hätt' ich es nicht ertragen, des Grafen Braut zu bleiben.«

»Und Sie glauben, daß Sie es geblieben wären, wenn ich eine Ahnung von Ihrer Liebe bekam? Und diese Ahnung hätt' ich bekommen; wie kann einem Manne die Liebe der Geliebten immer verborgen bleiben? Aber es wären der Lösung widrige Auftritte vorausgegangen, während jetzt Alles sich leicht und glücklich gelöst hat.«

»Mein guter Genius hat es gelöst,« sagte Marie.

»Abergläubisch?« fragte Anlow lächelnd.

»Ein klein wenig, und wie sollt ich es auch nicht? Liebende und Dichter – wissen Sie nicht?«

»Ich weiß, daß Ihre Augen mir Gott offenbaren.«

»Das glaub' ich. Was die ganze Schöpfung thut: wie sollt' es die Liebe, das Höchste in der Schöpfung, nicht thun?«

»Marie, ich werde Ihre Liebe bald zu Proben auffordern. Vielleicht komm' ich in kurzer Zeit, um zu verlangen, daß Sie Heimath, Eltern und alles Vertraute auf Jahre verlassen und mir folgen sollen!«

»Ich werde es thun, mein Freund, und gern thun. Wenn ich Ihnen kein Opfer zu bringen hätte, bliebe ja der Tempel meiner Liebe uneingeweiht.«

Er küßte sie leise, wie am vorigen Abend, und sie gingen den Andern, die umgekehrt waren, entgegen.

Herr von Rosen war erst ungewiß gewesen, ob er nicht darüber beleidigt sein müsse, daß keine der beiden jungen Damen sich in ihn verliebt habe. Als er aber weiter nachdachte, kam er bald zu der Ueberzeugung, daß es sehr natürlich sei, da er ja keiner von Beiden gehuldigt habe. Er fand ferner, daß es noch sehr früh sein würde, sich zu binden, und daß beide Damen doch keine eigentlichen Schönheiten seien; er aber hatte immer nur eine eigentliche Schönheit wählen wollen. So war er denn zuletzt mit sich und den Andern zufrieden und antwortete der Frau von Willert, die ihn fragte, ob diese Brautstände ihm nicht Lust machten, nachzufolgen; für den Augenblick sei noch die Freiheit seine Geliebte.

Einen andern Eindruck hatten die Verlobungen, welche zwei Männer plötzlich zu Eigenthümern der bekannten schönen Mädchen machten, auf Franz und Leo hervorgebracht. Leo hatte die Erlaubniß bekommen, die Tage seines Urlaubs hier zuzubringen, und war daher Zeuge der Vorstellungen bei Tische gewesen, aber ebenso wie Franz sehr überrascht und stumm. Jetzt in der Dämmerung hatten Beide sich auf einem dunklen Plätzchen des Parks niedergelassen. Ein Gang führte dicht hinter den Bäumen, welche die Bank überschatteten, vorbei, und in diesen Gang führte der Zufall die beiden Bräute, eben als Leo sagte: »ja, wenn ich es gestehen soll –«. Der Muthwille ergriff die beiden Mädchen, sie blieben stehen und horchten. Franz hatte geseufzt, als Leo in seiner Rede inne gehalten; jetzt sagte er: »ja, ich möchte auch gestehen –«

»Nun sage nur, Franz,« fiel Leo ermuthigend ein.

»Nein, sage Du zuerst, was Du wolltest,« antwortete Franz höflich.

»Ich sehe nicht ein, warum man es nicht sagen soll?« meinte Leo.

»Ja, ich finde das auch,« stimmte Franz bei.

»Am Ende liegt es in der Natur, daß man zu lieben wünscht.«

»Man wäre ein Stein, wenn man es nie wünschte.«

»Und bei mir ist es wirklich Zeit.«

»Bei mir ist es auch gerade nicht zu früh.«

»Ja, ich möchte lieben. Nicht so wie meine Kameraden.«

»Nein, das ist roh.«

»Aber so, wie man lieben muß. Mit Verehrung und Leidenschaft.«

»Ja, wie die erste Liebe eines jungen Mannes sein soll.«

»Wenn nur in unserm Städtchen die Frauen nicht gar so gewöhnlich wären!«

»Wir wollen eine Reise machen, Leo.«

»Ja, Franz, wenn wir nur Geld hätten!«

»Das wird der Onkel mir für mich schon geben, und wir reichen dann Beide damit aus.«

»Ja, Franz, im Herbste, da kann ich.«

»Gut, Leo. Bis dahin werd' ich das Geld vom Onkel schon herauskriegen. Aber Geheimniß!«

»Das versteht sich. Auf Ehre!«

»Geheimniß! Auf Ehre!« sagte Marie zu Fräulein Louisen, als die jungen Leute sich entfernt hatten. »Auf Ehre!« antwortete Fräulein Louise lächelnd.

Nach einigen Tagen reis'te außer Hofrath Rein, Alles ab, Marie mit ihren Eltern, Frau von Goldhand mit Georg zu dem Vormund, Anlow zu seinem Onkel, Leo in seine Garnison, Frau von Willert in die Residenz, ebenso Herr von Rosen. Dieser hatte das Vergnügen, dem Grafen Solms die noch nicht veröffentlichte Verlobung Mariens, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, mitzutheilen. Graf Solms schwieg und verschwieg, reis'te zu seiner Mutter zurück und haßte die Schriftstellerinnen ärger, als je. Seine Mutter half ihm darin und suchte ihn zu trösten.


An Haßfeld hatte Anlow, geschrieben, einen milden, edlen Brief, wol geeignet, den Zurückgewiesenen mit dem Gewählten wo möglich zu versöhnen. Aber der Schriftsteller antwortete nicht.

Nach einigen Monaten war Mariens Verbindung bei ihren Eltern und in Gegenwart Aller, die Zeugen ihrer Verlobung gewesen waren. Alle hatten die Reise nicht gescheut.

Leo verliebte sich bei dieser Gelegenheit gründlich und brauchte also nicht erst deswegen zu reisen. Franz aber übergab nach der Trauung Marien ein Gedicht, welches ihm zu diesem Zwecke von Haßfeld gesendet worden war.

Ich will zu diesem Tag ein Lied Dir schenken,
Ein ernstes Lied; zu Deinen Füßen ruh' es,
Und rühre an die Spitze Deines Schuhes,
Um Deinen sel'gen Blick auf sich zu lenken!
Wirst Du erkennen es als mein, und denken
Aus Deinem Fest in meine Oede hin?
O wenn Du ahnst, was Mitleid ist, so thu' es –
Du bist so glücklich, als ich düster bin.


Den Du erwählet: hat er Dich getragen
In einem treuern oder heißern Herzen,
Als es das meine? Hat er größ're Schmerzen
Mit Märtyrergeduld um Dich ertragen?
Ich glaub' es nicht; von allen Liebesschmerzen
Giebt es nicht einen, den ich nicht gefühlt;
Nicht einen, der in dieser Monde Tagen
In meiner Brust nicht als ein Dolch gewühlt.

Nicht hassen will ich ihn, den Du beglücket –
Nach Zufall streu't die Gaben aus das Leben;
Dem wird Verzweiflung, diesem Lust gegeben,
Der schmachtet hin und jener wird erquicket.
Ist jeglicher Gedanke mir verrücket,
Von meiner Ruh verloren jede Spur,
Ist jedes Ziel verschwunden meinem Streben:
Was thut's? Es ist das Spiel des Lebens nur.

Doch sollst Du heute solche Worte hören,
Vom herben Grame ausgesproch'ne Worte?
Soll Dich an Deines neuen Glückes Pforte
Der finstre Anblick meiner Trauer stören?
Ich will mich fassen, ich will sanft're Worte
Mir suchen, wie zu Bräuten man sie spricht –
Des Dichters Abschied, gern sollst Du ihn hören,
Vielleicht auch ohne feuchte Wimper nicht.

Ich habe Dich geliebet, und ich werde
Bewahren dies Gefühl, wo ich, entgegen
Der Luft, als Wand'rer zieh' auf öden Wegen,
Wo ich als Fremdling ruh' an einem Heerde.
Vielleicht ist meines Ruhens in der Erde,
Vielleicht giebt mir ein schaurig Grab das Meer;
Doch wird sich meine Liebe nicht mehr regen,
Dann regt sich auch dies arme Herz nicht mehr.

Und nicht als Vorwurf sag' ich Dir mein Leiden –
Ich gäb' es nicht, könnt' ich Dich heut' vergessen
Für Alles, was an Glück ich je besessen,
Vom Leben selber wollt ich eher scheiden;
Kann ich doch träumend an die Brust Dich pressen,
Weiß ich doch wachend, daß Du Wahrheit bist –
Der lebet, der Dich kennt, und sei's durch Leiden,
Durch Qualen selbst – der stirbt, der Dich vergißt!

Ich werde Heilung suchen in der Ferne,
Im Wechsel und mit fröhlichen Genossen –
Noch giebt's der Kenntniß viel, die mir verschlossen,
Vielleicht daß ich auch noch genesen lerne.
Es schützen Dich die Geister und die Sterne!
Es sei Dein Glück ein märchenhaft Gedicht!
Wenn meine tiefe Wunde sich geschlossen,
Dann trete ich wieder vor Dein Angesicht.

Mariens Auge blieb nicht ohne Thränen, als sie dieses Gedicht las. Anlow las es nach ihr und war auch ernst dabei, aber er sagte: »Nun bin ich nicht mehr besorgt um Haßfeld. Er leidet noch, aber seine dichterische Kraft erscheint mächtig gesteigert; wir dürfen ihn ruhig seiner Genesung entgegengehen lassen. Aber ich muß Dich unendlich lieben, damit Du mir nie den Vorwurf machen könnest: dieser habe Dich mehr geliebt.«

»Du brauchst Dir nichts vorzunehmen,« sagte Marie und sah innig zu ihrem Manne auf; »Du hast einen Vorzug, der Dich vor jeder Vergleichung sichert.«

»Und der wäre?« fragte Anlow.

»Daß ich Dich liebe!« antwortete sie leise.

Er umfaßte sie, küßte ihr Haar, wo es sich auf der sinnigen Stirn scheitelte, und Beide schwiegen.

 


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