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Ein kleiner Held

Erstes Kapitel.
Des Nachbars Liebling.

»Wer will mit Kirschen essen?« fragte Karl – ein rotbäckiger, stämmiger Knabe mit blondem Flachshaar und großen lachenden blauen Augen – seine Kameraden.

»Ich, ich«, riefen die zur Antwort und drängten um ihn herum. »Wo, wo gibt es denn welche?«

»Auf Nachbars Kirschbaum«, war die Antwort.

»Ach«, meinten die einen, »da wird der Nachbar zanken« – »oh, der ist hoch«, die anderen, und meinten hiermit den Baum – »da kommen wir nicht hinauf.«

»Der Nachbar zankt nicht«, gab Karl fröhlich zurück, »und hinauf – den Baum möcht« ich sehen, auf den ich nicht kommen könnte!«

»Nun denn mal los!« riefen die Knaben, und fort ging's in Nachbars Feld, und hast du nicht gesehen, kletterte Karl an dem glatten Baum in die Höhe, setzte sich leicht und bequem in dessen Zweigen zurecht, brach die dicken, schwarzen, glänzenden Kirschen und warf sie den Gefährten hinab. Die schmausten unten, Karl schmauste oben, und die Kirschen schmeckten ihnen herrlich.

Mit einemmal kam aber der Nachbar über das Feld. Von weitem hatte er bemerkt, daß es recht munter und lustig bei seinem Kirschbaum herging; er war leise nähergetreten, um zu sehen, wer hier sein Wesen trieb.

»Ungezogene Jungen!« schrie er die Knaben an. »Ihr maust meine Kirschen!«

Die Jungen erschraken weidlich, dem einen blieben die Kirschen im Halse stecken, der andere hielt sie vor den Mund und stand unbeweglich da, als gehörte er in das Märchen vom Dornröschen, in dem der große Zauberschlaf über alle kommt und alle festhält, wie sie gerade gehen, liegen oder stehen. Noch ein anderer ließ fallen, was er von Kirschen in der Hand hielt, und noch ein anderer kroch hinter den Baum, um sich vor des Nachbars Zorn zu verstecken.

»Ich will euch Kirschen mausen lehren, ihr Schlingel!« rief der Nachbar, hob dabei seinen Stock und schlug damit auf die Knaben los.

Hei, stoben die auseinander.

»Herr Nachbar, lieber Herr Nachbar!« – Karl Flachskopf guckte aus den grünen Zweigen, die schwer mit glänzenden Früchten behangen waren, heraus. »Herr Nachbar, Herr Nachbar, Sie haben es mir ja erlaubt!«

»Ach, da ist der Karl!« – Des Nachbars finsteres Gesicht hellte sich auf, die gehobene Hand mit dem Stock sank herab.

Karl und der Nachbar waren nämlich gute Freunde. Der erstere, obwohl nur zehn Jahre alt, war Meister in vielen Dingen, in denen sich der Nachbar, weil er anderes zu tun hatte, oft ungeschickt erwies. Erst gestern noch hatte ihm der Knabe beim Fischen geholfen. Er hatte zu dem Zweck Insekten und Würmer gesucht, diese am Angelhaken befestigt, ja oft genug die Rute für den Nachbar in das Wasser geworfen und mit Beute beladen herausgezogen. Dann waren der Nachbar und Karl noch spät am Abend ausgegangen, um Krebse zu fange», wobei wieder Karl seinem älteren Freunde behilflich gewesen war. Er hatte zuletzt sogar des Nachbars Hand von einem großen Krebse befreit, der sie mit seiner Schere fest faßte und tüchtig kniff, als er in den Korb gesteckt werden sollte.

Zum Lohn dafür hatte dann der Nachbar Karl so viel Kirschen von seinem Baume versprochen, als er pflücken wollte, was Karl, nicht blöde, nun heute morgen in seiner Weise ausgeführt hatte.

»Ja, dir habe ich sie versprochen«, brummte denn auch der Nachbar jetzt, halb so zornig als im Anfang, »aber nicht der ganzen Sippschaft Jungen aus dem Ort.«

»Lieber, lieber Herr Nachbar, seien Sie uns nicht bös!« so bittend, kletterte Karl den Baum herunter. »Ihre Kirschen schmecken so herrlich!«

»Ihre Kirschen schmecken so herrlich«, kamen jetzt auch die anderen näher, da sie merkten, daß die Sache ein gutes Ende nehmen würde.

»Glaub's wohl, ihr Schlingel«, brummte der Nachbar; aber er brummte nur noch im Scherz, denn er war gut Freund mit all den Knaben.

»Allein aber hätten sie mir doch nicht geschmeckt«, rief Karl lustig, »und da Sie mir soviel Kirschen versprachen, als ich pflücken wollte, so habe ich meine Kameraden traktiert. Seien Sie gut, Herr Nachbar, ich helfe Ihnen auch wieder krebsen!«

»Wir alle«, riefen die Knaben, »wir alle helfen Ihnen krebsen.«

Der Nachbar, der für sein Leben gern Krebssuppe aß, schmunzelte vergnügt. »Na, so mag's heute drum sein«, meinte er versöhnt, »wenn ich aber wieder einen von euch auf meinem Baume treffe – dann« – er hob den Stock und drohte ihnen mit demselben – »dann Gnade ihm Gott!«

»Auf den Baum«, meinte Karl übermütig, »komme ich nur, Herr Nachbar, und mir tun Sie doch nichts!«

»Du Erzschelm«, der Nachbar zupfte ihn am Ohr; aber Karl wußte, daß ihn der Nachbar lieb hatte und ihm alles erlaubte, was er gern tat, ebenso wie es der Nachbar auch wußte, daß Karl von Herzen gut war, und selbst wenn er mal einen wilden Streich ausführte, dieses nur aus jugendlichem Übermut geschah, an dem er sich doch auch wieder im stillen freute.

»Du Erzschelm«, sagte er darum noch einmal und zupfte Karl am anderen Ohr.

»Herr Nachbar, heute abend gehen wir krebsen«, rief der, »und morgen gehen wir in die Kirschen, nicht wahr?«

»Wir werden sehen«, der Nachbar nickte, »aber heute nicht mehr.« Dann ging er seines Weges, und auch die Knaben gingen, ihm gehorchend, von dem Baume fort. – –

Die Schule war zu Ende. Wie losgelassen stürmten die Knaben nach Haus. Schnell wurden die Mappen, Bücher, Federn, Lineale und was man zum Lernen in der Stunde braucht, beiseite gelegt und gegen militärisches Spielzeug vertauscht, und hui! ging es auf den Marktplatz, da sollte Krieg geführt werden.

Die Knaben teilten sich in zwei Parteien, die einen banden einen grünen Streifen um den Arm, das waren Dänen, die anderen einen weißen und schwarzen, das waren Preußen. Karl, im glänzenden Küraß, mit dem Helm auf dem Kopf, wurde zum Prinzen Friedrich Karl ernannt. Er führte seine Truppen gegen den Feind, der den inmitten des Marktplatzes gelegenen, schönen alten Brunnen besetzt hielt.

Der Brunnen war die Düppeler Schanze, die von den Preußen im Preußisch-Dänischen Krieg erobert ward. Das hatten die Knaben so zu Hause gehört. Und jetzt balgten sie sich ganz tüchtig, schlugen aufeinander mit ihren Flinten, die glücklicherweise nicht geladen waren, mit ihren Säbeln, die niemand ein Stückchen Fleisch oder ein Glied abhauen konnten, da sie so stumpf waren, daß man darauf reiten konnte, wie sich Karl auszudrücken pflegte. In der Hitze des Gefechts regnete es dann zuletzt ganz ordentliche Püffe und Stöße, denn die »Dänen« waren doch deutsche Knaben, die auch im Spiel zum Schein nicht nachgeben wollten, und die »Preußen« mit ihrem Prinzen Friedrich Karl mußten doch siegen. Endlich waren denn die Schanzen, d. h. der Brunnen genommen. Prinz Friedrich Karl ließ »Viktoria!« blasen; sein Fähnrich pflanzte die schwarzweiße Fahne auf, und alle schrien »Hurra!« Damit war das Spiel zu Ende; die Knaben gingen nach Hause.

»Karl, wie heiß du bist«, sagte die Mutter, als er zu Tisch kam, und fuhr ihrem Knaben mit dem Tuch über die Stirn.

»Wir haben uns auch tüchtig gehauen«, antwortete er stolz.

»O je, o je,« seufzte die Mutter, »die bösen, wilden Jungen! – Du wirst noch mal Schaden nehmen.«

»Sei nur nicht bang, Mütterchen«, tröstete der Vater lachend. »Jungen müssen wild sein, wenn sie sich auch einmal tüchtig hauen, so schadet es ihnen nicht, das macht Männer. – Hier, Karl«, er gab dem Knaben ein Stück Braten, »nun aber auch essen, daß du groß und stark wirst. Heute mittag«, fuhr er fort, »wollen wir zu den Kunstreitern gehen.«

Und Karl aß und trank, machte seine Aufgaben und ging später mit dem Vater in den Zirkus.

 

Zweites Kapitel.
Die Kunstreiter.

In dem Zirkus war es nun prächtig; so etwas hatte Karl noch nie gesehen, und er saß da mit weit offenen Augen, oft auch mit offenem Munde, obgleich ihm der Vater dann jedesmal sagte: »Karl, mit dem Mund sieht man wirklich nicht!«

In einem großen Kreise saßen die Zuschauer; in der Mitte des Raumes, in einem kleineren, der dick mit Sand bestreut und mit einer rot ausgeschlagenen Brüstung umgeben war, tummelten sich die Reiter mit ihren Pferden, die Bajazzos mit den Narrenkappen, den Narrenschellen und den Narrenstreichen. Da setzten die Pferde über hohe Barrieren, durch große Reifen, die brannten wie Feuer, das aber niemand weh tat; da tanzten die Damen auf den Pferden und sprangen mit den Herren um die Wette. Da wurde Schule und Manöver geritten; man wußte kaum, wer geschickter war: die Reiter und Reiterinnen oder deren kluge, abgerichtete Tiere.

Aber das Schönste von all den Leistungen schien Karl doch ein Stück, »Die Post« genannt, das zwei kleine Knaben – Brüder – kaum so alt wie er selbst, ausführten.

Zuerst wurden zwei allerliebste Ponys, braun mit schwarzer Mähne und schwarzem Schweif, herumgeführt. Sie waren rot gezäumt, hatten einen roten Leibgurt mit goldenen Glöckchen besetzt, die klangen bei jedem Schritt, den sie machten. Dann erschien der älteste der Knaben. Er trug ein schwarzes Jäckchen mit goldenen Knöpfen und roten Aufschlägen, eine rote Weste, schwarze Beinkleider, hohe Stulpenstiefel. Auf dem Kopf saß ein dreieckiges Hütchen, gleichfalls rot aufgekrempt, das er höflich beim Grüßen abnahm und gegen die Zuschauer schwenkte.

Er ergriff die Zügel der Pferde, sprang auf das eine, dann, indem er sich auf diesem mit dem rechten Fuße festhielt, setzte er den linken auf das andere; so stehend, hob er die Zügel hoch in der Hand und schnalzte mit der Zunge.

Und nun lief seine »Post«, von schmetternder Musik begleitet, im Kreise herum. Mit einemmal wurde haltgeblasen.

Angezogen, wie der Knabe auf dem Pferd, trat sein Brüderchen herein; der brachte dem Postillion einen Brief, den dieser besorgen sollte, was er auch versprach. Dann verlangte er frische Pferde.

Noch ein Paar Ponys, braun und schwarz von Farbe, rot gezäumt wie die ersteren, wurden hereingeführt und vor diese gespannt. Der kleine Postillion, der in seinen schwarzglänzenden Stiefeln so kühn auf dem ersten Paar feststand, bekam nun ein Viergespann zu lenken, das, wie das erste, in sausendem Galopp, unter dem Beifalljauchzen der Zuschauer, die Bahn durchlief. Wieder wurde haltgeblasen – dann ein lustiges Reiterlied, wie wenn die Post ankommt; denn die Post hier war ja angekommen. Der kleine Postillion übergab seinen Brief dem kleinen Bruderpostillion, der ihn dem Stallmeister ablieferte. Bald hatte der Antwort geschrieben; wieder wurde der Brief durch den kleinen Postillion zu Fuß dem zu Pferd überreicht, und wieder forderte er frische Pferde. Und noch einmal wurde ein Paar Ponys, gerade wie die anderen aussehend und gezäumt, als frischer Vorspann gebracht.

Der Postillion zu Fuß wollte diesmal mitfahren, er schwang sich auf ein Pferd im Zuge.

Der Postillion hatte nun ein Sechsgespann zu lenken. Das war keine Kleinigkeit für den Knaben; aber er machte seine Sache vortrefflich. Ruhig und sicher stand er mit je einem Fuß auf dem Rücken eines der ungesattelten Tiere des ersten Gespannes; seine rechte Hand hielt die Zügel der sechs Pferde, die in gestrecktem Galopp dahinjagten, während seine linke das Hütchen schwenkte, zum Gruß für die Zuschauer, die entzückt ein Bravo nach dem anderen riefen. Inmitten von all dem Rufen, dem Schmettern der Musik, trotz all der Anstrengung, die es ihn kosten mochte, führte der Knabe ruhig, kaltblütig, freundlich und fröhlich lächelnd seine Postillionsrolle durch.

Am Ende der Vorstellung wurde er denn auch mit Jubel herausgerufen und mit Apfelsinen, Kuchen und Zuckertüten förmlich überschüttet.

Dann kam die große Pause. Karl ging mit dem Vater in die Ställe, die hinter dem Zuschauerraum lagen; beide wünschten Reiter und Pferde auch einmal hinter den Kulissen zu sehen. Da standen denn auch die Knaben bei ihren Ponys, die jetzt abgerieben und in wollene Decken gehüllt wurden, die Pferdchen bekamen hin und wieder ein Stück Zucker.

Karl fing nach Kinderart ein Gespräch mit den kleinen Postillionen an, noch andere Erwachsene traten hinzu; die Knaben wurden gelobt, hauptsächlich der älteste wegen seines Mutes und seiner Kraft.

Mut und Kraft, das war etwas, was Karl über alles liebte.

Die Umstehenden lachten.

»Mut und Kraft, ja das ist etwas Schönes, mein kleiner Bursche«, sagte ein älterer Offizier, der neben ihm stand; »doch das kann man auch im Leben üben, ohne gerade Kunstreiter zu sein.«

Karl blickte auf. »Wirklich?« fragte er.

»Sicher, mein Kind«, gab der Gefragte zurück. »Zum Schutze der Schwachen und Bedrängten, zum Schutze des Vaterlandes – –«

In diesem Augenblick ertönte die Schelle, zum Zeichen, daß eine neue Vorstellung begann. Der Offizier wurde unterbrochen in seinem Reden; Karl und der Vater kehrten in den Zirkus zurück, auch Leo und Paul hatten noch einmal zu erscheinen, und zwar diesmal als kleine Pagen, die hinter der Königin ritten, als sie zu der großen Schnitzeljagd, die im Zirkus abgehalten wurde, eintraf.

Entzückt von all dem Gesehenen kam Karl nach Hause, und als er heute abend mit dem Nachbar krebsen ging, wie er es versprochen, hatte er nichts im Kopf als die Kunstreiterbrüder.

Sooft es am Morgen seine freie Zeit erlaubte, besuchte er die Knaben zu den Proben, wobei er denn bald Freundschaft mit ihnen schloß, sich wohl auch mal zu Fuß und zu Pferd mit ihnen tummelte.

Dies war jedoch ein Vergnügen, das nicht allzulange dauerte, da die Kunstreitergesellschaft nach, einigen Tagen schon die Nachbarschaft verließ. Karl war recht traurig, als die Freunde fortzogen und das Spiel mit ihnen zu Ende war; er wünschte sehnlichst, seinen Mut und seine Kraft an etwas zu üben; ja, er wäre am liebsten gleich selbst Kunstreiter wie Leo geworden.

Davon wollten natürlich die Eltern nichts wissen. Was aber Mut und Kraft üben anging: »Das wird sich schon finden«, meinte der Vater tröstend. »Denke nur daran, was dir der Herr gesagt hat.«

Karl dachte daran; aber einstweilen fand er noch nichts anderes als Bäume zu erklettern, den Prinzen Friedrich Karl zu spielen, den Feind tüchtig durchzubläuen, mit dem Nachbar fischen oder krebsen zu gehen oder auch mal einen kleinen Streich im Übermut auszuführen, dem der Vater – wenn er in den Grenzen des Scherzes blieb – gelassen zusah. »Jungen«, meinte er, »müssen stark und mutig sein.«

 

Drittes Kapitel.
Im Dienste der Bedrängten.

Der Sommer war vergangen, ebenso der Herbst, und der Winter war ins Land gekommen.

Es hatte geschneit immerzu, immerzu, so daß der Schnee viele, viele Fuß hoch auf den Bergen und in den Wäldern lag. Es hatte gefroren, daß sich die Flüsse und Bäche mit dickem Eis bedeckt hatten, so dick, daß gar kein Wasser mehr darunter zu sehen war, und die Kinder ängstlich fragten, ob denn die Fische nicht erfrieren müßten in dem Eis, worauf man ihnen antwortete, daß sie in den tieferen Gewässern auch wohl noch ein Plätzchen in der Tiefe gefunden haben würden, um geschützt vor dem Frost zu überwintern, bis sie wieder lustig im klaren Wasser und Sonnenschein spielen könnten; freilich, was in den seichten Bächen von Tieren geblieben, das könne wohl hin und wieder verloren gehen, aber das seien nicht viele.

Im ganzen war es ein schöner Winter für die Kinder, das heißt für die, welche warme Kleider, warme Kappen und Kapuzen, warme Handschuhe und Stiefel trugen; für die, welche eine warme Stube, ein warmes Essen, eine warme Tasse Kaffee, oder – je nachdem – einen warmen, gebratenen Apfel in dem warmen Ofen fanden, wenn sie nach Hause kamen. Die konnten sich an den Schlittenbahnen und an dem Eislaufen erfreuen, während die anderen, denen alles jenes mangelte, die im dünnen Kleidchen, mit blau gefrorenem Gesicht und blau gefrorenen Händen, mit kärglich gefülltem Magen herumgingen, sehnsuchtsvoll dem Frühling entgegenseufzten, in dem die liebe Sonnenwärme und die liebe Lenzesluft auch das Leben der Armut leichter macht.

Karl gehörte nun glücklicherweise unter die ersteren. In den Freistunden fuhr er mit den Geschwistern und den Kameraden Schlitten, tummelte sich auf dem Eise, lief hier eine schöne »8« und schwenkte sich auf einem Fuß, so gut, als es ein zehnjähriger Knabe tun kann.

Eines Tages, als er von dem Eisläufen auf dem Teich, der ein halbes Stündchen von dem Städtchen lag, zurückkehrte, traf er mit Emil Lange auf der Landstraße zusammen, der hier mit seinem Schlitten hielt, gerade da, wo ein schmaler Pfad von dieser ab einen kleinen Abhang hinunter in den Wald führte. Diesen Pfad kletterten zwei Kinder mühsam herauf, die unter die Schar mit den dünnen Kleidchen und dem kärglich gefüllten Magen gehörten; sie sahen auch mager und blau gefroren genug aus. Sie zogen beide an einem kleinen Holzschlitten, hoch mit Reisig beladen, das sie im Walde gelesen hatten und nun nach Hause schaffen wollten, damit ihre Stube nicht gar so kalt bleiben möchte.

»Aus dem Wege!« herrschte sie Emil Lange an. Er hatte sich nämlich gefreut, so recht von der Höhe auf der glatten Bahn – zu beiden Seiten lag tiefer Schnee – den Berg hinabzurutschen.

Die Kinder konnten mit dem schwerbeladenen Schlitten nicht gut ausweichen, sie hätten zurückrutschen müssen und waren doch so froh, daß sie damit halbwegs die Höhe erreicht hatten. Sie bedeuteten daher freundlich den reichen Knaben, er möge nur ein wenig warten, ein klein wenig auf der Landstraße weiterfahren, bis sie oben wären.

»Tu es doch«, bat ihn auch Karl, dem die Kinder leid taten. Emil aber war das nicht gewillt.

»Bettelpack!« gab er hochmütig zurück. »Ich werde mich darum genieren« – dann zu den Kindern: »Ich fahre euch in den Grund, wenn ihr nicht gehorcht. Auf der Stelle, sag' ich, aus dem Weg!« – Er setzte seinen Schlitten zum Hinuntergleiten an.

»O bitte, bitte nicht!« rief das eine der Kinder, ein kleines Mädchen.

»Ich werde es dem Lehrer sagen«, begann der Knabe, der mehr Mut hatte als das Schwesterchen.

»Untersteht euch!« – Emil verlor jetzt die Geduld. »Ich werde dich auf deinen naseweisen Mund klopfen«, fuhr er zornig fort, »und nun aus dem Weg!« – Er brachte den Schlitten in Bewegung.

Aber wie der Blitz fuhr Karl dazwischen. Denn blitzschnell war es ihm eingefallen, was der Offizier damals in dem Zirkus gesagt, daß man Mut und Kraft auch im Leben üben könne zum Schutze der Bedrängten, und blitzschnell auch ward es ihm klar, daß der große, reiche Knabe, der zu seinem Vergnügen Schlitten fuhr, wohl warten könnte, bis die armen, schwachen Kinder, die mühsam ihre Tracht Holz gesucht und so weit den Berg hinaufgezogen hatten, glücklich auf der Höhe angekommen wären, ja, daß diese im Recht seien, es zu verlangen.

»Das geschieht nicht«, rief er nun, hielt Emils Schlitten, der eben im Rutschen war, fest und schob ihn samt Emil mit kräftiger Hand aus dem Wege, geradezu in den Schnee. »Die sind zuerst dagewesen, und du kannst warten, bis die Reihe an dich kommt.«

Nun wandte sich aber Emil voll Zorn gegen Karl.

»Wart«, ich will dich –«, er hob drohend den Arm.

»Na, nur zu!« rief Karl mutig, obwohl Emil größer war als er, »ich fürchte mich nicht!«

Emil, der die Hand des »Prinzen Friedrich Karl« von den Kriegen in der Freistunde auf dem Marktplatz kannte, gab klein bei; doch wollte er sich das nicht merken lassen und sagte darum wegwerfend: »Es lohnt sich nicht.« Er hielt aber doch im Fahren und im Schlagen inne, denn er fürchtete sich vor Karl.

»Aber ihr, na wartet!« wandte er sich dann gegen die Kinder, die froh mit ihrer Last auf der Höhe angekommen waren.

»Wenn ich euch begegne, dann –«

Die schreckten zusammen.

»Wenn er euch was tut, sagt es mir«, erklärte ihnen Karl zuversichtlich, »ich nehme euch unter meinen Schutz, und da wird er euch wohl in Ruhe lassen.«

Die Kinder blickten dankbar und getröstet zu Karl hinüber, und von ihm begleitet, fuhren sie der Heimat zu, während Emil jetzt mit seinem Schlitten, still brummend, den Berg hinuntertrollte.

 

Viertes Kapitel.
Der kleine Held.

Der Winter verging. Es wurde warm, so warm, daß die großen Schneemassen auf den Bergen mit einemmal schmolzen und als schäumende, reißende Wasser in das Tal hinunter kamen, um sich hier in die Flüsse und Bäche zu ergießen. Aber auch die hatten ihr Eis gebrochen und schäumten und brausten; sie wurden nun, durch jene verstärkt, immer größer, daß sie zuletzt weit über ihre Ufer traten und das Land weit hinaus überschwemmten. Ihr Wasser drang auch in die Städte, da, wo sie tief, nahe den Flüssen, lagen, und es kam so auch in den unteren Teil von Karls Vaterstädtchen. Da drang es denn in die Keller, und Äpfel, Kartoffeln, Sellerieknollen und Spanischlauch, weiße und rote Krauthäupter schwammen lustig in der schmutzigen Flut.

Aber noch lustiger schiffte Karl, der immer bei allem voran war, darin umher. Eine Waschbütte war sein Kahn, eine Stange sein Ruder, das Schneewasser wurde für ihn zum See, die Kellerwände wurden zu hohen Bergen, und die Wintervorräte des Hauses zu den Überresten, die von dem großen Dampfer »Prinz Albert«, der da untergegangen war, gerettet werden mußten. So hatte er sein Spiel, und die Hausbewohner kamen zu ihren Sachen, die sonst in dem Wasser verdorben wären.

Vor dem Tor der unteren Stadt wurde der Verkehr mit Kähnen bewerkstelligt; hier war Karl natürlich auch zu finden. Da hieß es plötzlich, das Forsthäuschen ist in Gefahr, und einzelne Schüsse wurden von dorther gehört.

Das Forsthäuschen lag eine halbe Stunde vor der Stadt in einem tiefen Wiesengrund und war jetzt rings von Wasser eingeschlossen, so daß es seine Bewohner zu verlassen wünschten, da man nicht wissen konnte, wie lange die Flut währen, und ob das Haus ihr standhalten würde.

Einige der mutigsten, kräftigsten Bürger, mit einem Kahnführer, entschlossen sich, die Leute im Forsthäuschen herüberzuschaffen.

»Nehmt mich mit«, bat Karl, »bitte!«

»Da kann man keine Kinder brauchen«, sagte der Kaufmann Schnell; »ich glaube gar.«

»O bitte, bitte, vielleicht kann ich doch helfen!«

»Unsinn!« brummte der Metzger Schmid.

Karl bat noch einmal.

»Na, laßt ihm den Spaß«, meinte der Bäcker Weber, der den Knaben gern mochte; »den Karl kann man immer brauchen.«

»Na, meinetwegen«, meinten nun auch die anderen – jeder mochte ihn ja gern –, »aber nun stoßt ab!«

»Stoßt ab!« rief der Kahnführer, und sie stießen ab.

Sie fuhren durch die schlammige, trübe, bewegte Flut; manchmal auch mußten sie gehen, an Stellen, wo das Wasser seicht war, dann trugen oder zogen die Männer den Kahn. Karl wollte auch helfen, und er half wirklich, wenn auch nicht an dem Tragen und Ziehen des Kahnes, so doch, indem er einzelne der Gerätschaften, die man mitgenommen hatte, den Männern nachtrug.

Nach einem halben Stündchen kamen sie in die Nähe des Forsthäuschens. Sie machten halt unter einer alten Eiche, die auf einer kleinen Anhöhe stand, um so den Platz zu überschauen und zu überlegen, wie man am besten den bedrängten Einwohnern des Häuschens beikommen konnte.

Das Häuschen selbst stand schon tief im Wasser, ja, sein Unterstock war schon fast ganz von der Flut bedeckt; aus den oberen Fenstern sahen die Einwohner heraus, riefen und winkten, daß man ihnen helfen möchte.

Nachdem die Männer Umschau gehalten und alles reiflich überlegt hatten, beschlossen sie, nach dem mittelsten Fenster des Häuschens zu steuern, weil es das größte war; aus diesem sollten sich die Einwohner in den unten haltenden Kahn herablassen.

Die Männer steuerten nun zu dem Häuschen hin und kamen auch glücklich hier an. Sie schlangen ein starkes Seil um die Pfosten, die von dem Fenster des Unterstocks noch aus dem Wasser heraussahen, banden den Kahn daran, daß er etwas Halt haben möchte, denn er schaukelte tüchtig auf der strömenden Flut hin und her. Endlich lag er ziemlich fest und war bereit, die Einwohner des Forsthäuschens aufzunehmen.

Wie aber sollten die herunterkommen?

Sie hatten nichts, woran sie sich herablassen konnten, wie es die Männer im Kahn vermuteten, und hinunterspringen durften sie auch nicht. Die Höhe war zu groß für einen sicheren Sprung, und selbst, wenn er sie unbeschädigt in den Kahn gebracht hätte, würde dieser durch die Erschütterung sofort ins Schwanken geraten und mit ziemlicher Gewißheit umgeschlagen sein. Guter Rat war teuer. Da fiel es dem Mann im Hause ein, daß eine Leiter im Hofe hängen mußte.

Der Kahn wurde wieder losgemacht; man fuhr in den Hof, fand auch die Leiter, die, an einem Haken hängend, noch ein Stückchen aus dem Wasser heraussah. Man nahm sie ab, fuhr dann zurück an den einmal bestimmten Landungsplatz, legte den Kahn wieder fest und die Leiter an. O weh – sie erwies sich als zu kurz. Von neuem mußte beraten werden. Mittlerweile stieg das Wasser immer höher, auch begann es zu dunkeln.

Eile und Entschlossenheit waren notwendig.

Jetzt wollten die Männer ein starkes Tau hinaufwerfen, das die Leute oben fangen sollten, um sich daran herunterzulassen. Doch das Werfen ging auch nicht. Durch die Bewegung des Werfens bekam der Werfende selbst einen zu unsicheren Stand in dem schwankenden Kahn, so daß er nicht treffen konnte.

Glücklicherweise hatten währenddem die Leute in dem Häuschen ein Stück Seil gefunden.

»Das ist gut«, erklärte der Bäcker Weber. »Wenn es gelingt, unser Tau mit dem Seil zu verknüpfen, ist das Mittel zum Herablassen gefunden.«

Er selbst versuchte sofort die Leiter zu erklimmen. Er war zu schwer, sie schwankte und mußte gehalten werden; zwei hatten vollauf mit dem Kahn zu tun, damit er dabei möglichst ruhig lag; die Kraft des einen, der hier übrig blieb, reichte nicht aus, die Leiter zu halten. Nun versuchte es der Kaufmann Schnell, der leichteste von den Männern, die Leiter zu besteigen; auch er erwies sich als zu schwer. Sie schauten sich an unten in dem Boot, sie jammerten oben, groß und klein – ja, die Kinder weinten.

»Könnte ich denn nicht hinaufklettern?« fragte da Karl mit heller Stimme. »Ich bin leicht.«

»Du?« – verwundert schauten die Männer auf den Knaben. »Wahrhaftig, am Ende ging's. Doch hast du auch Mut und Kraft?«

Mut und Kraft! – Wieder dachte Karl an die Worte des Offiziers im Zirkus. Ja, hier ließ sich wieder Mut und Kraft im Leben üben – zur Hilfe der Bedrängten.

»Ich habe Mut und Kraft«, sagte er fest, warf den blonden Flachskopf zurück und blickte so kühn entschlossen mit den großen blauen Augen ringsum, daß sie es ihm glaubten.

»Aber du kannst ins Wasser fallen, es ist nicht ohne Gefahr.«

»Na, ich werde ja nicht gleich –«, meinte aber Karl unerschrocken, »und wenn – dann werden Sie mich doch wieder herausfischen«, fuhr er kaltblütig fort.

Die Männer lächelten freudig über den Knaben.

»Nun, denn ans Werk«, sagte der Metzger Schmid.

Und Karl erstieg die Leiter, langsam, behutsam, aber sicher und furchtlos. Wohl toste das Wasser ringsum; der Wind peitschte die trüben, schmutzigen Wellen; die Leiter Md auch der Kahn schwankten, und wenn Karl hinuntersah – – es war nicht einladend, ein Bad da unten in der Tiefe oder gar – ach was! – wer denkt daran! Er blickte auf; es war wohl schön hier, hoch über Wind und Wellen zu stehen, die eigene kleine Kraft zu fühlen und sie mit fröhlichem Mut endlich zu üben – zur Hilfe der Bedrängten.

»Hurra!« – Er war oben auf den letzten Sprossen angelangt. Der Mann aus dem Fenster warf ihm das Seil zu, das gerade so weit reichte, daß er es fangen konnte.

Karl, um sicher zu stehen, hielt sich mit einer Hand an der Leiter fest, dann mit der anderen und mit Hilfe seiner gesunden Zähne knüpfte er das starke Tau, das er mitgebracht, an das ihm zugeworfene Stückchen Seil.

Der Mann oben zog – er empfing jetzt mit einem Jubelruf das Tau, das ihn sicher mit dem Kahne verband. Karl hatte sein Werk vollendet, und mit gleichem Jubelruf wurde er unten von seinen Leuten empfangen.

»Sehen Sie, ich habe nun doch helfen können«, sagte er zu dem Metzger Schmid, der seine Hilfe für einen Unsinn erklärt hatte.

»Ja, ja«, lachte dieser, »die Hauptsache hast du gemacht, kleiner Bursche. – Aber jetzt aufgepaßt!« rief er den anderen zu.

Und sie mußten tüchtig aufpassen hier unten im Kahn; es war nicht so ganz leicht, die Leute von oben in Empfang zu nehmen; das Tau mußte tüchtig festgehalten werden, und der daran herabkam auch, damit er nicht so auf einmal in den Kahn hineinfiel. Endlich waren sie denn alle sicher darin angekommen: der Mann, die Frau, die Schwestern, die beiden Kinder und die Magd. Nun wurde schnell nach dem heimatlichen Städtchen gesteuert, denn es war spät geworden.

Sie erreichten es glücklich, und jedermann wußte bald, wie mutig und kräftig sich Karl benommen hatte, und jedermann liebte ihn noch mehr. Der Mann aus dem Forsthäuschen aber blieb sein Freund für immer. Als er im Sommer wieder draußen wohnte und Wirtschaft hielt für die Städter, die da kamen, sich auf den durch die Überschwemmung noch grüner gewordenen Wiesen zu tummeln oder sich in dem schönen Garten, dicht bei dem Hause, der längst keine Spuren des Wassers mehr zeigte, zu erfreuen: da war doch der Karl unter ihnen allen sein liebster Gast. Die Frau Wirtin backte ihm einen Pfannkuchen ganz besonders gut, wie ihn keiner der anderen Gäste bekam; auch durfte er auf die Kirschen- und Pflaumenbäume klettern und hier pflücken und schmausen nach Herzenslust.

 

Fünftes Kapitel.
Schönes Ziel.

Jahre waren vergangen. Karl war längst kein Knabe mehr. Sein Flachshaar war etwas dunkler geworden, sonst aber sah er noch ebenso frisch und blühend aus und blickte noch ebenso lustig in die Welt, wie der Knabe einst getan. Er trug jetzt des Königs Rock von blauem Tuch mit blanken Knöpfen, einen Degen an der Seite und Sporen an den Stiefeln; denn er war ein Leutnant geworden, und zwar ein schmucker, frischer, fröhlicher, mutiger, kräftiger, so recht, wie eigentlich ein Leutnant sein soll.

Und nun kam das Jahr 1870, und mit ihm kam der böse Brief von Frankreich, der unseren Kaiser, damals noch König, so tief beleidigte und in ihm das ganze deutsche Volk. Und »Deutschland, laß marschieren«, heißt es in dem schönen Lied. Deutschland ließ marschieren, d. h. es schickte seine Truppen aus, die Franzosen zu bekämpfen, die es zum großen Teil nicht anders hatten haben wollen. Und auch Leutnant Karl wurde kommandiert, mit seinem Regiment nach Frankreich zu marschieren, um das Vaterland gegen den Feind zu schützen, der viel lieber zu uns gekommen wäre und uns auf das Haupt geschlagen hätte, was glücklicherweise nicht geschehen konnte, da, wie das schöne Lied sagt, die Wacht am Rhein so treu und fest steht, daß sie keinen Feind zu uns hereinläßt.

Und so marschierte denn Leutnant Karl mit seinem Regiment in Frankreich ein und führte seine Soldaten an, so klug und tapfer, wie er einst seine Jungen als »Prinz Friedrich Karl« angeführt hatte. Oft gedachte er dabei des älteren Offiziers und dessen Worte, daß man Mut und Kraft auch im Leben üben könnte, ohne gerade ein Kunstreiter zu sein.

Manche Schlacht hatte nun Leutnant Karl schlagen helfen. Er hatte siegreich mit der Armee auf den Höhen von Weißenburg gestanden, mit ihr den Feind bei Wörth bekämpft, nun kam er auch mit ihr nach Sedan.

Und es war ein heißer Tag. Die Kanonen brummten, das Gewehrfeuer knatterte, Tote und Verwundete fielen ringsum. Aber immer hieß es »Vorwärts!« Und »Vorwärts!« kommandierte auch Leutnant Karl seine kleine Schar, die von den Kugeln des Feindes mehr und mehr zusammenschmolz. Aber immer hieß es: »Aushalten, denn wir müssen siegen«, und immer von neuem feuerte Karl seine Soldaten an; denn immer noch war der Tag nicht gewonnen.

Seine Kompagnie stand vor einer Anhöhe, die war mit Geschützen besetzt, die viel Schaden brachten. Die Kompagnie des Leutnants Karl hatte den Befehl bekommen, sie zu nehmen.

Sie gingen vor. Die Kugeln fielen dicht; der Hauptmann sank, von einer getroffen, zu Boden, ebenso der Premierleutnant. Die Soldaten, hierüber erschrocken, wichen zurück. »Vorwärts, dahinauf!« rief Leutnant Karl, der nie erschrak, und den Säbel in der Hand, drang er vor. Die Soldaten, die ihren Leutnant liebten, konnten ihn doch nicht allein lassen. Und vorwärts mit ihm drangen sie durch den Kugelregen, durch die Reihe der Kameraden, die um sie her zu Boden sanken.

»Hurra!« riefen die Soldaten; »hurra!« rief Leutnant Karl, legte Hand auf die Geschütze, die soviel Schaden getan, und machte sie so zu deutschem Eigentum. Noch ein »Hurra!«, auch die Fahne wurde aufgepflanzt, zum Zeichen, daß hier der Sieg errungen war.

Und Rufen und Schreien ertönte ringsum, Trompeten bliesen »Viktoria«, daß der Tag für heute gewonnen und die Truppen ruhen durften.

Doch inmitten all des Jubels auf deutscher Seite sank jetzt Leutnant Karl in die Knie; die letzte Kugel, die der Feind noch Zeit gehabt abzufeuern, hatte ihn getroffen und seinen Arm zerschmettert. Aber er biß die Zähne zusammen und achtete den Schmerz nicht, war er doch so froh, daß der Feind so weit zurückgedrängt war, daß die mächtige Festung sicher in deutsche Hände fallen mußte.

Leutnant Karl wurde nun in das Lazarett geschafft. Da lag er still und blaß auf dem Bett. Der Arzt kam, er untersuchte die Wunde, er mußte die Kugel entfernen, – auch das schmerzte fürchterlich. Aber Karl biß noch einmal die Zähne zusammen und dachte an den alten Offizier und meinte, daß auch Mut und Kraft nötig sei im Leben, um das Leid zu ertragen, das es mit sich bringen kann, ob jener auch davon nichts erwähnt hatte.

Und so hielt er denn still, ganz still, daß der Arzt sein Werk recht tun konnte, und war still und geduldig während der ganzen Zeit, die er im Lazarett liegen mußte, wenn er auch viel lieber draußen gewesen und weitermarschiert wäre mit den anderen Kameraden. Denn er wollte auch im Leid Mut und Kraft bewahren, die er so sehr im fröhlichen Leben geliebt, die er so gern im heiteren Schaffen geübt hatte.

Nach einigen Wochen wurde er denn auch wieder gesund; er reiste seinem Regiment nach, kämpfte und siegte weiter mit diesem, auch an dem Tage vor Orleans. Sein Mut und seine Tapferkeit waren wohl bemerkt worden, und schöner Lohn wartete sein.

Eines Tages wurde das Regiment, in dem Karl diente, kommandiert, vor dem deutschen Kronprinzen in Parade zu erscheinen.

Es rückte aus mit klingendem Spiel, marschierte an dem hohen Herrn vorbei, stellte sich auf, die Front nach ihm gewandt, und er ging die Reihen entlang, begleitet von seinem Gefolge. Dann wurden einige der Offiziere zu dem Kronprinzen, der gestern angekommen, beschieden. Der hohe Herr wünschte die Orden, die sie sich verdient hatten, ihnen eigenhändig zu übergeben, und unter denen, die so ausgezeichnet wurden, befand sich auch Leutnant Karl. Und als nun dieser glücklich und stolz mit seinem Eisernen Kreuz dahinschritt, erblickte er den Offizier, der ihm vor langer Zeit im Zirkus begegnet und jetzt in dem Gefolge des Prinzen war. Ob der ihn auch erkannte? Der alte Herr, jetzt General, nickte freundlich, als er den Gruß des jungen Leutnants erwiderte. War das nun ein Zeichen, daß er den Knaben wiedererkannte, der ihn einst so wohl gefallen, oder nur ein Zeichen, mit dem er jeden freundlich grüßte, der Mut und Kraft übte.

Ich weiß es nicht, Leutnant Karl wußte es auch nicht; er freute sich aber, daß er den Herrn wiedergesehen, dessen Worte ihm stets im Sinn geblieben waren, und daß er dabei gewesen, als man ihm den Orden gegeben; noch mehr aber freute er sich, daß er ihn mit seinem Mut und seiner Kraft verdient hatte. Und er freute sich hieran immerfort, ebenso wenn die Leute dem hübschen, schmucken Offizier mit dem Kreuz auf der Brust freundlich nachsahen, wenn er seine Soldaten exerzierte, wie wenn er auf Besuch zu Hause mit dem Nachbarn fischen und krebsen ging, oder auch mal wieder auf dessen Kirschbaum kletterte – denn auch das kann ein Leutnant immer noch tun, wenn er Lust dazu hat.


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