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XXII.
Die Lawine

Im Hotel in Grindelwald war Emil froh, einen alten Bekannten und Kollegen zu finden, der mit drei Zöglingen seiner Anstalt, eines von ihm am Ufer eines nordschweizerischen Sees gegründeten Landerziehungsheims, eine kleine Ferientour machte. Lotte befreundete sich gleich mit den jungen Leuten, die in Norddeutschland ihre Eltern hatten und jetzt, wenige Wochen vor ihrem Austritt aus der Schule, das Berner Oberland noch kennen lernen wollten. Es dauerte nicht lange, bis Lotte mit den tüchtig dreinschauenden Jünglingen in eine Neckerei geraten war, und als die jungen Menschen bemerkten, wie Lotte sie zu verwirren suchte, zahlten sie Gleiches mit Gleichem und spielten die jungen Kavaliere.

Unterdessen geriet Emil in eine tiefgründige Unterhaltung mit dem alten Studienfreund, der ihm mit Feuer und Beredsamkeit das Programm seiner Anstalt entwickelte. Melchior aber war zu den Kollegen in die Führerstube gegangen, um womöglich zu erfahren, wie es mit den Felsen auf dem Südwestgrat der Jungfrau stehe und ob sie vereist seien oder nicht. Denn er war mit Emil über die morgige Tour noch nicht einig geworden.

Als Melchior sich im Speisesaal bei Emil und Lotte melden ließ, um Genaues über ihre Pläne für morgen zu hören, erklärte Lotte, sie müsse zunächst einmal ehrlich und redlich ausschlafen. Morgen früh könne man dann ja weiter sehen.

Damit verabschiedete sie sich und ließ die drei Jungen, die sehr gesprächig geworden waren und versucht hatten, sich gegenseitig auszustechen, mit sehr geteilten Gefühlen zurück. Emil aber und der Leiter des Landerziehungsheims blieben noch bei einem Glase Wein in der Stimmung von Freunden sitzen, die dankbar sind für jedes zartfühlende Respektieren ihres durch eine jahrelange Trennung angehäuften Mitteilungsbedürfnisses.

Am anderen Morgen kam Melchior zu Emil und Lotte, die ein sehr verspätetes Frühstück einnahmen, mit der Meldung, der Wind habe umgeschlagen, das Wetterglas steige, und man könne schauen, heute noch auf die Rottalhütte zu kommen, dann könnten sie morgen über den Südwestgrat, dessen Schwierigkeit Lottens Geschmack am meisten entsprach, auf die Jungfrau gehen.

Nachdem man rasch etwas zu Mittag gegessen und sich von den neugewonnenen Bekannten verabschiedet hatte, marschierten die drei im gelassenen Bergschritt zum Ort hinaus.

Gegen Abend kamen sie bei leicht bedecktem Himmel, der den Wanderern ein kühles Steigen bescherte, aber auch hin und wieder durch blendende Wolkenpforten gedämpftes weißes Licht über die Berge goß, am Abbruch des überhängenden Rottalgletschers an und erlebten gerade vom sicheren Weg aus das Schauspiel eines sich ablösenden gewaltigen Eisblockes. Der schlug mit Donnerkrachen auf den tief darunterliegenden Felsen auf, sprang in Stücke, zersplitterte wie eine Salve von großen Geschossen, Bomben und Granaten, die beim weiteren Aufschlagen in kleinere Stücke barsten und im weiten Bogen wie silberne Raketen in der Luft zerplatzten.

Ganz außer sich über dieses leuchtende Riesenspiel zwischen Fels und Gletscher, rief Lotte, während die Eislawine sich mit einem Strom von Schnee und Steinen über die Felsen ergoß, die Männer an, wie man nur so stumm und gelassen bei einem solchen wunderbaren Anblick bleiben könne.

»Man kann auch innerlich jauchzen!« meinte Melchior und nahm damit Emil eine ähnliche Antwort von der Zunge.

Dann stiegen sie weiter und kamen in jener wohligen Verfassung, die einer angenehmen Sättigung des Körpers mit Anstrengung entspringt und doch nicht Übermüdung ist, kurz vor Sonnenuntergang auf der Hütte an, um gerade noch die drei letzten Matratzen zum Nachtlager zu erwischen.

Sie verabredeten sich leise, schon um Mitternacht aufzubrechen, um nicht unter den abgesteinten Felsstücken vorausgehender Partien Verdruß zu haben.

Bevor aber die beiden sich auf ihre Lager zurückzogen, die Melchior noch zurechtmachte, trat Lotte vor der Hütte an Emil heran und sagte:

»Wissen Sie, daß ich mich mit Ihnen manchmal prügeln könnte wie ein Junge, wenn Sie so abscheulich zu mir sind wie gestern!«

Emil fuhr ihr mit der Hand streichelnd und tröstend über den Arm und antwortete mit einer guten, verheißungsvollen Stimme:

»Ich will nicht mehr abscheulich sein, Lotte!«

Das war zum ersten Male, daß er ihren Namen nicht mit der vorausgeschickten Anrede »Fräulein« abkühlte, und sie schlief auf diesem Wort, das er so gut und warm ausgesprochen hatte, wie auf einem weichen Kissen ein, bis der Führer sie weckte.

Über nachgiebigen Schutt stiegen die drei mit Laternen vor der Brust durch Nacht und Kälte zur Flanke des Grates hinauf, außer dem hinabrutschenden Geröll nichts vernehmend als die eigenen Schritte.

Auch die Gewalten des Hochgebirgs schlafen über Nacht, wenn der Sturm sie nicht weckt. Die rinnenden Wasser erstarren, und was sich im ewigen Sterben der Berge untertags losbröckeln will, das halten Dunkelheit und Kälte mit eisigen Fingern für einige Stunden fest.

Bis zu den ersten Anzeichen der Morgendämmerung fiel kein Wort, und halb im Schlaf und nichts als die Gestalt des Vordermanns im Schein der Laterne vor Augen, tasteten sich Emil und Lotte hinter dem Führer her über den breiten, sicheren Grat hin, bis sie auf einmal vor hohen glatten Felsen standen.

»Eine Tasse Tee könnte jetzt nicht schaden,« meinte Lotte, und während Melchior das Seil aus dem Rucksack nahm und Lotte bat, das gleiche zu tun, stellte Emil die Teemaschine auf, und bald schnurrte im Windschutz aufgerichteter Steine die Flamme des Apparates und der aus einem Loch geholte Schnee schmolz im Kessel.

Das heiße Getränk vertrieb ihnen die letzte Schlafbefangenheit, und Lotte bewarf aus reinem Übermut Emil mit Stückchen Biskuits und kleinen Schneebällchen.

Das sei nicht zünftig und erinnere an Sonntagsalpinisten, neckte Emil Lotte mit deren eigenen Worten.

»Gut!« sagte Lotte, warf ihm einen schelmisch drohenden Blick zu und kommandierte: »Also an die Gewehre!«

Sie schlang mit Geschick und Kraft einen Knoten, der ihr Seil mit demjenigen Melchiors verband, während Emil das seinige zur Reserve im Rucksack behielt. Dann legte sie sich das mittlere Stück der verbundenen Seile als Schlinge kunstgerecht in den Verschlußhaken ihres Gletschergürtels, und Emil und Melchior banden ihre Seile um die Brust.

Emil sollte voranklettern, aber Melchior gab das Zeichen zum Einstieg nicht, bevor er sich bei Emil und Lotte von der Sicherheit der Knoten überzeugt und das Seil prüfend der ganzen Länge nach durch die Hand hatte laufen lassen.

Dann begann das Klettern, jene langsame Vorwärtsbewegung beim Wandern in den Alpen, die im Menschen durch Brust an Brust mit den stumpfen, kalten Gewalten der Natur ausgeführten Nahkampf leicht die animalische Lust des Tieres weckt. Tierartig klammerten sie sich fest und saugten sich mit dem ganzen Leib an dem Fels an, der zugleich ihr Feind war und ihr Schutz.

Nach einstündiger Arbeit meldete Emil von oben, daß die Felsen vereist seien und daß er vorschlage, den Grat zu verlassen. Melchior rief seine Zustimmung hinauf, und Emil kletterte nun in eine breite, schneegefüllte Rinne ab. Aber als er unten war, schrie er Lotte und Melchior zu, die seine Stimme der zwischen ihnen liegenden Felsklippe wegen kaum hören konnten, sie sollten warten.

Der Schnee lag kaum drei Finger hoch auf einem steilen Untergrund von Eis. Nach einigem Besinnen aber gab er Lotte mit dem Seil ein Zeichen, herabzukommen, und legte die Steigeisen an.

Als die Rinne mit kleinen, festen Schritten erklommen und überschritten war, nahmen sie die treuen Eisenstacheln wieder von den Füßen, stiegen zum Grat auf, wo es nun einige Zeitlang auf einer schmalen, aber sicheren Kante vorwärts ging. Auf einmal stellte sich ein Felskopf mit sehr glatten und dazu noch vereisten Wänden ihnen entgegen und drängte sie zum zweiten Male vom Grat in ein diesmal noch breiteres Schneecouloir hinab.

Im Licht des aufsteigenden Tages sah Emil, daß hier starke Lawinengefahr drohe. Er ließ Lotte und Melchior zuerst zu sich herabkommen, bevor er weiter ging. Der Führer war fürs Abseilen. Sie banden sich also alle drei los und bargen die Seile in den Rucksäcken.

Man sollte warten, bis es heller wird, meinte Melchior. So ließe sich nicht gut etwas sagen.

Sie blieben also eine Viertelstunde sitzen, während unter dem immer noch leicht bewölkten Himmel die Dämmerung dem Tageslicht wich, und aßen Kakes und Drops, die Lotte verteilte. Aber auf einmal dauerte es ihr zu lange, sie sondierte mit dem Pickel und dann mit dem Fuß den Schnee, nachdem sie die paar Schritte vollends hinabgestiegen war. Es war tiefer Schnee, aber anscheinend überall fest gefroren.

»Bleiben Sie hier!« rief Melchior ihr befehlend zu.

»Machen Sie keinen Unfug!« verstärkte Emil die Mahnung des Führers.

Aber bevor er ausgeredet hatte, stieß sich Lotte vom Fels, an den sie gelehnt war, ab, und die beiden Männer sahen sie schon mit leichten, sicheren Schritten über die steile Schneefläche hinunter tanzen zum Fels auf der anderen Seite, wo sie nach kaum einem Dutzend Schritte sich festhielt, lachend absetzte und herüberrief, es ginge ganz famos. In den beiden Männern kochte die Wut, aber sie sagten nichts.

Was war da zu machen?

Ob Lotte noch einmal gerade so heil herüberkommen werde, war fraglich. Denn daß man es hier nicht mit festgefrorenem, sondern mit verharschtem Schnee zu tun habe, das sahen sie gleich.

Da brach Emil los: Das sei doch ein gottsträflicher Unsinn, sie in eine solche Klemme zu bringen; ein echtes Damenstück!

Er schlug Melchior vor, man solle ihr das Seil hinüberwerfen, dann könne sie wieder von ihnen beiden gesichert herüberkommen.

Aber Melchior sah ihn zum ersten Male etwas erstaunt an und schüttelte den Kopf.

»Lieber schenken als bürgen, Herr Doktor,« sagte Melchior. »Anseilen ist bei Lawinengefahr wie das Bürgen. Man fällt zusammen hinein.«

»Ach, was die Männer doch umständlich sind,« rief Lotte ungeduldig und spöttisch herüber.

Melchior ließ sich nicht reizen. Er überlegte sich nur ganz ruhig und kalt, was da zu machen sei, sah mit blinzelnden Augen und mit langsamem Drehen des Kopfes einmal die Rinne hinauf und dann hinab.

»Es wird nicht so schlimm werden,« sagte er dann, stand auf und trat auf die Schneedecke. Sie trug ihn. Als er gerade in der Mitte war, brach er mit einem Fuß ein, dann mit dem andern. Rasch machte er kehrt, gegen die Bergseite, um den hochgehobenen Pickel mit dem Schaft in den Schnee zu stoßen und sich zu verankern.

Aber unter der in langen Sprüngen berstenden Harschdecke war es schon lebendig geworden. Es rieselte, quoll und stäubte an allen Ecken und Enden auf. Aus der steilen schmalen Schneewand war im Nu ein reißender weißer Malstrom geworden. Mit der unwiderstehlichen Wucht weicher, schwerer Massen legte der herabfließende Schneesturzbach Melchiors Gestalt um wie einen knorrigen, widerstrebenden Baum. Melchior rang noch einen kurzen Augenblick mit den mächtigen Schneekrallen, die ihn von allen Seiten anfielen wie weiße Wölfe. Dann verschlang das in dicken Wolken aufstäubende Ungeheuer seinen Körper und stürzte mit ihm die Rinne hinab und über den Felsenrand hinaus in die luftigen Tiefen, die man nicht sehen, sondern nur ahnen konnte. Und während das dumpfe Donnergebrüll der Lawine die Rinne mit ihrem Schreck erfüllte, stiegen aus dem Abgrund triumphierend die weißen Staubsäulen des Schnees auf.

Die beiden krampften sich mit verzweifelten Händen an den Felsen fest, obwohl für sie keinerlei Gefahr war, und sahen mit aufgerissenem Mund und starren Augen dem verschwindenden Führer nach. In dieser Stellung befanden sie sich noch, als das Echo des Lawinendonners dutzendfach zu ihnen zurückrollte und ihnen zum Bewußtsein brachte, daß Melchior, der noch vor fünf Minuten bei ihnen stand, nun wie von einem weißen Riesenschwamm von der Tafel des Lebens weggewischt war.

Zuerst sah Emil hinüber nach der entsetzten und totenbleichen Gefährtin. Es war nichts Gutes, was auf seinem Gesicht stand, aber er schwieg und maß Lotte nur mit einem grimmigen Blick.

Da wachte sie auf.

»Ich bin doch nicht schuld daran!« rief sie mit einer ganz frischen Stimme herüber, setzte aber dann kleinlaut hinzu: »Oder denken Sie etwa?«

»Ich denke gar nichts! Ich bitte Sie nur, Fräulein Kirsten, jetzt sofort herüber zu kommen.«

Hart und kalt wie ein Befehl klangen die Worte.

»Es fällt mir ja nicht ein!« rief Lotte herüber.

»Es ist ja keine Gefahr mehr, Fräulein Lotte, die Lawine ist ganz abgegangen!« milderte Emil seine Aufforderung. Er blickte die Rinne hinauf und deutete auf die schwarzen nackten Felsstreifen, die überall aus den nun ganz dünnen Schneeresten heraus sichtbar geworden waren.

Es falle ihr unter gar keinen Umständen ein, sich in diese Lebensgefahr zu begeben, rief Lotte mit Entrüstung herüber.

Aber sie hatte es kaum ausgesprochen, da sah sie Emils hohe Gestalt ruhig, aber mit todbleichem Gesicht auf sie zukommen. Im nächsten Augenblick fühlte sie, wie er sie um die Taille faßte, und das erschreckte sie so, daß sie auf einige Augenblicke die Sinne verlor. Emil aber trug sie wie ein Bündel unter dem Arm durch das nun sichere Lawinenbett hinüber auf seinen Platz. Dort wartete er, bis sie wieder zu sich kam und gab ihr dann kalten Tee und aus der Feldflasche Kognak. Seine eisige Höflichkeit entsetzte sie, und doch fühlte sie sich jetzt sicher unter seinem Schutz. Es war, als ob sie ein Stück ihres widerspenstigen Wesens da drüben gelassen hätte.

»Ach, seien Sie doch nicht so abscheulich zu mir!« sagte sie mit zitternder Stimme und doch mehr entgegenkommend als abweisend.

»Bin ich nicht freundlich zu Ihnen?« fragte er, aber mit einem für sie hoffnungslosen Abstand im Ton.

Dann fuhr er sachlich fort:

»Sehen Sie, wir müssen jetzt gleich hinab nach Grindelwald, den Fall anzeigen und eine Rettungsexpedition auf die Beine bringen. Man kann nicht wissen, es ist alles möglich.«

Auf der Rottalhütte ließ er Lotte, die sich wieder elend fühlte, zurück. Jetzt konnte ihr nichts mehr passieren. Dann ging er mit langen Schritten ins Tal hinab.


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