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Achtes Kapitel

Polizeirat Lemberger war vormittags um die zehnte Stunde auf seiner Kanzlei.

Diese Kanzlei ist nicht so, wie man sich ein Polizeibüro im allgemeinen vorzustellen pflegt, nüchtern und abstoßend, es ist vielmehr ein schönes, wohnlich eingerichtetes Zimmer, das von drei hohen in einer Front liegenden Fenstern sein Licht erhält.

Die Wände sind mit ganz annehmbaren Ölgemälden geschmückt und den Boden bedeckt ein großer bunter Teppich, vor dem Schreibtisch aber liegt das Fell einer chinesischen Ziege. Sogar ein hübsches kleines Ledersofa steht an der Wand gegen das anstoßende Zimmer.

Es läßt sich also schon einigermaßen aushalten in diesem Raume, wenn die Arbeit nicht allzuhart ist.

Aber Herr Lemberger ist heute verdrießlicher denn je und seine Mundwinkel haben eine beängstigende Senkung erreicht.

Schon dreimal hat er nach Höhnerlein gefragt und nie ist er zur Stelle, auch Rink und Eberle sind nicht zu sehen, die er am liebsten um sich hat.

Das ist ärgerlich, läßt sich aber bei einer Kriminalabteilung nicht vermeiden, in der die Beamten viel Außendienst haben. Der Verdruß des Herrn Polizeirats muß also tiefer liegen.

Vielleicht ist es immer noch diese rätselhafte Geschichte, von der die ganze Stadt spricht und von der er, Polizeirat Lemberger, allein nichts erfahren kann.

Es ist dies wirklich der Fall. Auch Anna, die Köchin, hat sie gestern abend nach Hause gebracht, genau so dunkel und so verworren, so schemenhaft und unfaßbar, wie er sie selbst gehört hat.

Aber Frau Agathe hat um Aufklärung gebeten, eine Aufklärung, die er nicht geben konnte.

»Die ganze Stadt spricht davon, aber du weißt noch nichts?« sagte Frau Agathe.

Es war eine ihrer wirksamsten Reden, die sie je hielt, um seinen Ehrgeiz anzuspornen, obgleich diese Rede nur aus dem einzigen angeführten Satze bestand. Den übrigen ganzen Abend hatte sie sich damit begnügt, ihrem Vorwurf Ausdruck zu geben, indem sie sich in tiefes Schweigen hüllte. – – –

»Man könnte fuchsteufelswild werden,« sagte der Polizeirat und läutete zum viertenmal nach Höhnerlein.

Aber diesmal mit Erfolg, denn soeben kam es die Treppe herauf, der Gang hallte wider von Tritten.

In fester Haltung betrat Höhnerlein das Zimmer und hinter ihm mit entschlossenen Gesichtern sein Gefolge, die Wachtmeister Rink und Eberle und der Schutzmann Häfele.

Sie wissen, der Aufzug, in dem sie erscheinen, entspricht nicht der zierlichen Ausstattung dieses Raumes, denn sie sind schmutzig, mit Lehm beschmiert bis über die Knie, übel mitgenommen von dem Gestrüpp, durch das sie sich durchwinden mußten.

Aber sie wissen auch, daß ihr Äußeres nichts zu sagen hat gegenüber der Wichtigkeit der Meldung, die sie überbringen, im Gegenteil, es verdient Lob, und man sieht, daß ihre Tätigkeit nicht mühelos war, daß ihnen nicht von selbst in den Schoß gefallen ist, was sie als Früchte ihres Unternehmens mitgebracht haben.

»Gestatten der Herr Polizeirat,« sagte Höhnerlein, genau wie er sich gestern schon vorgenommen und ausgemalt hat, »eine Meldung von höchster Wichtigkeit.« Und nunmehr berichtete er mit kurzen bündigen Worten, was er in Erfahrung gebracht hat, die Anordnungen, die er getroffen hat, die Aussagen, die der Fischer Hofmeister gemacht hat, die Erfolge, welche ihre Nachforschungen gezeitigt haben.

Dann wandte er sich zu seinen Begleitern. »Legen Sie dem Herrn Polizeirat die Beweisstücke vor.«

Und nun packen sie vor dem erstaunten Polizeirat aus: Rink das blutbefleckte Stilett und die Haarspange, Eberle das blutgetränkte Taschentuch, Häfele aber setzt mit unendlicher Vorsicht einen wohlgelungenen Gipsabguß der vorgefundenen Fußspur auf den Schreibtisch nieder.

Der Polizeirat Lemberger war starr. Da haben wir es nun, denkt er. Das ist ja die Geschichte, von der die ganze Stadt spricht, und obwohl er schon den ganzen Morgen darauf ansteht und wartet, vermag er sie jetzt auf das erste Mal nicht zu fassen. Höhnerlein muß sie ihm wiederholen, Wort für Wort, diese seltsame, rätselhafte Geschichte. Dann besieht er – mit leichtem Widerwillen – das Messer, wer weiß, welch entsetzliche Tat damit verübt worden ist, besieht sich die Haarspange und besieht sich, indem er mit den Fingerspitzen den äußersten Zipfel des Stückes in die Höhe hält, das häßlich aussehende Taschentuch, er besieht sich alles eingehend und genau, schüttelt den Kopf, schüttelt ihn wieder und schweigt.

Da aber die andern ebenfalls schwiegen, weil sie ehrerbietig und erwartungsvoll auf eine Meinungsäußerung ihres obersten Vorgesetzten warteten, ergriff er endlich das Wort.

»Das ist eine böse Geschichte,« sagte er. »Und was ist nun Ihre Ansicht?« setzte er auffällig höflich hinzu.

Alle schwiegen. – Jeder denkt, der andre soll seine Ansicht entwickeln.

»Nun, Häfele?« munterte der Polizeirat auf, da er in den wasserblauen Augen des Schutzmanns ein gewisses Aufblitzen bemerkte. – Auch denkt er, es ist am besten, man fängt von unten an. Denn wenn er zuerst Höhnerlein reden läßt, beten ihm alle andern nach.

Häfele ist kein Mensch, der sich fürchtet, aber es ist doch recht unangenehm, vor allen den Vorgesetzten als erster seine Ansicht kundgeben zu müssen. Besonders in einem solch rätselhaften Fall.

Aber Befehl ist Befehl. Darum räusperte er sich gewaltsam und sagte: »Indem ich der Ansicht bin, daß hier ein versuchter Raubmord vorliegt.« –

Schon des öfteren hat der Polizeirat den Schutzmann Häfele getadelt, weil er alle seine Meldungen mit »indem« beginnt, aber der Mann kann von seiner Gewohnheit nicht lassen und in Anbetracht der Wichtigkeit des Falles sieht Lemberger davon ab, ihm die Rüge zu erteilen, die ihm auf der Zunge liegt.

»Indem Sie dies begründen wollen,« sagte er deshalb nur mit leichter Ironie.

»Weil der Strolch doch der Verdächtigste von allen ist,« fuhr Häfele in einiger Verwirrung fort, denn er bemerkte seinen Fehler. Da er aber sah, daß der Polizeirat zweifelnd seinen Kopf schüttelte, wurde er mutiger und verteidigte seine Ansicht und seine Schlüsse mit bemerkenswertem Eifer.

Er glaubt nämlich, daß der Strolch den gutgekleideten Mann überfallen hat, er hat ihm sogar eine Wunde beigebracht, darauf weist das Stilett hin, das er fortgeworfen hat, als er den Fischer herbeieilen hörte, um sich nicht zu verraten. Ferner weist das Taschentuch darauf hin, das der Verletzte verloren hat, als er sich flüchtete. Den Schrei aber, den der Fischer für den eines Weibes hielt, hat der Knabe ausgestoßen, der in sinnloser Angst davongesprungen ist und bei dem Ruf des Fischers geglaubt hat, daß es ihm selbst ans Leben geht. Die Haarspange spricht nicht dagegen, die mag schon länger dort gelegen sein, denn Schildpatt hält sich lange unversehrt und es liegt kein Anhaltspunkt vor, daß sie erst neuerdings verloren gegangen ist und mit der Tat im Zusammenhang steht, zumal der Fischer doch nirgends eine Frau gesehen hat. Der Strolch aber, den Hofmeister leider nicht weiter verfolgt hat, hat schnell besonnen den Verdacht auf den Verletzten selbst gelenkt, weil derselbe im Schrecken ebenfalls geflohen ist, und er hat seinen Zweck völlig erreicht. Das ist seine, Häfeles, Überzeugung.

»Unwahrscheinlich,« sagte der Polizeirat kurz. »Denn der Überfallene hätte um Hilfe geschrieen und auch längst Anzeige erstattet ...«

Aber Häfele ist nicht so leicht geschlagen. Er wird kühn. »Der Herr Polizeirat wird entschuldigen, vielleicht hat er den Fischer für einen Genossen des Räubers gehalten. Manchem versagt im Schrecken die Stimme, das ist schon oft vorgekommen. Möglicherweise hat er sich noch aus der Insel bis in den zweiten Uferwald fortgeschleppt und ist dort zusammengebrochen. Es könnte aber auch sein, daß der Verwundete selbst Gründe gehabt hat, nicht laut zu sein, die Sache nicht öffentlich werden zu lassen, den Vorfall zu verheimlichen, und daß er deshalb keine Anzeige gemacht hat. Vielleicht steht er sogar in Beziehungen zu dem Strolch.

Nun wird der Polizeirat stutzig und er vermag seine Überraschung über diesen Gedanken nicht zu verbergen. »Hören Sie, die Sache klingt schon etwas besser,« sagte er und Häfele triumphiert. »Was meinen denn Sie, Eberle?«

Eberle ist ganz verwirrt durch das, was er heute gehört und gesehen hat, und weil er angesichts des Befunds des Augenscheins seine Hypothese von der Täterschaft des Knaben doch nicht mehr aufrecht erhalten kann. Aber ganz will er den Knaben auch nicht aus dem Spiele wissen und darum schwebt ihm etwas vor und äußert er sich in unklaren Ausdrücken von der Möglichkeit eines Ritualmordes. Dergleichen Dinge kommen vor, man hat ja schon viel gehört und gelesen. Der gutgekleidete Herr hat den Schüler umbringen wollen und ist durch das Hinzukommen des Strolchs verhindert worden. Dabei ist es dem Knaben, der den Schrei ausgestoßen hat, gelungen, zu entwischen und in der Angst hat er das Haltrufen des Fischers nicht mehr gehört ... Damit steht auch im Einklang, was der Strolch zu Hofmeister gesagt hat, und auf diesen hat es ja den Eindruck der Wahrheit gemacht ...«

»Unwahrscheinlich,« sagte der Polizeirat kurz. »Wäre der Knabe verletzt worden und darauf würde das Blut hinweisen, so hätten seine Angehörigen die Sache längst angezeigt.«

Aber auch Eberle ist nicht so leicht aus dem Sattel zu heben. »Herr Polizeirat,« warf er keck ein, »es ist nicht gesagt, daß der Knabe verletzt ist. Vielleicht hat der Täter, da er überrascht wurde und sich flüchtete, sich selbst verletzt, der Knabe hat sich vorerst nicht getraut, die Sache zu erzählen oder zu Hause hat man es ihm ganz einfach nicht geglaubt, und der Täter selbst hat allen Grund, die Sache zu verheimlichen.«

Darauf wurde der Polizeirat stutzig. Man sah es ihm an, daß ihn der Einfall Eberles überraschte. »Jetzt läßt sich die Sache eher hören,« sagte er nachdenklich und Eberle triumphierte. »Was meinen Sie, Rink?«

Rink ist – er sagt seine Meinung kurz und gut – der Ansicht, daß weder der Strolch noch der Knabe eine führende Rolle bei dem Drama eingenommen haben, das sich zweifellos auf der Insel abgespielt hat. Der gutgekleidete Unbekannte hat eine dritte, bisher nicht ermittelte Person umgebracht –

»Und diese dritte bisher nicht ermittelte Person war seine Geliebte,« sagte plötzlich Höhnerlein mit starker Stimme, während sein finsteres Gesicht einen fanatischen Ausdruck annahm. Er hatte schon lange die weitschweifigen Erklärungen der andern satt und konnte sich nicht mehr zurückhalten ... Es ist klar. Der halbunterdrückte Fluch des Mörders, der nach kurzem Streit zum Messer greift, der Schrei des Opfers und die kurze vergebliche Gegenwehr. Dabei ging die Haarspange verloren. Der Knabe ist Zeuge des Streits geworden, und als er den Mann das Messer ziehen sieht, springt er in grenzenlosem Entsetzen auf und davon, der Strolch aber, der zufällig des Wegs kommt, sieht die Tat nicht selbst, er ahnt nur, daß etwas Schlimmes geschehen ist. Da er befürchtet, selbst in Verdacht zu kommen, geht er seiner Wege. Der Täter aber schleppt sein Opfer durch die Büsche, daher das Krachen der Zweige, das der Fischer hörte, die sichtbare Bahn in dem Dickicht, die vereinzelten Blutspuren. Und da er in der Erregung mit der schweren Last die nasse Stelle des Bodens übersieht, hinterläßt er den verräterischen Stiefelabdruck. Das Messer aber hat er weggeworfen, wie auch das zusammengeballte Taschentuch, mit dem er sich notdürftig von dem Blute der Getöteten gereinigt hat –

»Und der Körper, die Leiche?« wirft der Polizeirat hastig ein.

»Hat der Täter in den Strom geworfen,« ergänzte Höhnerlein ruhig.

Lemberger ist aufgesprungen.

»Das ist es!« sagte er. »Das ist das Richtige!« wiederholte er. »Das ist eine vollständige Erklärung, zwanglos und lückenlos ... Höhnerlein, das haben Sie gut gemacht!« In größter Erregung geht er im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken, den Kopf vornübergeneigt. Es ist zu viel, was auf ihn einstürmt. Die Gedanken überstürzen sich.

Aber nicht lange, so ist er ihrer Herr geworden. Sie sammeln sich und ordnen sich und reifen zu einem Plane aus; das runde behäbige Gesicht hat plötzlich einen markigen, entschlossenen Ausdruck angenommen.

Mit einer Umsicht, die seinen Untergebenen unwillkürlich Achtung abnötigt, trifft er seine Anordnungen. Man könnte ihn einem Feldherrn vergleichen und Ähnlichkeit mit Napoleon dem Ersten herausfinden.

»Häfele,« befahl er nunmehr mit völlig ruhiger Stimme, »Sie gehen noch heute bei sämtlichen Messerschmieden und Waffenhandlungen herum und zeigen das Messer vor zur Feststellung des Fabrikats, des Verkäufers, des Käufers ... Eberle, Sie nehmen die Haarspange und zeigen sie in sämtlichen Kammgeschäften und Parfümerien zur Wiedererkennung vor ... Rink, Sie lassen von dem Gipsabguß eine photographische Aufnahme in natürlicher Größe herstellen und verteilen Abzüge an sämtliche Schuhgeschäfte, und Sie, Höhnerlein, werden durch Fernsprecher sämtliche Polizeistellen stromabwärts in Kenntnis setzen ... Falls in den letzten beiden Tagen eine Leiche angeschwemmt worden ist, das Vorbeitreiben eines Körpers gesehen wurde, sonstige verdächtige Wahrnehmungen auf dem Wasser gemacht worden sind, wird um unverzügliche Drahtnachricht ersucht ... Ich selbst werde es übernehmen, nach dem Knaben zu forschen und den Vorstand des Lyzeums aufsuchen.«

Er blieb vor seinen Beamten stehen und sah ihnen mit festem Blicke in das Gesicht. »Ich hoffe, Sie haben mich alle recht verstanden?«

»Zu Befehl,« sagte Höhnerlein. Er spricht gleichzeitig im Namen seiner Untergebenen. Er bürgt dafür, daß sie es verstanden haben, darum kann er mit gutem Gewissen diese Antwort geben.

Polizeirat Lemberger ist auch vollständig zufriedengestellt.

»Noch eines,« sagte er. »Ruhe und Verschwiegenheit! Arbeiten Sie rasch, arbeiten Sie pünktlich! Nehmen Sie umsichtig, unauffällig jede Spur auf und verfolgen Sie dieselbe mit Ausdauer. So wird uns der Erfolg sicher, so kann uns der Täter nicht entkommen ... Nun gehen Sie und tun Sie Ihre Pflicht!«


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