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I. Oesterreich-Ungarn und Serbien

Er beginnt seine Ausführungen mit einer Kritik des bekannten österreichischen Ultimatums an Serbien vom 23. Juni 1914. Dies geschieht mit derselben Unehrlichkeit, die wir überall im ersten Teil des Werkes gefunden haben. Ich rede nicht von der hinterlistigen Art, mit der der Autor jeder wichtigeren Behauptung der österreichischen Regierung das Wort «angeblich» beifügt, jede Gegenbehauptung der serbischen oder russischen Regierung als positiv und zweifellos hinstellt. Er musste wissen, dass es seine erste Pflicht war, wenn er irgend unparteiisch schreiben wollte, die Behauptungen beider Teile eben als Behauptungen anzuführen, und ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit auf Grund der Belege zu erörtern. Das Wort «angeblich» wirkt natürlich auf unkundige oder voreingenommene Leser, und das ist auch die Absicht. Aber solche und ähnliche kleine Unredlichkeiten fallen neben den groben Fälschungen des Verfassers nicht ins Gewicht.

Er stellt zunächst die Behauptung auf, dass unter den Forderungen Oesterreichs solche enthalten seien, die einem unabhängigen Staat noch nie gestellt worden sind. Bei seinen so geringen Kenntnissen auf geschichtlichem Gebiet könnte der Autor dies selbst dann kaum wissen, wenn es wahr wäre. Ich will gar nicht von den oft ganz grotesken, ungeheuerlichen Forderungen sprechen, die in früheren Jahrhunderten an die Fürsten und Regierungen unabhängiger Staaten gerichtet wurden. Ich nehme an, dass der Autor nur die neuere Zeit im Sinne hat. Es wird dadurch nur um so offenbarer, welche Sudelei die Arbeit dieses «historischen Forschers» ist – er hat wirklich die Unverschämtheit, sich so zu bezeichnen! – wie er sich keine Aeusserung überlegt oder auch nur an irgend einer Stelle ein Geschichtswerk nachgeschlagen hat, sondern was ihm durch den Kopf schoss, hingeklext hat, damit gleichwertige Geister es annehmen und nachschwatzen konnten.

Der Forderungen des österreichischen Ultimatums sind zweierlei: die einen verlangen die Unterdrückung von Bestrebungen, die nur mit dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie verwirklicht werden können, also das gewöhnlichste und geringste, was ein Staat vom andern verlangt, und zwar auch im Frieden und bei den besten Beziehungen, ohne dass so ungeheuerliche Attentate vorausgegangen sind. Harmlose Demonstrationen gegen fremde Staaten werden unterdrückt und bestraft, Reden und Vorträge verboten: die österreichische Forderung, dass Serbien Vereine auflösen solle, die in ihren regelmässigen Veröffentlichungen die Vernichtung der Monarchie offen forderten und «terroristische Handlungen zur Befreiung der Südslaven» in ihr Programm aufgenommen hatten, die Schulen unterhielten, in denen die Mitglieder im Bombenwerfen und ähnlichen Fertigkeiten unterrichtet wurden, war so selbstverständlich, dass eine Rechtfertigung durch die zahlreichen vorausgegangenen Mordtaten gar nicht erst nötig war. Ebenso selbstverständlich war die Forderung, dass die serbische Regierung Beamte und Offiziere, die sich an solchen Vereinen beteiligten, entlassen müsse. In fast allen Staaten Europas sind hohe Beamte und Generale abgesetzt, Gesandte abberufen worden, weil sie sich durch irgend eine unvorsichtige Aeusserung bei einem Nachbarstaat missliebig gemacht haben, und die österreichische Forderung kann nur dadurch auffallen, dass sie nicht schon lange vorher gestellt worden war!

Neben diesen sachlichen Forderungen enthält die österreichische Note solche formaler Natur, die Veröffentlichung einer Erklärung des Bedauerns der serbischen Regierung in ihrem Amtsblatt und in einem Armeebefehl, sowie die Mitwirkung österreichischer Beamten bei bestimmten Untersuchungen und Vorkehrungen. Wegen blosser Beleidigung von Gesandten sind schon Kriege angedroht und erklärt worden: für die, sei es nähere, sei es bloss entfernte Mitschuld der serbischen Regierung am Mord des österreichischen Thronfolgers war die geforderte feierliche Erklärung eine im Verhältnis geringe Sühne. Noch viel weniger war die Forderung nach einer Mitwirkung österreichischer Beamter bei der Untersuchung gegen die Teilnehmer am Komplott von Sarajewo und bei der Unterdrückung gegen Oesterreich gerichteter Bestrebungen etwas besonderes. Die demokratische französische Republik hat auf den Wunsch der russischen Regierung in überaus zahlreichen Fällen die Mitwirkung russischer Polizeibeamter bei Amtshandlungen gegen russische Revolutionäre gestattet! Nur infolge der im Juli 1914 sofort einsetzenden verlogenen Propaganda russischer und russlandfreundlicher Organe sind die österreichischen Forderungen als unerhört, als nie da gewesen durch ganz Europa ausgeschrieen worden, und wie jede andere Zeitungslüge, schreibt der Autor auch diese freudig nach.

Italien hat in seinem Ultimatum vom 27. September 1911, in dem es selbst behauptete, nur wirtschaftlich geschädigt zu sein, von der Türkei die Räumung von Tripolis verlangt und die Entsendung türkischer Truppen nach einer türkischen Provinz als Kriegsfall erklärt, also einen wirklichen Eingriff in die türkische Souveränität, noch dazu auf einem rein mohammedanischen Gebiet vorgenommen, wie er in der Tat wenigstens in der neueren Zeit nicht vorgekommen ist.

Und vielleicht erinnern sich einige Leser noch daran, wie, als Fürst Alexander von Bulgarien nicht etwa eine gegen Russland gerichtete Politik trieb, die zur Ermordung des Zarewitsch führte, oh nein, als er nur Bulgarien eigenmächtig auf Kosten der Türkei vergrössert hatte, Russland von ihm nicht demütige Erklärungen und Versprechungen – die er bereits freiwillig abgegeben hatte – sondern die Abdankung forderte, und wie Russland dann den General von Kaulbars als ausserordentlichen Gesandten nach Sofia schickte, der in öffentlichen Reden die bestehende Regierung als eine Regentschaft von «Schuften und Verrätern» bezeichnete und das Volk zum Aufruhr aufforderte. Das war ein unerhörter, ein noch nie dagewesener Eingriff in die Souveränität eines andern Staates. Oder darf es irgend jemand zu bestreiten wagen, dass neben diesen russischen und italienischen Präzedenzfällen die österreichischen Forderungen, die nur Sühneerklärungen, gerichtliche und disziplinarische Massnahmen gegen Attentäter und Auflösung von Vereinen verlangten, geradezu als ein Vorbild an Mässigung gelten können?

Nur das gedankenlose Gewäsche, mit dem Europa seit dem Beginn des Krieges überflutet wird, und an dem der Autor einen nicht unwesentlichen schöpferischen Anteil hat, konnte – angesichts des russischen Vorgehens gegen Bulgarien im Jahre 1885 und der erst vor drei Jahren erfolgten völkerrechtlichen Ungeheuerlichkeit des gänzlich unprovozierten italienischen Ultimatums – die im Vergleich dazu geringen Forderungen Oesterreichs nach furchtbarster Herausforderung als «noch nie da gewesen» erscheinen lassen. Der Satz ist auch in der Einleitung zum englischen Blaubuch zu lesen: dort, wo man es besser wusste, ist er natürlich nicht gedankenlos, sondern mit zielbewusster Absicht ausgesprochen.

Selbstverständlich wird man ohne weiteres zugeben, dass die österreichische Note, wenn auch keine ihrer Forderungen unerhört oder übertrieben war, dennoch eine sehr scharfe war, und eine Demütigung Serbiens bedeuten sollte. Es konnte ja auch gar nicht anders sein; und wenn die öffentliche Meinung Europas die österreichische Note wie einen plötzlichen Schreckschuss vernahm, der sie aufscheuchte, so war es, weil sie von der Lage auf dem Balkan nur sehr geringe, durch irgendwelche halbgelesene und halb wieder vergessene und fast immer gefärbte Zeitungsartikel Kenntnis hatte. Die europäischen Regierungen beider Gruppen wurden durch das Ultimatum keineswegs überrascht, höchstens dass sie es nicht bereits in diesen Tagen allgemeinen Urlaubs erwartet hatten. Die englische Regierung liess der österreichischen Regierung noch am 28. Juli durch ihren Botschafter Sir Maurice de Bunsen sagen: «sie habe mit lebhaftem Interesse den Verlauf der Krise verfolgt und lege Wert darauf, die österreichische Regierung zu versichern, «dass sie Sympathien für ihren Standpunkt hege, und ihre Beschwerden – «griefs» – gegen Serbien vollkommen verstehe. England habe keinen Grund, den österreichischen Streitfall mit Serbien zum Gegenstand besonderer Präoccupation zu machen, nur weil der Konflikt weitere Kreise ziehen und den europäischen Frieden in Frage stellen könnte, müsse das Londoner Kabinett ihm seine Aufmerksamkeit zuwenden.» (Note des Grafen Berchtold an den österreichischen Botschafter in London, österreichisches Rotbuch Nr. 41.)

Aber auch die öffentliche Meinung fühlte damals keineswegs so, wie der Autor heute glauben machen will. Um zu zeigen, dass man zum Beispiel in England zunächst ganz auf Oesterreichs Seite war, und wie sehr das ganze Geschrei über das «unerhörte» Ultimatum erst eine spätere und künstliche Aufbauschung ist, die dem russischen Standpunkt zuliebe erfolgte, genügt es, die Urteile der englischen Presse anzuführen. Die «Pall-Mall Gazette» schrieb am 24. Juli 1914 : «Die österreichisch-ungarische Note zeichnet sich durch ihren zugleich festen und gemässigten Ton aus.» Die «Daily News» am 25. Juli: «Die Forderungen Oesterreichs enthalten nichts, was wirklich unannehmbar wäre. Oesterreichs Entrüstung ist nur natürlich, und Serbien täte wohl daran, sich sofort zu unterwerfen.» «Daily Chronicle» vom gleichen Tag: «Die österreichische Note ist tragisch, aber tragisch ist auch der Zwang für die Doppelmonarchie, an ihre Verteidigung zu denken. Oesterreich kann ein solches Vorgehen von seinem Nachbarstaat nicht dulden, ohne seine Würde seinen Bestand aufs Spiel zu setzen.» Der «Standard»: «Es ist nicht unsere Sache, Serbien vor den Folgen seiner Ränke und seines Ehrgeizes zu bewahren. Es hat Oesterreich über jedes Mass herausgefordert.» Das war der Ausdruck der öffentlichen Meinung in England, als die Note erschien, und alles andere ist spätere Erfindung.

Da das österreichische Ultimatum zwar keineswegs der Grund, aber doch der Anlass zum europäischen Krieg geworden ist, das Ultimatum selbst aber ohne Kenntnis der Vorgeschichte des österreichisch-serbischen Streitfalles nicht zu verstehen ist, so muss auf diese Vorgeschichte kurz eingegangen werden. Auch der Autor tut das, gründlich, wie er nun einmal ist, in einem einzigen Satz; es gelingt ihm, die ganze Vorgeschichte in diesem einen Satz in ihr Gegenteil zu verkehren. Er schreibt: «Die engen Beziehungen Russlands zu Serbien wären niemandem ein Geheimnis gewesen, seitdem eine Balkanfrage existiert. Rassen- und Religionsgemeinschaft, politische Tradition und Interessen verbanden die beiden Länder von jeher und hatten eine Art Verwandtschaftsverhältnis zwischen ihnen hergestellt, welches weit über den Rahmen der üblichen Interessensphäre hinausging». Beinahe jedes Wort in diesem Satz ist freche Geschichtsfälschung.

Denn all dies bestand in der Tat, aber – wenigstens bis in die jüngste Zeit – zwischen Serbien und Oesterreich. Serbien ist von Russland durch zwei unabhängige Staaten, und war in früheren Jahrhunderten durch noch weit grössere Gebiete von ihm getrennt. Viele hundert Kilometer unwirtlichen und feindlichen Landes lagen zwischen beiden und machten jede Verbindung unmöglich. Von irgend einer geschichtlichen Gemeinschaft oder Tradition ist keine Rede und konnte keine Rede sein. Dagegen grenzen die beiden Serbenstaten, Serbien und Montenegro, mit einer sechshundert Kilometer langen Grenze an Oesterreich-Ungarn, und ihre Geschichte ist tief in die österreichische Geschichte verwoben. Schon im Mittelalter sind die Serben wiederholt durch ungarische Heere vor den Türken gerettet worden. Als im fünfzehnten Jahrhundert die Türken endlich Serbien unterjochten, floh ein grosser Teil der Bevölkerung nach Ungarn und wurde in den Provinzen Banat und Bácska angesiedelt. Oesterreichische Heere unter Prinz Eugen brachten dann auch den Unterworfenen die Freiheit wieder, und im achtzehnten Jahrhundert bildete Serbien durch längere Zeit einen Bestandteil der Monarchie.

Von den Türken wieder unterworfen, standen die Serben immer wieder gegen sie auf und begehrten immer wieder zu Oesterreich zu kommen. Diese Bitte ist von den verschiedenen Führern und Fürsten des Serbenvolkes noch im neunzehnten Jahrhundert wiederholt gestellt worden! Erst jetzt begannen die ersten russisch-serbischen Beziehungen, und zwar im Jahr 1804, in welchem die Serben, da Oesterreich, durch die napoleonischen Kriege zu sehr in Anspruch genommen, einem serbischen Aufstand gegen die Türken keine Hilfe zusagen wollte, sich an Russland um Unterstützung wendeten. Gleich die ersten Folgen dieser Verbindung waren kennzeichnend: 1808, nach dem Frieden von Tilsit, wurden zwischen dem Zaren Alexander und Napoleon Verhandlungen über eine Teilung des Balkans angeknüpft, nach denen Oesterreich Bosnien und einen Teil Serbiens erhalten sollte. Als es zum Aufstand kam, und die Serben auch ohne russische Hilfe die Türken schlugen, wurden sie im Frieden von Bukarest am 28. Mai 1912 von den Russen verlassen und Serbien den Türken zurückgegeben.

Ein Autor, der jahrelang in serbischen Diensten stand, der die serbischen Freiheitskämpfe mitmachte, und dann ihre Geschichte schrieb, drückt sich über die Vorgänge jener Jahre in folgender Weise aus: «Die Anhänglichkeit, die die Serben, insbesondere ihr Oberhaupt (Karagjorje) den Russen bewiesen, hätte einen bessern Lohn verdient, als sie in der Folge erhielten. Aber was liegt einem grossen Reiche daran, dass ein kleiner Staat sich für sein Interesse opfert?! Nach geleistetem Dienst wird er preisgegeben: ist die Ehre, ihm Hilfe geleistet zu haben, nicht Lohn genug? Was können die kleinen Mächte denn anders erwarten, als bei den Verhandlungen der Grossen als Kompensationsobjekte zu dienen? Dies ist das Los Serbiens im Jahr 1812 gewesen.» (B. S. Cunibert, Essai historique sur les Révolutions et l'Indépendance de la Serbie depuis 1804 jusqu'à 1850, Bd. I, S. 46.) Das war die «erste» Hilfe, die Serbien von Russland erhielt, und der Anfang des vom Verfasser gepriesenen Freundschaftsbundes. Welche Hilfe es im gegenwärtigen Krieg erhalten und welche glücklichen Folgen die russischen Ratschläge dem Lande gebracht haben, ist bekannt. Von dem damaligen Verhältnis der Beziehungen zwischen Oesterreich und Serbien sagt der gleiche Autor: «Was auch immer diejenigen, die Oesterreich nicht lieben, sagen mögen, diese Macht hat sich gegen die serbischen Führer während des ersten und zweiten Aufstandes, besonders bei der Katastrophe von 1813, wenn nicht hochherzig, so mindestens mitfühlend, gezeigt»; und es folgt eine seitenlange Schilderung all dessen, was Oesterreich damals für die Serben getan, «wenn auch politische Rücksichten es hinderten, ihnen offen Schutz und Unterstützung zu gewähren». «Quoi qu'en disent ceux qui aiment peu l'Autriche, cette puissance se montra sinon généreuse, au moins compatissante envers les chefs serbes pendant la première et la seconde insurrection, surtout dans la catastrophe de 1813. Si des considérations politiques ne lui permettaient pas de leur accorder ouvertement appui et protection ...» (S. 57/58 u. ff., Bd. I.)

Immerhin begann hinfort auch Russland neben Oesterreich die serbischen Unabhängigkeitsbestrebungen zu unterstützen. In welcher Weise dies geschah, das schildert der gleiche Autor aus eigenster Erfahrung in Jahr 1839: «Die Politik dieser Macht – Russlands – ist in allen türkischen Gebieten, über die ihr Einfluss sich ausdehnt, die, sie nur gemäss den Zielen seines eigenen ungeheuren Ehrgeizes handeln zu lassen und zu verhindern, dass irgend etwas daselbst stetig werde, oder ein definitiver Zustand sich bilde. Diese Gebiete sind eine Beute, die sie begehrt, und wenn der Tag kommen wird, ihre Hand auf sie zu legen, wird es ihr um so leichter sein, sich ihrer zu bemächtigen und sie sich einzuverleiben, ohne Widerstand zu finden, weil die beständigen Veränderungen dem Volk nicht Zeit gelassen haben werden, sich einer Dynastie innig anzuschliessen, oder sich an irgend eine Einrichtung wirklich zu gewöhnen. Man hat im Laufe dieser Geschichte gesehen, wie Russland mit seinem Schutz für Serbien prunkt, um sich die Möglichkeit zu sichern, in die Angelegenheiten des Landes einzugreifen und es auf den Wegen seiner eigenen Politik mitziehen zu können; wie es aber gleichzeitig diesen Schutz auf stets verspätete und ungenügende Hilfe beschränkt und sich wohl hütet, ihm soweit zu helfen, dass es seine völlige Unabhängigkeit erlangen oder sein Verhältnis zur Türkei endgültig regeln würde» (ebenda Band II, S. 555).

Dies alles könnte mit geringen Aenderungen auch von den russisch-serbischen Beziehungen der letzten Jahrzehnte und Jahre geschrieben sein. Im Jahre 1878 erlangte Serbien indirekt durch die russisch-rumänischen oder eigentlich rumänischen Siege seine Unabhängigkeit. Trotzdem lehnte es sich, wie es aus dem nachbarlichen Verhältnis sich von selbst ergab, sofort wieder an Oesterreich-Ungarn an; die kleine russenfreundliche Partei im Lande hatte gar keinen Einfluss, und im Jahre 1885 wurde Serbien nach der Schlacht von Slivnitza von Oesterreich durch die Drohung bewaffneten Einschreitens vor den Bulgaren gerettet, wie Montenegro im Jahre 1853 durch Oesterreich vor Omer Pascha und den Türken gerettet worden war. Wie kommt es, wenn, wie der Autor lügt, «eine Tradition von jeher, eine Art Verwandtschaftsverhältnis die beiden Länder verband», dass im Jahre 1885 nicht Russland für das bedrohte Serbien eintrat? Auch im Jahre 1877/78 während des russisch-türkischen Krieges hatte Oesterreich-Ungarn nicht weniger als 200,000 flüchtige Serben, zum Teil auch andere Balkanslaven, auf seinem Gebiet aufgenommen und ihnen Schutz und Verpflegung gewährt, wodurch dem Budget eine Mehrbelastung von 35 Millionen Kronen erwachsen war. Dies war einer der Gründe, auf die die englische Regierung auf dem Berliner Kongress ihren Antrag stützte, dass Oesterreich-Ungarn Bosnien besetzen sollte.

Von irgendwelchen russisch-serbischen Beziehungen und Interessen war bis in die letzte Zeit überhaupt nie die Rede. Handelsbeziehungen bestehen nicht; fast die gesamte Ausfuhr Serbiens geht nach Oesterreich-Ungarn, ein kleiner Teil nach Italien und Aegypten; 60% der Einfuhr kommen aus der Monarchie, der Rest in erster Linie aus dem Deutschen Reich, dann aus Frankreich, einige wenige Prozente verteilen sich auf andere Länder. Politische Probleme, die die Russlands irgend berühren würden, gibt es in Serbien nicht, noch umgekehrt. Von alledem, was der Autor aufzählt, bleibt nur die Religionsgemeinschaft, die im Grunde auch keine wirkliche Gemeinschaft ist, nicht nur weil die serbische Kirche autonom ist, die die tiefsten und bittersten Feindschaften, wie die zwischen Serben und Bulgaren, nie verhindern konnte.

So könnte man in Wahrheit sagen, dass Russland in Serbien überhaupt kein Interesse hat, ausgenommen das eine, Oesterreich Schwierigkeiten zu bereiten. Auch dieses Interesse konnte Russland erst seit dem Sieg der russenfreundlichen Partei in Serbien und der Ermordung des letzten Obrenowitsch im Jahre 1903 wahrnehmen, und es kann nur dadurch bestehen, weil die beiden Länder so weit getrennt sind und gar keine gemeinsame Probleme haben; denn alle Russland benachbarten oder gar ihm einverleibten slavischen Völker sind seine Todfeinde, und sie wissen wohl warum, und die ganze Welt weiss es auch.

Die innigen russisch-serbischen Beziehungen waren im Jahr 1914 genau zehn Jahre alt!

Seitdem allerdings ist Serbien eine Art russischen Vorpostens auf dem Balkan gewesen. Wie weit russische Agenten an der Entstehung der panserbischen Propaganda beteiligt sind, wird sich schwer feststellen lassen. Dass sie sie geschürt haben, ist sicher. In einer Depesche vom 7. November 1910 spricht der belgische Gesandte in Berlin, Baron Greindl, von der «Agitation, die Russland in den kleinen slavischen Staaten, insbesondere in Belgrad, gegen Oesterreich-Ungarn unterhielt», «l'agitation qu'elle entretenait dans les petits etats slaves et surtout à Belgrade contre l'Autriche-Hongrie», und die es damals auf sehr ernste deutsche Warnungen hin hatte einstellen müssen.

Aber wahrscheinlich wären die nationalistischen grossserbischen Bestrebungen auch ohne russische Schürung entstanden, und wir wollen sie auch gar nicht unnatürlich finden. Es ist an sich durchaus begreiflich, dass die nationalistische Partei in Serbien den Wunsch hegt, zu den 2 ¼ – nach dem Balkankrieg etwas über 3 – Millionen Serben des Königreichs die fünf Millionen Serbokraten, die zur Monarchie gehören und das von ihnen bewohnte Gebiet hinzuzuerwerben und so Serbien zum mächtigsten Staat auf dem Balkan und am Ostufer der Adria zu machen. Das ist nur natürlich.

Aber ebenso natürlich und wohl noch natürlicher ist, dass die Monarchie niemals gutwillig auf diese fünf Millionen Untertanen und dieses Gebiet verzichtet hätte, umsoweniger, als die überwältigende Mehrzahl dieser fünf Millionen auch nicht die geringste Lust hatte, oder hat, Bürger des Königreiches Serbien zu werden. Schon deshalb nicht, weil von den 3½ Millionen, die in Oesterreich oder Ungarn leben, 2½ Millionen Katholiken sind – diese nennen sich Kroaten – und von den 1½ Millionen Serben, die in Bosnien und der Herzegowina beinahe 2/3 teils Katholiken, teils Mohammedaner sind, und beide, Mohammedaner wie Katholiken, die orthodoxen Serben bitter hassen.

Ausserdem ist die Verwaltung in den österreichischen Gebieten die weitaus bessere, Ackerbau, Handel und Industrie sind zu ganz anderer Höhe entwickelt; die öffentliche Sicherheit, die Integrität des Gerichtswesens und der Beamtenschaft sind eine ganz andere. Die wirtschaftlichen Gründe zum Abfall fehlen. Die beiden Provinzen Bosnien und Herzegovina waren bei Ausbruch des Krieges gerade 36 Jahre unter österreichischer Verwaltung. Da ihre Besetzung durch österreichische Truppen gleichzeitig mit der Gründung des serbischen Königreichs stattfand, so ist es möglich und lehrreich, die auf beiden Seiten erreichten Resultate zu vergleichen. Die Bevölkerung nahm in beiden etwa gleichmässig zu. In der Zeit von 1878–1910 wuchs die Bevölkerung der bosnischen Provinzen von 1,158,164 auf 1,898,044, in Serbien von 1,669,337 auf 2,911,701. (Man bedenke, dass in dem unter englischer Verwaltung stehenden Irland die Bevölkerung in der selben Zeit um mehr als eine Million Seelen zurückging!) Dagegen stieg der Handel – Einfuhr und Ausfuhr zusammen – in Bosnien von 8 Millionen Kronen im Jahre 1879 auf 277 Millionen im Jahre 1910; in Serbien von 80 Millionen im Jahre 1879 auf 204 Millionen im Jahre 1910. An Pferden wurden in Bosnien 1879 160,000 gezählt; 1895 war ihre Zahl auf 237,000 gestiegen, während sie in Serbien elf Jahre später, 1906 erst 172,000 Köpfe betrug. Ebenso vermehrte sich das Rindvieh in Bosnien während der gleichen Zeitdauer von 762,000 auf 1,417,000 Köpfe; in Serbien zählte man wiederum 1906 erst 932,000 Köpfe. Bosnien besitzt die dreifache Zahl an Ziegen, weit mehr Schafe; nur die Schweine sind in Serbien etwas zahlreicher. Wenn bei neueren Zählungen sich, soweit der Viehstand in Frage kommt, in den Provinzen seither keine merkliche Vermehrung gezeigt hatte, so ist dies wesentlich auf die immer steigende Viehausfuhr nach der Monarchie zurückzuführen. Obschon Bosnien ein bergigeres und öderes Land als Serbien ist, und obschon die Bevölkerung Serbiens die der Provinzen um eine volle Million, ja mehr übersteigt, hatte das bosnische Eisenbahnnetz bereits im Jahre 1902 eine Länge von 963 km erreicht, in Serbien im Jahre 1906 erst eine Länge von 562 km. Bei den Landstrassen ist das Verhältnis das gleiche. – Es muss billig zugegeben werden, dass die Agrarverfassung im Königreich Serbien besser zu sein scheint, in dieser Hinsicht bestehen in den Provinzen besondere Schwierigkeiten; doch findet die Ablösung der «Kmeten», ihr Ersatz durch freie Grundbesitzer oder ihre Umwandlung in solche, in Bosnien in jährlich steigendem Masse statt. Und weil nicht daran zu denken war, dass Oesterreich-Ungarn und die übergrosse Mehrzahl der österreichisch-ungarischen Serben je gutwillig und auf friedlichem Weg auf die Abtretung dieser Gebiete eingehen würden, so mussten diese Bestrebungen, wenn sie nicht aufgegeben wurden, früher oder später unausweichlich zum Kriege zwischen Oesterreich und Serbien führen. Und weil Russland diese serbischen Bestrebungen unterstützte, und nur darum, konnten sie auch zu einem österreichisch-russischen und damit zu einem europäischen Kriege führen.

Die Feindschaft der Serben wuchs, als Oesterreich im Jahre 1908 die Annexion von Bosnien und der Herzegowina verkündete. Die serbische Regierung protestierte bei den Mächten gegen die Annexion, als gegen «eine tiefe Verletzung der Gefühle, Interessen und Rechte des serbischen Volkes». Nun ist es natürlich immer verletzend für die Gefühle und Interessen einer Person oder eines Volkes, wenn ein anderer das hat oder nimmt, was sie selber gern haben wollen; woher aber Serbien ein Recht auf diese Provinzen herleiten will, ist ganz unerfindlich, es wäre denn, sie beriefen sich auf die Tatsache, dass im Mittelalter – vor ungefähr sieben Jahrhunderten – serbische Könige sie beherrschten, und dass ein Teil der Bevölkerung noch heute aus orthodoxen Serben besteht. Mit genau dem gleichen Recht könnte Oesterreich heute einen grossen Teil der Schweiz beanspruchen, weil er im Mittelalter österreichischer Besitztum war, und ein grosser Teil der Bevölkerung auch heute noch deutsch und katholisch ist. Oesterreich hatte die beiden Provinzen kraft eines europäischen Mandats besetzt; es hatte sie mit Waffengewalt erobert, und zwar nicht etwa von den Serben, sondern von deren Todfeinden, den Mohammedanern. Es hatte die Provinzen glänzend verwaltet und zu einer Blüte gebracht, wie sie sie vorher nie gekannt; es war der österreichischen Regierung gelungen, selbst die Mohammedaner zu versöhnen, mit denen sie einst um den Boden gekämpft hatten und sie in treueste Untertanen zu verwandeln; es hatte ungeheure Kapitalien auf die Provinzen verwendet und dort investiert: nur ein Wahnsinniger konnte sich einbilden, dass Oesterreich jemals die Provinzen wieder aufgeben würde, und nur ein hoffnungsloser Theoretiker kann leugnen, dass die Annexion nur die amtliche und feierliche Bestätigung eines tatsächlichen Zustandes bedeutete, der durch volle dreissig Jahre bestanden. Höchstens die Türkei hatte ein – rein formelles Der Artikel 25 des Berliner Kongresses legte der Okkupation und Verwaltung der Provinzen keine zeitliche Beschränkung auf. Dagegen wurde in einem besonderen Abkommen, das am 13. Juli 1878 zwischen Oesterreich und der Türkei getroffen wurde, die Okkupation als «provisorische» bezeichnet, weil die türkischen Vertreter, – Karatheodory Pascha, Mehemed Ali Pascha und Saadullah Bey – dies «zu ihrer persönlichen Deckung» verlangt hatten; gleichzeitig gaben sie das feierliche Versprechen ab, dass die Türkei aus dieser Bezeichnung Oesterreich gegenüber nie ein Recht ableiten würde. In einem neuerlichen Abkommen, das am 21. April 1879 zu Konstantinopel unterzeichnet wurde, blieb die Bezeichnung «provisorisch» weg, und die Okkupation wurde ausdrücklich in der Weise, «in der sie im Artikel 25 stipuliert sei», gutgeheissen. Doch wurden dem Sultan seine Souveränitätsrechte gewahrt, so dass er 1908 tatsächlich ein formelles Recht zum Protest hatte. – Recht, gegen die Annexion Protest zu erheben, aber niemals Serbien. Und mit der Türkei hat Oesterreich sich seither – am 25. Februar 1909 im Protokoll von Konstantinopel – darüber geeinigt. «Servia had no legitimate grievance», «Serbien hatte kein Recht, sich zu beklagen», das gibt selbst der politische Leiter der «Times», W. Steed, in seinem Werk «The Hapsburg Monarchy» auf Seite 256 zu.

Es mag gut sein, daran zu erinnern, dass der erste, der die Okkupation der beiden Provinzen durch Oesterreich anregte, der noch regierende König, damals Fürst Nikita von Montenegro, war, der im Frühling 1875 den Kaiser Franz Josef in Dalmatien aufsuchte, um ihm diesen Vorschlag zu machen. Im folgenden Jahr bot Russland bei der Begegnung des Kaisers mit dem Zaren Alexander II. in Reichstadt am 8. Juli 1876 Oesterreich nicht nur die Besetzung, sondern die Annexion des grössten Teils von Bosnien und der Herzegowina an, und in einem am 13. Juli 1878 zwischen der österreichischen und der russischen Regierung geschlossenen Geheimvertrag wurde abgemacht, dass die Okkupation keine zeitweilige, sondern eine definitive sein sollte, was nur den Sinn haben konnte, dass Russland die früher oder später zu erfolgende Annexion guthiess.

Wenn hier Leute im Namen des Selbstbestimmungsrechts der Völker einwenden wollten, dies alles seien Regierungsabmachungen, gegen die die Serben sich im Interesse ihrer nationalen Einigung verwahren oder auflehnen könnten, so braucht man sie nur darauf hinzuweisen, wie die Dinge wirklich liegen und welche Folgen die Eroberung der Provinzen durch Serbien nach sich ziehen, welches Unheil sie über das Land bringen müsste. Wenn Oesterreich die grossserbische Agitation nicht zulässt, so gestattet es in allem übrigen den orthodoxen Serben volle Freiheit im Gebrauch ihrer Sprache, ihrer Schrift und Religion; ja, sie haben gemäss ihrer Zahl die vorwiegende Macht im Landtag – nur dass den kroatischen und mohammedanischen Minoritäten die gleichen Rechte gewahrt bleiben. In den Landtag der Provinzen, dessen Wählerschaft nach der Religion, als dem entscheidenden Merkmal in der Bevölkerung, eingeteilt ist, wählen die Katholiken 30, die Mohammedaner 42, die Juden 1 und die orthodoxen Serben 54 Vertreter. Der Vorsitzende des Landtages war Serbe. Es ist dem Baron Burian, der 1903 als Nachfolger Herrn von Kallay's die Verwaltung der Provinzen übernahm, sogar sehr zum Vorwurf gemacht worden, dass er «das serbische Element systematisch bevorzuge». Gelänge es den Serben, sich der Provinzen zu bemächtigen, so würden die Minoritäten – die zusammen die Mehrheit der Bewohner sind! – ein anderes Schicksal erfahren. Man braucht nur die Ergebnisse der von der Carnegiestiftung veranstalteten «Enquête dans les Balcans» zu lesen, deren Berichte 1904 in Paris erschienen sind, um zu wissen, wie die Serben nationale Minoritäten in Mazedonien und Neuserbien behandelt haben. Dass Bosnien und die Herzegowina österreichisch sind, bewahrt zwei Drittel ihrer Bewohner vor dem furchtbaren Schicksal, dass die serbischen «Befreier» ihnen bereiten würden. Man vergleiche auch das Gesetz, das Serbien für seine neuerworbenen Gebiete erlassen hat, das im serbischen Amtsblatt, der «Srpske Novine» vom 23. September 1913 erschienen und in der (gleichfalls im Verlag von Ferdinand Wyss in Bern herausgegebenen) Schrift «Serajéwo. La Conspiration Serbe contre la Monarchie Austro-Hongroise» auf Seite 171 abgedruckt ist.

Die Serben im Königreich waren jedenfalls erbittert durch die Annexion, und diese Erbitterung wuchs, als die österreichische Regierung nach den Erfolgen der Serben im Balkankrieg 1912 ihrem langgehegtem Wunsch, einen Hafen an der Adria zu erwerben, entgegentrat und die Erfüllung verhinderte. Man wird ihre Erbitterung auch vollkommen begreiflich finden, dennoch konnte die österreichische Regierung nicht anders handeln, so lange Serbien ein russischer Vasallenstaat war, dessen Regierung sich nach den Befehlen des russischen Gesandten richtete. Ein serbischer Hafen an der Adria hätte der Flotte jeder feindlichen Macht zur Verfügung gestanden, die mit Russland im Bunde war; im gegenwärtigen Krieg würde die englisch-französische Flotte dort einen trefflichen Stützpunkt gefunden haben. Darum konnte Oesterreich eine Gebietserweiterung nicht zugeben, die es einem befreundeten Serbien sicherlich bewilligt hätte. Aber wie die Dinge lagen, konnte es die Besetzung eines adriatischen Hafens durch Serbien so wenig gestatten, als etwa die Vereinigten Staaten zugeben könnten, dass ein Hafen in der Nähe von San Francisco von einer Macht besetzt würde, die von Japan abhängig oder beeinflusst wäre. Als der Präsident von Mexiko, Porfirio Diaz, Japan eine Flottenstation an der Magdalenenbai einräumen wollte, begnügte sich auch die Regierung von Washington nicht mit einem Protest, sondern schickte im März 1911 20,000 Mann an die Grenze. Es ward die wesentliche Ursache von Diaz' Sturz.

Es ist bereits gesagt worden, dass die «Narodna Odbrana», deren Auflösung Oesterreich in seiner Note verlangte, in ihren Publikationen die «Vernichtung Oesterreichs, als des ersten und grössten Feindes des Serbenstammes» forderte. Nicht weniger als 762 Schützenvereine waren ihr angegliedert. Die zwei Schulen, in denen Freiwillige im Bombenwerfen, Minenlegen und ähnlichem unterwiesen wurden, diese Schulen wurden von einem aktiven serbischen General Bozo Jankovic regelmässig inspiziert. Auf österreichischem Boden wurden geheime Zweigvereine gegründet. In serbischen Schulbüchern, denselben, deren Aenderung Oesterreich zur Entrüstung des Verfassers forderte, ja in Reisebüchern, die in deutscher Sprache geschrieben sind und verkauft werden, sind die österreichisch-ungarischen Provinzen «als Teile Serbiens» bezeichnet, «die noch nicht vom fremden Joch befreit sind».

Ist es unerhört, dass Oesterreich verlangte, dass dem ein Ende gemacht werde? Es hatte der Gründe mehr. Die Agitation in Serbien hatte blutige Früchte getragen. Attentat folgte auf Attentat. Am 8. Juni 1912 wurde der königliche Kommissär für Kroatien, Baron Cuvaj, in den Strassen von Agram von einem gewissen Jukic verwundet, der Rat von Herwic, der neben ihm im Wagen sass, erschossen. Der Täter hatte in Belgrad von einem serbischen Offizier Bombe und Browning erhalten. Am 18. August 1912 verübte Stefan Dejcic ein Attentat auf den Kommissär Baron Skerlecz, am 20. Mai 1913 versuchte Jacob Schäfer denselben inzwischen zum Banus von Kroatien ernannten Beamten zu töten. Bogdan Serajic versuchte den Statthalter von Bosnien, General von Varesanin, zu ermorden; dafür feierten ihn serbische Zeitungen als Nationalhelden. Am 17. Juni 1914 erfolgte die Ermordung des Thronfolgers und seiner Gemahlin. Da war das Mass voll.

Wiederum hatten die Mörder ihre Waffen – serbische Armeehandgranaten und Pistolen – in Serbien aus dem Staatsarsenal in Kragujewac erhalten; serbische Offiziere insbesondere der oft genannte Major Tankosic hatten sie im Gebrauch dieser Waffen ausgebildet, serbische Polizeibeamte hatten sie über die Grenze nach Bosnien geleitet.

Als die Tat bekannt wurde, umarmten in den serbischen Städten die Leute einander in den Strassen, und in Nisch hielt der Vorsitzende der Ortsgruppe der «Narodna Odbrana» eine Rede, in der er sagte : «Serbien ist durch diese Tat gerettet, und einer derer, die ihm gefährlich waren, ist aus dem Wege geräumt. Jetzt wird Serbien für mehrere Jahre Ruhe haben, denn der neue Thronerbe in Oesterreich wird sich hüten, in den Spuren seines Vorgängers zu wandeln.» Oesterreichisch-ungarische Konsularberichte : Rotbuch Nr. 1, 2, 3, 2, 3, 5, 10, Beilage 10, 1.)

Das Mass war voll. Seit zwei Jahren drohte der Krieg zwischen Oesterreich und Serbien auszubrechen, und nicht nur von österreichischer, auch von serbischer Seite. Seit zwei Jahren stand ein Teil der österreichischen Armee mobilisiert an der serbischen Grenze. Man sprach und schrieb in Oesterreich seit zwei Jahren von nichts anderem. Daher kam es auch, dass in einem Augenblick besonderer Spannung die österreichische Regierung bei der italienischen anfragte, wie sie sich, wenn es zum Krieg käme, und wenn Russland, wie zu befürchten stand, auf Seiten Serbiens eingreifen sollte, verhalten würde. Italien lehnte ab, weil es jedem Vorgehen Oesterreichs auf dem Balkan feindlich gegenüberstand – eben darum war auch angefragt worden – und weil es, wie wir gesehen haben, heimlich bereits an die Entente geknüpft war. Nur ein so vollkommen unwissender Mensch, wie der Autor, kann bei der Erwähnung dieser sogenannten «Giolittischen Enthüllung» – auf Seite 104/5 seines Buches – davon sprechen, dass Oesterreich damals den Krieg gegen Serbien «ohne jeden zwingenden Grund vom Zaune brechen» wollte, und dass Deutschland damals abriet, weil es den Krieg «noch» nicht wollte. Wenn Deutschland damals abriet, so geschah es, weil die Ermordung des Thronfolgers noch nicht geschehen, der serbische Kampf gegen Oesterreich noch nicht in seiner ganzen Rücksichtslosigkeit und in all seinen Zielen enthüllt war. Als es nun zum Ultimatum vom 23. Juli kam, konnte es der Welt als etwas Plötzliches und Gewaltsames erscheinen; für Oesterreich war es das notwendige Endergebnis einer langen Reihe von Ereignissen, die Serbien und Russland mehr oder weniger zielbewusst herbeigeführt hatten. Oesterreich hatte nur zu lange geduldet, was kein anderer Staat geduldet hätte. In diesem Punkt gibt selbst der Oesterreich so bitter feindlich gesinnte Verfasser der «Politica Estera Italiana» der österreichischen Regierung vollkommen Recht. «Die österreichische Politik», sagt er auf Seite 917 bei Besprechung der serbischen Frage, «ist eine Verteidigung seiner staatlichen Existenz», und auf Seite 945: «Man kann sagen, dass Oesterreich zur Verteidigung der eigenen Existenz handelt, wenn es gegen den Serbismus vorgeht.»

Uebrigens entsprachen die österreichischen Forderungen, abgesehen von ihrer innern Notwendigkeit und Rechtfertigung durch die vorausgegangenen Ereignisse, durchaus dem geltenden Völkerrecht; der Professor des Völkerrechts an der Universität Brüssel, Alphonse Rivier, schreibt: «Agitationen, die in einem Lande unter dem Vorwand der Nationalität, der Revanche, der Religionsgemeinschaft usw. gegen die Unverletzlichkeit des Gebietes eines andern Landes begünstigt, gehegt oder nur geduldet werden, widersprechen dem Recht der Selbsterhaltung und sind daher als positive Verletzungen des Völkerrechts anzusehen. Der Staat, auf dessen Gebiet diese Agitationen vorgenommen werden, hat die Pflicht, sie zu unterdrücken, sobald sie ihm angezeigt werden; andernfalls macht er sich zum Mitschuldigen. Wenn seine Gesetze ihm nicht genügende Mittel zu ihrer Unterdrückung an die Hand geben, so mag der verletzte Staat sich vielleicht bereit zeigen, seine Entschuldigungen anzunehmen und sich damit begnügen; andernfalls kann der verantwortliche Staat verhalten werden, seine Gesetzgebung zu ändern; wenn er dies nicht kann oder nicht will, so hat er die Folgen zu tragen.» «Les agitations fomentées, entretenues, même simplement tolérées dans un pays contre l'intégrité du territoire d'un autre pays sous couleur de nationalité, de revanche, de solidarité religieuse etc., sont directement contradictoires au droit de conservation et constituent, à ce titre, des violations positives du droit des gens. L'état sur le territoire duquel ces agitations existent, a le devoir, dès qu'elles lui sont signalées, de les réprimer: sinon il s'en rend complice. Si ses lois ne lui donnent pas de moyens suffisants de repression, l'Etat lèsé consentira peut-être à recevoir ses excuses et à s'en contenter; sinon l'Etat responsable pourra être mis en demeure de changer sa législation : s'il ne veut ou ne peut, il en supportera les conséquences. (A. Rivier, «Principes du Droit des Gens.» Paris, 1896.) Aehnlich drücken sich englische, französische und amerikanische Völkerrechtslehrer aus. S. eine Zusammenstellung der einschlägigen Aeusserungen bei Eduardo L. Llorens, «La Guerra y el Derecho», «Der Krieg und das Recht» (spanische und deutsche Ausgabe, Hamburg 1916). Von welcher Seite immer man den Streitfall und die Note betrachtet, ob von der politischen oder von der juristischen, ist Oesterreich im Recht und Russland im Unrecht.

Aber da für Europa und Amerika dieser Südostwinkel unseres Staates und die Vorgänge dort eine unbekannte Ferne bedeuten, so konnte das Ultimatum wie ein plötzliches Ereignis erscheinen, das mitten in eine friedliche Welt fiel.

Dadurch wurde jene ungeheuerliche Geschichtslüge möglich, die im Herbst 1914 von London, Paris und St. Petersburg aus über die Entstehung des Weltkrieges verbreitet wurde, und an deren Verbreitung der Autor so lebhaft und erfolgreich mitgearbeitet hat, nur so konnte gesagt und geglaubt werden, dass das österreichische Ultimatum eine zwischen der österreichischen und deutschen Regierung abgekartete Tücke war, um den Weltkrieg zu entfesseln.

Für die europäische Diplomatie wenigstens war das Ultimatum keine Ueberraschung. Man wusste an den europäischen Höfen und in den Kabinetten ganz genau, dass das Mass voll war, man wusste, was auf die Ermordung des Erzherzogs folgen musste und was sich vorbereitete. Von einem Teil der Forderungen, besonders von der Teilnahme österreich-ungarischer Polizeiorgane an dem Untersuchungsverfahren, war bereits Anfang Juli die Rede. Der gegenwärtige belgische Minister des Aeussern, Baron Beyens, damals Gesandter in Berlin, machte in einer Note vom 2. Juli 1914 seiner Regierung davon Mitteilung und sprach schon damals die Befürchtung aus, dass, wenn Serbien die österreichischen Forderungen «als Eingriff in seine Souveränität» ablehnen sollte, zwischen Oesterreich und Serbien Feindseligkeiten entstehen könnten. Er gibt ganz und gar Serbien die Schuld und findet die Forderungen der österreichischen Regierung erklärlich, wenn auch «über die gewöhnlichen Rechtsgebräuche hinausgehend».

Baron Beyens findet den Zorn gegen Serbien in Wien und Pest durchaus berechtigt, er nennt ihn eine «colère légitime», gerade wie man in London wieder und wieder (Blaubuch Nr. 5, Rotbuch Nr. 41) versicherte, den österreichischen Standpunkt nicht bestreiten zu wollen, und nur Russlands wegen Sorgen äusserte. Die Maske warmer Teilnahme für Serbien nahm das englische Kabinett erst viel später an. «Unser direktes Interesse an Serbien ist Null», hatte der britische Botschafter am 24. Juli zu Ssasonoff gesagt. (Blaubuch Nr. 6.)

Man hat den Schritt damals noch nicht getan, sondern die Ergebnisse des Prozesses in Sarajewo abgewartet, der so schwerwiegende Beweise serbischer Mitschuld brachte, dass das Ultimatum die Folge war. Jedenfalls war Baron Beyens am 2. Juli, also drei Wochen vor der Ueberreichung des Ultimatums, bereits davon unterrichtet, dass österreichische Schritte gegen Serbien bevorstanden, die über das Gewöhnliche hinausgingen. Wird der Autor daraufhin etwa die Ansicht vertreten, dass die Sache auch mit Belgien abgekartet war? Ja, Baron Beyens bemerkt ausdrücklich, dass «man in den diplomatischen Kreisen Berlins durch die österreichischen Absichten beunruhigt sei».

Also hatte man Anfang Juli in den Berliner diplomatischen Kreisen die Lage und die Gefahren offen und allgemein besprochen. Selbstverständlich hatte die österreichische Regierung, wie das deutsche Weissbuch in seiner Einleitung offen zugibt, der deutschen mitgeteilt, dass sie eine Aktion gegen Serbien unternehmen werde, und die deutsche Regierung hatte dies selbstverständlich gebilligt. Jeder andere Rat wäre schlecht und töricht gewesen und hätte bei der in Oesterreich herrschenden Stimmung wahrscheinlich das so enge Bündnis zwischen beiden Reichen gefährdet.

Die Empörung war eine so allgemeine, bei Hof, im Adel, in der Kirche, in der Presse, in der gesamten Bevölkerung, dass kein erhitzender Rat nötig war oder wirksam sein konnte. Seit zwei Jahren drohte dieser Krieg; nun war er unvermeidlich geworden, – es wäre denn, Serbien hätte nachgegeben. Es gibt keinen Staat in der Welt, der nicht schon wegen geringeren Anlasses Krieg geführt hätte; keine Monarchie in der Welt, deren Thronfolger unter mindestens passiver Mitschuld einer fremden Regierung ermordet worden, die nicht gegen dieses Land Krieg führen müsste und würde, wenn nicht die vollkommenste, die schnellste Sühne geboten ward; und keine Macht in der Welt, die in solchem Fall die Einmischung einer andern Macht dulden würde. Man nehme einmal an, der russische Zarewitsch oder der Vizekönig von Indien wären von Afghanen ermordet worden, und der Hof und die Regierung von Afghanistan hätten die Verschwörung geduldet, die hierzu führte; was würde die russische oder englische Regierung getan, welche Sühne, welche Genugtuung würden sie gefordert oder angenommen haben? Wären sie wirklich mit einer Aeusserung des «Bedauerns und der Betrübnis» zufrieden gewesen, wie der beinahe scherzhaft klingende Vorschlag Sir Edward Greys lautete?

Als im Jahr 1887 der französische Polizeikommissär Schnäbele auf deutschem Boden verhaftet worden war, stimmten in der entscheidenden Sitzung des französischen Ministeriums – es war das Ministerium Goblet – fünf Minister für die sofortige Mobilisierung der französischen Armee und nur sieben dagegen. Mit nur einer Stimme Mehrheit ist der Ausbruch eines deutsch-französischen Krieges verhindert worden, weil ein Polizeikommissär verhaftet worden war!

Den verhängnisvollen Krieg von 1870 hat Frankreich wirklich erklärt, weil der König von Preussen dem französischen Gesandten eine Audienz verweigert hatte und die französische Regierung darin eine Beleidigung erblickte!

Ein Krieg zwischen Oesterreich und Serbien wegen der Ermordung des Thronfolgers und unerhörter vorausgegangener feindseliger Akte, konnte nur durch ein vollkommenes Nachgeben Serbiens und durch wirkliche Bürgschaften, dass es nunmehr mit all diesen Dingen ein Ende nehmen werde, verhindert werden.

Die immer gleich verlogene Art des Autors zeigt sich, wenn er dem Leser auf Seite 263/64 seines Werks weiszumachen sucht, aus dem österreichischen Rotbuch selbst gehe hervor, dass «Oesterreich unter allen Umständen den Krieg wollte», denn der österreichisch-ungarische Gesandte in Belgrad, Freiherr von Giesl, spreche in einer darin unter Nr. 6 veröffentlichten Note vom 24. Juli – also vor der Ueberreichung des Ultimatums – die Ansicht aus, «der Krieg werde nicht zu umgehen sein». Abgesehen davon, dass diese Ansicht, von sehr vielen anderen Oesterreichern und vor allem von den meisten Serben geteilt wurde, die in Wort und Schrift kein Hehl daraus machten, blieb es doch immer eine persönliche Ansicht des Gesandten, die die österreichische Regierung teilen und befolgen konnte oder nicht. Diese stete absichtliche Verwechslung der Personen, die in Frage kommen, ist kennzeichnend für den Verfasser. Der Gesandte rät, der Minister entscheidet. Sonst müsste man umgekehrt etwa aus der Haltung des italienischen Botschafters Bollati in Berlin schliessen können, dass die italienische Regierung unter allen Umständen gegen den Krieg war. Das eine wäre so unsinnig wie das andere. Der Autor aber will eben Unsinn verbreiten. In derselben Depesche des Gesandten vom 21. Juli ist zu lesen: «Das Attentat in Sarajewo hat den Serben den bevorstehenden Zerfall der habsburgischen Staaten – auf welchen man schon früher seine Hoffnungen setzte, – als in kürzester Zeit zu erwarten, den Abfall der von Südslaven bewohnten Gebiete der Monarchie, die Revolution in Bosnien-Herzegowina und die Unverlässlichkeit der slavischen Regimenter, als feststehende Tatsachen vorgegaukelt und brachte System und scheinbare Berechtigung in ihren nationalistischen Wahnsinn.

Das so verhasste Oesterreich-Ungarn erscheint den Serben nunmehr ohnmächtig und kaum mehr würdig, einen Krieg mit ihm zu führen – zum Hasse gesellt sich die Verachtung; es fällt ohne Mühe als zermürbter Körper in den Schoss des in naher Zukunft zu verwirklichenden grossserbischen Reiches. Blätter, welche nicht zu den allerextremsten gehören, besprechen in täglichen Artikeln die Ohnmacht und den Zerfall der Nachbarmonarchie.»

Warum druckt der loyale Autor diese Stelle nicht gleichfalls ab? Weil sie jeder Mensch, der in den letzten zwei Jahren in Serbien war, bestätigen könnte, und weil die Dinge dem Leser dann doch etwas anders erscheinen mussten? Denn das wissen die Leser auch, dass nicht nur die Serben, sondern alle Welt sich den Zerfall Oesterreich-Ungarns beim Tode des alten Kaisers vorgaukelte – nun hatten sie auch den Thronfolger, der für sehr energisch galt, aus dem Wege geräumt und sahen ihr Ziel noch näher. Bei diesen Hoffnungen, dieser Stimmung in Serbien nach dem Attentat war ein Krieg wirklich schwer zu umgehen.

Aber ein Unding war, dass aus dieser ganz lokalen Spannung zwischen Oesterreich und Serbien der Weltbrand hervorging, der aus der grossen Spannung zwischen den beiden Gruppen der Weltmächte an ganz anderer Stelle leicht hätte entstehen können und weit erklärlicher gewesen wäre; und er wäre auch nie daraus hervorgegangen, wenn Russland sich nicht eingemischt hätte. Für diese Einmischung hat der Autor – und so viele gleich ihm – kein Wort des Tadels. Obwohl er und alle sehen, dass Russland jedem kleineren Slavenvolk, über das es Macht gewann, alle politischen Rechte, Sprache, Schulen, Freiheit genommen hat, – während die österreichischen Slaven all dies besitzen! Während in Russland die polnische Unterrichtsprache aus allen öffentlichen Schulen verbannt ist, während die Ukrainer ihre Sprache nicht einmal in Privatschulen gebrauchen dürfen, hat in Oesterreich jeder slavische Stamm Universitäten oder doch Universitätskurse, Hochschulen und Gymnasien in seiner Sprache. In jedem österreichischen Ministerium sitzen slavische Minister, selbst in jedem ungarischen Ministerium ein Kroate – im österreichischen Parlament haben die Slaven die Mehrheit! – findet er es recht und selbstverständlich, dass es Oesterreich gegenüber dessen Angriff auf Serbien zum Kriegfall macht! Und da zwischen Russland und Serbien nicht einmal ein Bündnis bestand, muss er eine «alte Tradition», eine Art «Verwandtschaftsverhältnis» erfinden, um diese Einmischung zu rechtfertigen. Auf Seite 269, bei der Besprechung des österreichischen Rotbuchs, hat er die Unverfrorenheit, zu sagen, «Russland und Serbien seien enger miteinander verknüpft als Deutschland und Oesterreich, was die Kaisermächte absichtlich ignoriert hätten». Die tausendjährige gemeinsame Geschichte, die tausendjährige Verbindung Oesterreichs und Deutschlands in einem Reiche, wird als geringer hingestellt, als Beziehungen, die vor kaum hundert Jahren begonnen haben und erst seit 1904 überhaupt enge geworden sind! Denn bis zum Jahre 1904 war Serbien allezeit und zwar durch Jahrhunderte – so weit Türkenmacht nicht dazwischentrat – ein österreichischer Schutzstaat gewesen. Aber der Autor weiss, dass er es wagen darf, jeden Blödsinn hinzuschreiben; er weiss, dass die ungeheure Mehrzahl der Leser über Balkanfragen und die Geschichte des Ostens ebensowenig unterrichtet ist, und wenn er nur mit frecher Stirn darauf los schwatzt, so denken die meisten gar nicht daran, seine Behauptungen in Zweifel zu ziehen, noch weniger, sie in irgend einem Geschichtswerk nachzuprüfen.

Die Lage war diese: Oesterreich hat einen schweren Streitfall an seinen Grenzen; es ist im Besitz von Provinzen bedroht und durch fortgesetzte Aufwiegelung und Mordtaten aufs blutigste herausgefordert – Russland, das fern ist, das niemand an seinen Grenzen bedroht, das niemand verletzt hat, das zu dem Serbenstaat erst seit etwa einem Jahrzehnt engere Beziehungen angeknüpft hat, die wesentlich nur in gemeinsamer Feindschaft gegen Oesterreich-Ungarn und in sonst nichts, absolut nichts bestehen – denn die Rassengemeinschaft hat Russland niemals verhindert, alle Slavenstämme niederzutreten – Russland erklärt, dass ein österreichisches Einschreiten gegen Serbien seine Intervention herausfordern würde. Da Russland dies erklärt hat, darf Oesterreich den Aufwiegelungen und Mordtaten kein Ende machen, weder mit Waffengewalt, noch dadurch, dass es auf friedlichem Wege die Annahme wirksamer Vorkehrungen erzwingt, sondern es hat sich, wie wir sofort sehen werden, mit Scheinerklärungen zu begnügen, die Russland gutheissen kann. Dass dies Oesterreich in seinen Grenzangelegenheiten Russland unterworfen hiess, dass Oesterreich als Grossmacht abgedankt hätte, wenn es sich diesem Befehl gefügt hätte, muss jedem klar sein.

Der Autor versichert, dass, wenn Russland auch diese Drohung aussprach, es sich dennoch im Verein mit England und Frankreich in eindringlichster Weise bemühte, erstens Serbien zu einem möglichst weiten Entgegenkommen zu veranlassen, zweitens von Oesterreich eine Fristverlängerung zu erwirken. Zum Beweise der ersten Behauptung führt er nicht weniger als neun Noten aus den amtlichen Veröffentlichungen der Triple-Entente an. Wenn man diese Noten nachprüft, so findet man das Gegenteil. In Blaubuch 22 und 30 raten einmal Sir Edward Grey, das andere Mal Sir A. Nicolson der serbischen Regierung zu Mässigung in der Antwort und möglichst höflichen Versprechungen, aber durchaus nicht zu irgendwelchem Entgegenkommen in der Sache; in Blaubuch Nr. 15 versichert der englische Botschafter in Paris, dass Frankreich ähnlichen Rat gegeben, in Nr. 22 hält der Geschäftsträger in Belgrad, Mr. Crackanthorpe es für «wahrscheinlich», dass Russland äusserste Mässigung angeraten habe. Betrachtet man die russischen Noten, auf die es wohl zumeist ankam, so beweisen sie, dass diese Vermutung des Mr. Crackanthorpe nicht zutraf, denn in der einzigen der vom Autor angeführten Noten, die hier in Frage kommen kann, Orange-Buch Nr. 4, wird im Gegenteil erst für den Fall einer Fristverlängerung und falls Russland sich überzeugen sollte, dass die österreichischen Forderungen begründet seien, zugesagt, in Belgrad entsprechende Ratschläge zu erteilen. Die Note ist auch gar nicht an die serbische, sondern an die österreichische Regierung gerichtet.

Die drei andern vom Autor als Beweis angeführten russischen Dokumente Nr. 25, 40 und 42 sind sämtlich erst nach der Absendung der serbischen Antwort geschrieben worden, könnten also selbst dann, wenn sie den Sinn hätten, den der Autor ihnen fälschlich unterschiebt, keinen Einfluss mehr ausgeübt haben! Aber auch sie enthalten das Gegenteil: in Nr. 25 wird zunächst die Abänderung des österreichischen Ultimatums gewünscht, Nr. 40 bringt neben ein paar friedlichen Redensarten das Versprechen des Zaren, Serbien in einem Kriege nicht im Stich zu lassen, musste die serbische Regierung also im Widerstand bestärken, während Nr. 42 lediglich eine nachträgliche Vermutung Sir Edward Greys enthält. Der Autor hat also nicht einmal das Datum der Noten, die er als Beweis anführt, gelesen und sich um ihren Inhalt entweder nicht gekümmert oder ihn nicht verstanden!

Endlich beweist auch Gelbbuch Nr. 26 das Gegenteil, denn es wird darin mitgeteilt, dass Herr Berthelot, der politische Direktor des französischen Ministeriums des Aeussern, den Serben «vertraulich» den Rat erteilte, irgend eine halbwegs versöhnliche Antwort zu geben, vor allem aber «Zeit zu gewinnen» und «zu versuchen, dem direkten Verkehr zu entschlüpfen».

Aus den vom Autor angeführten Noten ergibt sich demnach, dass die Mächte, weit davon entfernt, Serbien irgend zu einem wirklichen Entgegenkommen oder Nachgeben zu raten, ihm vielmehr rieten, durch scheinbare Nachgiebigkeit, durch höfliche Redensarten Zeit zu gewinnen. Das geschah auch. An irgend ein sachliches Entgegenkommen dachte Serbien nicht. Ausdrücklich sagt der serbische Gesandte in London, Herr Boschkowitsch, in der zitierten Note vom 25. Juli, Blaubuch Nr. 30, «wenn Oesterreich verlange, dass Serbien seine Politik ändere und auf gewisse politische Ideale verzichte, so werde es darauf nicht eingehen».

Darauf allein kam es aber an, da die Erreichung dieser politischen Ideale mit dem Bestand Oesterreichs nicht vereinbar war und die Agitation für sie zu unaufhörlichen Mordtaten in Oesterreich führte. Darauf aber kam es auch Russland an. Denn das war ja Russlands eigenste Politik gewesen. Darum, nicht aus den vom Autor erlogenen Traditions- und Verwandtschaftsgründen, mischte es sich in den österreichisch-serbischen Streitfall, weil es sonst all seine jahrelange Arbeit in Serbien um die Frucht brachte. Wir wissen es nicht nur aus den Zeugnissen der belgischen Gesandten, wir finden Zeugen auf feindlichster Seite: der Verfasser der «Politica Estera Italiana», der im italienischen Heer gegen Oesterreich mitgekämpft hat, bis eine schwere Verwundung am Col di Lana es ihm unmöglich machte, sagt auf Seite 941: «die serbische Gefahr für Oesterreich ist im Grunde nur die russische Politik, da nur der russische Schutz der serbischen Gefahr Kraft gibt.»

«Die Anmassung und Verachtung, mit der die Serben die Reklamationen des Wiener Kabinets entgegennehmen», schrieb Baron Beyens am 1. April 1913, «ist nur aus der Unterstützung zu erklären, die sie in Petersburg finden».

Auf die Beseitigung der serbischen Gefahr kam es Oesterreich an, und nur die Unterdrückung der Agitation konnte sie beseitigen. Und die Annahme gerade dieser Bedingungen suchte Russland von vorneherein in der Note Nr. 25 als unannehmbar zu bezeichnen!

Das sollte eigentlich genügen – nicht nur, um zu zeigen, wie der Autor seine Quellen liest und benützt, was seine Zitate wert sind, sondern für die Entscheidung der ganzen Frage, soweit es sich um Oesterreich und Serbien handelt.

So wände auch die Fristverlängerung von Russland nur verlangt, wie sich ja schon aus der Note Nr.26 des Gelbbuchs mitgeteilten «vertraulichen Worten» des Herrn Berthelot vom französischen Ministerium des Aeussern ergibt, um Zeit zu gewinnen und Serbien Gelegenheit zu geben, zu «entschlüpfen», und die ganze Sache vor die Konferenz der Mächte zu bringen, und was das bedeuten musste, wird sofort klar werden. Eben darum war es ganz selbstverständlich, dass dieses Verlangen abgelehnt werden musste, und die Mächte, die die Fristverlängerung wünschten, wussten dies ganz genau im voraus. Als der russische Geschäftsträger in Wien, Fürst Kudascheff, am 25. Juli das Telegramm mit dieser Bitte an den eben nach Ischl abgereisten Grafen Berchtold schickte, sagte er zum französischen Botschafter, dass er sich nicht den geringsten Erfolg davon verspreche. «Il n'en attend aucun effet», schreibt Herr Dumaine in einer Note vom selben Tage, die im Gelbbuch unter Nr. 45 veröffentlicht ist. Die Diplomaten, die die Fristverlängerung verlangten, waren also über die Ablehnung nicht so erstaunt, wie der Autor sich stellt.

Der Mann kommt aus dem Staunen nicht heraus. Er versichert wenigstens, dass es den russisch-englischen Einflüssen gelang, eine Antwort der serbischen Regierung zu erzielen, welche Europa noch mehr in Erstaunen setzte, als die österreichische Note selbst.

Ich weiss nicht, was der Autor unter «Europa» versteht; etwa eine Gemeinschaft von Zeitungslesern, die ihm an Wissen und Urteil gleichkommen. Ob diese damals erstaunten, vermag ich nicht festzustellen. Dass die Antwort durch den Rat der Mächte beeinflusst wurde, ist anzunehmen, wenn auch nicht in dem vom Verfasser behaupteten Sinn. Dagegen betrügt der Autor seine Leser sofort wieder, wenn er im nächsten Satz sagt, dass Serbien fast alle Forderungen Oesterreich-Ungarns bewilligte.

Der Ton der Note war in der Tat entgegenkommend, fast unterwürfig, dem Inhalt nach bewilligte sie fast nichts, und alle darin enthaltenen Zugeständnisse waren nur scheinbar. Das ist auch ohne weiteres aus den erhaltenen Ratschlägen erklärbar, «recht freundlich zu sein», «Zeit zu gewinnen», «zu entschlüpfen». Fast jeder Satz der serbischen Note enthält irgend eine Unwahrheit, ein Ausweichen, ein Nachgeben in der Form, um das Wesentliche, die Aenderung des serbischen Verhaltens gegen Oesterreich, zu verweigern.

Ein allgemeines Versprechen, sich der Einmischung in österreichische Angelegenheiten zu enthalten, das nichts bedeutete und bereits im Jahre 1909 gegeben worden war – wird gerne wiedergegeben, auch die formelle Bekanntmachung im Tagesbefehl zugesagt; aber im einzelnen, sachlichen wurde das Versprechen wertlos gemacht und seine Folgen im voraus aufgehoben.

In Nr. 1 wird die Forderung, die im Ton ungeheuerliche, durch ihre blutigen Folgen gekennzeichnete Agitation gegen Oesterreich zu unterdrücken, nicht angenommen, sondern nur versprochen, im serbischen Parlament ein Gesetz einzubringen, dass diese Unterdrückung, die zunächst nicht möglich sei, erst gestatten sollte.

Gleichzeitig erklärte in Petersburg Herr Ssasonoff dem österreichischen Botschafter, die Annahme dieser Forderung würde untunlich sein, da ein solches Gesetz im serbischen Parlament ja doch nie durchgehen würde! (Or.-Buch Nr. 25.)

Demnach war es mit der «Bewilligung» dieser ersten Forderung nichts. Punkt 1 der Antwort erhielt ein Versprechen, von dem die serbische Regierung genau wusste, dass sie es nie erfüllen würde!

In Punkt 2 versprach die serbische Regierung tatsächlich, die «Narodna Odbrana» aufzulösen, obgleich wenigstens nach Orangebuch Nr. 25 auch dies der serbischen Verfassung widersprechen sollte. Es ist jedoch eine wohlbekannte Sache, dass solche Vereine, wenn sie verboten werden, und die Regierung nicht tatsächlich den Willen hat, sie zu unterdrücken, sofort unter anderem Namen wieder auferstehen. Nun bemerkte die serbische Regierung zu dem Versprechen ausdrücklich, «es sei ihr unbekannt, dass die «Narodna Odbrana» eine gegen Oesterreich gerichtete Propaganda treibe», eine Erklärung, die ungefähr so ehrlich und glaubwürdig war, wie wenn die englische Regierung erklären würde, es sei ihr «unbekannt», dass die Sinnfeiners gegen England, oder die Ulsterleute gegen Home-Rule agitieren. Die «Narodna Odbrana» hatte kaum einen andern Zweck als diesen, und mit den etwa tausend Vereinen, die ihr angegliedert sind, erfüllte ihre antiösterreichische Agitation das ganze öffentliche Leben Serbiens. Aktive Offiziere, Generale, wirkten mit; wenn die serbische Regierung sagen durfte, dass ihr all dies «unbekannt» sei, so konnte sie das in jedem neuen Fall sagen: die Auflösung wurde zum Humbug, und damit war auch die zweite wichtigste Forderung unerledigt geblieben.

Im 3. Punkt erklärt die serbische Regierung auch nicht zu wissen, was in den serbischen Schulbüchern steht, will sie aber ändern, wenn man ihr die betreffenden Stellen vorlegt.

Punkt 4 verspricht zwar die Entlassung der Beamten und Offiziere, die gegen Oesterreich-Ungarn hetzten, jedoch mit einem Zusatz, der das ganze Versprechen wieder aufhebt. Sie knüpft die Entlassung an die Bedingung, dass diese Offiziere strafgerichtlich verurteilt werden müssten, nachdem sie eben erklärt hat, dass solch eine Propaganda nach den serbischen Gesetzen nicht verboten werden könnte! Man suche das serbische Gericht, das diese Männer nicht mit Applaus freigesprochen hätte!

Punkt 5, die Mitwirkung österreichischer Organe bei der Untersuchung, wird glatt abgewiesen. Es ist schon gesagt worden, dass diese Forderung durchaus kein völkerrechtliches Novum war, dass Frankreich der russischen Regierung die gleiche Mitwirkung bewilligt hatte. Wenn die serbische Regierung sich am Attentat gegen den Thronfolger unschuldig gefühlt hätte, dann hätte ihr, die angesichts der vielen vorausgegangenen Mordtaten seit 1903 doppelt verdächtig erschien, doppelt daran gelegen sein müssen, die Unschuld in zweifelfreier Art festzustellen. Sie hätte die Mitwirkung österreichischer Organe nicht nur nicht ablehnen dürfen, sondern selbst fordern müssen!

Punkt 6, die Verhaftung des Majors Tankosic, der die Mörder des Erzherzogs im Gebrauch der Waffen unterrichtet hatte, wird bewilligt. Ob er etwa tatsächlich zum Schein verhaftet wurde, kann jetzt nicht festgestellt werden. Nach Mitteilungen, die der österreichischen Regierung zugingen, wurde er gar nicht verhaftet: in jedem Fall liess man ihn sogleich wieder frei, und er nahm in der serbischen Armee am Kriege teil.

Solche Kritik an der serbischen Antwort nennt der Autor «Wortklauberei»! Wohl, weil er selber sich nur an die Worte hält, während Sinn und Inhalt ihm völlig gleichgültig sind.

Jeder Jurist und jeder Kaufmann weiss, wie sorgfältig der Wortlaut jedes Vertrages geprüft und abgefasst werden muss, weil eine geschickt angebrachte Klausel alle Verpflichtungen hinfällig machen kann. Dreifache Vorsicht ist bei diplomatischen Abmachungen geboten. Dass die österreichische Regierung sich gegen Zusagen wehrte, in denen jede ernstliche Verpflichtung wegescamotiert war, nennt der Autor Wortklauberei. Wenn er, wie man aus manchen Stellen seines Buches schliessen möchte, Jurist war, so ist er jedenfalls entweder ein sehr schlechter oder ein sehr wenig gewissenhafter Jurist gewesen.

Auf die letzten Punkte und auf die Unwahrheiten in der Einleitung der serbischen Antwort einzugehen, ist wohl nicht erst nötig. Die ganze Antwort war durch und durch hohler Schein und Lüge, und sie wäre das gewesen, auch wenn sie noch viel entgegenkommender gewesen wäre. Denn als die Note am 25. Juni um sechs Uhr abends dem österreichisch-ungarischen Gesandten, Baron Giesl, übergeben wurde, hatte die serbische Regierung bereits drei Stunden vorher, nämlich um drei Uhr nachmittags, die allgemeine Mobilisierung angeordnet (siehe die beiden aufeinanderfolgenden Telegramme des Baron Giesl vom 25. Juli und das des Grafen Berchtold an den Grafen Mensdorff vom 26. Juli. Rotbuch Nr. 22, 23, 29).

Damals ging durch alle Zeitungen die Nachricht, der serbische Ministerpräsident Paschitsch hätte von Russland das Telegramm bekommen: «Mobilisiert, wir mobilisieren auch.» Da eine Zeitungsnachricht kein Beweis ist, so lässt sich vorläufig schwer feststellen, ob dieses Telegramm wirklich abgesandt wurde. Die so rasch, schon vor der österreichischen Ablehnung, ja vor der eigenen Antwort erfolgte Mobilisierung Serbiens scheint für die Wahrheit zu sprechen. Weiter spricht dafür, dass in dem ganzen russischen Orangebuch sich nicht eine der von der russischen Regierung an die serbische in diesen achtundvierzig Stunden gerichteten Noten findet. Es müssen doch in diesen entscheidenden zwei Tagen zwischen dem Schutzherrn Russland und dem Schützling Serbien Noten gewechselt worden sein oder Besprechungen stattgefunden haben. Der Autor selbst behauptet – allerdings nur aus seinem phantasievollen Hirn heraus – dass Russland auf die Antwort Einfluss genommen. Wir glauben das natürlich auch. Aber weder das russische Orangebuch, noch das serbische Blaubuch enthalten ein Wort darüber.

All diese so wichtigen Tatsachen werden vom Autor verschwiegen. Dafür druckt er in gesperrter Schrift, dass durch die serbische Note und die «russischen Ratschläge», die dazu geführt hätten, «der Friedenswille Serbiens und Russlands über jeden Zweifel hinaus erwiesen sei» – während in Wirklichkeit über die russischen Ratschläge an Serbien absolut nichts, nicht ein einziges Dokument vorliegt, und Serbien tatsächlich so gehandelt hat, als ob es den in jenem – vorläufig nicht bewiesenen Telegramm erteilten Rat erhalten hätte!

Statt über diese Vorgänge die Wahrheit zu sagen, erklärt der Autor – in dem Anhang über das Rotbuch – die serbische Mobilisierung für eine begreifliche Defensivmassregel. Das war sie ohne Zweifel; aber dass man diese Defensivmassregel ergriff, beweist auch, dass man sich in Belgrad bewusst war, dass die Antwortnote nicht genügen konnte, und mit dem Krieg rechnete. Der Autor, der immer wieder den Tric anwendet, sich noch einfältiger zu stellen, als man ihm gerechterweise zubilligen kann, fragt: «Warum sollte das schwache Serbien den Krieg mit dem starken Oesterreich absichtlich heraufbeschworen haben?» Als ob die Antwort nicht gegeben, nicht selbstverständlich die wäre: weil sie die österreichischen südslavischen Provinzen wollten, weil sie der russischen Hilfe gewiss waren, und Oesterreich-Ungarn nicht für stark genug hielten, der Uebermacht zu widerstehen, weil sie an Oesterreichs Stärke, wie ihre Zeitungen in täglichen Artikeln sagten, überhaupt nicht mehr glaubten, weil sie, wie ganz Europa, mit seinem Zerfall rechneten! Wenn man einen Krieg mit einem Nachbarstaat nicht heraufbeschwören wollte, dann durfte man nicht, wie der serbische Gesandte in London, den Erwerb österreichischer Provinzen als ein «Ideal» bezeichnen, «auf das kein Serbe verzichten könne». Von der Verherrlichung der Attentate und Morde ganz zu schweigen. Wenn der Autor noch den Abzug von serbischen Truppen aus der Hauptstadt, die Wegführung der Archive und ähnliche Massregeln als weitere Beweise anführt, dass die Serben keinen Krieg wollten, ihn vielmehr fürchteten, so kann man ruhig sagen, dass der Autor auch hier sich des Unsinns, den er schreibt, bewusst sein musste; denn wie gering seine Kenntnisse auch sind, das weiss er, dass in allen Kriegen gewisse besonders exponierte Plätze aufgegeben werden, oder doch nicht lange gehalten werden können, und dass Belgrad zu den stets gefährdeten, exzentrisch gelegenen Hauptstädten gehört. Was in einem Krieg gehalten oder aufgegeben, wo angegriffen und wo verteidigt wird, das sind rein strategische Fragen.

Der Autor aber spinnt seine pathetische und hirnlose Salbaderei fort. Ich übergehe seine Wiederholungen. Mit der Kunst des Gedankenlesens begabt, weiss er nun, dass man in Oesterreich von der serbischen Antwort enttäuscht war, weil sie zu entgegenkommend war! Man hatte nach seinem tiefen und geheimen Wissen eine schroffe Ablehnung gewünscht und erwartet, um gleich den Weltkrieg beginnen zu können. «Die europäische Diplomatie», sagt er, «stand vor einem Rätsel». Er unterschätzt die Diplomatie der Triple-Entente!

Der belgische Gesandte, Baron Beyens, hatte all dies schon am 2. Juli vorausgesehen und sorgenvoll erwogen. Und andere waren nicht weniger gewitzt, wenn sie auch nachher vorzogen, ein anderes Spiel zu spielen.

Der Gipfel der Frechheit aber ist wohl, dass, nachdem er an dieser Stelle, auf Seite 125 seines Buches, eine «Enttäuschung» des Wiener Kabinetts erfunden hat, von der er nichts wissen könnte, wenn sie selbst tatsächlich gewesen wäre, – denn das hätte die österreichische Regierung weder ihm noch andern anvertraut! – er auf Seite 265 einen Schritt weiter geht und auf Grund seiner eigenen Erfindung schreibt: die serbische Antwort habe, «wie bekannt», in Wien die grösste Enttäuschung hervorgerufen!

Bis zuletzt hoffte man in Wien, Serbien werde nachgeben. In der abschlägigen Antwort auf die vom Fürsten Kudascheff begehrte Fristverlängerung sagte die österreichische Regierung ausdrücklich – der Autor erwähnt es natürlich nicht – man werde nach Ablauf der Frist zwar sogleich militärische Vorbereitungen zu treffen beginnen, aber nicht sogleich den Krieg erklären, um Serbien die Möglichkeit zu lassen, auch nachher noch nachzugeben. Es wurde in der Tat noch drei Tage zugewartet.

Man wünschte – und das wird an jeder Stelle des Blaubuches, des Rotbuches und wo immer österreichische Diplomaten zum Wort kommen, offen zugegeben – mit der serbischen Gefahr aufzuräumen, und darum konnte nur ein wirkliches Nachgeben Serbiens, nicht die Komödie einer versöhnlichen Antwort den Krieg beschwören. Man wünschte Serbien so oder so, in gutem oder bösen, nach seiner Wahl, eine Lektion zu geben, die dieser Gefahr ein Ende machte, aber keinen Krieg mit Russland, noch weniger einen europäischen Krieg.

In der Note, die Graf Berchtold am 25. Juli an den Petersburger Botschafter Grafen Szapary richtete und deren Ernst sich von der ahnungslosen Leichtfertigkeit unterscheidet, mit der Ssasonoff und später Sir Edward Grey, dem Krieg entgegengingen, S. die Aeusserungen Ssasonoffs im Blaubuch Nr. 17 und 139, und die Worte Grey's in seiner Rede vom 3. August 1914. sind die Ueberlegungen und Bedenken der österreichischen Regierung dargelegt:

«In dem Augenblicke, wo wir uns zu einem ernsten Vorgehen gegen Serbien entschlossen haben, sind wir uns natürlich auch der Möglichkeit eines sich aus der serbischen Differenz entwickelnden Zusammenstosses mit Russland bewusst gewesen. Wir konnten uns aber durch diese Eventualität nicht in unserer Stellungnahme gegenüber Serbien beirren lassen, weil grundlegende staatspolitische Konsiderationen uns vor die Notwendigkeit stellten, der Situation ein Ende zu machen, dass ein russischer Freibrief Serbien die dauernde, ungestrafte und unstrafbare Bedrohung der Monarchie ermögliche.

Für den Fall, als Russland den Moment für die grosse Abrechnung mit den europäischen Zentralmächten bereits für gekommen erachten sollte und daher von vorneherein zum Krieg entschlossen wäre, erscheint allerdings nachstehende Instruierung Euer Exzellenz überflüssig.

Es wäre aber immerhin denkbar, dass Russland, nach der eventuellen Ablehnung unserer Forderungen durch Serbien und angesichts der sich für uns ergebenden Notwendigkeit eines bewaffneten Vorgehens, mit sich selbst zu Rate ginge, und dass es sogar gewillt sein könnte, sich von den kriegslustigen Elementen nicht mitreissen zu lassen.

Dieser Situation sind die nachfolgenden Darlegungen angepasst, die Euer Exzellenz im gegebenen Moment und in der Ihnen geeignet erscheinenden Weise und nach der von Ihnen zu ermessenden Opportunität bei Herrn Ssasonoff und dem Herrn Ministerpräsidenten verwerten wollen.» Es folgen eingehende Instruktionen, wie der Botschafter zu einer Einigung mit Russland zu gelangen versuchen sollte.

Die Lage ist hier so klar und ernst wiedergegeben, dass jede weitere Bemerkung überflüssig ist. Auch die Gefahr eines europäischen Krieges ist erwogen, die Möglichkeit, dass «Russland den Augenblick für die grosse Abrechnung für gekommen erachten sollte»; aber im allgemeinen glaubte man in Oesterreich und in Deutschland nicht daran, dass Russland mit den Waffen für Serbien eintreten werde; Baron Beyens gibt es in der bereits erwähnten Depesche vom 2. Juli als die Meinung der Berliner Regierungskreise wieder, dass der Zar diesmal aus monarchischen Gründen Serbien fallen lassen müsse. Der englische Botschafter in Wien, Sir Maurice de Bunsen, beginnt seine Note vom 26. Juli (Blaubuch Nr. 32) mit den Worten: «Der deutsche Botschafter» – Herr von Tschirschky – «ist des festen Glaubens, dass Russland ruhig bleiben wird». Am 28. Juli schreibt Sir Edward Göschen an Grey: Mein österreichischer Kollege sagte mir heute, «ein allgemeiner Krieg sei unwahrscheinlich, da Russland ihn nicht wolle und nicht wollen könne», und er fügt hinzu: «ich glaube, dass viele Leute hier (in Berlin) der gleichen Ansicht sind» (Blaubuch Nr. 72), und am selben Tag spricht Sir Edward Grey zum Grafen Mensdorff in London dies als seine eigene Meinung aus: «die österreichische Regierung scheine zu glauben, dass sie gegen Serbien Krieg führen könne, ohne Russland in den Streit hineinzuziehen.» (Blaubuch Nr. 48.)

Wie man aus der eben zitierten Note des österreichischen Rotbuchs sieht, war Graf Berchtold selber dessen nicht so sicher; er wünschte und hoffte es nur. Daraus aber, dass er, wie es seine Pflicht war, alle Möglichkeiten, auch die einer Ablehnung des Ultimatums und eines russischen Eingreifens erwog, macht ihm der Autor den läppischen Vorwurf, er habe auf die Ablehnung des Ultimatums und den Krieg gerechnet. In Russland freilich war man zum europäischen Krieg «von vornherein entschlossen», sobald Oesterreich gegen Serbien vorging. Ssasonoff hatte es noch vor der serbischen Antwort zum englischen Botschafter Sir G. Buchanan gesagt: «er werde nicht dulden, dass Oesterreich Serbien niederdrücke und sei bereit, im Bunde mit Frankreich auch allein den Krieg zu wagen», «to face all risks of war» (Blaubuch Nr. 17). Der serbische Pfahl in Oesterreichs Fleisch sollte unter allen Umständen erhalten werden. Aber darin sieht der Autor kein Unrecht.

Ich bin nicht der Ansicht, dass man in jenen Tagen in England den Krieg wollte. Sir G. Buchanan berichtet in der gleichen Note, dass er sich die grösste Mühe gab, Ssasonoff vor einer «Uebereilung» zu warnen; man wünschte wohl zunächst nur, der befreundeten Macht den diplomatischen und politischen Sieg zu verschaffen. Darum griff Sir Edward Grey sogleich den schon vorher von Russland angeregten Gedanken einer Botschafterkonferenz auf, die den Streitfall zwischen Oesterreich und Serbien prüfen und entscheiden sollte, und schlug ihn den Mächten offiziell vor. (Blaubuch Nr. 24 und 53.)

Dass Oesterreich diese Konferenz ablehnte, ist die dritte Anklage, die der Autor gegen Oesterreich vorbringt.

Die Vertreter Englands, Frankreichs, Deutschlands und Italiens sollten die Richter sein; Russland war bereit, fernzubleiben. «Die Zusammensetzung der Konferenz aus zwei Dreibund- und zwei Ententemächten verbürgte eine unparteiische Prüfung der Streitfragen.» Mit dieser klingenden Lüge richtet der Autor den Vorschlag selbst. Wenn er ausserdem noch sagt, dass die «Streitfragen durch die serbische Antwort auf ein Minimum reduziert waren und mit Leichtigkeit gelöst werden konnten», so beweist dieser Zusatz wieder seine kindische Verständnislosigkeit. Die serbische Antwort hatte die Streitfragen in keiner Weise reduziert, noch leichter lösbar gemacht; sie hatte im Gegenteil durch ihre jesuitischen Scheinversprechungen die Lösung erschwert.

Aber es handelt sich hier weniger um die Streitfrage als um die Schiedsrichter. Auf der einen Seite standen England Frankreich und Italien für Serbien, das heisst Russland, auf der andern Deutschland für Oesterreich. Italien hatte nicht nur in Algeciras in der Marokkofrage gegen seine Bundesgenossen gestimmt, weil es durch den Tripolisvertrag an Frankreich und England gebunden war, noch viel mehr hatte es in jeder Balkanfrage gegen Oesterreich gearbeitet. Im Jahre 1903, als Oesterreich (damals gemeinsam mit Russland) die Organisierung der mazedonischen Gendarmerie und die Reform der türkischen Finanzen betrieb, verständigte sich der italienische Minister des Aeussern Tittoni sogleich mit England und Frankreich, um Oesterreich entgegenzutreten. Als Oesterreich-Ungarn im Jahre 1908 die – im Berliner Vertrag vorgesehene – Sandschakbahn bauen wollte, unterstützte Italien sofort das russische Gegenprojekt. In der bosnischen Annexionskrise stand Italien wesentlich auf der Seite Englands, Russlands und Serbiens. Selbst der Marchese di San Giuliano, der, soweit es ihm möglich ward, eine loyale Politik versuchte, konnte sich den Folgen der von seinen Vorgängern geschlossenen Geheimverträge und den übermächtigen Einflüssen anderer Strömungen nicht mehr entziehen. Uebrigens war auch er zwar ein Bewunderer Deutschlands, aber durchaus kein Freund Oesterreichs. Nur in der albanischen Frage ging er scheinbar mit Oesterreich, freilich nicht, um es zu unterstützen, sondern um es zu beschränken, um es nicht allein in Albanien walten zu lassen. Allen Interessen des Dreibundes entgegen, auf mit der Entente getroffene Abmachungen hin, unternahm er den Tripoliskrieg, der zu sehr ernsten Zerwürfnissen mit Oesterreich, beinahe zu einem bewaffneten Zusammenstoss führte. Im Oktober 1910, nach der Besprechung König Viktor Emanuels mit dem Zaren in Racconigi, hatte die halbamtliche «Agenzia Stefani» es der Welt kund gemacht, dass «Italien und Russland in Balkanfragen das gleiche Ziel verfolgen». Im Jahr 1916 teilte der frühere italienische Minister De Marinis mit, der damalige italienische Minister des Aeussern, Tittoni, habe bei der Zusammenkunft von Desio Herrn Isvolsky angeboten, falls Russland Oesterreich wegen der Annexion Bosniens den Krieg erklären sollte, sei Italien bereit sofort das gleiche zu tun. Wir wollen die Wahrheit dieser ungeheuerlichen Behauptung vorläufig dahingestellt sein lassen, aber sie ging durch die italienische Presse, und es ist nicht bekannt geworden, dass Herr Tittoni widersprochen hätte.

Russland und Serbien wussten sehr gut, warum sie die Konferenz anregten und dass Russland sich gar nicht hinzubemühen brauchte. Russland war nicht nur durch England und Frankreich, sondern auch durch Italien vertreten, das «auf dem Balkan das gleiche Ziel verfolgte». Aber ebenso genau wusste man in Oesterreich, dass man auf der Konferenz, deren «Unparteilichkeit» der Verfasser «verbürgt findet», sich drei Gegnern und nur einem Freunde gegenüber sehen würde. Darum vor allem wurde die Konferenz abgelehnt, und da man Italien damals noch nicht sagen konnte – was es seither so gründlich bewiesen hat – dass man es für einen falschen Freund und unverlässlichen Bundesgenossen hielt, so wurde sie unter Vorwänden abgelehnt, die der Autor natürlich nicht versteht, weil er von der tatsächlichen politischen Situation keine Ahnung hat.

Die schlimmsten Verdrehungen bringt der Schluss des Abschnittes. Teilweise wird der Autor dabei das Opfer bestimmter amtlicher Fälschungen, die er kritiklos nachschreibt, Fälschungen, durch die auch andere vor ihm und nach ihm getäuscht worden sind; noch gröbere Fälschungen fügt er aus eigenem hinzu.

Er erzählt, «gleichzeitig mit seinen Einwendungen gegen die Botschafterkonferenz hätte Deutschland direkte Verhandlungen zwischen Oesterreich und Russland vorgeschlagen, als bestes Mittel, um die Erweiterung der serbischen Streitfrage zu einem europäischen Konflikt zu verhindern, worauf Sir Edward Grey den Konferenzvorschlag vorläufig zurückzog; darauf sei das Unglaubliche geschehen: Oesterreich habe die von seiner Bundesgenossin Deutschland vorgeschlagene direkte Verhandlung mit Russland abgelehnt». «Die Dokumente», sagt der Autor, «beweisen dies unwiderleglich», und er schliesst daraus, dass also entweder ein Gegensatz zwischen Berlin und Wien, oder ein abgekartetes Doppelspiel vorlag. Da ein Gegensatz nicht anzunehmen sei und keinerlei Indizien dafür vorliegen, «so bleibe nur das abgekartete Doppelspiel übrig». Diese letzten Worte druckt er gesperrt.

Muss der naive Leser nicht glauben, dass dem wirklich so ist? kann er ahnen, dass dies ebensoviel Lügen als Sätze sind, dass die Dokumente von alldem nichts, nichts enthalten, vielmehr unwiderleglich das Gegenteil beweisen?

Wahr ist von alledem nur, dass Sir Edward Grey sich bereit erklärte, für den Fall direkter Besprechungen den Konferenzvorschlag so lange zurückzustellen. Dies geht zwar nicht, wie der Autor in seiner bodenlosen Nachlässigkeit und Flüchtigkeit schreibt, aus Blaubuch Nr. 54, aber doch aus Nr. 68 hervor.

Dagegen ist es bereits Fälschung, dass der Vorschlag zu direkten Verhandlungen zwischen Oesterreich und Russland von Deutschland ausgegangen sei. Dieser Vorschlag wurde von Ssasonoff gemacht und zwar am 26. Juli. Dies steht klar und deutlich in der vom Verfasser selbst zum Beweise seiner Behauptung angeführten Note des Blaubuches Nr. 43: Sir Edward Göschen berichtet darin, der deutsche Staatssekretär, Herr von Jagow, habe ihm gesagt, die Konferenz sei zwar nicht durchführbar, aber aus Nachrichten, die er – Jagow – soeben von Petersburg erhalten, gehe hervor, dass Herr von Ssasonoff den Wunsch nach einem Meinungsaustausch mit dem Grafen Berchtold hege», «He added that news he had just received from St. Petersburgh showed that there was an intention on the part of M. de Ssasonoff to exchange views with Count Berchtold.» Das gleiche geht aus der Note des deutschen Reichskanzlers vom selben Tage an den deutschen Botschafter in London, Fürst Lichnowsky, hervor, in der es wörtlich heisst: «Wir haben Graf Berchtold auch den Wunsch des Herrn Ssasonoff auf direkte Aussprache mit Wien mitgeteilt.» (Weissbuch, Anlage 12.) Und endlich geht es wortwörtlich aus zwei Depeschen Ssasonoffs selbst hervor, eine an den Botschafter in Wien vom 26. Juli, Orangebuch Nr. 25, in der es heisst: «Il me semblerait très désirable que l'ambassadeur d'Autriche-Hongrie fût autorisé d'entrer avec moi dans un échange de vue privé aux fins ...» usw. (siehe unten) und aus der folgenden vom gleichen Tage an den Botschafter in Berlin, Orangebuch Nr. 26, der darin gebeten wird, Herrn von Jagow seinerseits um Unterstützung dieses Vorschlages zu ersuchen.

Der Verfasser beruft sich zwar noch auf Seite 9 der Einleitung zum Deutschen Weissbuch, aber dort ist nur von einer erst am 29. Juli, also drei Tage später, erfolgten Mahnung der deutschen Regierung die Rede.

Der Autor hat also die Noten, die er zitiert, nicht gelesen, ihre Daten nicht angesehen! Sonst müssten wir annehmen, dass er den Inhalt der Noten absichtlich falsch angibt, um die Verläumdung vom «abgekarteten Spiel» anzubringen.

Die deutsche Regierung hat den russischen Vorschlag lediglich weiter gegeben und auf eine neue russische Bitte drei Tage später die österreichische Regierung um eine präzise Antwort ersucht.

Nachträglich, am 29. Juli, sagte Herr Ssasonoff – und zwar nach Blaubuch Nr. 78, einer Note, die der Autor gar nicht anführt! – gesprächsweise zum englischen Botschafter Sir George Buchanan, «er habe jenen Wunsch auf den Rat des deutschen Botschafters in Petersburg geäussert». Es ist nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich, dass, wie bereits Graf Berchtold vor ihm, auch der deutsche Botschafter Graf Pourtales zu freundlichen Besprechungen zwischen beiden Kabinetten geraten hatte. Aber ganz ausgeschlossen ist, dass er diese Aussprache mit der besonderen Formulierung geraten hat, mit der Ssasonoff sie in der Depesche Nr. 25 forderte. Das wäre in der Tat falsches Spiel gewesen, aber nicht gegen Russland, sondern gegen Oesterreich! Dass es nicht der Fall war, das geht schon aus der Depesche, Orangebuch Nr. 26, hervor, in der Ssasonoff Herrn von Jagow um die Unterstützung des Vorschlages bittet. Denn, wäre der Vorschlag in dieser Form vom deutschen Botschafter ausgegangen, dann hätte Ssasonoff nicht verfehlt, sich Herrn von Jagow gegenüber darauf zu berufen. Herr Ssasonoff hat sich also Sir George Buchanan gegenüber zum mindesten sehr «ungenau» ausgedrückt.

Direkte Verhandlungen mit Russland hat Oesterreich nie und nirgends abgelehnt. Bereits in der erwähnten Note vom 25. Juli (Rotbuch Nr. 26) hatte Graf Berchtold dem österreichischen Botschafter in Petersburg, Grafen Szapary, ausführliche Instruktionen für direkte Verhandlungen mit Herrn Ssasonoff erteilt. Aber was Oesterreich ablehnte und immer wieder ablehnte, und was Russland an jenem Tage, wie bereits vorher und immer wieder verlangte, das war, dass Graf Szapary ermächtigt wurde, in diesen Verhandlungen, die Abänderung des österreichischen Ultimatums an Serbien zu erörtern, «un échange de vues privé aux fins d'un remaniement en commun de quelques articles de la note autrichienne du 10/23 juillet.» Und zwar handelt es sich, wie in der gleichen Note gesagt ist, um die Punkte 2–5 der österreichischen Note, das sind, die Auflösung der anti-österreichischen Vereine, die Aenderung der serbischen Schulbücher, soweit sie gegen Oesterreich-Ungarn gerichtet sind, die Entfernung der Beamten und Offiziere, die gegen die Monarchie hetzen, und die Mitwirkung österreichischer Polizeiorgane an den fraglichen Untersuchungen, also um die Ausscheidung aller wesentlichen Forderungen des österreichischen Ultimatums. Soweit Oesterreich eine Aenderung der österreichischen Politik, ein Aufgeben «jener Ideale» fordert, die nur durch die Zertrümmerung des österreichisch-ungarischen Staates zu erreichen sind, und auf die der Gesandte Boschkovitsch in seinem Gespräch mit Sir A. Nicolson «nicht verzichten zu können» erklärt, soweit soll Oesterreich sein Ultimatum zurückziehen oder abändern: nicht um direkte Verhandlungen mit Oesterreich war es Ssasonoff zu tun, die hatte er ja, sondern darum, dass die Niederlage Oesterreichs als Ergebnis dieser Verhandlungen von vorneherein festgelegt würde! Das und nur das, hat Oesterreich abgelehnt und zwar vom ersten bis zum letzten Tag der Krise.

Inzwischen hatte Oesterreich Serbien nach Ablauf der Frist noch weitere drei Tage gegeben und dann den Krieg erklärt.

Der Verfasser behauptet, dass Oesterreich auch gegen Russland mobilisiert hätte und bemerkt dazu, «über den Umfang dieser Mobilisierung nach Norden und Nordosten seien die Ansichten verschieden: russische Berichte behaupten, dass mehr als die Hälfte der österreichischen Armee mobilisiert war (Orangebuch 49), während der Reichskanzler in seiner Rede vom 4. August nur die Mobilisierung von zwei Armeekorps gegen Norden zugab». Der erste Teil dieser Bemerkung ist wiederum eine Irreführung der Leser; denn erstens behaupten dies nicht russische Berichte, sondern Herr Ssasonoff behauptet es in einer Depesche, und weder er selbst, noch der Verfasser versuchen, auch nur den Schatten eines Beweises zu erbringen.

Schon die leere Unbestimmtheit in der Behauptung Ssasonoffs beweist, dass er auf gut Glück anklagte, ohne irgendwelche Unterlagen zu besitzen. An all den zahlreichen Stellen im Weissbuch, Gelbbuch usw., in denen die verschiedenen Regierungen die vorbereitenden Schritte anführen, die der andere Staat getroffen hat oder getroffen haben soll, werden diese selbstverständlich aufs genaueste angegeben (vergl. Weissbuch, Anlagen 6, 7, 8, 9, 11; Gelbbuch Nr. 58, 59, 60, 90, 106, 139). Wenn Ssasonoff irgendwelche genauere Angaben über österreichische Mobilisierungen gehabt hätte, dann hätte er sie auch mitgeteilt, das ist klar. Russland selbst mobilisierte, wie Ssasonoff an gleichen Tage amtlich mitteilte, die Armeebezirke Odessa, Kiew, Moskau und Kasan – angeblich als Schutzmassregel gegen Oesterreich und ohne jede Angriffsabsicht. Credat Judæus Apella! Der Autor gibt vor, es zu glauben und druckt diese russische Beteuerung gesperrt! Man denke : Russland hat erklärt, dass es zum Krieg, das kann nur heissen, zum Angriff auf Oesterreich, entschlossen ist, falls Oesterreich gegen Serbien vorgeht; der Autor selbst wiederholt es zwanzigmal! – Oesterreich geht dennoch gegen Serbien vor, und Russland mobilisiert in den an Oesterreich grenzenden Militärbezirken – ohne Angriffsabsicht!

Oesterreich hatte tatsächlich drei Armeen, die zweite, fünfte und sechste, bestehend aus dem 4., 7., 8., 15. und 16. Armeekorps und der 20. Landwehr-Infanterietruppen-Division gegen Serbien mobilisiert, von welchen, als der Krieg auch mit Russland ausbrach, die zweite Armee (das 8. Korps und die 20. Landwehr-Division) nach dem nördlichen Kriegsschauplatz abberufen wurde.

Noch in seiner Depesche vom 20. Juli – Rotbuch Nr. 50 – schreibt Graf Berchtold, er habe dem russischen Botschafter Schebeko eben gesagt: «Oesterreich habe ausschliesslich gegen Serbien mobilisiert, gegen Russland nicht einen Mann, was er schon aus dem Umstand ersehen könne, dass das I., X. und XI. Korps» – die drei galizischen Korps Krakau, Lemberg, Przemysl – «nicht mobil gemacht wurden», habe ihm jedoch gleichzeitig österreichische Gegenmassregeln auf jene russischen Mobilisierungen in den Oesterreich benachbarten Armeebezirken angekündigt. Wenn aber Oesterreich angesichts der positiven Drohung Russlands, für den Fall eines österreichisch-serbischen Krieges einzugreifen, wirklich zwei Armeekorps, also vier bis sechs Divisionen gegen Norden mobil machte, so bedeutete dies bei der ungeheuren Uebermacht Russlands – nicht weniger als achtzig russische Divisionen marschierten beim ersten Angriff an der österreichischen Grenze auf – kaum mehr als eine geringfügige Vorsichtsmassregel.

Wenn man die unerwartete Schnelligkeit bedenkt, mit der diese 80 russischen Divisionen an der österreichischen Grenze erschienen und bedenkt, wie ausserordentlich langsam und schwerfällig alle russischen Truppenbewegungen während des ganzen Feldzuges vor sich gingen, sodass sie es den viel kleineren deutschen Heeren immer wieder möglich machten, sie zu umgehen, sie einzukreisen oder hinauszumanövrieren, wenn man bedenkt, wie wenig Bahnen es im ferneren Russland gibt, dann hat man den Beweis, wie lange und mit wie sicherem Kriegswillen Russland den Feldzug vorbereitet hat und welche ungeheuren Truppenmassen bereits in den an Oesterreich grenzenden Bezirken stehen mussten. Wir haben übrigens einen weiteren Beweis in dem Schreiben des belgischen Geschäftsträgers in Petersburg, Herrn von l'Escaille, an seine Regierung, vom 30. Juli, in dem er sagt: «Wer die Zurückhaltung der russischen Communiques kennt, der kann ruhig behaupten, dass überall mobil gemacht wird.»

Der Versuch des Autors, die bösen Absichten Oesterreichs aus einer «gefahrdrohenden» Mobilisierung gegen das friedliebende und unvorbereitete Russland dem Leser zu suggerieren, ist einer seiner kläglichsten Verdrehungsversuche.

Wenn der Autor weiter behauptet, dass Russland neben dieser Massregel – der Mobilisierung der vier Armeebezirke – mit England zusammen immer erneute Versuche machte, «eine Formel zu finden, durch welche die widerstreitenden Interessen Oesterreichs und Russlands zum Ausgleich gebracht werden konnten», so ist auch dies nicht wahr; denn nicht einer der russischen Vorschläge trug den österreichischen Interessen irgend Rechnung, alle suchten nur auf immer wieder neuen Umwegen die diplomatische Niederlage Oesterreichs zu erreichen.

All diese Versuche stellt der Autor in seiner nun schon reichlich bekannten ungenauen und unehrlichen Weise dar, so dass der Leser, selbst dort, wo er wahre Tatsachen mitteilt, doch über ihre Bedeutung getäuscht wird.

Es ist wahr, dass Sir Edward Grey am 29. Juni der deutschen Regierung den Vorschlag machte, dass Oesterreich sich mit der Besetzung von Belgrad oder sonst serbischem Gebiet als Pfand für eine befriedigende Regelung seiner Forderungen zufrieden geben und die andern Mächte dann vermitteln lassen sollte; wahr, dass König Georg diesen Vorschlag durch eine Depesche an den Prinzen Heinrich von Preussen unterstützt hat.

Hingegen verschweigt der Autor zunächst, dass die deutsche Regierung diesen Vorschlag bereitwillig aufnahm und gleichfalls unterstützte. Bereits am folgenden Tag teilte der Staatssekretär von Jagow dem englischen Botschafter nach dessen im Blaubuch unter Nr. 98 abgedruckten Bericht mit, dass er die gleiche Anfrage an die österreichisch-ungarische Regierung gestellt hat, und fügte nur die selbstverständliche Bitte hinzu, Sir Edward Grey möge nun auch Russland bewegen, diese Vermittlungsbasis anzunehmen und in der Zwischenzeit keine militärischen Schritte gegen Oesterreich zu tun.

Sir Edward Grey, der dies einsehen musste, – denn wenn Russland gegen Oesterreich vorging, war auch Deutschland verpflichtet und genötigt, einzugreifen, und der europäische Krieg war da – tat dies sofort in einer Depesche vom gleichen Tag an seinen Botschafter in Petersburg, Sir G. Buchanan (Blaubuch Nr. 103). Alles hing nun davon ab, welche Antwort Oesterreich-Ungarn und welche Russland auf den Vorschlag erteilen würde.

All dies verschweigt der Autor vollständig, und was er weiter über das Schicksal des Grey'schen Vermittlungsantrages erzählt, ist Fälschung und Lüge. Lüge ist, dass «durch die österreichische Ablehnung jeder direkten Verhandlung der diplomatische Geschäftsgang erschwert war, weil alle Anfragen über Berlin gehen mussten, und Berlin nie eine positive Antwort erteilen konnte, da solche angeblich aus Wien noch nicht eingetroffen war». Dies scheint der Autor nur zu dem Zwecke erfunden zu haben, um sagen zu können, dass «der Makler vermutlich unehrlich war». Die Verhandlungen gingen nur deshalb über Berlin, weil Sir Edward Grey eben Deutschland um seine Vermittlung ersucht hatte. Niemand hatte ihn gehindert, den Vorschlag, den er dem deutschen Botschafter, Fürsten Lichnowsky, machte, dem österreichischen Botschafter, Grafen Mensdorff, zu unterbreiten, mit dem er an gleichen Tage eine Unterredung, hatte (Blaubuch Nr. 91), oder sie durch seinen Botschafter in Wien, Sir Maurice de Bunsen, dem Grafen Berchtold vortragen zu lassen. Er hatte es vorgezogen, sich an Deutschland zu wenden, offenbar, weil er wünschte, dass «Deutschland auf Oesterreich einen Druck ausübe».

Lüge ist bereits, dass Oesterreich irgendwo oder irgendwann «jede direkte Verhandlung mit Russland abgelehnt hätte». Wohl steht es in einer Depesche Ssasonoffs vom 29. Juli, Orangebuch Nr. 50, zu lesen; dennoch ist es eine grobe Unwahrheit, die Sir George Buchanan, wie wir annehmen, von Ssasonoff falsch unterrichtet, in seiner Note vom gleichen Tage, Blaubuch Nr. 78, nachschreibt. Dadurch wird sie natürlich nicht wahrer.

Vom 28. bis zum 30. Juli fanden täglich direkte Verhandlungen zwischen der russischen und österreichischen Regierung statt und zwar:

1. Am. 28. Juli eine lange Unterredung zwischen dem Grafen Berchtold und dem russischen Botschafter in Wien, Schebeko, mitgeteilt im österreichischen Rotbuch unter Nr. 40, sowie in Herrn Schebekos Note an Ssasonoff, Orangebuch Nr. 45.

2. Am 29. Juli ein langes Gespräch zwischen Ssasonoff selbst und dem österreichisch-ungarischen Botschafter, Grafen Szapary, ausführlich berichtet von diesem im Rotbuch Nr. 47.

3. Am 30. Juli eine eingehende Verhandlung zwischen dem Grafen Berchtold und Herrn Schebeko, mitgeteilt in der Note an den Grafen Szapary, Rotbuch Nr. 50, in der Graf Berchtold Herrn Ssasonoff überhöflich seinen «Irrtum» vorwarf, dass «zwischen beiden Regierungen kein Gedankenaustausch stattgefunden hätte». Die Verhandlung ist bestätigt in dem Bericht des englischen Botschafters, Sir Maurice de Bunsen, an Sir Edward Grey, Blaubuch Nr. 96, in dem es wörtlich heisst: «The Russian Ambassador gave the French Ambassador and me this afternoon at the French Embassy, where I happened to be, an account of his interview with the Minister for Foreign Affairs, which he said was quite friendly usw.» «Der russische Botschafter berichtete dem französischen Botschafter und mir auf der französischen Botschaft, in der ich mich gerade befand, über seine Unterredung mit dem Minister des Aeussern, die, wie er sagte, durchaus freundschaftlich gewesen war usw.»

Und da wagt der Autor zu schreiben: «alle Anfragen mussten über Berlin gehen»!!

Der – um ebenso überhöflich zu sein wie Graf Berchtold – «irrte», war Herr Ssasonoff, und wenn der Autor diesen «Irrtum» nachschreibt, so beweist dies nur seine kritische Unfähigkeit. Herr Ssasonoff, der Russland nützen und Oesterreich schaden wollte, mochte «irren», aber der Autor, der sich anmasst, ein richterliches Buch zu schreiben, hatte die Akten zu lesen und «Irrtümer» zu berichtigen.

Was Oesterreich einzig abgelehnt hatte, war: in diesen direkten Verhandlungen auf eine Abänderung seines am 23. Juli überreichten Ultimatums einzugehen. Dies so darzustellen, als hätte Oesterreich alle direkten Verhandlungen überhaupt abgelehnt, so dass man nur über Berlin mit ihm verkehren konnte, ist angesichts der vorliegenden Akten wohl eine der unverschämtesten Fälschungen.

Lüge ist weiter, dass «nutzlos drei volle Tage verstrichen, ohne dass Oesterreich irgendeine Antwort auf den Grey'schen Vorschlag erteilt hätte», Lüge, «dass er bis heute unbeantwortet sei»; Irreführung die Darstellung, die der Autor von den englischen Mahnungen und angeblichen deutschen Ausflüchten gibt.

Der Grey'sche Vorschlag, der von ihm am 29. Juli dem Fürsten Lichnowsky unterbreitet, am 30. vom König von England unterstützt und am selben Tag auch von der deutschen Regierung unterstützt und weitergegeben wurde, wurde sofort nach kürzester Ueberlegung von Oesterreich angenommen. Auf das tatsächliche Drängen des englischen Botschafters antwortete die deutsche Regierung, «sie dränge auch», und am selben Abend noch konnte sie bereits antworten, Graf Berchtold habe telegraphiert, er werde den Vorschlag morgen mit dem frühesten dem Kaiser unterbreiten. Am folgenden Tag, dem 31. Juli, sofort nach der Audienz, telegraphierte Graf Berchtold an die österreichischen Botschafter in Berlin, London und St. Petersburg: dass «er trotz der Aenderung, die in der Situation seither durch die Mobilisierung Russlands eingetreten sei, gerne bereit sei, dem Vorschlag Sir Edward Greys, zwischen Oesterreich-Ungarn und Serbien zu vermitteln, näher zu treten. Voraussetzung der Annahme sei, dass die österreichische Aktion gegen Serbien einstweilen ihren Fortgang nehme und das englische Kabinett die russische Regierung bewege, die gegen Oesterreich-Ungarn gerichtete Mobilisierung einzustellen, worauf Oesterreich die getroffenen Gegenmassregeln in Galizien sofort rückgängig machen werde.» (Rotbuch Nr. 51.)

Russland aber hat den englischen Vorschlag abgelehnt. Das steht natürlich in keiner der amtlichen Dokumentensammlungen der Entente. Aber dass die russische Antwort fehlt, ist der beste Beweis dafür, dass sie ablehnend lautete; ebenso wie es bezeichnend für die Loyalität dieser Veröffentlichungen ist, dass die österreichische Annahme des Vorschlags den meisten unterschlagen und in der englischen in einer Weise zugegeben ist, die den Leser darüber irreführen muss (s. S. 253).

Vermutlich ist die russische Ablehnung in der Note des Orangebuchs Nr. 64 enthalten; zwar wird darin der Grey'sche Vorschlag nicht ausdrücklich erwähnt, aber der russische Botschafter in London, Graf Benckendorf, schreibt: er habe Grey wissen lassen, dass, seit Ssasonoff sich bereit erklärte, jeden Friedensvorschlag Greys anzunehmen, wenn Oesterreich in der Zwischenzeit nicht Serbien erdrücken dürfe, sich vieles geändert habe. Durch Deutschlands Haltung sei eine neue Situation geschaffen.»

Hier also sagt die russische Regierung ausdrücklich, es genüge ihr nicht, wenn Serbien geschützt werde, und sie sei nicht bereit, jeden Friedensvorschlag Greys anzunehmen. Und was erwiderte Sir Edward Grey? «Grey a répondu», schreibt Graf Benckendorf, «qu'il le comprenait et qu'il tiendrait compte de ces arguments». Grey hat also verstanden und nimmt die russische Ablehnung willig zur Kenntnis.

Um welchen andern Vorschlag könnte es sich handeln? umsomehr, als in der Note bemerkt wird, Ssasonoff habe dem deutschen Botschafter, Grafen Pourtalès, seinen Gegenvorschlag diktiert. Dieser Gegenvorschlag war die sogenannte «erste Ssasonoffsche Formel». In ihr, mehr noch in der am Tag darauf folgenden zweiten Formel wäre die Ablehnung auch dann enthalten, wenn sie nicht bereits in Note 64 liegen würde.

Die russischen Gegenvorschläge waren: die erste sogenannte «Ssasonoffsche Formel» vom 30. Juli:

«Wenn Oesterreich anerkennt, dass sein Zwist mit Serbien den Charakter einer Frage von europäischem Interesse angenommen hat und sich bereit erklärt, aus seinem Ultimatum all jene Punkte zu streichen, die das Prinzip der Souveränität Serbiens verletzen, so verpflichtet Russland sich, alle militärischen Vorbereitungen einzustellen.» (Orangebuch Nr. 60, Blaubuch Nr. 97),

und die zweite «Ssasonoffsche Formel» vom 31. Juli:

«Wenn Oesterreich sich bereit erklärt, den Vormarsch seiner Truppen auf serbischem Gebiet einzustellen, und wenn es – anerkennend, dass der österreichisch-serbische Zwist den Charakter einer Frage von europäischem Interesse angenommen hat – zugibt, dass die Grossmächte prüfen, welche Genugtuung Serbien der österreichisch-ungarischen Regierung unbeschadet seiner souveränen Rechte als Staat und seiner Unabhängigkeit gewähren kann, dann verpflichtet sich Russland, in seiner abwartenden Haltung zu verharren.» (Orangebuch Nr. 67, Blaubuch Nr. 132.)

Wenn der Autor sich stellt, als läge in diesen Formeln auch nur das geringste Entgegenkommen von Seiten Russlands, wenn er salbungsvoll erklärt, «sie konnten nur vom entschiedensten Friedenswillen Russlands eingegeben sein», so fälscht er wie stets.

Denn die erste Formel enthält, wie jeder Leser sofort sieht, nichts als die alte, von Russland seit dem 25. Juli immer wieder vorgebrachte Forderung, jene fünf wesentlichen Punkte des Ultimatums zurückzuziehen, die schon so oft abgelehnt worden war und selbstverständlich wieder abgelehnt wurde, All jene Forderungen, die für Oesterreich praktischen politischen Wert hatten, nannte der russische Minister, – wie bereits vorher in seiner Note Nr. 25 vom 26. Juli, – Eingriffe in die serbische Souveränität. Damit suchte er die russische Forderung zu maskieren, dass die für Oesterreichs Bestand so bedrohliche und verderbliche, zu unaufhörlichen Morden führende Agitation, die in Serbien unter russischem Schutz und russischer Forderung vor sich ging, auch weiterhin fortgeführt werden sollte. Alle Forderungen, deren Erfüllung eine tatsächliche Unterdrückung dieser Agitationen zur Folge gehabt hätten, bezeichnete Herr Ssassonoff als Verletzungen der serbischen Souveränität, während nach dem Völkerrecht umgekehrt ein Staat, der solche Forderungen nicht erfüllen will oder nicht erfüllen zu können vorgibt, damit selbst auf seine Souveränität verzichtet. Am 2. August schrieb der amerikanische Staatssekretär Ewarts in einer Note: ‹Wenn eine Regierung sich ausser Stande oder nicht gewillt erklärt, jene internationalen Verpflichtungen zu erfüllen, die zwischen den Regierungen befreundeter Staaten bestehen müssen, so würde sie damit auch zugestehen, dass sie kein Recht darauf hat, als souveräne oder unabhängige Macht anerkannt zu werden.› ‹If a government confesses itself unable or unwilling to conform to those international obligations which must exist between established governments of friendly states, it would thereby confess that it is not entitled to be regarded or recognized as a soverein and independent power.› Es handelte sich um Vorfälle in Mexiko. Diese Lehre macht sich der Professor des Völkerrechts an der Columbia-Universität in New-York, J. B. Moore, zu eigen, und der gleichen oder ähnlichen Ansicht sind die Professoren Rivier in Brüssel, Piédelièvre in Rennes, L. Oppenheim in Cambridge, und andere, die alle ausdrücklich betonen, dass keine Regierung auf ihrem Gebiet Agitationen dulden dürfe, die gegen den Bestand oder die Ruhe eines andern Staates gerichtet sind. (siehe Llorens a. a. O.) die zweite gleichfalls nur den alten, ebenso unannehmbaren Konferenzvorschlag, und noch etwas mehr: Der Grey'sche Vorschlag war ein wirklicher Vermittlungsvorschlag gewesen, der beiden Teilen Rechnung trug, Russland dadurch, dass er die Entscheidung in die Hand der Mächte legte, Oesterreich-Ungarn dadurch, dass er serbisches Gebiet als Pfand dafür bewilligte, dass seine wesentlichen Forderungen nicht einfach abgelehnt werden konnten.

Damals schrieb der ehemalige italienische Ministerpräsident Luigi Luzzatti in einem Artikel im «Corriere della Sera», unter der Ueberschrift «Die tragische Stunde», zu Greys Vorschlag, den er den Vorschlag «eines wahren Weisen» nannte: «Eines genügt: dass man die vier Friedensstifter nicht daran hindere, mit Hoffnung auf Erfolg zusammenzutreten. Oesterreich-Ungarn kann sich mit Serbien herumschlagen, während die Vermittler eine billige Lösung suchen; gewiss wäre es besser, wenn von beiden Seiten gewartet würde. Aber der wesentliche Punkt ist, dass Russland sich nicht rühre, bis die Diplomatie der vier Mächte mit grösster Eile ihren billigen Spruch gefällt hat. Der Frieden Europas liegt in Russlands Händen; seine Ungeduld wäre verhängnisvoll.»

Wenn Russland den Grey'schen Vorschlag angenommen hätte, sowie Oesterreich es tat, so wäre der europäische Frieden vielleicht erhalten worden. Statt dessen schlug es seine zweite Formel vor, nach der Oesterreich sich der Konferenz, deren Mehrheit ihm feindlich gegenüberstand, ohne Pfand unterwerfen sollte, da die Formel statt einer Besetzung serbischen Gebietes, kurzweg die Einstellung des österreichischen Vormarsches am 31. Juli forderte. Am 31. Juli hatte Oesterreich-Ungarn noch kein Stückchen serbischen Gebietes besetzt; bis zum 13. August beschränkten sich die Feindseligkeiten auf Zusammenstösse der Grenztruppen und auf Geschützkämpfe an der Donau und Save; erst am 13. August wurde Schabatz besetzt. Diese Formel enthielt also eine gleichzeitige Ablehnung des Grey'schen Vorschlages.

Dass Oesterreich, nachdem es die Grey'sche Formel bereits angenommen hatte, auf diese neue russische Formel, die den Grey'schen Vorschlag umstiess, nicht mehr antwortete, war selbstverständlich.

Warum aber, muss man fragen, drängte der englische Botschafter in Petersburg nicht ebenso auf die Annahme des eigenen Vorschlages wie in Berlin? warum liess er sich die Umstossung ohne weiteres gefallen? Diese Frage wird noch erörtert werden müssen.

All dies hatte der Autor geschrieben, noch ehe das österreichische Rotbuch erschienen war. Als er dann klare Beweise fand, dass direkte Verhandlungen zwischen Oesterreich und Russland stattgefunden, sowie dass Oesterreich die Grey'sche Formel angenommen hatte, da fühlte er sich nicht etwa bewogen, wie jeder ehrliche Mann getan hätte, seine Irrtümer zu berichtigen, sondern hielt es für besser, durch neue Fälschungen die früheren zu bekräftigen.

Er gibt zwar nunmehr die direkten Verhandlungen zu, erklärt jedoch, sie seien wertlos gewesen, weil die «serbische Frage» davon ausgeschlossen sein sollte, die seit langen Jahren schon die einzige Streitfrage zwischen Russland und Oesterreich bildete. Ganz abgesehen davon, dass auch dies falsch ist, Die gefährliche Spannung zwischen Oesterreich und Russland bestand schon seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und die serbisch-russische Freundschaft erst seit 1903; und gerade in den letzten Jahren waren zwischen beiden Staaten Streitfragen aufgetaucht wegen Mazedoniens und wegen der Sandschakbahn, man beschuldigte Oesterreich vor allem nach dem Besitz von Saloniki zu streben; auch bestand ein steter, wichtiger, wenn auch stiller Kampf um den Einfluss in Bulgarien und Rumänien – aber Geschichtskenntnis darf man vom Autor nicht verlangen. sieht man sogleich, wie der Autor verdreht: denn nicht die serbische Frage, nur die Forderungen des österreichischen Ultimatums schloss Oesterreich von der Diskussion aus. Und da die serbische Frage etwa seit 1908 tatsächlich der Hauptanlass und Vorwand zum Zwiespalt zwischen beiden Reichen bildete, das Ultimatum aber erst seit dem 23. Juli 1914, so konnte die serbische Frage nicht im Ultimatum allein enthalten sein. Falls es zum Kriege kam, ging es um Serbiens Schicksal, das war klar. Wenn also der russischen Regierung an Serbien irgend etwas gelegen wäre, wenn es nicht Serbien, wie es dann tatsächlich geschah, als sein Brandopfer ins Verderben senden wollte, so musste es all die Fragen, die die österreichische Regierung zur Besprechung stellte und die das Schicksal Serbiens betrafen, falls es nicht nachgab und es zum Kriege kam, mit Eifer besprechen. Oesterreich konnte nach einem Kriege eine andere Dynastie einsetzen – wie 1904 durch russischen Einfluss geschehen war – es konnte serbisches Gebiet, etwa den Sandschak wieder nehmen, es konnte neue Forderungen jeder Art stellen. All dies waren Fragen, die ausserhalb des Ultimatums lagen und für Serbien viel wichtiger waren; all dies wollte Oesterreich besprechen, all dies nicht zu tun wollte es sich verpflichten – wenn Russland am Weltfrieden irgend gelegen war und es nicht nur unter allen Umständen die Niederlage Oesterreichs wollte, musste es auf diese Besprechungen eingehen – und da kommt der Autor mit dem einfältigen Witz, dass die österreichische Regierung mit der russischen offenbar übers Wetter sprechen wollte!

Aber der Autor häuft Schwindelei auf Schwindelei, Fälschung auf Fälschung: auf Seite 270 lügt er, dass selbst Graf Szapary die Bemerkung nicht habe unterdrücken können – und zwar in der Depesche Nr. 147 des Rotbuches – «dass die Anweisungen des Grafen Berchtold sich in einem circulus vitiosus bewegten», während Graf Szapary in der fraglichen Stelle den Ausdruck allerdings aber auf Ssasonoff anwendet. Und zwar ist die Stelle nicht misszuverstehen, denn der Botschafter schreibt, nachdem Ssasonoff ihm erklärt, dass das Gleichgewicht am Balkan ein russisches Interesse sei, sei er wieder auf die Aenderung des Ultimatums gekommen. Darauf habe er, Szapary, erwidert, dies sei doch kein russisches, sondern ein serbisches Interesse, «worauf Herr Ssasonoff geltend machte, russische Interessen seien in diesem Falle eben serbische, sodass ich dem Circulus Vitiosus durch Uebergang auf ein anderes Thema ein Ende machte».

Auf Seite 272 behauptet er: «die Wiener Regierung habe die von Deutschland vorgeschlagene direkte Erörterung der serbischen Frage mit Russland nicht nur am 28. Juli abgelehnt, sondern diese Ablehnung bereits am 23. Juli mit aller Bestimmtheit ausgesprochen. (Rotbuch Nr. 9.) Das musste der Berliner Regierung bekannt sein.» Soviel Sätze, soviel Lügen. Die deutsche Regierung hat die direkten Verhandlungen mit Russland nicht vorgeschlagen, die Wiener Regierung hat sie am 28. Juli nicht abgelehnt, noch weniger aber am 23. Juli in der Note 9, in der von Russland überhaupt nirgends die Rede ist, in der vielmehr der österreichische Botschafter in London, Graf Mensdorff, ersucht wird, der englischen Regierung die Befristung des Ultimatums zu erklären, und ihr mitzuteilen, dass Oesterreich sich über die darin gestellten Forderungen in keine Verhandlungen mit Serbien einlassen könne, weil Serbien die Krisis dadurch nach Belieben in die Länge ziehen könnte.»

Der Autor rechnet also damit, dass die Leser die von ihm angeführten Noten nicht nachlesen – Fälscher und Lügner an jeder Stelle!

Auf Seite 276 macht er zur Depesche Nr. 50, in der Graf Berchtold erklärt, dass er doch noch vor zwei Tagen mit Herrn Schebeko die aktuellen Fragen durchgesprochen, die Bemerkung: «Der Gedankenaustausch, von welchem Berchtold spricht, bestand darin, dass Schebeko im Namen Ssasonoffs die offizielle Fortführung der Petersburger Verhandlungen gewünscht, Berchtold dieselbe aber rundweg abgelehnt hatte. Das nennt Berchtold die aktuellen Fragen durchsprechen», – während in dem erwähnten Gespräch, dessen Inhalt bereits in Note 40 ausführlich wiedergegeben ist, Schebeko und Graf Berchtold tatsächlich eine ganze Reihe serbischer Fragen durchsprachen, und Graf Berchtold nur die Verhandlungen mit Serbien auf Grundlage der serbischen Antwort, nicht aber die Petersburger Verhandlungen ablehnte! Fälscher und Lügner überall!

Ebenso auf Seite 278, wo er, da nach dem Lesen des österreichischen Rotbuches die Annahme des Grey'schen Vermittlungsantrags nicht mehr zu leugnen ist, dies in folgender Form ausdrückt, «die Depesche vom 31. Juli gebe endlich eine gewisse Bereitwilligkeit zur Annahme der Grey'schen Vermittlung zu erkennen», und dazu bemerkt, Oesterreich habe dies nur getan, weil es wusste, dass es ohnedies zu spät und der Krieg nicht mehr zu verhindern war! Der Vorschlag war von Grey am 29. Juli dem deutschen Botschafter gemacht, von König Georg am 30. unterstützt, von Deutschland am 31. weitergegeben worden, noch am selben Tage antwortete Graf Berchtold, er wolle ihn so schnell als möglich dem Kaiser unterbreiten, und ehe 24 Stunden seit dem Eintreffen des Antrags vergangen waren, war er auch angenommen! Und da schreibt der Autor, der die Sache absichtlich irreführend so dargestellt hat, als ob inzwischen eine lange Zeit vergangen wäre, « endlich zeigte Oesterreich eine gewisse Bereitwilligkeit.» Fälscher und Lügner, wo es irgend möglich ist!

Auf Seite 286 stellt er die ganze Sache wieder anders dar und behauptet, der Grey'sche Vorschlag sei «nicht mit einem Worte im Rotbuch erwähnt»!!

Und nochmals belügt er den Leser, wenn er auf Seite 280 gesperrt druckt, dass in der Ssasonoffschen Formel «nur ein Stillstand, wohlbemerkt kein Rückzug, der österreichischen Truppen aus Serbien verlangt wurde», und verschweigt, dass damals noch kein österreichischer Soldat serbischen Boden betreten hatte.

Es waren dies die letzten Verhandlungen, als in allen Ländern die Mobilisierungen bereits im Gange waren. Der Autor bemüht sich, darzutun, dass Oesterreich-Ungarn zuerst unter allen beteiligten Staaten die allgemeine Mobilisierung angeordnet habe. Die Sache ist ziemlich müssig, da bei der ungeheuren russischen Uebermacht bereits die russische Teilmobilisierung die österreichische allgemeine Mobilisierung gerechtfertigt hätte. Aber selbst hier ist die Darstellung des Autors eine gewissenlose und irreführende wie überall.

Ueber die österreichische allgemeine Mobilisierung liegen zwei Telegramme vor, eines des russischen Botschafters Schebeko, Orangebuch Nr. 47, welches sie vom 28. Juli meldet, und eines des französischen Botschafters Dumaine, Gelbbuch Nr. 115, das sie als am 31. Juli, um ein Uhr morgens, beschlossen meldet.

Eine der beiden Nachrichten ist also ein «Irrtum», und zwar ist es die erste, des Herrn Schebeko, weil die zweite sowohl durch ein Telegramm des Grafen Berchtold selbst (Rotbuch Nr. 53), als eines des englischen Botschafters in Wien, Sir Maurice de Bunsen (Blaubuch Nr. 118) bestätigt wird. Wir würden an einen zufälligen Irrtum glauben, – man weiss ja, wie in solchen Tagen falsche Gerüchte in Menge entstehen und verbreitet werden, – wenn der «Irrtum» nicht in jeder neuen Ausgabe des russischen Orangebuchs unberichtigt wiederkehren würde.

Der Autor aber schwindelt zunächst, indem er schreibt, «nach französischen und englischen Berichten am 31. Juli, morgens um ein Uhr». Diese frühe Stunde wird aber einzig in der erwähnten Depesche Herrn Dumaines angegeben, in den vom Autor zitierten englischen Berichten steht kein Wort davon. Die Sache wäre an sich gleichgültig, aber für die Methode des Autors, der damit etwas bezweckt, ist die Unwahrhaftigkeit in der Anführung seiner Beweise kennzeichnend. Er ist nicht imstande, an irgend einer Stelle exakt zu sein und die wirkliche Wahrheit zu sagen.

Es ist jedoch überhaupt nicht wahr, dass die österreichische Mobilisierung in der Nacht des 31. Juli erfolgte.

Dumaines Depesche lautet: «la mobilisation a été décrétée par le Gouvernement austro-hongrois ce matin à la premiere heure.» Also sie ist in einer Nachtsitzung der Regierung vom 30. beraten und um 1 Uhr morgens nur «beschlossen», am nächsten Tag, gegen Mittag, wirklich ausgegeben worden. Diese Zeit der Ausgabe ist in Eglis höchst exaktem Werk «Zwei Jahre Weltkrieg» angegeben. Von der deutschen Mobilisierung behauptet der Autor, wie viele andere, dass sie wahrscheinlich schon am 29. Juli in Potsdam beschlossen, wenn sie auch erst am 1. August ausgegeben wurde. Er weiss also, dass zwischen Beschluss und Ausgabe Tage vergehen können. Von der russischen Teilmobilisierung, die am 29. Juli kundgemacht wurde, schreibt der Zar selbst am 30. Juli, dass sie «schon vor fünf Tagen beschlossen worden sei».

Dagegen telegraphiert Graf Szapary von Petersburg am selben 31. Juli an den Grafen Berchtold, «heute früh Ordre zur allgemeinen Mobilisierung der gesamten Armee und Flotte erfolgt». Das kann sich nur auf die Ausgabe beziehen. Die englischen und französischen Meldungen über die russische Mobilisierung (Blaubuch 113 und Gelbbuch Nr. 118) geben nur den Tag, nicht die Stunde an.

Der Autor aber schreibt: «Die russische Generalmobilisierung ist frühestens gegen Mittag des 31. Juli, also nach der österreichischen erlassen worden.» Er, der sonst mit Zitaten, ob sie wahr oder falsch sind, nur so herumwirft, weiss überhaupt keinen einzigen Grund für diese Behauptung anzuführen. Woher weiss er also, dass die russische Ordre erst gegen Mittag erfolgte? Offenbar hat er gleich jenem berühmten Gerichtszeugen, dem er an Gewissenhaftigkeit so ähnlich sieht, «sich's so gedacht». Er stellt eine Behauptung hin, die er durch nichts begründen kann, nur um sagen zu können, dass die russische Mobilisierung später erfolgte.

Die Sache hat, wie gesagt, wenig Wichtigkeit. Sie beweist nur, dass im Gelbbuch, wie vom Autor, die österreichische Mobilisierung im Gegensatz zu allen andern, nicht vom Zeitpunkt der Ausgabe, sondern von dem des Beschlusses datiert wird, der der Ausgabe selbstverständlich vorhergeht, um sie durch dieses eben so schlaue als unehrliche Tun als vorher erfolgt erscheinen zu lassen. Es kann keine Frage sein, dass alle Staaten angesichts der ungeheuren Gefahr schon seit dem Beginn der Krise sich möglichst vorbereiteten. Sir Edward Grey gibt selbst zu, dass er wenigstens die «zufällig» in der Nordsee versammelte englische Kriegsflotte nicht auseinander gehen lasse (Blaubuch No. 47). Wer, als die Situation unheilbar wurde, als erster den letzten allgemeinen Befehl gab, ist nicht von entscheidender Bedeutung. Entscheidend ist, wer die Situation unheilbar gestaltete. Und das scheint mir bereits dadurch klargestellt, dass Oesterreich den Grey'schen Vorschlag annahm, Russland ihn ablehnte. Oesterreich-Ungarn und Russland haben am 31. Juli, das Deutsche Reich und Frankreich am 1. August den allgemeinen Mobilisierungsbefehl erlassen, nachdem im Reich schon am Abend des 31., um 7 Uhr, der Zustand drohender Kriegsgefahr verkündet worden. Warum der Autor zu dieser letzteren Kundmachung bemerkt: «Die Stunde sei nicht bekannt», ist nicht einzusehen. In jedem Fall war die österreichische allgemeine Mobilisierung, auch wenn sie etwa eine Stunde früher erfolgt wäre als die russische, – wie man sah, ist das Gegenteil zum mindesten wahrscheinlich – durch die russische Teilmobilisierung vom 25. Juli hervorgerufen und begründet worden, die sich zugestandenermassen gegen Oesterreich richtete. Uebrigens versicherte Graf Berchtold noch in der letzterwähnten Depesche: wenn Russland nicht eingreife, würden auch die mobilisierten österreichisch-ungarischen Truppen in Galizien in der Defensive bleiben; die Aufrichtigkeit dieser Erklärung geht sowohl aus der gleichzeitigen Annahme des Grey'schen Vermittlungsvorschlages, als vor allem darauf hervor, dass Oesterreich das grösste Interesse daran hatte, nicht zugleich in einen Krieg mit Russland verwickelt zu werden.

Nun kommt noch zum Schluss des Abschnittes die merkwürdigste aller Fälschungen, die allerdings, wie bemerkt, dem Autor nur mittelbar zur Last fällt.

Er erzählt nämlich – und er findet es selbst merkwürdig – dass Oesterreich im Lauf desselben Tages ohne Rücksicht auf Generalmobilisierungen usw. plötzlich in Paris und Petersburg gleichzeitig seine Bereitwilligkeit erklärte, mit Russland und den andern Mächten über den Inhalt seines Ultimatums an Serbien in Verhandlungen einzutreten. Und er beruft sich für diese Mitteilung auf die Noten, Gelbbuch Nr. 120 und Blaubuch Nr. 73; er tut es mit Recht, denn das steht in der Tat dort. Er hätte sich auch auf die Einleitung des Blaubuches, Seite VIII, am Schluss des § 6, berufen können; denn es steht auch dort gedruckt zu lesen. Nur ist es bereits an all diesen Stellen eine der schamlosesten und zugleich ungeschicktesten Fälschungen, die je in amtlichen Dokumenten begangen worden sind.

Auch diese Fälschung geht, wie soviel andere, von Petersburg aus, ist aber von den beiden Kabinetten in London und Paris aufgenommen und unterstützt worden.

In der erwähnten Note, Gelbbuch Nr. 120, schreibt der französische Minister des Aeussern, Herr Viviani, seinen Botschaftern am 1. August: der österreichische Botschafter, Graf Szécsen, habe ihn am Tage zuvor aufgesucht und ihm folgendes mitgeteilt: «Die österreichisch-ungarische Regierung habe keinen territorialen Ehrgeiz und würde die Unabhängigkeit des serbischen Staates nicht antasten; sie hätte auch nicht die Absicht, das Sandschak zu besetzen; doch sollten diese Erklärungen ihrer Uninteressiertheit nur für den Fall gelten, dass der Konflikt lokalisiert bleibe, da ein europäischer Krieg Eventualitäten mit sich bringen könnte, die kein Mensch vorauszusehen imstande sei.» Herr Viviani fügt hinzu, dass Graf Szécsen zu dieser Erklärung noch Erläuterungen fügte und ihm zu verstehen gab, dass, «wenn seine Regierung auch Fragen, die die Mächte in ihrem eigenen Namen an sie stellen würden, nicht beantworten könnte, sie doch Fragen, die von Serbien selbst oder von einer andern Macht in Serbiens Namen gestellt würden, sehr wohl beantworten könnte und dass hierin vielleicht einige Hoffnung läge. Vom Ultimatum also kein Wort.

Ausserdem, fügt Herr Viviani weiter hinzu, habe Graf Szapary, und zwar gleichfalls am Tage zuvor, in Petersburg zu Ssasonoff gesagt, die österreichische Regierung sei endlich bereit, das zu tun, was sie bisher stets abgelehnt habe, nämlich das Ultimatum selbst zu diskutieren, «à entamer une discussion quand au fond de son Ultimatum à la Serbie».

Woher wusste Herr Viviani das? Im Gelbbuch steht keine solche Mitteilung. Die einzige im Gelbbuch veröffentlichte Nachricht aus Petersburg vom 31. Juli ist die Depesche des französischen Botschafters, Herrn Paléologue, in der dieser lediglich die zweite Ssasonoff'sche Formel mitteilt.

Es läge nun nahe, anzunehmen, dass Herr Viviani es mündlich vom russischen Botschafter in Paris, Herrn Isvolsky, gehört. Aber nein, in der vom Autor zitierten Note, Orangebuch Nr. 73 gibt umgekehrt Herr Iwolsky und gleichfalls am 1. August diese Tatsache als eine Mitteilung, die Viviani ihm gemacht, nach Petersburg bekannt!

Im russischen Orangebuch steht von der ganzen Sache kein Wort – ausser dieser aus Paris kommenden Mitteilung.

Im englischen Blaubuch findet sich unter Nr. 133 eine Depesche darüber und zwar gleichfalls vom 1. August 1914. Sir Edward Grey schreibt an Sir Edward Göschen in Berlin:

«Foreign Office, 1. August 1914.

Herr von Etter, Rat an der russischen Botschaft in London, hat mir heute den Inhalt eines Telegramms Herrn Ssasonoffs vom 31. Juli mitgeteilt; es ist das folgende:

Der österreichisch-ungarische Botschafter erklärte, seine Regierung sei bereit, den wesentlichen Inhalt des österreichischen Ultimatums an Serbien zu erörtern. Herr Ssasonoff sprach in seiner Antwort seine Befriedigung darüber aus und erklärte es für wünschenswert, dass die Erörterungen in London unter Teilnahme der Grossmächte stattfinde.

Herr Ssasonoff hoffte, die englische Regierung würde die Leitung der Diskussion übernehmen. Ganz Europa würde ihr dankbar sein. Sehr wichtig wäre, dass Oesterreich seine militärische Aktion auf serbischem Gebiet indessen provisorisch einstelle.»

Demnach hätte Herr Ssasonoff die Fälschung begangen? Denn niemals hatte Graf Szapary etwas dergleichen gesagt, niemals hatte die österreichische Regierung sich zu einer Erörterung, d. h. zu einer eventuellen Abänderung des Ultimatums verstanden.

Graf Berchtold hatte und zwar bereits am 30. Juli 1914 an den Grafen Szapary folgendes Telegramm geschickt (österreichisches Rotbuch Nr. 49):

«Antwort auf Euer Exzellenz' Telegramm vom 29. Juli: Ich bin selbstverständlich nach wie vor bereit, die einzelnen Punkte unserer – durch die Ereignisse übrigens bereits überholten – an Serbien gerichteten Note durch Euer Exzellenz Herr Ssasonoff erläutern zu lassen. Auch würde ich besonderen Wert darauf legen, bei dieser Gelegenheit – der mir durch. Herrn Schebeko verdolmetschten Anregung entsprechend – auch die unsere Beziehungen zu Russland direkt betreffenden Fragen einer vertrauensvollen und freundschaftlichen Aussprache zu unterziehen, wovon sich eine Behebung der in diesem Belange bedauerlicherweise bestehenden Unklarheiten und Sicherstellung der so wünschenswerten friedlichen Entwicklung unserer Nachbarverhältnisse erhoffen liessen.»

Um aber jedes Missverständnis auszuschliessen, richtete Graf Berchtold noch am selben Tage ein zweites Telegramm an den Botschafter (Rotbuch Nr. 50), in dem er ihm sagte:

«Zu Euer Exzellenz' Orientierung und Regelung Ihrer Sprache: Ich habe heute Herrn Schebeko auseinandergesetzt, es sei mir gemeldet worden, dass Herrn Ssasonoff über meine glatte Ablehnung seiner Propositionen bezüglich Aussprache mit Euer Exzellenz peinlich berührt sei, wie nicht minder darüber, dass kein Gedankenaustausch zwischen mir und Herrn Schebeko stattgefunden habe.

Bezüglich des ersten Punktes hatte ich Euer Exzellenz bereits telegraphisch freigestellt, auch weiterhin seitens Herrn Ssasonoff etwa gewünschte Erläuterungen bezüglich der Note – welche übrigens durch den Kriegsausbruch überholt erscheint – zu geben. Es könne sich dies allerdings nur im Rahmen nachträglicher Aufklärungen bewegen, da es niemals in unserer Absicht gelegen war, von den Punkten der Note etwas abhandeln zu lassen. Auch hätte ich Euer Exzellenz ermächtigt, unsere speziellen Beziehungen zu Russland mit Herrn Ssasonoff freundschaftlich zu besprechen.»

Graf Szapary antwortete in einem Telegramm vom 1. August 1914 (Rotbuch Nr. 56): «... Ich sagte Herrn Ssasonoff, dass die beiden Weisungen Euer Exzellenz von dem Missverständnis handeln, als ob wir weitere Verhandlungen mit Russland abgelehnt hätten. Dies sei, wie ich ihm schon anfangs versichert hätte, ein Irrtum. Euer Exzellenz seien nicht nur gerne bereit, mit Russland auf breitester Basis zu verhandeln, sondern auch speziell geneigt, unseren Notentext einer Besprechung zu unterziehen, sofern es sich um dessen Interpretation handle ... Herr Ssasonoff erwiderte, er nehme von diesem Beweise guten Willens mit Befriedigung Akt; doch möchte er mich aufmerksam machen, dass ihm Unterhandlungen in St. Petersburg aus naheliegenden Gründen weniger Erfolg versprechend erschienen als solche auf dem neutralen Londoner Terrain. Ich erwiderte, Euer Exzellenz gingen, wie ich schon dargelegt hätte, vom Gesichtspunkte einer direkten Fühlungnahme in St. Petersburg aus, so dass ich nicht in der Lage sei, zu seiner Anregung bezüglich Londons Stellung zu nehmen, doch würde ich Euer Exzellenz hievon Meldung erstatten.»

Die österreichische Regierung war also lediglich bereit, ihre Note, die sie bereits als gar nicht mehr aktuell betrachtete, weil sie ja Serbien schon den Krieg erklärt hatte, der russischen Regierung nochmals freundschaftlich zu erklären, nicht aber sie zu diskutieren, was ja die Möglichkeit einer Aenderung bedeutet hätte – diese Möglichkeit wurde ausdrücklich ausgeschlossen. Es handelte sich also um ein rein formelles Entgegenkommen, das der russischen Regierung den Rückzug oder ein Einlenken erleichtern sollte, in keinem Fall aber einen österreichischen Rückzug bedeuten konnte. Ueber eine Vermittlung der Grossmächte, wie Herr Ssasonoff sie wünschte, hatte die österreichische Regierung nicht nur nichts erklärt, sondern ihr Botschafter hatte ausdrücklich abgelehnt, zu diesem Vorschlag Stellung zu nehmen.

Auch Sir Maurice de Bunsen berichtet die gleiche Sache im Blaubuch unter Nr. 161. Er hat sie in Wien, aber beileibe nicht von der österreichischen Regierung, sondern vom russischen Botschafter Schebeko gehört, hat es aber merkwürdigerweise unterlassen, sich auf dem Ballplatz zu informieren, was an der Sache sei.

Wer hat die Fälschung begangen? Wenn Herr Ssasonoff es tat, wie aus Blaubuch Nr. 133 hervorgehen würde, wie kommt es, dass im russischen Orangebuch diese seine so wichtige Depesche fehlt, und statt dessen er sich die Sache aus Paris von Herrn Iswolsky mitteilen lässt?

All dies ist merkwürdig, aber noch merkwürdiger ist, dass Herr Viviani in seiner nächsten Note einen Schritt weiter macht und sagt, er habe den deutschen Botschafter davon verständigt, dass er von der österreichischen Regierung die Mitteilung erhalten, sie habe nicht den Wunsch nach einer Gebietserweiterung in Serbien und würde nicht ins Sandschak eindringen und sei bereit, die ganze Frage in London mit den Grossmächten zu erörtern.

Hier geht die Entstellung bereits in Fälschung über, denn niemals hatte Herr Viviani von der österreichischen Regierung solch eine Mitteilung erhalten. Graf Szécsen hatte nur von den ersten beiden Punkten gesprochen, und Herr Viviani hatte nicht von der österreichischen, sondern von der russischen Regierung gehört, dass Oesterreich bereit wäre, das serbische Ultimatum an Serbien zu diskutieren. Dies macht einen umso grösseren Unterschied, als es sich ja eben um die Diskussion des Ultimatums handelte, und Oesterreich gerade dies nicht gewollt hatte. Und selbst Herr Ssasonoff hatte nicht zu behaupten gewagt, dass Oesterreich tatsächlich bereit wäre, die Sache in London mit den Grossmächten zu erörtern; er hatte nur gesagt, dass dies sein Wunsch wäre.

So fälscht Herr Viviani. In der Einleitung des englischen Blaubuchs ist wieder – auf Seite VIII zu lesen : «Russland war in der Lage, die Regierung Seiner Majestät am 31. Juli davon in Kenntnis zu setzen, dass Oesterreich sich endlich bereit erklärt hatte, gerade das zu tun, was es in den ersten Tagen der Krise verweigert hatte, nämlich die ganze Frage seines Ultimatums an Serbien zu erörtern. Russland ersuchte die Britische Regierung, die Leitung dieser Erörterungen zu übernehmen. Für einige wenige Stunden schien Hoffnung auf den Frieden zu sein. – In diesem Augenblick, am Freitag, den 31. Juli, richtete Deutschland plötzlich ein Ultimatum an Russland usw. ...»

Wie merkwürdig! Nach seinen eigenen, im Blaubuch unter Nr. 133 mitgeteilten, eben zitierten Worten hat Sir Edward Grey die russische Mitteilung erst am 1. August erhalten: «Foreign Office 1. August. Herr von Etter kam heute zu mir, um mir mitzuteilen», etc. Wie konnte er am 31. Juli hoffnungsvoll sein und wie konnten diese Hoffnungen durch das deutsche Ultimatum zunichte werden, wenn er die Nachricht erst am 1. August erhalten hat?

Habe ich nicht recht, wenn ich die Fälschungen nicht nur merkwürdig, sondern auch ungeschickt nenne? Die ganze Sache ist frei erfunden, um die Schuld der Zerstörung einer letzen Hoffnung auf Deutschland schieben zu können, um sagen zu können, dass die letzten durch Mitteilungen vom 1. August entstandenen Hoffnungen am 31. Juli durch Deutschlands Schuld zerstört wurden!!!

Das Blaubuch ist wohl etwas eilig zusammengestellt worden. Man hat auch andere Daten ein wenig verschieben müssen, wie wir im Verlauf dieser Schrift sehen werden.

Alles, was der Autor, der natürlich wieder «ein abgekartetes Spiel» zwischen Oesterreich und Deutschland vermutet, an die Sache knüpft, alles, was er von Ssasonoffs gütiger Bereitwilligkeit auf die österreichische «Eröffnung» einzugehen und mehr dergleichen erzählt, fällt damit zusammen, weil Herr Ssasonoff die «Eröffnung», auf die er so bereitwillig einging, unterschoben, weil Oesterreich eine Eröffnung in diesem Sinne gar nicht gemacht hat.

Warum er sie unterschob? Vielleicht, weil er seine Formel, seine Forderung auf Aenderung des Ultimatums, nachdem alle früheren Versuche missglückt waren, auf diese Weise noch durchzusetzen hoffte, während seine Verbündeten nachher darin ein Mittel sahen, die Schuld auf Deutschland zu verschieben? Und wie merkwürdig, dass man die wirkliche Annahme des Vermittlungsvorschlags, der den Frieden bewahrt hätte, ignorierte, und eine Konzession, die Oesterreich gar nicht gemacht hatte, erfand!!

Wenn der Autor zum Schlusse sagt, bis heute wisse niemand, was Oesterreich-Ungarn eigentlich gewollt habe, weil es in seiner Starrköpfigkeit nie eine Aufklärung darüber gegeben, so ist das eine seiner gewollten Unwissenheiten, neben den unzähligen ungewollten.

Was Oesterreich-Ungarn wollte, das hat es in seinem Ultimatum erklärt, und ist davon weder abgewichen, noch hat es etwas hinzugefügt; was es nicht wollte, hat es am 26. und 27. Juli durch seine Botschafter in Petersburg und London (Rotbuch Nr. 26 und Blaubuch Nr. 48) und nochmals in der Erläuterung, die Graf Szécsen Herrn Viviani gab, ausgesprochen (s. S. 191).

Von den elf Sätzen, in die der Autor am Schlüsse des Kapitels seine Anklagen gegen Oesterreich zusammenfasst, sind also der erste, dritte, vierte, sechste und zehnte vollkommen falsch; denn wie gezeigt worden, waren

1. die Forderungen der österreichischen Note vom 23. Juli durchaus berechtigt und viel geringer als die in früheren Noten, ohne Provokation von Russland an Bulgarien, von Italien an die Türkei gestellt worden;

2. hat Serbien von den österreichischen Forderungen in der Tat fast nichts bewilligt;

3. hat die österreichische Regierung direkte Verhandlungen mit Russland nie abgelehnt, dagegen solche über den Inhalt des Ultimatums nie, auch nicht am 31. Juli, zugestanden;

6. hat sie die Grey'sche Einigungsformel angenommen;

10. hat sie ganz genau erklärt, was sie will.

Der zweite, fünfte, siebente und achte Satz, Ablehnung der Fristverlängerung, der Konferenz und der beiden Ssasonoff'schen Formeln, sind zwar richtig, aber es sind die triftigen Gründe gezeigt worden, aus denen die österreichisch-ungarische Regierung in diese ihr gestellten Fallen nicht ging.

Satz 9 ist sinnlos, weil Oesterreich-Ungarn, nachdem es die Grey'sche Formel angenommen hatte, nicht nötig hatte, auf andere, übrigens auf einer Fälschung begründeten, Vorschläge einzugehen.

Satz 11, über den Zeitpunkt der Mobilisierung, ist vorläufig nicht sicher zu entscheiden, spricht aber, wie immer er zu entscheiden wäre, nicht zu ungunsten Oesterreichs.

Wenn der Autor so seine Anklagen gegen Oesterreich feierlich in diese Punkte zusammenfasst, sie bejaht und dann in grotesk-kindischer Nachahmung gerichtlicher Formeln seinen Spruch fällt und in fettem Druck der Welt verkündet: «Oesterreich ist schuldig, allein oder in Gemeinschaft mit andern usw.», so kann man nur sagen: der Weltkrieg hat neben all seiner furchtbaren Tragik manche seltsam komische Episoden zur Folge gehabt, aber das verdriesslichste aller Satyrspiele ist es, diesen Narren im Richtertalar seine komödiantenhaften Schuldsprüche verkünden und das Volk seiner Bude zulaufen zu sehen.


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