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Die Liebe um Hanne Borg


Ein Wort des Herausgebers

In einer Zeit, die sich immer gründlicher auf alle psychophysischen Zusammenhänge zu besinnen strebt, derart, daß die Ergebnisse dieses Forschens aus den Gelehrtenstuben allenthalben schon in das praktische Leben hinaus ihre Anwendung suchen, mag es nicht ohne Interesse bleiben, gerade an jenen Grenzen nicht achtlos vorüberzugehen, wo das Gewöhnliche mit dem Außergewöhnlichen vermischt von drüben gesehen werden kann. Hier wie in jeder Wissenschaft wird der Grenzfall den besten Einblick in die sanfteren Geleise des Durchschnittes bringen, da an und für sich das Seelenleben ja keine Norm kennt, die mit den allmählich erwachsenen Schranken der Gesellschaft unbedingt übereinstimmen müßte. Daß der Grenzfall im praktischen Dasein untergehen muß, ist natürlich und für die Allgemeinheit von Vorteil; ob aber ein ›Schuldig!‹ so gedankenlos überall dort ausgesprochen werden darf, wo ein Leben sich aus sich selber verliert, bleibt eine Frage. Eine spätere Krankheit, wie Irrsinn, kann ihre gebieterischen Vorzeichen schon in das Dasein eines Menschen werfen, solange ihm unter Menschen und Alltag zu wandeln nicht verboten werden kann. An sich ist die Gesellschaft dem Individuum gegenüber immer ungerecht und muß es sein. Der Alltag schleift dies ab, doch die Grenzmenschen müssen daran zerschellen, müssen daran um der Ordnung willen zu Grunde gehen.

In der weltberühmten Irrenanstalt S. wird seit Jahrzehnten den Kranken jede Gelegenheit geboten, sich wie immer schöpferisch zu betätigen. Aus der Fülle von Material hat nun der Herausgeber zunächst das folgende Manuskript herausgegriffen, da es sich in meist recht klarer Form mehr an das Vorangegangene, denn an den augenblicklichen Zustand heftet, was um so wichtiger ist, als gerade dieses Vorangegangene schon zum größten Teil unter dem Einflusse eines zerstörten Gemütes stand. Wenn fürchterliche Ereignisse einen gefunden Sinn verwirren, so mag dies der Sensationslust Vorschub leisten. Hier aber sehen wir nur eine Alltagstragik, die in der Tagespresse seinerzeit vielleicht in kaum zehn Zeilen Platz fand und abgetan war. Wir sehen sie indes von der drüberen Seite aus und sehen die Macht des Schicksals, wie eine natürliche, wenn auch im Dasein unbrauchbare, so doch unverschuldete Anlage sich auf drei Leben auswirken mußte.

Der Herausgeber hat sich bemüht, den Text möglichst unverändert und wortgetreu wiederzugeben. Seine Absicht, den Einblick in ein Seelenleben spannenderen Ereignissen vorzuziehen, ist in diesem Manuskript sicherlich besser erfüllt als in manchen anderen der Anstalt, die vielleicht einer späteren Veröffentlichung vorbehalten bleiben.

Das Manuskript des Irrsinnigen

Freund Luke, Luke Gröner mit den harten energischen Zügen um den Mund und mit den sanften braunen Rehaugen, derselbe, von dem Direktor Halberg bei der Grabrede gesagt hat: ›An ihm verliert unser Land einen seiner fähigsten Köpfe, verliert die Industrie einen ihrer hoffnungsreichsten Ingenieure, verlieren wir alle aber, die ihn gekannt haben, den liebsten, den besten Menschen …‹, Luke war es also, der mich zuletzt nur gebeten hat, ich möge es ihnen allen sagen, er sei nicht schuld gewesen an ihrem Tode. Das will ich noch erfüllen, Freund Luke, vielleicht haben sie mich deswegen geschont, damit ich dieser Bitte nachkomme, obwohl ja niemand davon weiß; aber es hat wohl irgend ein Ungeklärtes sie alle abgehalten, mir meinen Lohn und Trost zu geben – wozu hätten sie mich auch vom Kerker, vom Galgen weggeschleppt und hierher gebracht ins Irrenhaus? Warum, warum, frage ich tausendmal, gönnen sie mir nicht die Ruhe, die Sühne, mir, der zwei blühende, schöne Menschenleben auf dem Gewissen hat, mir, der doch allein die erste Schuld an dem Tode der beiden trägt, die niemand, ach, niemand auch mehr geliebt hat als ich? Ich hab' ja Zeit jetzt, Luke, ich habe Stille und Lärmlosigkeit um mich und keine Gefährten als eure Gesichter, die Tag und Nacht so lieb und gut auf mich niedersehen. Ich habe auch keine Reue und keinen tiefen Schmerz. Der ist damals gewesen, in jener unglücklichen Stunde allein ist er über mein Herz hingefegt und hat es zerstört und für immer kalt und stumpf gemacht. Haben sie mich deswegen hier eingesperrt, weil ich keine Tränen weine und keinen Krampf hatte im Herzen, wenn die lieben Namen ausgesprochen wurden?

Sie führen mich tagtäglich aus dem sauberen weißen Zimmerchen in einen kleinen grünen Garten hinaus, der ringsum von einer hohen Mauer abgeschlossen ist. Dort quälen sie mich, quälen mich so fürchterlich; ich weiß, das soll vielleicht meine Strafe sein. Denn hinter dieser Mauer muß ein fremdes, sonniges Land sein, ich höre oft das Rauschen wie von alten, alten Wäldern und höre auch Wellen schlagen, als ginge ein Steg über einen Bach und der Strudel verfinge sich an den dreikantigen Pfeilern, über diese Brücke ist der Weg nach Eden, ja, ganz bestimmt liegt dort das glückliche Land, denn es kommt an heiteren Tagen ein so milder Hauch über die Mauer her, der muß über Milliarden und aber Milliarden Hyazinthen gestrichen haben und bringt mir nun den ganzen seligen Duft in den kleinen, engen Garten. Dort muß Eden liegen, das Totenland, dort geht Luke nun friedlich hin und her und Hanne Borg ist bei ihm …

Dann reißt mich eine gräßliche Sehnsucht zu der Mauer hin. Ich muß, muß, muß hinüber! Ich kratze meine Fingernägel in die harten Steine, ich scharre mit den Zähnen an dem ekligen Mörtel, daß der trockene Staub sich knirschend in meiner Mundhöhle reibt. Ich muß hinüber! Diese Sehnsucht, diese Sehnsucht, das Land Eden zu sehen, das dort drüben liegt und das sie mir versperren! Ich rase hier gegen die Mauer und dort – sie ist glatt wie ein Stahlpanzer und hart wie Granit. Meine Hände bluten, mein Haar klebt im Schweiße – laßt mich um eurer Barmherzigkeit willen hinüber! Aber dann führen sie mich immer fort, sooft ich es auch versuche, so heiß ich auch die Wärter anflehe; auf den Knien mit erhobenen Händen bitte und schreie und fluche ich zu der Mauer hin – sie führen mich mit Gewalt fort und lassen mich nicht hinüber; nicht einmal einen Blick nach Eden lassen sie mich tun, daß ich die gelb-zarten Birken sehen könnte, die dort am dunklen Tannengrunde leuchten, daß ich die offenen Wiesen voll schwerer Hyazinthen schauen dürfte, und wissen, daß er, er, Lukas Eberhard Gröner, mein Freund Luke, dort wandelt und lächelt und keine Leiden kennt, und daß sie, das wunderbarste Weib, daß Hanne Borg bei ihm ist. Denn sie war das wundersamste Weib, schön, lieblich und sanft – wie gut doch, daß ich sagen kann, sie war! Denn sagen zu müssen, sie ist dies, sich vorzustellen, daß sie jetzt, jetzt eben, indes ich an meinem hohlbeinigen Tischchen sitze und hinter verrammelte Fenster schaue, daß sie in dieser Stunde irgendwo säße und grübelte und lächelte – oder gar weinte – nein, nein, um aller Menschen Herzensmitleid willen, laßt es gut sein, daß sie nicht mehr ist. So viel, so viel Leid könntet ihr einem Menschen nicht geben; ihn leben zu lassen statt zu töten, zu erlösen, ihn in diese Irrenzellen zu sperren und sie, sie allein zu lassen! Drum darf ich ruhig sein und ohne Qual, da sie beide tot sind. Nur Eden müssen sie mich sehen lassen, einmal, ein einziges Mal! Doch sie führen mich fort, sie verleumden mich. Ich hörte einen Wärter einmal zu dem Arzte sagen: »Und dann schreit er immer nach ›Eden‹ und will die glatten Hofmauern hinaufkriechen –« Warum fragt der Arzt nicht mich, warum darf ich ihm nicht erklären, daß ich Eden sehen müsse, welches dort drüben liegt? Oh, ich bin nicht so irre, wie sie glauben, daß sie über mich schwätzen könnten wie vor einem kleinen Kinde! Ich könnte ja schließlich den Arzt auch fragen – aber der horcht immer mit so einer Beichtvatermiene meinen tiefsten, heißesten Wünschen zu, schüttelt manchmal den Kopf oder streicht mir sogar über die Haare. Pfui Teufel! Was hat der Fant einem Mörder den Kopf zu streicheln, statt ihn des Todes, der Erlösung teilhaftig werden zu lassen? Ich brauche sie alle nicht, alle, alle brauche ich sie nicht, diese Verleumder und Menschenquäler!

Ganz heimlich für mich darf ich es schreiben und sagen: Ich weiß auch den eigentlichen Grund, warum sie mich hier eingesperrt haben! Weil sie mich Marr nannten. Ich heiße doch Mario, schlichtweg Mario Hetting – aber ich war noch ein Knabe, da haben sie schon Marr zu mir gesagt, und ›Marr! Marr!‹ riefen sie in der Schule mir nach, so sehr ich sie alle auch verhaute, ich, ein einzelner gegen viele. ›Marr! Marr!‹ schrien sie mir nach, und das klang ja doch immer nur wie ›Narr! Narr!‹, klang mein halbes Leben so um mich und auch später dann blieb ich für alle nur der Marr. Sie haben es sich so angewöhnt, die Lehrer, Freunde, Kollegen, selbst die Vorgesetzten und Fremden sagten schließlich nur noch Marr. Bis sie selber wohl meinten, ich sei eigentlich ein Narr und gehöre darum auch ins Irrenhaus.

Übrigens ist mein Zimmerchen recht freundlich und ich weile am liebsten hier, wiewohl ich so sehr Verlangen habe nach Luft und Sonne. Aber draußen ist doch der Garten und die schreckliche Mauer, und ein Drittes gibt es nicht für einen armen Narren. Hier bin ich wenigstens allein, nur selten höre ich einen Schritt, der vor der Türe stehenbleibt, denn der Wärter muß dann durch das Guckloch hereinsehen, was ich treibe. Ich weiß das aber, sitze ganz still und decke die Hände über das Geschriebene, damit er nicht etwa lesen könne. Zuerst soll es der Herr Oberlandesgerichtsrat lesen, der alte Herr mit den dünnen Brillen und mit dem prächtigen Talar. Er hat mir immer einreden wollen, ich solle doch endlich mich besinnen und zugeben, daß ich weder Luke Gröner noch Hanne Borg erschossen habe; ich sagte dann immer nur dasselbe, was ich schon dem Untersuchungsrichter gesagt habe: ›Ich, Mario (nicht Marr!) Hetting, ich habe Luke Gröner und Hanne Borg gemordet.‹ Und der alte Herr hat immer von vorne angefangen: Ich hätte doch nicht einmal eine Waffe gehabt, sei an jenem Tage nie allein gewesen, Luke habe seinen Revolver in der Hand gehalten und zwei Patronen seien entladen gewesen und so weiter und so weiter, die dumme Geschichte mit dem dümmeren Amtsschimmel herum. Brauche ich meine Patronen, um Luke zu erschießen? Muß ich überhaupt schießen, um Luke zu ermorden? Gehn eure Gesetze denn niemals über das sichtbare Ereignis einer endlosen Kausalkette hinaus? Das ist doch alles so nebensächlich, das sind Geschehnisse, die von außen so oder so aussehen, ganz gleichgültig für mich! Es kommt auf diese gar nicht an! Ich konnte mich ja auch kaum mehr jener Stunde entsinnen: Aber die Kugel, die aus seinem Revolver losgegangen war, das war doch meine Kugel, war mein Werk und ich habe beide ermordet!

Doch ich wollte ja eigentlich von Hanne Borg erzählen. Nein, zuerst von meinem Zimmerchen, das so klein und ruhig ist und hohe Fenster hat mit einem dünnen Bleigitter im Glas und die ich nicht öffnen kann, weil ein Schloß davor ist. Sie fürchten nämlich, ich könnte zum Fenster hinausspringen. Die Dummen! Mein Herz ist doch tot und hat sein Leid und seinen Gram längst verloren, es ist trocken wie altes Leder und schlägt nur das Blut, das es zur Lunge treiben muß, sonst nichts. Ich hab' es ihnen ja tausendmal gesagt, sie sollen mich aufhängen. Dann hätte ich Sühne und Friede und könnte wohl selber nach Eden gehen und wir alle drei könnten dort hin und her wandeln.

Warum konnten wir im Leben nicht alle drei nebeneinandergehen? Dummer Marr, Narr jetzt, der ich bin! Kann ich nun wieder trockene Theorien aufstellen von Verstehen und Sich-gehören, eines immer dem anderen, von Liebe, die sterben kann, und neuer Liebe, die doppelt groß erwacht? Kann ich für mich daran glauben? Ja, weil es mir vielleicht recht wäre – und habe doch damals nicht einmal den Gedanken ertragen können, daß sie, Hanne Borg, meine liebe Hanne mit dem guten, dem zu guten Herzen, lange vor mir schon hat eine Liebe überwinden müssen? Bin ich doch halb wahnsinnig geworden in dem Gedanken, daß ein anderer dieses Märchen von einem Weibe schon umfangen hatte, obwohl sie damals nur mehr wie an ein Totes kaum denken wollte und mich, mich allein so heiß und zärtlich liebte, wie sie jenen nie, nie geliebt haben konnte?! Bin ich doch nächtelang in meinem Mietzimmer auf und nieder gerannt, habe in wüsten Träumen den Kerl vor mir gesehen, der es gewagt haben sollte, dieses Weib zu lieben, zu küssen – wiewohl ich selber dermalen noch gar nicht in ihrem Kreise sein konnte und selber auch manches Weib geküßt habe?! Hab' ich doch hundert und hundert Male den Mann in Gedanken zur Rede gestellt, ihm mein zerbrochenes Glück vor die Füße geschmissen und in sinnloser Wut ihm irgend etwas Gräßliches angetan, just als ich mit Hanne so reich, so überreich und glücklich sein konnte?! Was habe ich damals weinen können um ihren harmlosen Schmerz, und darum, daß meine Phantasie so ungerechte, unbegründete Gedanken selbstquälend sich dort baute, wo nur Dank, nur heißer, innigster Dank für alles hätte sein dürfen, was sie mir so Tiefes, so Unerdenkbares, so Wundersames fraglos und echt gegeben hat!

Und ich hätte je ein dreisames Sein ergründen und schaffen können? So kann ich wohl nur denken, wenn mein Wunsch in Frage steht, der sich keine Schranken bauen und keine Ziele setzen kann, wenn es um das Ich-sein und Ich-wollen geht! So mag ich jetzt heulen, weil ich allein bin, ganz, ganz allein, und die anderen alle tot sind. Ob meine Wünsche und Träume den anderen recht schienen, ob sie selber leiden würden, wenn ich meinen irren Einfällen hemmungslos nachging, daran hab' ich dann wohl nie gedacht.

So ist es vielleicht gut, daß ich im Irrenhaus bin und daß die beiden draußen unter der Erde liegen. Haha! Seht den zynischen Mörder an, wie er über seine Opfer redet: ›Es ist doch gut, daß … ! Vielleicht gut, daß … !‹

Aber mein Herz ist trocken und leer …

 

Ich soll ja von Hanne Borg schreiben und davon, daß Luke keine Schuld trägt an ihrem Tode. Wer wäre auch jemals auf die wahnwitzige Idee verfallen, er, Luke Gröner, dieser beste aller Männer, könne ein Weib töten – nicht einmal sich selbst konnte er töten, es ist ihm so schwer geworden zu sterben, ach, so schwer.

Wie ich daran denke, muß ich aufstehen und die sechs Schritte lang mein Zimmerchen durchmessen, vier das Bett, einer mein Tischchen und einer der Schemel mit dem Waschgeschirr. Kleider trage ich ja immer dieselben, und wenn die graue Leinwand schmutzig wird, legt mir der Wärter eine andere Garnitur hin und nimmt die alte fort. Die Hose pludert so um meine Beine, indes ich auf und nieder gehe. Ich mache das viele, viele Stunden lang, schon um den Wärter zu ärgern, der dann viel öfter durch das Guckloch sehen muß, wenn er meine rastlosen Schritte hört. Mein Herz ist noch nicht ganz, ganz tot; denn ich kann die Feder kaum halten, sobald ich auf Hanne und ihn eigentlich soll zu sprechen kommen. Ich werfe sie hin und die Tinte spritzt über das schöne weiße Papier. Es ist dann irgend ein Gefühl in mir, das zerrt so und legt einen schweren Druck unter die Herzgrube. Es ist Sehnsucht, es ist ganz gewiß irgend eine wesenlose, fürchterliche Sehnsucht. Nicht eine, die ihre Wünsche und Tränen nach der fernen Geliebten erpreßt, nicht eine, wie sie um Tote, um ewig Verlorene so versengend, so verzweifelnd in der Brust brennen kann, nicht eine, die in gefesselten Händen ihr namenloses Verlangen nach der Freiheit stöhnt und sich die Gelenke an den scharfkantigen Ringeisen zerfetzt – oh, ich kannte sie alle, diese Sehnsüchte! Meine ist leer und hat keinen Klang. Sie zieht mir das Mark aus den Knochen und das Blut tropfenweise aus dem Herzen. Dann spannt sich ein Stahlreifen um meine hämmernden Schläfen und preßt und preßt, bis ich schreien muß, wahnsinnig schreien und mich zu Boden werfen und mit den Fäusten die harten Klinkersteine schlagen muß. Es ist die Sehnsucht, die alles Menschenleid gebiert und es von Leben zu Leben weitererbt, immer wachsend, immer schwellend, bis sie vielleicht dereinst ihre Kerker bricht und sich aus allen Seelen losreißt, in die Unendlichkeit aufzugehen.

Ich kann ihr keinen Namen geben.

Doch ich will stark sein und hin und her laufen und das Papier nicht mehr ansehen. Es kommen ja doch wieder die Stunden, wo es so still, so überstill sein kann und nichts ist, was über mein Herz greift; Hanne und Luke sind bei mir und sie heften ihre guten Augen auf mich, so wie damals, bevor noch alles, alles anders wurde.

Hanne Borg kannte ich eigentlich lange schon. Sie war ein ganz einfaches, liebes Mädchen mit einem freundlichen, frischen Gesichte und dunkelbraunen Haarwellen. Anscheinend wie tausend andere, und so wie tausend andere war sie für mich nichts weiter, als daß ich sie morgens grüßte und nachmittags ihr einen guten Tag wünschte.

Ich vergaß zu sagen, daß sie in dem Departement, in dem ich damals arbeitete, die einzige Dame war, die Sekretärin des Chefs. Sie saß auch bei ihm drinnen, wir jungen und älteren Beamten heraußen in dem großen, schmutzig kahlen Raume, der den stolzen Namen ›Agnoszierungsdepartement, Polizeidirektion‹ führte und in dem es immer nach Staub und vergessenen Akten roch; auch nach Zigarrenstummeln und altem Käse oft, denn ein bejahrter Kollege vertrug kein offenes Fenster und wir Jungen konnten dagegen nichts machen, da er im Range weit voraus war und es bei uns strenge Disziplin gab. Ganz natürlich wohl unter Polizeibeamten, und gewiß deswegen haben sie mir das Dasein dort verleidet, diese Nachhänger und Tintenwischer. Ich ging auch, lachend und fröhlich tat ich ihnen den Gefallen und wußte doch den Hunger vor der Türe.

Ja, Mario Hetting konnte als blutjunger Bursche dorthin unterkommen, und seinen Weg hätte er sicherlich gemacht, da es ihn einmal hineingestellt hatte; vielleicht mit Seufzen manchmal oder mit Resignation. Aber der Marr tat seine Pflicht. Doch wenn der Marr dreißig Jahre alt war und fort mußte, da hätte er erst wieder um paar lumpige Schillinge unterkriechen sollen und um Brot sich die Finger zerschreiben? O weh, o weh, das würde böse ausgehen – warum gab es auch keine frischen, freien Heerlager mehr, wo harte Gesellen um die Weiber würfelten, warum keine Abenteuerzüge mehr in fremde Länder, wo ein wildes, ruhloses Blut sich kühlen mochte? Warum waren die Zeiten nicht mehr, da ein fahrender Scholar seine verträumten Tage in lieblichen Landschaften durchwandern konnte und die Posthörner weithin über mondenblanke Täler jauchzten? Wo waren die finsteren Zeloten, die glühenden Fanatiker, die ganze Reiche in Angst und Aufruhr brachten und im Lichte schwelender Pechfackeln über düstere, schwerverbaute Domplätze hin ihre Brandreden und Evangelien in die lüsternen Ohren harter Bauern und wüster Handwerker heulten? Wo die Pracht, der Prunk strahlender Fürsten, an deren goldglänzenden Gewändern der Schweiß, das Blut gepreßter, knirschender Untertanen klebte, und die dennoch aus diesem Jammer so herrliche, niedergehende Bauten und Paläste und Kirchen erstehen ließen?

Die Menschen haben den großen Stil verloren. In Tinte, Tinte, Tinte – darin erstickt alles Menschentum, in Akten und Papier vertrocknet allmählich aller heißer, glühender Lebensatem. Und sie preisen noch alle die hohe, geordnete Zeit, freuen sich der laxen Kultur, die jedes kranke Kindchen zum elendsten Leben herausdoktern kann, weil es zu roh wäre, das Krüppelwesen sanft zu töten. Und Maschinen zermalmen jährlich viele Tausende!

An Tinte und Akten werden die Menschen zugrundegehen!

Der Marr wollte ihnen zeigen, daß er nicht um ihren Bettel kriechen würde und sich nie und nimmer in die Ecke pressen könne, wenn sie ihm nahelegen: Geh! Geh! Du bist nicht recht in unserem großen, herrlichen System.

Es wäre ja doch einmal dazu gekommen, auch wenn der Alte dem kleinen Ding nichts angetan hätte. Es war auch nur ein Zufall, daß die kleine Herta die Tochter meiner Wirtin war und mir morgens immer so frank und herzig das Kaffeebrett mit den Briefen brachte. Dann sagte ich oft: »Wie geht's, Fräulein?« Und darüber wurde sie meist rot, da sie sonst nur die Herta war.

Fein wäre es gewesen, wenn ich den alten Regierungsrat auch hätte zu meinem Abschiedsfeste einladen können, damit er nicht triumphiere, er habe mich schließlich doch hinausgeekelt, sondern gesehen hätte, daß ich im Leben stehe und keine Sorge auf mich kommen lasse. Aber er hatte ja mit meinen engeren Kollegen nichts zu tun und wäre wohl auch nicht gekommen.

Die anderen kamen alle und es war ein üppiges, feines Mahl, das ich ihnen bot!

Ich glaube, sie haben es nie recht gewußt, warum ich eigentlich ging, höchstens die Vorgesetzten. Ich wußte mir auch allmählich so einen Schimmer zu erhalten, als ginge es mit mir nun gradeaus mitten in das Glück hinein. Ich lachte und pfiff den ganzen Tag, ich warf Akten beiseite, die ich hätte erledigen sollen, und sagte dazu etwa: »Für dies bin ich mir zu gut, das soll ein anderer machen!« oder: »Pah, ich hab' keine Zeit, ich muß jetzt spazieren gehen!« Und dann schauten sie alle bewundernd und doch erschrocken zu mir her und flüsterten untereinander über mich. »Sie haben wohl schon etwas sehr Gutes in Aussicht, Marr?« fragte dann bisweilen der eine oder der andere und ich freute mich königlich, wie ich aller Ohren vor Neugierde sich zuspitzen sah – und zuckte lachend mit den Achseln.

Nur Hanne sagte einmal: »Es ist eigentlich schade, daß Sie gehen, Hetting!« Und weil sie nicht Marr gesagt hatte, lachte ich nicht, sondern schwieg still und drehte mich fort.

Den alten Regierungsrat Dollinger hingegen grüßte ich immer sehr freundlich und höflich und trat beiseite, wenn wir in den schmalen, winkeligen Gängen des alten Hauses uns trafen. Er bekam jedesmal einen Wutanfall, ich hörte seine Zähne sich reiben und sah seine schlangenhaften, kriecherischen Augen flackern. Er schlich knurrend an mir vorüber und ging rasch in irgend eine Türe, mich anzuschwärzen oder irgendwie seinen Groll über mich auszulassen.

Habe ich ihm wirklich so Arges angetan? Das heißt, ich hätte ihm nicht einmal ein böses Wort gesagt, wenn aus seinen falschen Augen wenigstens ein Blick wie aus vergangenen lichten Erinnerungen gekommen wäre. Aber als ich sah, daß er erst zusammenzuckte und mich dann höhnisch angrinste, so etwa: ›Fant, was geht dich das an? Den Genuß hab' ich ja doch gehabt!‹ – da habe ich meine Besinnung verloren. Ich sah wieder die kleine Herta in der Küche liegen, weinend, jammernd, und die Mutter über sie gebeugt; Zorn, heller Zorn und Schmach und Mitleid stand in den verzerrten Zügen der alten Frau. Sie hielt irgend etwas in der Hand und wollte damit auf die Kleine niederschlagen. Es hätte ihr gewiß später leid getan. Ich fiel ihr in die Arme und schrie: »Schlagen Sie doch Ihr Kind nicht tot, zum Teufel auch!«

Da wurde sie vernünftig, vielmehr eigentlich sarkastisch, warf den Prügel fort und wandte sich in die Ecke: »Ja, Sie haben recht, Herr Kommissär, sie soll nur weiterleben und dann auf die Straße gehen, dort fließt Geld die Menge für ein junges Ding. Pfui, pfui, du dreckiges Mädel, sich so einem alten Schöntuer hinzuschmeißen! Wegen bissel Romantik willst dich gleich dem Luderleben ergeben, dein Haus, deine Mutter verachten und beschimpfen –«

Ein Wimmern vom Boden her hieß die Frau innehalten. Herta hatte den Kopf erhoben, ein solches Übermaß von Weh, Leid, Hoffnungslosigkeit und Liebe lag in diesem Kindergesichte, daß die Mutter nur ›Herta, Herta!‹ stammelte und dann auf den Schemel sank, weinend, geschüttelt von Mitleid und Kummer. Ich hob die Kleine auf, trug sie in mein Zimmer und legte sie auf den Diwan. Ich strich sanft über ihre blonden Flechten und über die Wangen hin. Sie hatte die Hand gegen ihr Herz gepreßt und stöhnte in einemfort wirre, zerrissene Worte: »Wie hab' ich ihn lieb gehabt –! Wie er gekommen ist und so gute Worte sagte. Er hat mich doch sicher auch ein wenig lieben müssen. Ich bin halt zu wenig für so einen hohen Herrn. Mein Gott, wie hab' ich ihn lieb gehabt –« Ich strich fester und fester über ihre zarten Wangen, eine finstere Wut hob sich plötzlich in meinem Herzen. Hat es ein Recht, den Richter zu machen? Aber ich schaute auf das arme Ding und krampfte die Hand um ihren Arm.

»Wer war es denn, Herta?« Ich versuchte, einen weichen, tröstenden Ton in meine Stimme zu legen.

»Ach, Sie kennen ihn sicher –« flüsterte sie und griff nach meiner Hand wie nach einem Halt, den ein Gemeinsames erlösend in ihren Schmerz legte. »Sie kennen ihn, den lieben Herrn, den Herrn Regierungsrat Dollinger, zu dem ich Gustl sagen durfte – er muß ja auch zu Ihnen immer so freundlich sein – o Gott, ich bin ja zu wenig für ihn –«

Ich streichelte noch einmal über ihr Haar und ging leise fort. Mochte sie jammern, das Kind, sie wird ruhiger werden und nur ein verlorener Kummer in ihren seelensguten Augen bleiben. Ich sah auch, wie die Mutter schweigend einen Tee kochte und allerhand stärkende Dinge vorbereitete. Da wußte ich, daß hier mein Amt zu Ende.

Ein herrliches Gefühl, von einer rechten Aufgabe gehoben zu sein, hieß mich schnurgerade zu ihm gehen. Er war der falscheste, geriebenste Kerl von der ganzen Behörde. Ich trat ohne Klopfen in sein Zimmer, stellte mich vor ihn hin und sagte ruhig: »Haben Sie das Mädel gern gehabt, im Innersten wirklich gerne – und wenn es gleich nur eine Stunde war?«

Sprachlos starrte er mich an, feig zuckten seine Hände unter den Tisch an die Ordonanzglocke, sein verzogenes Lächeln sollte eine erhabene Pose mimen.

»Sie sind verrückt, Herr Kommissär – ich will Nachsicht üben und schweigen. Gehen Sie!«

Oh, der elende Hund! Ich schlug die Faust auf den Tisch und zischte ihm den Titel ins Gesicht. Er wurde bleich wie der Tod, sein Finger lag auf dem Taster. Dann begann er zu lächeln, so zynisch, so ordinär, daß im selben Augenblicke sich blutende Kreise in meinem Kopfe wirbelten und meine Hand ihm einen schallenden Schlag versetzt hatte. Dann sagte ich trocken:

»Wir haben keine Zeugen! Ich leugne alles, ich leiste auch einen Meineid!« Und ich ging stolz und glücklich zur Türe.

Ich kam mir edel vor und wärmte mich daran. Der Alte mußte schweigen, es wäre ihm auch in seiner Stellung peinlich gewesen, wenn eine Skandalgeschichte herauskommen müßte. Aber von damals an war es, daß er in tückischer Schlauheit mich da, dort, überall unmöglich machte. Er hat den ganzen heimlichen Apparat der Intrige gegen mich in Bewegung gesetzt und ich mußte schließlich die Sache für verloren geben. Manchmal stieg es mir auf, als hätte ich mich in eine Angelegenheit gemischt, die mich eigentlich schlechtweg einen Pfifferling angegangen wäre. Ich strich aber großartig die Fahnen, aus freiem Willen und mit Pomp und Trara: Ich freute mich unsäglich meines geheimen Märtyrertums.

 

Ein separierter Raum im nobelsten Lokal der Stadt war gerade gut genug für mein Abschiedsfest. Silber und Kristall auf dem zauberhaft weißen Tische, ein Lichterglanz aus gläsernen Lustern über rote Tapeten hin. Die Decke reich vergoldet, der Boden mit schweren Teppichen belegt. Und Blumen, viel Blumen über die Gedecke hin.

Manche von den Kollegen fühlten sich unbehaglich, bedankten sich höflich bei dem servierenden Kellner, der dies mit eisstarrer Miene entgegennahm. Hanne hatte den Ehrensitz oben und ich ihr zur Linken. Sie fand sich wie jede echte Frau großartig in die Situation.

Gekommen waren sie alle. Doktor Malcher, der große Streber mit der gewinnenden Rhetorik, Walzel, der humorvolle, gutmütige Bauernsohn, und Bachmeier, der schwammige Bierphilosoph. Dann Grus, der von der Pike auf gedient hatte und schrecklich unfein lachte; dann der schneidige Zammer, Mucki, das Bürobaby, Huber, der Dichterling, und alle die anderen auch, achtzehn an der Zahl – und Hanne Borg natürlich.

Übrigens haben sie mich immer soweit ganz gut leiden mögen und sind bestimmt gerne meiner Einladung gefolgt. Nur wollte in dem ungewohnten Rahmen keine richtige Stimmung aufkommen. Die guten Menschen vermochten den Augenblick nicht zu nehmen, wie er war.

Ich stand auf und hielt eine flüssige Rede. Ich sprach mich geradezu in Begeisterung und Ekstase, damit die Sache nicht ledern würde; auch war ja der Wein ganz vorzüglich. Ich sprach vom Leben, wie es die Wege kreuzen und sich trennen macht, wie es einmal emporführe und dann wieder bergab. Ich wünschte allen recht viel Gutes und Schönes für die Zukunft und betonte, daß es immer besser sei, einen Abschied klar hinzustellen, als aus Feigheit das Wort ›für immer‹ nicht auszusprechen, öde Wiedersehensfeste in die Zukunft zu schleppen.

»– und so wollen wir auf drei Dinge unsere Gläser anklingen lassen! Kollegen und Freunde! Möge zum ersten das Kommende, so ungewiß es sein mag, alles, alles bringen, nur kein leeres Versanden im zermalmenden, marktötenden Alltag! Mögen wir zum zweiten mit innerster Frohheit den guten Augenblick, auch wenn er zwischen schlecht und schlechter liegt, in seiner ganzen Tiefe durchleben können; und zum dritten, geehrte Freunde, zum dritten und besten klingen wir für die schönste aller Daseinsregeln an: Mögen wir immer unser ganzes Trachten dahin richten, uns eine reiche Vergangenheit zu schaffen! Bleibenden Wert hat nur die Erinnerung. Nicht für die Zukunft soll der Mensch sein Bestes geben, denn unzerstörbar liegt einzig im Erinnern ein ewiger Schatz!«

Sie waren alle ein wenig betreten. Haha, und ich hatte geradewegs ins Blaue hineingeredet! Ich sehe sie noch vor mir, wie sie mit bittersüßem Lächeln in ihre Weingläser starrten und kein launiges Wort die Stille unterbrechen mochte, die sich nun drückend über die zufällige Tafelrunde gelegt hatte. Ich lächelte und schwieg und trank seelenruhig meinen Wein. Endlich schlug Grus sich auflachend auf die Schenkel, der Kellnerfrack wandte sich erschrocken nach ihm um. Grus stotterte mit vielen ›mein‹ ich‹ und ›glaub‹ ich‹ und ›nicht wahr‹, daß der Marr ein ganz verflixter Kerl sei, und sie, die anderen alle, noch einmal tüchtig auslachen würde. Mit so blutwenig Getue kann man einer Zuhörerschaft imponieren! Ich lache ja nun wirklich über sie alle, lache, lache oft einen ganzen Tag lang und rüttle dazu die zähen Scheiben an meinem Fensterchen …

Damals aber war ich König. Ich winkte, und der Kellner füllte die Gläser. Ich winkte abermals, und er trug Tabletten voll Obst und Dessert herbei. Und jedes Winken kostete ein halbes Monat zu leben.

Hanne Borg verabschiedete sich vorzeitig. Ich hielt sie nicht. Ich nahm mein Weinglas und trat vor sie hin.

» So können wir nicht auseinandergehen, Hanne Borg, so nicht! Denken Sie, es ist heute, daß wir uns sehen, und dann nie wieder! Heute zum letztenmal!« Ich lächelte, da ich ihre flimmernden Augen sah, in denen der aufgezwungene Abschiedsgedanke eine merkwürdige Milde erstehen ließ. Ich schlang rasch den Arm um ihre Schultern und küßte sie fest und innig auf ihren weichen Mund. Sie ließ die Lider halb über ihre Augensterne fallen und ein lindes, ergebenes Zittern ging fast unmerklich über ihren Körper hin, der sich weich und windend an meinen anschmiegte. Mochten sie alle hersehen, es war doch ein unsagbares Geheimnis in diesem Kusse!

Aus den brechenden Augen, aus diesem heimlichen Schauer, der für eine tausendstel Sekunde unsere Seelen zu innerst aneinandergreifen hieß, kam später alles, alles Glück; und alles Weh.

Im selben Augenblick fuhr ein schmerzender Stich über meine Schläfen hinunter und blitzartig in mein Herz. Es war ein dumpfes Spannen in meinem Schädel und eine heimliche Abwehr in meiner Seele. Die Lichter in dem dunklen Kelchglas in meiner Hand brachen sich, zitterten auf und ab und hüllten einen Schleier um uns.

Leise, leise, vielleicht gar nicht gesprochen, nur gedacht, ging mein Abschiedswort an sie hin: »Heute zum ersten Male, daß wir uns sehen.« Und sie hat es vernommen. Gleich darauf war sie fort.

Ich machte nun die anderen alle besoffen. Herrlichsten Wein gossen die biederen Schweine wie Wasser hinunter. Sie johlten und sangen und fühlten sich frei, mitten im tollsten Leben – für eine Nacht! Ich machte meine Rechnung und schlich von dannen.

Auf der Straße, in der stillen Lockerheit der Nacht, kämpfte ich tapfer die kleinen Sorgen nieder. Der Abend hatte mein Erspartes fast verschlungen, ich stand ohne Stellung da, in längstens acht Wochen würde ich den letzten Groschen ausgegeben haben. Ich wußte, daß ich nichts Dauerndes finden wollte und nirgends mehr bleiben würde, daß mich das Leben auf schwimmenden Brettern in ein Haltloses führe.

Ich wußte auch, daß ich Hanne Borg liebte. Ich war sehr glücklich darüber.

Ich hatte einmal ein Mädchen betrogen und einmal eines still geliebt, viele Monde lang. Ich hatte auch einmal einen Bekannten in einer wüsten Nacht um sein Geld gebracht und dereinst einmal meine Mutter angelogen. Ich hatte trotz meiner dreißig Jahre graue Fäden in meinem dunklen Haar und schwere Linien um den Mund. Ich hatte genossen und geweint.

Aber mein Glück und mein Leid hat erst an jenem Abende begonnen, an dem ich Hanne Borg in einer Laune geküßt hatte. Wenn ich einen Gott im Herzen trüge, ich würde ihn alle leeren Nächte lang bitten, innigst bitten, er solle für Hanne Borg und Luke in Eden drüben seine lichtesten Chöre erklingen lassen und die beiden mit herrlichsten Belohnungen fühlen machen, daß mein Dank für Glück und Weh in diesen Chören die beste Stimme habe. Wenn Hanne in Eden auf und nieder wandelt, dann sollen immer Rosenblätter um sie fallen, gelbe, rote, weiße – und sooft ein Blatt auf ihrer bloßen Schulter, über ihrem Herzen ein wenig rastet, ehvor es langsam zu Boden taumelt, dann möge sie einen reichen Klang im Busen fühlen, der von mir ihr Grüße sagt.

Sie hat die Rosen so gerne gehabt.

Und Luke Gröner soll über Berge gehen können und in der weißen Sonne die Liebe fühlen, die mein Herz für ihn schlägt.

Ich habe sie beide gemordet. Ihr Tod lastet nicht mit allen Schrecken der Furien auf meinen Nächten – und dennoch flehe ich immer, immer zu allen Menschen hier, sie mögen mir Gerechtigkeit widerfahren lassen und mich dem Tode ausliefern. Denn wie sollte ich sühnelos in Eden eingehen können?

Wenn ich hier elend zugrunde gehe – und es wird nicht lange mehr bis dahin sein – dann kann ich nimmermehr nach Eden kommen und sehe sie nie mehr wieder. Denn die Fenster sind verriegelt und eine glatte Mauer rings um das ganze Haus. Sie werden meinen Kadaver ja doch nicht hinübertragen. Der Steg schwankt und die Wellen rauschen daran so sehnsüchtig.

Immer ferner und ferner wird Luke und Hanne die Zeit rücken, in der ich an ihrem Leben nebenher gegangen bin. Sie spielen mit einem goldenen Ball, der tanzt auf einem Springquell und funkelt gar lieblich in der ewigen Sonne. Wenn sie beide hineinsehen, so schaut immer nur ihr eigenes Bildnis aus dem spiegelnden Ball, und sie haben mich vielleicht bald, bald vergessen …

Vergessen? Kann es Vergessen geben? Von überall her kommen Stimmen und Töne.

Der dritte Satz in der Beethoven-Symphonie war immer der schönste. Ich hörte ihn zweimal mit Hanne, ich höre ihn jetzt klingen, mitten im Getrampel der Wärter. Ruhe! Ruhe! Es dirigiert einer über tausend Künstler, die singen das Requiem von Brahms. Ich glaube, nur für mich. Sie haben dreißig Paukenisten angestellt, die in der zweiten Strophe den herrlichen Rhythmus herauslegen. Das tun sie mir zuliebe. Denn ich kann die Sängerinnen mit den nackten Armen nicht leiden, ich muß immer die Augen schließen und will dann aus den Pauken den großen Rhythmus hören. Das Unendliche in aller Kunst ist zuletzt der Rhythmus. Das andere kann verschiedene Ausdrucksweisen suchen, Farbe, Wort, Linie und Klang. Der Rhythmus bleibt ewig in sich das Große.

Eins – zwei, so geht im Takte mein Herz. Eins – zwei gehe ich mit ihm auf und nieder. Ich höre Lieder und laute Stimmen dazwischen. Das stört eigentlich den dritten Satz, auch das Requiem. Sogar die Lieder stört etwas, weil immer Menschen singen und sie sich selber nicht singen können. Hanne hätte eine herrliche Stimme haben sollen. Sie hätte es wohl vermocht, ein Lied für sich hinzustellen und dennoch ihr Herz singen zu lassen. Nun trommeln sie gar mitten in das Piano hinein, diese elenden Schleicher! Sie kommen wohl, mich in den Garten zu schleppen. Ich will nicht, ich will, will, will nicht mehr hinunter! Ich kann den Geruch der Hyazinthen nicht ertragen, die in Eden ihren Duft dem Winde leihen. Waren es nicht Hyazinthen, die sie in Hannes Grab warfen? Weiße und dunkelviolette Hyazinthen, viele, viele – das duftete so heiß und stark. Ich weiß es noch. Da ging meiner kleinen roten Rose Duft unter, ich hatte sie ihr bringen wollen, ins Grab. Dann hab' ich sie zerfetzt und zertreten.

Und sie hat rote Rosen doch so lieb gehabt!

Horch – jetzt – ja, jetzt spielen sie wieder. Oh, wie schön! Und mein Herz schlägt den Rhythmus. Eins – zwei, eins – zwei! Aber sie spielen so schnell, weh, jetzt spielen sie immer schneller und mein Herz muß nun, muß mit.

Jesus, das tut weh, ach, tut das weh …

Es kommen auch die Wärter – – –

 

Gestern war ich ein wenig krank, als die Wärter kamen. Die Nacht war so lang, ich fragte die Wärter heute, warum diese Nacht so lang gewesen sei, ich schrieb doch gestern noch und die Tinte ist schon ganz dunkel! Sie sagen, ich sei viele Tage fort gewesen. Ich verstehe es nicht. Was schwätzen sie einem Irren Unsinn auf, statt ihn zu hegen?

Ich weiß nicht, was ich schon erzählt habe. Ich bat den Arzt, er möge die Blätter immer gleich dem Richter hintragen, aber er selbst dürfe sie nicht lesen. Ich rolle sie zusammen und winde ein Roßhaar darum, das ich aus meiner Matratze ziehe; da mache ich einen so geschickten Knoten, daß ihn der Arzt nicht öffnen kann, dem Richter aber schrieb ich einen Brief, wie der Knoten aussehen müsse. Ein alter Wärter, der mit dem gutmütigen Schnurrbart, hat mir versprochen, er werde den Brief heimlich zum Oberlandesgerichtsrat bringen und dem Arzte nichts sagen. Der alte Wärter hält ganz sicher sein Versprechen.

Wenn ich erzählen soll, daß Luke keine Schuld an Hannes Tod hat, dann muß ich immer wiederholen, daß es nur ist, weil er mich gebeten hat, ansonsten aber auch nur der Gedanke an eine mögliche Schuld furchtbar dumm ist.

Denn Luke war der beste aller Menschen. Und der treueste. Er hatte hellbraune Haare und hellbraune Augen, die immer so dreinsahen wie die Augen eines Vaters, der sein liebstes Kind einer herrlichen Idee opfern muß. Er hatte eine frische Farbe, harte Züge um den Mund und eine trotzige Geste, wenn er etwas erzählte oder tun wollte. Er war groß und stark wie ein Baum und gutmütig wie ein Kind. Er hätte einen Berg von Mühe und Sorge lachend tragen können und hätte vor der bittenden Miene eines Leidenden zusammenbrechen können. Er hätte auch zehntausend Arbeiter auf der Werft zielsicher und hart kommandiert und keine Gnade der Gerechtigkeit vorgegeben; und hätte um eines lieben Kindblickes willen sein Vermögen geopfert. Ich habe ihn einmal gesehen, wie er einen Arbeiter eigenhändig züchtigte, mitten im belebten Fabrikshof, denn der dumme Teufel wollte einen Kameraden hintenherum aus Neid anschwärzen. Ich habe aber auch erfahren, daß er einem anderen Arbeiter, der aus bitterster Not für seine kranke Frau gestohlen hatte und entlassen werden mußte, versprach, inzwischen für die Frau zu sorgen, indes der arme Kerl seine Strafe absäße.

So war Luke Gröner, kerzengrad an Körper und Seele.

Wir hatten uns vor langer Zeit einmal im Gebirge kennengelernt. Er stieg gerne in den freien Höhen herum und auch mich trieb es seit je in diese einsame Wildnis hinauf. Da waren wir erst ein-, zweimal zufällig mitsammen gegangen, dann absichtlich, und da wir von vorneherein eins das andere weder durch Schwätzen störten, noch durch Kleinlichkeit hinderten, waren wir uns erst für größere Touren, wie sie nicht gerne allein unternommen werden, und schließlich für alle unsere Fahrten und Wanderungen unentbehrlich geworden. Wir sprachen wenig, oft gar nichts und kamen dadurch allmählich immer fester zusammen. Zuletzt waren wir die besten und rückhaltlosesten Kameraden, die, wenn sie auch nie mit Kümmernissen und Sorgen sich gegenseitig beschwerten, dennoch das Bewußtsein verläßlicher Zusammengehörigkeit in sich trugen. Seine vielleicht unbewußten Gefühle waren bestimmt offener und reiner wie die meinen. Ich hingegen mochte in ewiger Zergliederung wieder mehr von außen Erdachtes mir um das Tiefste erbaut haben, aber es war eine gute, beständige Freundschaft, die ich ihm im Herzen hielt.

Es tut weh, so zu schreiben nach alledem. Das Schicksal hätte besser getan, mich zu nehmen und diesen Mann den Menschen zu erhalten. Ich bin so ruhig und frisch jetzt, da ich an ihn denken kann und an jene Zeit, ehvor das Unglück kam. Ich sehe ihn auch immer vor mir, wie er etwa auf einem Gipfel sich seine Pfeife entzündete und über die Rauchkringel schweigend in die Ferne sah. Hat er da Brücken und Pfeiler auf den tausend Spitzen rundum in den Himmel gebaut und die stille einsame Luft mit kunstreichen Schiffen belebt? Oder ist ihm doch mehr die hehre Pracht dieser Welt an das Herz gegangen und hat ihn seine Zahlen und Maschinen vergessen machen? Wir sprachen nie davon.

Es ist gut, daß ich ihn aus jenen Tagen so lebhaft vor Augen habe und die grauenhaften Bilder der letzten Stunden seines Lebens nicht mehr wirr und phantastisch meine Nächte zerstören. Das ist nun alles vorüber. Ich werde es vielleicht kaum mehr recht erzählen können. Ich denke fast nie daran. Ich darf auch nicht – – –

Also es war am Tage nach meinem feierlichen Abschiedsfeste, als ich mit Luke in unserer Stammkneipe zusammentraf. Wir tranken dort einmal die Woche ein paar Gläser Wein, sprachen nichts oder höchstens von Bergfahrten und Wetteraussichten. Nur manchmal ging ein lebhafteres Gespräch in Fluß, meist dann, wenn mein wirres Herz einmal wieder von irgend einer Laune übervoll war und kein Maß kannte. Er hörte mir lächelnd zu und warf da und dorten ein nüchternes Wort in meine begeisterten Hohlheiten. Manchmal, sehr selten freilich, begann auch er zu erzählen, von seinen Arbeiten in der Fabrik, von seinen Plänen, von den Möglichkeiten aller Entwicklung in deutscher Technik und Wissenschaft. Es war immer Kopf und Fuß in seinen trockenen Darlegungen und ein kalter, klarer Geist. Ich war immer sehr froh an solchen Abenden.

Damals aber lag mir lachend und sprudelnd mein Abschiedsfest auf der Zunge, wohl deshalb, weil ich dabei meine Gedanken um Hanne Borg schlingen konnte und mich die hüpfende Tändelei im Herzen so recht innig und zart erfüllte. Und ich erzählte großartig von dem Feste. Ich malte ihm alle heiteren Kleinigkeiten vor und wich doch immer geschickt jeder Erwähnung Hannes aus, mich daran erquickend, daß ich die besten Farben noch für das Ende aufsparen könne. Ich erzählte von den biederen Kollegen und von ihrer Bedrücktheit; von dem prächtigen Rahmen und der großen Aufmache; aber auch von meiner tollen Augenblickssucht und von meiner glanzvollen Armut.

Luke hörte mir kopfschüttelnd zu. Seinem praktischen Sinne mußte natürlich ein so sinnloses Vergeuden widerwärtig sein. Er hielt mich mitunter sowieso für ein wenig verrückt und mochte nun wieder einen neuen Beweis haben. Er hätte mich gerne in sichereren, lebensstärkeren Bahnen gewußt als in solch wesenloser Stimmungssucht.

Das beste kam eben zuletzt. Ich erzählte von dem Mädchen, das auch mit an der Sache war. Ich erzählte von meinem Abschied und von meinem Kuß. Und in erinnerungstrunkenen Bildern ließ ich mein Herz vor ihm offenstehen und ihn meine Liebe sehen.

Er hörte mir aufmerksam zu und sah unverwandt zu mir her, fragend, bittend, fast erschrocken.

Ich merkte es erst, als ich fertig war. Ich wurde unter seinem merkwürdigen Blick ein kleines nüchterner und wollte ein gutes Ende finden.

»Und ich liebe sie, die Hanne Borg!« sagte ich leiser.

Luke hielt sein Weinglas fest in der Hand, dann setzte er an und trank es langsam leer. Ich sah, wie auf seiner Hand, die eisern auf dem Tische lag, die Adern schwollen und die Nerven aufliefen. Er setzte das Glas hart und schwer vor sich hin:

»Die Hanne Borg kenne ich seit Jahr und Tag!«

Ich weiß nicht warum, aber damals ging mir bei diesen Worten eine leichte Gänsehaut über den Leib und eine Art Schamgefühl hieß mich in mich selber ducken.

Es war nun ein Schweigen zwischen uns, aber das war nicht gut. Luke sah vor sich hin und eine Falte stand kerzengrad auf seiner offenen Stirne. Das Schweigen dauerte vielleicht solange, als ich mein Glas schluckweise leeren konnte. Dann drehte sich Luke schwer im Sessel vor, goß sein Glas wieder voll und schaute mir frei und ehrlich in die Augen, so herzensgut, daß ich meine Lider unwillkürlich senken mußte. Mit weicher, leiser Stimme mühte er sich etwa die folgenden Worte los:

»Schau, Marr, laß mich offen zu dir sein. Wir haben in stillem Einverständnis uns nie mit dem Thema Weib abgegeben und keiner den anderen mit diesen Geschichten behelligt. Nun du aber einmal diesen Punkt berührt hast, muß ich es zu Ende führen. Marr, ich kenne dich besser als du meinst. Du bist ein Mensch, der sich von Stimmungen über Ebbe und Flut tragen läßt, die aber weder Wege noch Ziele haben. Du hättest prächtig einen Dichter abgeben können oder einen Priester. Du sagst, du liebst dieses Weib. Du wirst nun ohne Bedenken und ohne Reife dieses Gefühl verfolgen und dir mitten in deiner schiefen Lage eine reiche Trauminsel bauen wollen. Du kannst, ich weiß es, einen merkwürdigen Zauber in deinem Wesen haben, wenn eine Begeisterung dir jede Einsicht nimmt; und du wirst mit diesem Gefühl deiner Liebe eine Begeisterung emporheben, wirst über Zeit und Tatsächlichkeit endlos deine Träume hegen und in ein wundersames Märchenland streben, wirst unbewußt diesen Zauber aus dir erstrahlen lassen – und dann wie immer, von einer neuen plötzlichen Idee erfaßt, achtlos dich, deine Gefühle, die im Augenblicke nicht minder wahr gewesen sein mochten, aber damit auch jenes Weib und ihr etwa tiefer erwachtes Wesen beiseiteschieben, wirst fraglos und ziellos jeden Zweifel unterdrücken und irgendwo einen neuen Weg suchen, der deinem neuen, nicht minder unbeständigem Ziele vorübergehend als groß und begehrenswert erscheint. So bist du, Marr, ich bin deshalb gleich ehrlich dein bester Kamerad.«

Was er da gesagt hatte, war alles richtig. So richtig, daß er selber vergessen hatte, wie eben jetzt in einer begeisterten, unbeständigen Hingabe an irgend einen Einfall die einleuchtendste Vernunft vor meinem haltlosen Wesen zerbrechen mußte.

»Siehst du, Marr, auch diesmal ist es so. Du liebst heute Hanne Borg und wirst aus deiner seltsamen Macht auf Menschen, die du in einen Kreis deiner Wünsche stellst, sie und ihre Gefühle zu dir erstehen und lenken machen können, wie eine Stimmung es dir erträumen heißt. Das ist nicht gut, Marr, seiner augenblicklichen Ungeduld alle Zügel locker zu lassen – da liegt die Angst der Unbeständigkeit schon darinnen! Wenn dein Gefühl wahrhaft groß und echt ist, dann muß es diese Ungeduld und alle Zeit überwinden. Prüfe es aus der Zeit, Marr, ehvor du dich in neue Meere stürzest: Dir eine Erinnerung – aber einem anderen Menschen kann es ein Leben sein!«

Luke sah mich groß und traurig an, während er sprach, und hatte einen so herzlich warmen Ton seinen Worten angesellt. Ich hätte ihm die Hand drücken mögen und gute Freundesworte sagen. Ich trug ja Liebe, Liebe in mir und war gut und weich gegen alle Menschen, wie erst gegen ihn! Er aber schien noch nach einem Letzten zu suchen, doch wurde ihm die Sprache schwerer. Langsam, fast kalt kam es heraus, indes seine starke Hand leicht zitterte:

»Höre, Marr, wenn dein Gefühl wirklich echt und wahr ist, dann, ich kann es dir nur immer wieder sagen, dann mag es die Zeit proben. Hanne Borg ist nicht das Weib für heute, sondern für immer. Glücklich der, dem sie ihr Selbst schenken wird.

Ich liebe Hanne Borg seit Jahr und Tag. Wir kommen uns langsam, langsam immer näher. Wir haben es nie ausgesprochen … «

Luke hatte zuletzt leise und zischend gesprochen und sein edles Herz zitterte mächtig in diesen schlichten Worten nach. Mich faßte ein unsagbarer Schrecken, ich wußte aber selbst keinen Grund dafür. Luke stopfte sich mit erzwungener Ruhe seine Pfeife, schob sie in den Mund und hielt ein Streichholz darüber. Zwischen den passenden Wolken hindurch sagte er:

»Nun weißt du den Sinn meiner Rede, Marr. Hanne kann nur einmal ihr Sein einem Manne geben. Wecke mit deinen unbeständigen Mächten nicht dieses gute Leben. Ist deine Liebe in ein paar Monaten noch dieselbe, dann mag Hanne unsrer Werbung ihre bessere Einsicht geben. Aber du kannst nichts Dauerndes in dich legen! Um unserer Freundschaft willen, Marr –« er nahm die Pfeife aus dem Mundwinkel und hielt mir seine Rechte über den Tisch hin – »um alles Guten unserer Freundschaft willen, Marr, versprechen wir uns, die Sache zwei – ein Monat still in uns ruhen zu lassen. Nachher soll jeder seine Werte neidlos zu ihr bringen. Hanne kann nur einmal lieben, ich weiß es.

Um unserer Freundschaft willen, gib mir die Hand, Marr!«

Seine Augen lagen heiß in den meinen, während er trocken und gezogen sich diese Worte abquälte. Ich sah so recht den ganzen starken, tief und wahr fühlenden Luke vor mir. Ich fühlte zugleich meine Liebe im Herzen und sah einen Schimmer freundlichen Entsagungsleides um des Freundes willen darum weben. Ich wollte an gestern denken, aber das Bild war blaß und sonder Kraft.

Ich griff stark und freudig nach seiner treuen Hand.

Der warme Schauer eines dramatischen Augenblickes des wirklichen Lebens ging um mich. Auf und nieder – wie das Leben doch ernsthaft in allen Geschehnissen um uns geht, nicht nur in Büchern und Träumen! Ich war mir froh und stolz einer echten Tat bewußt. Luke sah mir immer noch in die Augen. Ich liebte ihn nun mehr denn je.

– Ich habe dieses Versprechen gebrochen. Damit fing es an. Ich habe das Wort gebrochen und so die erste Schuld an seinem Tode auf mein Haupt geladen.

Meine Verstellung, meine Heimlichkeit, die daraus erwuchs, war die Freundeslüge – und wieder war es ein Schuldteil an seinem Tode.

An jenem Abende wußte ich das noch nicht. Ich hielt fest seine Hand und war so stolz und groß. Er mußte die neu aufflammende Begeisterung in meinem Blick gelesen haben, denn er sah mich immerfort an und es kam wie Traurigkeit in seine ehrlichen Augen. Vielleicht auch hat er mir einen Bruchteil einer Sekunde lang mißtraut und klagte darob sein gerades Herz bitter an: Dem Freunde zu mißtrauen, da er eben seine Hand hielt! Das mußte ihm wehe tun.

Endlich flog wieder ein erlösendes Lächeln um seinen Mund und er füllte heiter die Gläser. Dann begann er zu plaudern und erwähnte das Vorhergegangene mit keiner Silbe mehr, so sehr ich vielleicht auch die Feierlichkeit dieses Augenblicks ein wenig auszukosten gewillt sein mochte.

Aber so war Luke: Stark, offen, ehrlich und dabei scheu in seinen Gefühlen. Wie mußte dieser Mann geliebt haben, da seine Seele einmal für immer eine so tiefe, verschlossene Leidenschaft erfüllte!

Doch er hätte sein Glück, sein Gut, sein Leben um sein Versprechen geopfert.

 

Heute war es gerade so wie damals, als ich ohne Tat und Handlung dennoch im Innersten mein Wort schon gebrochen hatte, kaum drei Tage nach unserem Beisammensein in der Kneipe. Sie führten mich heute wieder in den engen Hof hinunter und wollten sich ein Vergnügen daraus machen, wie ich in Verzweiflung nach Eden schreie und die Namen meiner Lieben aus den Wolken sauge. Aber ich setzte mich unter den Baum in der Mitte des Hofes und schaute um mich. Ein Wärter stand drüben am Tore in der Sonne und gähnte. Ich sah, wie der Baum seine rostigen Blätter im Sonnenlicht zu Gold machte, ich spürte auch denselben weichen Wind, der heute wie damals in dem herbstlichen Laub raschelte und einen starken Geruch nach frischer Erde und reifen Wäldern in sich trug. Ich konnte heute die Mauer nicht erkennen, die meine Welt sonst abschließt, denn Hanne Borgs Antlitz war unentwegt vor mir und sah mich mit guten, verlorenen Augen an. Heute war keine Mauer um mich und Eden lag wohl droben über allen Himmeln, die durch die Zweige schimmerten. Auch wehte kein Hyazinthenduft in den Lüften und ich fühlte sogar etwas wie den Atem ihrer roten Rosen.

So aber war es damals auch. Es gab keine Mauer, die meine Gedanken hätte abschließen sollen, oder ich sah doch keine, hatte ihrer vergessen wie heute. Statt dessen stieg immer stärker und mächtiger Hannes Bild vor mir auf, wie ihr Blick, halb brechend vor dem meinen, ein Geheimnis gesucht hatte. Warum auch waren die herben Frühherbstdüfte so stark gewesen, warum trug sie ein Wind über rote Bäume her? Warum hatte die Sonne golden über dem raschelnden Laub gelegen und der blaue Himmel so milde über ein scheidendes Sommerjahr gelacht? Ich hätte gewiß meine Mauern immer turmhoch um mich gesehen, wenn trübe, neblige Tage gewesen wären und der Sturm die ächzenden Äste kahlgefegt hätte. So aber waren damals die Schranken entschwunden, wie ich heute die elende Gartenmauer nimmer kannte – und Hannes Traumgestalt konnte ungehindert über die weite Ebene her auf mich zuschreiten, langsam, wachsend, mit dem milden Schmiegen in ihrem schönen Körper. Ich sah ihr dunkles Haar, das sich wie Wellenkräuseln um ihr rundes, kindliches Antlitz legte, ich sah den frischen Mund, der so eigen halb lächeln konnte und damit alle Sehnsucht nach weicher Güte im Herzen erweckte. Ich sah die schönen Arme, die vollen Schultern und sah ihren großen, starken Gang. Ich sah auch ihre graugrün schillernden Augen, die so klar waren wie lauterer Kristall und so gut wie Gottes Sohn. Nein, besser noch als alle Fabeln der Menschen.

Und keine Schranke sperrte mein Schauen.

Da wußte ich, daß Hanne Borg jetzt eben über den Weg meines Lebens ging und ich nur einen Schritt tun brauchte, um an ihrer Seite zu sein. Ich wußte auch, daß ich später vielleicht nie, nie wieder diesen Schritt würde tun können und sie vielleicht andere Wege kreuzen würde, die ihren schwebenden Gang in lichte, unwiederbringliche Fernen trügen.

Damals zwang es mich, diesen Schritt zu tun. Ich saß still und einsam über einer Halde und hatte doch mein Wort schon gebrochen.

Damals hätte ich sterben müssen; was später kam, lag nimmermehr in meiner Macht. Das waren die Geister, die ziellos um alle Menschenwege hasten und hin und her ihre grausamen Netze über uns arme Wesen spannen, wie ekelhafte Spinnen, die im Dunkel lauern und das summende Leben der Sommerluft bedrohen.

Ich habe später diese Geister in grausamen Nächten gesehen, als ich von Angst und Entsetzen geschüttelt in meinen Kissen lag und stöhnend die Arme in die Finsternis wehrte. Sie krochen auf klebrigen Händen sachte über meine Decke, hockten um meine Polster und grinsten oben, unten über mein Bettgestell herein. Sie huschten über die Wände nieder, wuchsen aus den Parkettvierecken empor, sie quetschten sich aus allen Möbelfugen heraus und stierten alle, alle auf meine Stirne knapp über die Augen, ohne je in diese hineinzusehen. Das war das Gräßlichste. Sie hatten schleimige Fratzen aus einem Gemisch von uralten Männern und blöden Kindern. Ihre Körper und Gliedmaßen waren jeden Augenblick anders und doch nie in einer wirklichen Gestalt.

Sie sollten diese greulichen Formen eingesperrt haben!

In solchen Nächten hatte ich wahnsinnige Angst gelitten, wahnsinnige, wahnsinnige Angst. Nun ist auch das vorbei.

Und ein glühender Sommerwendetag war es, als ich mit Hanne zusammentraf. Ich hatte zwar mit Luke just für diesen Tag einen Spaziergang verabredet, doch ich ging noch rasch zu ihm hin und wollte ihm kalt und nebenher die Absage ins Gesicht sagen. Zu meinem Erstaunen fand ich ihn in Abreisevorbereitungen, und er gestand mir, daß er für ein paar Tage ins Gebirge wolle. Froh, so günstig wieder los zu kommen, empfahl ich mich rasch und vergaß erleichtert, aber doch absichtlich auf unseren ausgemachten Spaziergang. So stand die erste Lüge zwischen mir und ihm, es wuchs der Samen, aus dem der Baum meiner Schuld so rasend schnell emporschoß. Doch ich fühlte die Hinterlist meiner Lüge nimmermehr; die Mauern waren zerbrochen und Hanne Borg, das Weib, ging über meinen Weg.

Die Sonne weckte alle Farben über den Höhen. Vom blutigen Purpurrot bis zum zartesten Gelb junger Birkenreiser, vom dunkelsten Tannengrün bis zu den hellen Lichtfarben der Frühlingsgräser, alle Farben leuchteten und prangten in herrlich zufälligem Durcheinander von den Kämmen der Berglehnen in die Ebene hinaus. Trat man aber in den Wald hinein, dann schimmerte der Boden rot und gold und helle Sonnenkringeln tanzten zitternd über das festliche Laubwerk am Waldesgrunde. Zwischen dem loseren Gezweig hindurch lachte allenthalben ein tiefblauer Himmel herein, dagegen die dunklen Stämme sich scharf und hart und mit einem seltsam verworrenen Muster abhoben. Da, dort, an allen Enden tropften die bunten Blätter von den Zweigen, wiegten sich in der linden Luft und tranken bald oben, bald unten das Sonnenlicht, bis sie, in Licht und Schatten schaukelnd, sich mit einem leisen, feinen Klang zu ihren Schwestern legten. Dieses Fallen und Schweben rundherum machte eine so liebliche Musik im Walde, als strichen viele, viele Celli ein himmlisches Pianissimo. Dazu rauschte draußen im Tale der silberne Fluß sein eintöniges Lied und seine Wellen blitzten unter den Zweigen hindurch hin und her zu uns empor.

Zu uns – denn Hanne und ich gingen durch diesen Wald immerfort geradeaus in ein Sonnenland hinein.

Wir sprachen wohl anfangs fast gar nicht. Wir schauten nur nach links und rechts und durch die filigranen Zweige in den Himmel. Es lag auch noch der Druck des Geheimnisses auf uns, das uns an jenem Abende so flüchtig verbunden hatte; mit gesuchten Gesprächen konnten wir diese heimliche Last nicht verschleiern, denn zu sehr hatte uns jener Augenblick wie eine Offenbarung von etwas Großem, Ewigem geschienen, als daß wir heute mit dem eklen Geschmack einer verklungenen Festesstimmung uns hätten narren mögen.

So gingen wir lange, lange Zeit bergan und bergab über den leuchtenden Waldboden hin. »Es ist so schön, so schön … « sagte ich einmal vor mich hin, und »Ja, so schön … « lächelte sie leise zurück. Ihre Augen konnten Farben trinken und widerstrahlen und sie konnte eine gar sonnige Freude in kurze, nichtssagende Worte legen. Einmal hing ein rotes Buchenblatt in ihren dunklen Haarwellen, und da sie es forttun wollte, bat ich sie, es dort zu lassen, bis es von selber seinen Weg weiter finde. Und sie ließ es sein. Dann schritt sie wieder einmal vor mir und es war gerade eine Lichtung zwischen den Bäumen, davor die tiefergehende Sonne stand. Da floß ein sprühendes Elmsfeuer um ihre herrliche Gestalt und zog einen Strahlenkranz handbreit um sie herum. Sie mochte meinen Blick gefühlt haben, denn sie lief plötzlich in die Lichtung hinaus und wandte sich nach ein paar Schritten lachend um. Ich wußte nicht mehr, war es ein Lichtreflex gegen die Sonne gewesen oder war das helle Leuchten aus ihr selbst gekommen, wie es bei Sonntagskindern ganz, ganz selten zu sehen sein soll, wenn irgend ein reines Feuer ihre Seelen erglühen macht.

Endlich kamen wir zu den verfallenen Mauerresten einer alten Bastei, die dereinst den ganzen Hang ober der Stadt umzogen haben soll. Eine vorspringende Mauer, knapp über einem jähen Felssturz aufgebaut, bildete hier eine Art dreieckiger Terrasse, in deren äußerstem Winkel ein kleiner offener Erker stehengeblieben war, der seinerzeit wohl einem Wächter einen größeren Rundblick mochte geboten haben. Nun wucherten Efeu und wilde Waldreben über die zerbröckelten Scharten und zwischen den Steintrümmern hatten sich kleine, zierliche Moosgärtchen breit gemacht, unter deren wippenden Stengelchen hin und wieder ein verspäteter Käfer die letzte Sonne suchte. Auch eine Eidechse hörten wir in dem Gemäuer rascheln, die sicherlich schon auf der Suche nach einem geborgenen Schlafplatze für den Winter war.

In dem Erker, der just gegen Sonnenuntergang gelegen war, stand eine Bank, die uns zur Rast einlud. Der Wald war einige Schritte hinter der Terrasse stehengeblieben, der Blick konnte von hier frei über die Farbenpracht der Berglehne hingehen, zugleich öffnete sich ihm ein weites Rund auf die Stadt hinunter, deren Türme und Dächer im letzten Abendgold standen, dann weiter über den Flußlauf hin, wie er von weit drinnen aus den Bergen sich herschlängelnd sein Silberband an der Stadt vorüber unabsehbar nach Norden in die Ebene hinauswob.

Hier saßen wir nun und schauten in die Sonne hinein. Unsere Hände lagen ineinander, unsere Herzen gingen einen Schlag. Wir hatten nichts gesprochen, aber es war wie ein Zwang, wie eine freundliche Hingabe, die uns in dem anderen dasselbe Wesen erachten ließ, das über diese Sonnenfarben hin mit gleicher Andacht blickte wie die eigene Sehnsucht.

Es mußte so kommen. Es hat keinen Sinn, sich gegen das Geschick, das freundliche wie das böse, mit kalten Vorsätzen aufzulehnen. Hanne Borg und ich hatten sich zusammengefunden.

Und Freund Luke Gröner war vergessen. –

Ich legte meinen Arm um ihre Schulter und bettete ihr Köpfchen fest an meine Brust, indes ich über ihre dunklen Flechten hin in die Ferne starrte.

»Laß gut sein, Hanne, laß gut sein! Ich kann nichts sagen von Liebe und Glück, das zittert alles wie ein Werdendes, Kommendes in meiner Seele. Ein irrer Wanderer hat Heimweh gehabt und keinen Weg in die Heimat gesehen. Er hat an fremde Türen gepocht und rauhe Worte empfangen, er mußte weiter und weiter, wie sehr auch seine Sohlen bluteten. Ein irrer Wanderer ist auf und nieder gegangen, die Heimat und das Glück zu suchen, und hat viele leere Stunden geweint. – Nun hat er heimgefunden!«

Fester schmiegte sie sich an mich und ihr Arm suchte leise den meinen.

»Ich weiß deine Liebe nicht, Hanne, und frage nicht darnach. Wir können nicht in die Sonne schauen und wollen ja doch immer ihr Licht trinken. Es darf uns heute nicht eine große Liebe einspinnen, weil ein Abend so schön ist, und dann ewig von diesem Gipfellicht zehren. Es muß wachsen und wachsen mit jedem Tage, mit jeder Stunde, und soll keinen Namen verlangen. Weißt du, Hanne, so lieb ich dich heute, und morgen mehr, und späterhin immer mehr, bis das Herz alle diese Liebe nimmer fassen kann. Dann müssen wir vielleicht sterben – oder ewig leben bleiben, denn die Liebe hat kein Maß und keine Grenze. Ich hab' ja die Heimat und dich gefunden, Hanne! Bleib bei mir, Hanne, bleib bei mir, und glaube an unser gutes, wachsendes Leben!«

Ich hatte mich tief herabgebeugt und flüsterte die letzten Worte innig nahe an ihrem Ohr. Sie huschte sich tiefer in mich her, aber blieb stumm. Nur ein Zittern lief über ihre Schultern und ein weicher Duft stieg aus ihrem Haar zu mir auf, den ich selig trank. Mir war mit einem Male bange und schwermütig, ich sah die irren Gefühle vor mir erstehen, die oft so quälend meine machtlosen Gedanken beherrschten.

»Ich bin nicht immer gut gewesen, Hanne! Wer die Heimat sucht und in sich selbst keinen trotzigen Halt hat, der schwankt auf und ab über lichte Höhen und gräßliche Tiefen; vielleicht verlernt er sogar, Gut und Schlecht in seinen Empfindungen richtig zu trennen und irrt wahllos über Moraste hin, wenn irgendwo ein Lichtlein ihm die Sehnsucht nach einer Heimat neu erweckt. Dann legt sich Schlamm um die Füße und die rechtlichen Menschen in ihren sauberen Wohnhäusern wollen den Wartenden nimmer über ihre Schwelle treten lassen, es wäre denn, daß er mit einer Lüge den Schlamm verdeckte. Ich bin nicht immer gut gewesen, Hanne; denn ich habe mir ein Leben vorgelogen und mußte um meiner Sehnsucht willen auch die alle anlügen, die ich lieb gehabt: die Mutter, die Freunde und wohl auch manche Frau. Ich habe sie alle immer wieder betrogen, wenn meine Sehnsucht ein neues Licht blinken sah. Dann zwang es mich so widerstrebend den Lichtern nach. Doch es waren Irrlichter, je tiefer ich in die Moore kam. Und zuletzt habe ich ein Wort gebrochen und heimgefunden – sieh, sieh, Hanne, nun geht die Sonne drüben hinter den Berg. Sieh hin, vielleicht kommt sie nimmer her … !«

Hanne hob den Kopf, aber sie sah nicht in die letzten Sonnenstrahlen, sondern zu mir empor. In ihren kindlichen Augen lagen Tränen, die glitzerten wie Tau im scheidenden Sonnenlicht.

»Hanne,« rief ich, »Hanne, du weinst?«

»Es ist nur, Mario, weil ich dir etwas sein kann!«

Warum, Hanne, hast du so gesprochen? Es hat ein unendlicher Glaube in deinen Worten gelegen, die Milde einer Mutter und Frau. Dein Glaube war größer als mein Gemüt. Doch damals riß es mich zu dir nieder, wild, heiß, sehnsüchtig schlugen meine Lippen in die deinen. Noch lag ein Sonnenleuchten um uns, das ging durch und durch in dein Herz, in mein Herz und ein heimlicher Sang ging leise um unsere Seelen.

Wer immer diese Zeilen lesen mag, muß es wissen, um meinen Gram verstehen zu können: So wie ich dieses Weib geliebt habe, damals und später, ist nichts, nichts geliebt worden auf der ganzen Welt. Sagt nicht, Gottes Liebe sei unendlich, weil er die Unendlichkeit selber sei. Unendlich ist nur eine Liebe in dem kleinen, engen Menschenherzen! Aber es war eine Schuld in mir, und eine neue, daß ich dieses Weibes Liebe zu meinem irren Sein herabgehoben habe. Ein ödes Haus stand über mir, das Gebälk krachte und sollte aus meiner Schuld über uns allen zusammenbrechen.

Hanne, Hanne, wo bist du und Luke Gröner geblieben?

Ich nannte sie damals Sumse, das klang wie das heiße Summen über Sommerwiesen; so sonnig und lieb ist auch Hanne gewesen.

Breit und seicht legte sich nun der Abend über das Tal. Die Farben alle, die eben noch so reich und üppig waren, verloren ihren Glanz, die kahleren Äste streckten sich mit einem Male aufdringlicher in den flachen Himmel hinein. Der Himmel wurde dunkler und dunkler, tiefer und runder, weiße Dünste legten sich, den Flußlauf herankommend, über die Tiefen des Tales hin. Erst da, dann dort, dort auch, und überall, ein Sternchen flammte auf, zehn, hundert, Millionen.

Wir hielten uns an der Hand und gingen durch die Nacht wie träumende Kinder.

Ein Stern fiel – doch wir hatten beide nur eine einzige Frage im Herzen gehabt und die Sterne antworten nicht.

Ein zweiter Stern fiel – doch wir hatten nun beide die Gegenwart im Herzen getragen und das Licht der Sterne, die wir sehen, ist nie von jetzt.

Ein dritter Stern fiel – wir hatten aber beide daran gedacht, daß unser Erleben keine Schranken finden würde und wir uns ganz gehören müßten, heute vielleicht, morgen – ohne Zeit und Reue.

Da sah ich aus ihren Augen einen Strahl brechen, der leuchtete das Glück eines Kindes, die Scham einer Braut und die Glut eines reifen Weibes.

Dermalen ist Hanne Borg innerlichst mein Weib geworden, ehvor ich sie noch ganz, ganz in Armen hielt.

»Du bist so gut, Mario, du hast so treue Augen! Wenn mir bange ist, wirst du mich nicht verlachen, Mario? Mir ist so bange um dich, bange um mich, und wohl um noch einen –«

Doch sie sprach nicht weiter. Ein leuchtendes Meteor zog seine Feuerbahn ruhig und starr gerade ober uns hin und schien weit draußen in der Ebene zu versinken. Wir hatten das Zischen des glühenden Steines zu hören vermeint und unsere geblendeten Augen sahen noch lange die Feuergarbe am Himmel stehen.

Wir konnten auch sobald kein Wort mehr finden, sondern hielten uns nur enge aneinander und sahen endlich die Lichter der Stadt höher und höher zu uns herkommen. Mein Blut begann mächtig gegen meine Schläfen zu schlagen, daß ich meinte, es müsse alle Zellen sprengen und den letzten Tropfen aus meinem Herzen saugen. Ich nahm ihre beiden Hände und preßte sie fest gegen meine Stirne. Da wurde es etwas besser, nur waren jetzt unzählige feine Nadelstiche darin, die regellos und schmerzend meinen ganzen Kopf folterten. Ich schloß fest die Augen und spannte die Zunge gegen den Gaumen.

»Was hast du, Mario?« fragte mich Hanne ein wenig erstaunt.

»Nichts, nichts, Hanne!« gab ich zurück und dann fiel mir plötzlich ein, daß die ganze Weltkugel um uns hohl sei und wir allein mitten drinnen stünden. Ich dachte auch, daß wir selber die Welt umspannen könnten und das All dann wie ein Punkt in unserer Seele läge.

»Es sind die Sterne, Hanne, die mein Haupt umfassen muß und deren Licht sich aus dem dunklen Gefängnis befreien möchte. Das schmerzt so sehr, so sehr –«

Mir schien es, als ob Hanne sehr erschrocken wäre; sie zog mich fest an sich, da war alles auch wieder gut und vorüber und mein Blut strömte erlösend zum Herzen zurück.

»Es kann auch sein, daß ich dich zu lieb habe, Hanne!« sagte ich und wollte ein wenig lächeln.

»Das kann nimmer sein, Mario!« Sie sprach dies leise und doch so bestimmt, blickte dabei geradeaus und zog die offenen Lippen ganz schmal zusammen.

Bald nachher traten wir in die Straßen der Stadt und unter die Menschen, über die wir seit heute wie aus einer neuen, guten Welt verloren wegsahen.

So liegt unser Leben an Zufälle machtlos gekettet und wir sollen weder murren noch anklagen, weil das Schicksal aus Millionen Menschen ein millionenfaches Leben gestaltet. Hanne hätte wohl den Namen Luke Gröner ausgesprochen, wenn das grausame Meteor nicht den Himmel zerschnitten hätte. In einer schweren Nacht wie damals hätte dieser Name aus ihrem Munde vielleicht noch ein Gift in mein Herz träufeln können, das Gift hätte sich in mein Blut gemengt, aber in Qualen und Schmerzen doch noch heilen mögen, solange das Leid noch stark und stolz hätte sein dürfen. Es ist alles anders worden; wenn irgend etwas außer mir noch Schuld an ihrem Tode trägt, so sind es die Sterne, die in jener Nacht gefallen sind. Wie wir alle, alle die ganze Welt in uns tragen, so ist es zuletzt nur eine Welt, meine Welt, die wirklich ist und Hannes Todesschrei könnte ebenso wahrhaft in der Zukunft meiner Phantasie wie in der Vergangenheit meiner Wirklichkeit gellen. Es ist ja dann ganz einerlei. Wenn es nur so wäre! Denn dann bliebe aller Kampf, alles Weh, alles Leid ein Spiel auf einer eingebildeten Bühne, darauf der düstere Glanz des Lebens nichts anderes wäre als staubige, lumpige Kulissen.

Auch Hannes Liebe wäre dann nur ein Wahn meiner Phantasie gewesen! O Herre Gott, wenn du die Menschen strafen wolltest, da du sie aus Eden vertrieben hast – die halberfüllte Sehnsucht nach dem Baume der Erkenntnis war überschwere Strafe schon in sich; nie, nie wird der Erkenntniswille sich erlösen können.

Alles, alles mag Einbildung sein, alles Schein und Phantom. Hannes Liebe aber darf mir die Wirklichkeit nie und nimmer rauben. Da müßte früher mein armer Geist irre gehen und alle Grenzen verlieren. Dann mögen die Mauern, die elenden Mauern, näher und näher kommen, so eng, so starr, so finster, bis sie meine letzte Verzweiflung ersticken und über meinem toten Leben zusammenstürzen. Sie stehen nie still, diese Mauern; sie wachsen oft riesengroß auf mich her und treiben mich in tollste Angst; sie kommen nur so nahe, als es die gräßlichste Marter einer Todesfurcht noch ertragen kann, dann schweben sie langsam wieder zurück und stellen sich vor Eden auf, darein sie mich nie, nie einlassen werden.

Ob der goldene Ball, der dort auf dem Springbrunnen tanzt, wohl das Meteor ist, das damals die Nacht erleuchtete und die letzte Schranke brach, die die Flut meiner Schuld vielleicht noch hätte dämmen können?

Ich höre oft einen schleppenden Schritt irgendwo, der kommt langsam näher und steht still. Dann tönt er wieder, aber er entfernt sich, noch müder, noch schleppender als zuvor. Ich weiß nicht, was es ist; das war ja viel später, in dem kleinen Gasthause im Gebirge; ich weiß nur, daß Mord darinnen klingt.

Sie sagten nachher alle, ich sei so schuldlos wie jeder andere, sei nur das dritte Opfer einer Tragödie, wie sie das Leben tausendfach abrolle. Sie hätten mich beinahe noch bedauert, statt mich zu strafen und zu erlösen. Sie sind alle falsch und tückisch. Sie wollen mich quälen, nehmen den Vorwand, ich sei irre, um mir Eden zu versagen. Sie neiden mir gar Hannes Anblick?

Ein Irrer weiß nichts von sich selbst. Ich aber weiß alles, ich träume sogar bewußt, so schrecklich oft, ach so schrecklich! Und wenn ich wirklich einmal die Besinnung verliere und schreie oder wie toll um mich schlage, so ist dies Sehnsucht und Verzweiflung und elender Gram. Sie lügen mir vor, das dauere tagelang, sie fragen mich noch aus, ob ich mich irgend besinnen könne? Wie soll ich mich besinnen? Ich habe keinen Kalender und weiß weder Tage noch Stunden. Ich frage auch nicht darnach, denn sie würden mir nicht die Wahrheit sagen. Selbst die Jahreszeiten lügen sie mir vor, ich weiß es, denn in dem schrecklichen Garten unten ist bald Sommer, bald Winter, dann wieder ein Frühlingstag mitten dazwischen, dann wieder viele Jahre lang Herbst. Winter ist sehr selten, das habe ich schon beobachtet, und Frühling immer nur einen Tag – meist machen sie Herbst, denn dann muß ich am stärksten an Hanne denken und an die goldenen Bäume draußen über der Stadt.

Wie schön war das an jenem Tage gewesen! Und ich kann das so friedlich schreiben, fast glücklich. Ist soviel, soviel Friede damals in mich gekommen, daß ich trotz allem noch davon zehren kann?

O Hanne, Hanne, schlecht habe ich dein, mein Glück, dir gedankt!

Die Richter sind wie läppische Kinder. Sie würden nur einen verurteilen, der wirklich den tötenden Schuß abgegeben hätte; da müßten sie gleich den Waffenschmied an den Galgen bringen, der die Dinger gemacht hat.

Vielleicht sind die Kugeln in jener Nacht gegossen worden, da die Sterne fielen. Die Zufälle sind so reich, viel wirrer noch als auf lustigen Bühnen; es würde dies ein großartiges Ineinanderweben gewesen sein. Doch das kann man nie herauskriegen. Ich fragte heute den Arzt darum. Ich sagte: »Wissen Sie, ob die Kugeln in jener Nacht gegossen wurden, als die Sterne fielen und ein Meteor brannte?«

Er verzog keine Miene und fragte langsam: »Welche Sterne meinen Sie?«

Da wußte ich, daß er nur in lüsterner Neugierde die Erzählung jener wunderbaren Heimatstille hören wollte. Doch ich konnte ihren Namen nicht vor diesem Menschen hinstellen! Ich griff daher gleich an das Ende:

»Das waren die Sterne, die nachher alle, alle in meinem Kopfe kreisten und so stechenden Schmerz verursachten. Wer, Herr Doktor, ich will ja nur das eine wissen, ob die Kugeln damals auch gegossen wurden, vielleicht aus Sternmetall?«

»Mag sein, mag sein!« sagte er ruhig und griff nach meiner Hand. Also wußte er es doch auch nicht!

Ich denke manchmal daran, ob Luke an jenem Abend wohl die Sterne gesehen hat? Ich konnte ihn nie darnach fragen. Er war vielleicht über Plänen und Zeichnungen gesessen oder schon über die Berge gewandert und hat seinem Herzen in strenger Zucht Ruhe geboten. Oder er lehnte am Fenster und hat immer nur einen einzigen Wunsch in seiner Seele erklingen hören, ob ein Stern oder hundert fielen. Wer weiß?

Wenn ich ihn dereinst wiedersehe, wird er mir gewiß davon erzählen können. Er wird keinen Groll auf mich haben, ich war ja auch der letzte, der seine Hand gehalten, als er so schwer starb.

Doch ich will keine dunklen Bilder sehen. Ich muß von Hanne Borg erzählen und von unserer glücklichsten Zeit.

 

Es ist das Leben eines Menschen nur ein einziger Weg. Wie in einem heimlichen Warten sehen wir eine Zeit und noch eine Zeit an uns vorübergehen – wie in einem Warten auf etwas, das vielleicht schon längst vorüber ist, das vielleicht eine kurze Stunde lang erwacht, um zu sterben, oder das gar nimmer kommen wird. Aber wir träumen in Wunsch und Abneigung Schicksale um Schicksale, deren Möglichkeit wir in uns fühlen, vergessend, daß nur ein ganz einzelnes Schicksal das unsere sein kann, daß ein Leben oft dieses einzige kaum ertragen mag und uns keine Spanne bleibt, noch einmal zu beginnen und anders zu erleben. Wie der Wind den Samen des Baumes dahin und dorthin weht, in ein liebliches Tal, auf einen kahlen Fels, mitten in den Märchenwald hinein – und dann ein junger Baum dort für immer sein Leben in den Himmel wächst, nichts ahnend, daß doch so viele Lande gewesen wären, darin er seine lichtsehnenden Zweige hätte ausbreiten mögen; wie er nun steht, einmalig und unabweichlich seinem Zufallsorte ergeben, damit er sein Dasein nur so erfülle, wie Licht, Sonne und der Boden es ihm abzwingen können; so einmalig machtlos lebt auch das Leben eines Menschen seine erzwungene Bahn. Wir haben alle Robinson Crusoe sein wollen oder sonst ein Weltenheld. Die Schicksale großer und kleiner Menschen haben in unsere Träume gesehen und in jedem von ihnen haben wir ein echtes Stück unseres eigenen Selbst erkennen wollen, bereit, auch dieses Licht zu leuchten, diese Bahn zu betreten, diese Leiden zu tragen. Doch die Wirklichkeit hält mit Hohn nur einen Spiegel vor unser Antlitz, daraus wir mit leichtem Schauer nur die beiden Worte ›Geboren – gestorben‹ zu lesen vermögen und dazwischen ein kleinwinziger Strich steht, so klein, daß wir kaum Zeit haben, unser eigenes, einzelnes Schicksal zu leben, bevor der rasche Zeiger auch schon wieder auf Mitternacht steht.

Vielleicht sind es die Künstlernaturen, denen ein Geschick es nimmer erlaubt, ein Dasein zu leben; eine hohe und doch so elende Gewalt treibt sie, viele, viele Schicksale aus sich rauschen zu hören; an der Unzulänglichkeit, die die Natur ihnen als ihren Kreaturen ja doch auch vorgeschrieben hat, büßen sie schließlich irgendwie die Vermessenheit, mit anderen Augen sehen zu wollen als mit denen, die eigentlich nur eine unpersönliche Pflicht sehen sollten: Geburt – Hochzeit – Tod!

Kaum noch auf der Höhe des Lebens sitze ich hier in einem Grabe. Dürfte ich dennoch mit jenen quälenden Sätzen grübeln, die alle ihr ›hätte‹ und ›würde‹ in das Leben tragen und sich nur selber elend machen? Wenn das wäre, jenes hätte und jenes nicht, ja wenn, wenn, wenn – an diesen ›wenn‹ vergessen wir die müde und doch einzige Wahrheit, daß nur ein Leben ist und nur so ist, wie es war; daß alle ›wenn‹ und ›würden‹ die erfundene, hoffnungslose Sehnsucht unseres engen Geistes sind. Ein Fluch hat uns getroffen, das Ich außer uns widergespiegelt zu wähnen, während wir von dem Draußen doch nur Worte haben, leere Töne, die durch die unausdenkbaren Siebe unserer Empfindung gegangen sein mußten und keine erfassende Bedeutung an dem Wahren mehr haben. Schließlich geht auch dieses eine Leben hin, mit ihm die Welt, die dann für diesen einen auch niemals war!

Es kann einem Krüppel nichts nützen, das Wenn seiner Gesundheit zu phantasieren, einem Gefangenen keinen Trost geben, dem Wenn seiner Tat nachzuhängen. Arm geboren und reich geworden, reich geboren und in Armut gestorben, Menschentod in allen Lebensjahren, Krankheit, Not, Krieg, Glück, Haß und Liebe – überall steht ein Weg vor jedem Leben und läuft dem anderen ewig, ewig nebenher. Nutzlos sind Neid und Scheelsucht, nutzloser die Wünsche, die um vergangene oder kommende Zeitalter greifen. Ein Weg ist gewesen im Leben und nicht Reue noch Scham noch Freude können an den Kerkerstäben unserer engen Gefühlswelt rütteln.

Wohl dem, der die beste Stunde seines Daseins erkannt hat!

Ihn dürfte kein müder Lebensglaube feige machen, daß er den Dolch wieder fallen läßt, den er aus dieser Erkenntnis an seine Brust gesetzt hat. Der ist nicht feig, der ein Leid nicht ertragen kann; denn es mag größer gewesen sein, als die anderen es ahnen. Wohl dem, der die Kraft hat, aus dem herrlichsten Sonnenlichte für immer zu scheiden, statt in neue Schatten zu versinken, wähnend, es könne eine Sonne noch ein zweites Mal in ein Leben leuchten.

Ich selber habe die Kraft nicht gehabt …

Draußen vor der Stadt, wo die vielen Kreuze stehen und der alte Efeu sich über die eisernen Gitter schlingt, dort könnte ich jetzt schlafen und träumen; Luke Gröner und Hanne Borg würden vielleicht droben im Licht an meinem Platze vorübergehen und Hanne hätte gewiß rote Rosen in Händen. Ich hätte keine bitteren Gedanken und kein Weh. Denn ich könnte nur mehr eines träumen, das Glück, das größer war als meine Ehre, meine Treue, mein Leben.

Und wenn heute ein Engel zu mir ins Zimmerchen träte und sagte: ›Du junger Mann, was sitzest du im Blühen deiner Jahre unter Irren? Sieh her, hier halte ich groß und ahnungsreich dein ganzes neues Leben! Du sollst mir nur das winzige Stückchen dafür geben, das du Glück genannt hast … ‹, ich würde traurig lächeln und dem Engelein danken und gäbe doch noch einmal alle Ehre, alle Treue, alles Leben für jene kurzen Tage hin.

Meine Seele hat ihre Buße geweint und geklagt – ist Eden mir ewig verschlossen?

Glück und Leid halten sich in allen Welten immer die Waage. Darum auch mußte für solches Glück das gräßlichste Weh über mir sein.

Luke, Luke, wenn dein Tod auf meinem Gewissen lastet, klage auch jene Mächte an, die die Bahnen der Menschenleben voreinst in den Urweltstein gegraben haben! Nenne mich einen Dieb, einen Mörder, einen treulosen Wortbrecher, ich liege starr zu deinen Füßen und flehe dein Mitleid über mich.

Um mein Glück aber kann ich keine Reue haben.

Es kommt kein Engel, der mir mein Leben wiedergäbe, es kommt auch kein Wort mehr aus Lukes Mund, das meinem Geständnisse Verzeihung böte. Es ist zu spät. Dunkle Schatten gehen in meiner Kammer hin und her und wollen ihr Grausen auf mich werfen. Es ist Luke nicht und nicht Hanne Borg. Was wollt ihr also, ihr gespenstigen Beweglichkeiten, was soll euer lautloser Tanz zu meinem machtlosen Gedenken? Könnt ihr Hanne Borg rufen? Oder könnt ihr die Sonne scheinen machen, die damals geleuchtet hat?

Ein einziger Weg geht vor jedem Leben. Meiner hat ins Irrenhaus geführt und ein zeitloses Auge hätte dieses Ziel schon vor dreißig Jahren erfaßt oder vor tausend. Und als Hanne Borg sich vielleicht einmal über Rosen beugte, die ich ihr gebracht, war in den Sternen irgendwo keine Frage mehr, ob sie die Blätter dieser Rosen noch könne fallen sehen.

Wohl dem, dessen Weg über ein so sonniges Stück gegangen ist wie meiner!

 

Im prangenden Herbste hat Hanne Borgs und mein Glück begonnen. So glücklich kann eines neben dem andern sich ohne Wahrheit nicht wähnen. Klingende Fäden spannten von Seele zu Seele, was mein Auge sah, fühlte ihr Herz, was ihr Empfinden zitterte, war in meiner Brust. Es kamen die Wochen reinsten Glückes.

Wir – ich sollte nicht ›wir‹ sagen brauchen, sondern Hanne-ich oder ich-Hanne oder Eins-Hanne-Mario, wohl auch nur Hanne oder nur ich, es wäre immer dasselbe – wir hatten bald den Wunsch, einen Platz dieser Erde nur für uns zu haben und dahin die ganze Welt unserer Zweisamkeit zu bauen. An der Stadtgrenze draußen, hart am Walde, stand das Häuschen, darin uns eine alte, einsame Frau lächelnd ein Dachstübchen einräumte, vor dessen schmalen Fenstern auch jetzt im Herbste noch eine leuchtende Reihe wohlgepflegter Geranien stand. Dort hinauf durften wir nun, wann immer es unser Wunsch war, wie in ein trautes Daheim schlüpfen und hinter den nickenden Fensterblumen, unter dem schiefen, sauber getünchten Dache und zwischen dem altmodischen Hausrat dieser Stube die Welt draußen in Stücke gehen sehen und eine neue, große Welt, die unsere, aus den unbeweinten Trümmern der alten erschaffen.

Ich weiß noch, wie ich das erste Mal vorher heimlich das Kämmerchen in eine Rosenlaube verwandelt hatte. Das war ein duftendes Blühen rotroter Rosen und Hanne hatte jede einzelne mit weichen Fingern streicheln müssen und mich bei jeder einzelnen so angeblickt, als wäre ich der Meister, der solche Feengebilde schaffen könne. Ich stand beim Fenster und sah zu ihr hin. Sie war ja selber wie ein Kind des Blumenreiches und es waren ihre Gespielinnen aus Märchennächten, die sie in halber Erinnerung grüßte. Blieb ich da nicht nebenher wie ein Tor aus einer läppisch dreisten Welt? Bis sie zu mir trat und ihren Arm um meinen Nacken legte:

»Das hast du für mich ersonnen, Mario! Du bist so gut!«

Dann war sie wieder bei den Blumen und schaute sinnend bald in diese, bald in jene Blüte.

»Sie duften so wunderbar, weil zwei Menschen sich lieb haben und keine Frage an die Zeit stellen. Gelt, Mario,« fuhr sie fort, ohne ihr Auge aufzuheben, »unser Gott hat keinen Lohn noch Tadel bereit, wenn wir nimmer zu jenen Götzen beten, die die anderen feig um ihre Traditionen stellen. Ein einzig Göttliches kann nur sein, denn nur eines hat keine Werte aus Zeit und Raum geliehen: Die Schönheit. Drum muß unsere Liebe nur schön sein, Mario!«

Der Blick von unserem Fenster ging just noch am Waldesrande vorbei über das Tal gegen Sonnenuntergang nach den fernen Höhenzügen hinüber, die in weitem Bogen von drei Seiten her unsere Stadt einschlossen. Ihre Gipfel waren schon in das schimmernde Weiß des Winters gekleidet und gerade jetzt hob die tiefe Sonne glühend und klar die weißstrahlenden Berge aus dem Firmament. Das war aber so zauberhaft schön, daß Hanne nun leise zu mir heranschlich und mit verhaltenem Atem dort hinübersah, als könne ein nüchterner Laut des Lebens dieses schlechthin Schöne zerstören. Erst als auch die letzten Strahlen verloschen waren, hob sie ihren Blick zu mir empor und ich konnte in dem anbrechenden Dämmerlicht darin noch lesen, daß ihr Schauen ein Gebet gewesen sei – für mich.

Damals schwur ich, dieses Weib vom Tag zum Tage mehr zu lieben, so sehr, daß aller Harm eines Vorwurfes mit der Zeit entfallen müßte.

Ich wußte wohl nicht, daß der junge Trieb meiner Schuld die ersten Zweige aus seiner Rinde sprengte und langsam, langsam zum Himmel wuchs.

Ein andermal wieder, da wir eben von einem Spaziergange heimgekommen waren, saß ich mit meinem Pfeifchen auf unserem schmalen Diwan, während Hanne bunte Blätter, die sie im Gehen von Herbststräuchern abgebrochen hatte, mit viel Sinn und Verständnis in unsere ärmlichen Vasen ordnete. Sie verstand es vorzüglich, mit den einfachsten Mitteln unser kleines Heim so wohnlich und heimelig zu machen, wie man es dieser schiefen Kammer nimmer hätte zutrauen mögen.

»Du hast es ja gerne, Mario, wenn es traulich und heimatlich um uns ist!«

Ich aber mußte daran denken, welche unendliche Quelle guter und friedlicher Gefühle von Stunde zu Stunde mehr in mein schwankendes Gemüt kamen, je inniger ich mich an Hanne aufrichten konnte. Und ich dachte zugleich, daß wir nie ein Wort über kommende Zeiten gesprochen hatten, kaum über kommende Tage. Da fühlte ich heimlich einen Stich im Herzen und ich sah sekundenlang Lukes Augen vor mir, wie er mich damals so traurig angesehen hatte. Gleich aber strömte wieder die ganze Glückseligkeit um Hanne durch meine Brust und ein schrecklicher Gedanke nistete sich in mein Hirn: wie leer, wie entsetzlich leer mein Leben hätte bleiben müssen ohne sie.

»Hanne,« sagte ich und sie schaute ein wenig erschrocken um, denn sie konnte die verborgensten Stimmungen aus meinem Wortklange fühlen, »Hanne, du bleibst bei mir und haltest fest meine Hand, gelt? Du kannst nicht weggehen und unser Glück vergessen und in anderen Welten dich wiedersuchen?«

»Mario, was hast du für unsinnige Grübeleien! Ich kann gar nicht einmal denken, daß ich glücklich sei, ich bin einfach irgend etwas, das ist unvergänglich und unsagbar.«

»Ja, Hanne, und werden wir denn immer so beisammenbleiben können?«

Da kam sie zu mir her, legte die Hand auf meine Haare und sah zu mir herab. Ihre Augen waren ein Rätsel, aber eines, wie es die Sterne sind, unnennbar sehnsüchtig und doch urewige Gedanken in demjenigen erweckend, der sie zu schauen versteht.

»Mario, ›immer‹ ist ein häßliches Wort, weil es ein mögliches Gegenteil in sich trägt und wie ein Versprechen klingt. Kann man den etwas Seiendes versprechen? Und kann unsere Liebe unter dem Wandel der Zeiten liegen?

Mein Leben war wie ein gefrorener Bach. Einer kam und zerschlug das Eis, nun rauscht der Bach immer, immerfort und spiegelt das Bild des einen, wie er sich darüberbeugt.«

»Warum sagtest du nicht: ›solange er sich –‹«

»Mario, Mario, was hast du für dumme Grübeleien!«

Sie lachte nun hell und fröhlich und dies schmerzte mich mehr um mein niedriges Wort, als wenn sie erschrocken wäre; so aber konnte sie den Gedanken gar nicht erfassen, der in meinem schlechten Einfall lag, und ich fühlte einen Augenblick lang, wie hoch sie über mir stand.

Selten nur dachte ich in jenen Tagen an meine verworrene Lebenslage und daß ich eigentlich so harmlos und eigenwillig in den Tag hineinlebte, indessen doch mein letztes Geld zu Ende ging. Aber es war mir furchtbar, diesen Alltagskram und den ganzen Schmutz, den ich an Geldnöten immer so eklig spürte, in unsere fremde Welt zu tragen. Ich konnte nie recht umgehen mit dieser häßlichen Menschenerfindung, ich konnte einem Schacherjuden ein Übergeld hinwerfen, nur um mir ein Feilschen zu ersparen; ich hatte kein Maß und keine Berechnung für diese widerwärtigen Papiere als die, sie in der Tasche zu fühlen oder nicht. Ich war imstande, eine unsinnige Summe wegzuwerfen und dann wieder tagelang von Brot und Wasser zu leben. Nichts schleicht zerstörender, zerfressender auch an das lichteste Dasein heran als dieser Kampf und dieser Zank um das Geld.

Bisweilen legte es sich aber doch wie ein Druck auf mich, zumal ich immer deutlicher wenigstens die Äußerlichkeit unseres Lebens davon abhängig sah. Dann war etwas wie Sorge um mich, aber elendiglich und ekelhaft. Ich sprach aber nie davon.

Trotzdem mußte Hanne mitunter etwas gemerkt haben, wiewohl wir in jenen besten Tagen während unserer kargen Stunden weder Sinn noch Wille zu solchen Gedanken hatten. Sie nahm dann meine Hand und sagte etwa:

»Du sollst keinen Sorgen nachhängen, Mario! Wenn sie da sind, dann bringe sie zu mir und wir teilen sie uns redlich, daß jedes ein Stück zu tragen hat.«

Da war's auch immer fort und ich sah nur unsere Welt und ihre Sonne und konnte nimmer an allen müden Harm eines Alletage denken.

Das war sicher nicht gut. Aber schließlich war später dann doch alles gleichgültig und ohne Belang.

 

Einmal war ich ein wenig krank. Ich hatte wieder so einen Druck um die Schläfen und einen stechenden Schmerz knapp über dem Nacken. Ich wollte immer auf, auf und zu Hanne eilen, aber es waren bleiche Hände um mich, die mich mit Gewalt an das Bett festhielten, so sehr ich mich auch wehrte. Das mußte aber viele Stunden gedauert haben, denn plötzlich stand Hanne neben mir und blickte voll Besorgnis auf mich nieder. Ich hatte sie nicht verständigt und es war auch keine Türe gegangen; ich glaube, sie war sogar versperrt. Ihre Liebe war eben größer als alle eure dummen Gesetze der Schwere und Körperheit. Hanne stand neben mir und ich frug nicht weiter. Nun waren auch keine Hände mehr, mich zu halten und der Schmerz in den Schläfen hatte unter Hannes lieber Berührung sofort aufgehört.

»Was hast du, Mario, sag', was hast du?«

Später erzählte sie mir einmal, meine Hausfrau habe sie geholt, weil ich wie besinnungslos im Bette gelegen hätte und immer nach ihr geschrien habe. Das wollte meine liebe Hanne mir vordichten, aus Scham, um die Gewalt ihrer Liebe nicht zu entblößen. Wie hätte ich besinnungslos sein können, da ich doch deutlich diese bleichen, knochenlosen Hände wie flackernde Flammen um mich gesehen hatte und ich mich wie ein Toller wehrte?

Nun aber war ich froh und still durch ihr Hiersein, daß ich mich fast freute, ein wenig krank zu sein und ihre sorgende Teilnahme so recht innig genießen zu können. Ich dachte, wie schön es wäre, wenn ich jetzt im Sterben läge und nur die letzten lichten Stunden noch durch ihren Kummer hindurch weich durchlebte. Sie würde wohl auch so über mich gebeugt stehen und mit einem bangen Zittern um die Mundwinkel alle Kraft suchen, mir zuzulächeln; aber Tränen stünden in ihren Augen, Tränen und Schmerz. Denn sie hat mich ja so unendlich lieb.

Das war friedlich, so unendlich friedlich …

»Hanne,« flüsterte ich und führte ihre Hand wieder an meine Stirne, denn der Schmerz drohte wiederzukommen, »Hanne, ich glaube nun, es wäre schön, wenn ich sterben könnte in deiner Nähe –«

Sie lachte jetzt wirklich ein wenig und strich immer wieder durch mein Haar. Mir war aber plötzlich so ernst und traurig und eine heiße Angst vor irgend etwas Grauenhaftem stieg in mir empor.

»Hanne, Hanne, ich weiß es nun, es wäre so sehr besser, wenn ich jetzt sterben könnte, heute noch, da du mir so nahe bist, so nahe, so lieb wie noch nie … «

Der Weg, der Weg! Welche furchtbare Macht muß ihn zeichnen und um ihn wissen, und bringt es dennoch dazu, ihn an den einzigen Stellen vorüberzuleiten, wo ein reines Glück einer irren Seele Trost und Rettung wäre?

Wenn alle Klippen da sind, um unseren Seelenadel zu prüfen, wahrlich, dann solltet ihr den machtlosen Gemütern mehr Erbarmen geben.

Warum habe ich damals nicht wirklich sterben können?

Hanne aber hatte ihren Arm unter meinen Nacken geschoben und küßte mich leicht auf die Stirne. Zugleich wußte ich, daß ich gar nicht krank sei und es eine Lächerlichkeit bedeute, im Bette zu liegen, statt draußen umherzugehen oder in unsere Mansarde zu eilen. Nur weil Hanne mich so dringend bat und mir versprach, recht lange ganz dicht an meinem Lager sitzen zu bleiben, tat ich ihr den Gefallen, nicht aufzustehen. Ich weiß auch nicht, wie lange es dann gedauert hat, ich glaube, es ist langsam immer dunkler und dunkler geworden und nur um Hannes Gestalt floß ein handbreiter Strahlenkranz, so wie damals im Walde, als die Sterne fielen.

Dann war nichts mehr. Ich erwachte wie immer gesund und frisch an einem hellen Morgen, Hanne war nicht da, ich fürchtete fast schon, es sei alles einer von meinen oft so lebhaften Träumen gewesen – doch auf dem Kästchen neben dem Bette lag eine blutrote Rose und ein kleiner Zettel daneben mit ihrer Schrift: ›Guten Morgen!‹

 

Wenn mir der Arzt hier versichern könnte, ich müsse noch dreißig Jahre leben, und wenn er mir viel, viel Papier brächte und Tinte, ich könnte doch nimmer mit dem Erzählen von Hanne Borgs und meinem Glücke fertig werden. Auf Spaziergängen morgens, nachmittags, auch nachts, auf einer oder der anderen Wanderfahrt, die wir über einen Tag in die näheren Berge ausdehnten, in unserem kleinen, heimlichen Kämmerchen, in tausend gesprochenen und ungesprochenen Worten, oft Gebärden nur; immer größer, immer gewaltiger und doch auch wieder immer neu wuchs unsere Liebe in die Sterne hinein. In tausend kleinen und kleinsten Zügen, die ich mit heimlicher Freude an Hannes Seele ersah, erkannte ich, mit welch ungeheurer Macht und Reinheit ihr ganzes Wesen sich in mich verlor und ich wurde gut und edel an ihrer Liebe. Mein irres, schwankendes Gefühl schien für immer gefestigt, meine früher oft so phantastischen und unlogischen Sprünge von Meinung zu Meinung, von Glaube zu Glaube, hatten keinen Boden mehr und ich brauchte nur Ihre linde Hand auf einer Wunde fühlen, und die ganze Tiefe meiner Liebe durchbrauste wie eine gewaltige Weltorgel meine Seele. Der Druck um die Schläfen, darunter ich früher so oft gelitten, hatte aufgehört; Heimat, Friede und Glück strahlte der sonnige Herbst um uns aus, es war nichts, nichts auf der weiten Welt, dessen Schönes und Reiches nicht auch unmittelbar in unseren Herzen mitgeklungen hätte. Immer mehr wurde mir ihre Liebe bewußt. So sehr hat sicherlich nie ein Weib im Unbewußten und Ungewollten die ganze urewige Macht einer Liebe geben können wie Hanne Borg. So rein, so hingebend rein und kindlich hat sicherlich nie ein Weib einem Manne gehören können, wie Hanne Borg mir gehörte. Eine solche tiefe, wirkliche Reife hat gewiß nie eine Frau aus ihrer Liebe erfunden wie Hanne Borg. In jedem Worte, in jedem Gedanken, in jeder noch so kleinen Handlung war ich, Mario Hetting, aber der Mario, den sie mit ihrer hohen Gewalt erst geläutert, emporgezogen, geschaffen hatte. Wenn ich sie schlafend sah, dann lag immer ein so trotziger Zug um ihren Kindermund, als stünde die ganze Welt feindselig ihrer Liebe gegenüber und sie fühle sich dennoch groß und stark genug, dieser und aller Welt ihr Glück entgegenzuhalten: Seht, das bin ich, Hanne Borg, ein unschuldiges Kind, ein glutendes Weib dem Besten aller Menschen! Ihre dunkle Lockenfülle lag wirr über die weißen Kissen, ihre kleine Hand hatte sie fest zu einer Faust geballt unter das Kinn geschoben. So schlief sie, meinen Schlaf schlief sie, so wie sie wachend mein Leben lebte.

Hanne Borg, Hanne, Hanne! Sie haben doch recht, wenn sie sagen, ich sei irre! Denn ich kann dies alles ruhig hinschreiben, ein Tausendstel erst meines Deingedenkens, kann die Bilder jener Tage vor mir erstehen lassen, kann dich sehen, dich Hanne, wie du dermalen warst – und sterbe nicht. Müßte ich nicht die Fingernägel in meine zerweinten Augenhöhlen kratzen, müßte den Kopf verzweifelnd an die kalten Eisenkanten hämmern? Mein Herz ist tot und leer und verfault. Sie tun recht, mich irre zu heißen.

 

Es ist nie ein wenn noch so kleiner Riß zwischen uns gewesen. Ich erinnere mich nur, daß einmal ein Schatten in mir war, es war dumm und kindisch von mir und sie hat es nie gewußt; sie hätte mich auch ausgelacht.

Und doch hat es mich viele Tage lang, viele Nächte gequält und ist immer wie ein Rätsel vor mir gestanden, dessen Lösung mir fremd wäre, weil ich den Sinn seiner Worte nicht fassen könne. Es liegt ja immer ein harter Egoismus im Empfinden des Mannes; und wenn ich der sprunghaften, von Stimmungen und dem Glauben an Stimmungen beeinflußten leeren Erlebnisse gedenke, in denen ich das Leben als Leben zu nehmen mir eingeredet hatte und die nichts waren als ein nie erfülltes Suchen der Unbefriedigtheit, wie konnte ich dann eine so kleinliche Qual an etwas hängen, das so gänzlich außer mir lag und außer der Welt, in der wir damals lebten?

Aber es hat lange gedauert, bis ich es überwunden. Und gerade in der häßlichsten Stunde meines Lebens hat es mit tückischer Gewalt in mir aufgeschrien – hat mein Leben und alles, alles zerstört. Hätte sie gerechtet und gerichtet, ihr Spruch hätte wie eine drohende Flamme klagend über meinem Haupte stehen müssen. Und doch war es anders; ich wußte, daß mein ganzes Leben ein Scheingebilde, ein Unfriede gewesen war, bis ich sie an meinem Wege stehen sah. Ich wußte um den irren Glauben an ein Glück, das immer erfaßt sein wollte und immer leer durch meine Seele glitt, wenn ich neuerdings einem noch irreren Glauben mich verlor.

Wir begegneten Herta, meiner Wirtin armes Kind, auf der schmalen Gehbrücke am Kai. Ich grüßte und blieb stehen, denn das Kind sah blaß aus und blickte so sehnsüchtig in das Wasser hinab.

»Nun, Fräulein Herta, jetzt habe ich Sie so lange schon nicht gesehen, Sie sind wohl außer Hause?«

Herta sah mit einem scheuen Blick über Hanne hin und dann auf mich; das war wie eine Bitte, sie zu schonen.

Wäre der alte Kerl jetzt hiehergekommen, ich hätte ihn über die Brücke hinunter in die Wellen geschleudert. Bei Gott.

»Ich arbeite den ganzen Tag dort drüben in dem Modegeschäft, Herr Kommissär.«

Wieder streifte ihr Blick die Frau an meiner Seite; es war ein so merkwürdig versunkener Ausdruck drinnen, ein Mitleid, ein Verstehensuchen, als müsse dieses Kind die ganze schwere des Frauengeschickes unserer verlogenen Zeit erkennen und ertragen.

Oder war es die tiefste Sehnsucht des Herzens, die Sehnsucht nach dem Frieden innerer Reinheit?

Ganz unvermittelt sagte sie: »Sie müssen sehr glücklich sein, gnädige Frau! Daß Sie es nur immer bleiben mögen!«

Dabei wurde sie dunkelrot und lief eilends über den Steg hinüber und in die winkeligen Kaigassen hinein.

Hanne Borg vermochte sich die Szene nicht recht zu erklären und sah lächelnd zu mir her. Ich erzählte ihr in knappen Worten die alltägliche Geschichte dieses Mädchens, verschwieg aber wohlweislich Dollingers Namen und die angemaßte Rolle, die ich zwecklos dabei gespielt.

Hanne wurde aber ganz nachdenklich gestimmt und sagte lange Zeit kein Wort. Endlich, als wir schon draußen in der Allee gegen unser Heim kamen, drückte sie meinen Arm fest an sich und suchte einen Ausdruck für ein so harmloses Geständnis:

»Sieh an, Mario, was für eine Wüste die berechnende Augenblickssehnsucht eines Mannes in einem so armen Ding anrichten kann. Diese Herta wird ein Erleben verwinden und so Gott will, einen rechten Weg in ihre Lebensaufgabe finden – oder verkümmern. Tausend andere können das nimmermehr, und ihr, ihr Männer seid es dann, die ihr in eurem zweiten Leben diese Mädchen nehmt und wegwerft, wenn ihr wieder an das Tageslicht eures ersten Lebens steigt. Dort habt ihr dann eure erfahrenen Urteile über die Schlechtigkeit der Frauen –«

Hanne hatte sich in Eifer geredet und ich mochte sie ein wenig erstaunt angeblickt haben, denn sie schob meinen Arm noch fester an sich und fuhr mit leiserer Stimme fort:

»Ja, Marr, ich bin sehr glücklich, du weißt es ja. Und ich wäre es nicht minder, wenn eine noch so hart empfundene Enttäuschung über meinem Leben gelegen hätte. Leider war es nahe daran. Sei nicht böse, Mario, daß ich dir nie davon erzählt habe. Auch mir wäre es beinahe so ergangen wie deiner kleinen Freundin. Es ist nun fast drei Jahre her, da vermeinte ich, einen Mann zu lieben – oh, es war eine Zeit, wo meine Tage wie ein verhaltener Traum hinliefen und meine Nächte voll von wilden Phantasien der Wirklichkeit waren. Er war lieb und freundlich zu mir und hob mit guten Worten mein ganzes Wesen aus einem Schlummer in ein, wie ich wähnte, strahlendes Erwachen hinein. Ich wußte es ja nicht, daß diese Freundlichkeit ein billiges Manöver war, daß sein Streicheln ein lüsternes Greifen bedeutete und seine Worte die Lüge waren, mit der er mich, und vielleicht auch sich selber, dem Augenblicke und nur diesem zu gewinnen trachtete. Es war ein mit aller Berechnung vertrauter Mann, ein läppisches Ding herumzukriegen – nicht besser, nicht schlechter hoffentlich, als die vielen anderen, solange sie diesem Schemen der Abenteuer nachjagen. Was er aber in mir weckte und was die Erkenntnis dann in mir zerstörte, Mario, da liegt ein Elend dazwischen, das ihr nie, nie verstehen könnt. Ich lächle heute darüber, nicht nur, weil ich so glücklich bin; ich lächelte auch schon, bevor ich dich kannte, denn ich hatte nichts zu beklagen. Aber wieviele sind, die das Lächeln verlernen mußten und sich zwingen zu lachen, immerfort zu lachen?«

Hanne schwieg nun; sie schaute vor sich hin, wie ein erwachsener Mensch etwa, der an den Kummer denkt, den ein zerbrochenes Spielzeug einmal in Kinderjahren durch das kleine Seelchen geworfen. Welches Recht aber sollte ich haben, dort in ihrem Leben stehen zu wollen, wo es noch gar nicht mir gehört hatte?

Ich dachte auch nicht weiter daran und alles war bald wieder vergessen. Als ich jedoch abends allein in meinem Zimmer war und in die Nacht starrte, sah ich plötzlich Hanne vor mir, wie ihrem Herzen das Glück einer Liebe erwachte und sich dasselbe Herz in Qualen einer Enttäuschung wand. Immer neu, in tausend Szenen stiegen unmögliche Bilder in mir auf, meine Brust durchtobte eine verbissene Ohnmacht gegen ein Glück, ein Leid in Hannes Leben, über das ich keine Gewalt gehabt hatte. Ich sah einen Mann vor mir, wie er um Hanne girrte und sah ihre strahlenden Augen; ich hörte seine heißen Worte an ihrem Ohr flüstern und fühlte ihr Blut rauschen, ihre Hände beben. Ich schlug die Faust gegen die Stirne und schrie mir die Lächerlichkeit meines Wahnes vor; umsonst. Immer wieder sah ich Hanne und einen Unbekannten, immer wieder litt ich ihr Leid um ein Zerstörtes. Wie, wenn der erste Traum ihrer Liebe nicht sterben konnte und sie flüchtig, schattenhaft einmal zwei Bilder sich verwischen sähe, indes sie in meiner Liebe sich wähnte? Zugleich brannte die Schlechtigkeit meines Zweifels wie zehrendes Feuer in meiner Seele; ich wußte die Unmöglichkeit meiner Phantasmen und wurde sie doch nicht los. Ich warf mich hin und her, bohrte das Gesicht in die Kissen und die Fäuste in die Augenhöhlen. Umsonst. Zwei marternde Fragen flogen in mir auf und hatten keine Erlösung: Gilt ihr das jetzige Glück, wenn noch so unbewußt, nur wie ein Schatten des verlorenen? Haftet sich ihr das Verlorene wie ein Traum in ihr jetziges Glück? Wieder und wieder sah ich sie vor mir, die Augen leer, den Blick starr, die Hand über das Herz gepreßt. Leid, Leid um eine Liebe …

Ich dachte nicht daran, daß ich mein Glück nicht haben könnte, wenn sie damals wirklich geliebt hätte. Hanne Borg kann ja nur einmal lieben. Ich wußte aber keine Befreiung.

Ein irrsinniger Haß gegen jenen Mann stieg in mir empor. Der Mann durfte nicht neben uns leben. Ich sprang auf und wühlte die Lade nach meinem Revolver durch. Zugleich wurde mir wieder der Wahnwitz meiner Gedanken klar und ich schleuderte das Eisen unter den Tisch. Ich wußte ja nicht einmal seinen Namen! Und wenn ich sie fragen würde, wenn ihre erstaunten Augen den verblendeten Haß meiner Ungerechtigkeit sähen, sie müßte gekränkt sein, tief gekränkt über meine unverständlichen Gedankenwege! Ich erkannte das Trügerische meiner Phantasie. Und doch gab es keine Möglichkeit, ihr zu entrinnen. Ich warf mich nieder, ich rannte hin und her, ich zerwühlte mein Bett und fand keinen Schlaf.

Und dies war tagelang, nächtelang. Nur wenn ich mit ihr beisammen war, dann schwiegen diese verbitterten Stimmen und wenn ich mir auch tausendmal vorgenommen hatte, sie um Namen und jede Kleinigkeit jenes Hassenswerten zu fragen, in ihrer Nähe kam es mir lächerlich vor und ich verstand mich selber kaum. Dennoch kehrte alles mit erneuter Wut wieder, sobald ich allein war. Haß, wildester Haß gegen ein Phantom. Ich wußte damals erst, was Hassen heißt, damals, als ich zuerst in meinem Leben erfahren hatte, was Liebe sei.

Allmählich nur legten sich die ärgsten Ausbrüche meiner Ungerechtigkeit und ich vermochte meine Nächte wieder in ruhigere Träume zu wiegen. Es war alles vielleicht nichts als eine schemenhafte Eifersucht – doch ich mußte es erzählen, um zu zeigen, daß mein wirres Gemüt so leicht sich an Phantasmen hängen konnte und sie so leicht auch wieder verwand.

Viel später dann habe ich erfahren, daß jener Mann auch Dollinger gewesen sei. Doch es hat mich ganz kalt gelassen und ich habe für ihn nichts weiter übrig gehabt, als ein bitteres Lachen um die Ironie des Schicksals.

 

Wochenlang dauerte der prachtvolle Herbst, und wenn auch die Bodennebel frühmorgens immer stärker und schwerer wurden, gegen Mittag riß allemal die Sonne die ersten Lücken in den weißen Schleier, saugte mit heißer Macht die Dünste empor und trieb die Widerspenstigen in ferne Täler hinein, wo sie ihre zerrissenen Fähnchen an die Felsen der Berge emporleckten. Gegen Abend aber war dann der Himmel von solch strahlender Reinheit, daß auch die fernsten Berge sich klar und kantig aus dem Blau der Weite heraushoben. Die Nächte waren kühl und rein, auch die kleinsten Sternchen flimmerten auf die Erde herab und die Milchstraße floß ruhig über die Samtkuppel der Nacht. Selten nur war es, daß nachmittags kurze Windböen hohe Wolken über den Himmel trieben und das rauschende Laub über die Wege flattern ließen; das war dann wie eine Mahnung, daß der trübselige Vorwinter doch noch kommen müsse, um so trüber und häßlicher vielleicht, je herrlicher nun die Natur ihre Todesfarben im Sonnenschein erglühen lasse.

Diese wundervollen Tage hatte Luke Gröner dazu benützt, um in seine geliebten Berge zu gehen und dort Kraft und Stolz für seine einsamen Gefühle zu suchen. Kaum drei Tage nach unserem denkwürdigen Beisammensein war er auf und davon; natürlich war er vorher noch zu mir gekommen, hatte mich inständig gebeten, mitzuhalten und mir tausend Gründe vorgezeigt, mich von der Stadt weg in die Berge zu locken. Bisher war ihm dies immer noch gelungen. Gerade damals aber, als ich ihm eigentlich keinen rechten Grund entgegenhalten konnte, mußte ich ihn allein ziehen lassen.

An der Türe hatte er sich noch umgewendet und die Worte waren ihm schwer von der Zunge gegangen: »Geh mit, Marr! Was willst du dich hier in der Stadt vergrübeln? Glaube mir, Marr, was zwischen uns vielleicht stehen könnte, das kann für unsere Freundschaft keine Bedeutung haben! Wir werden nicht 'mal dran denken! Komm mit, Marr!«

Der Gute hatte gemeint, unsere gemeinsame Neigung könnte sich drohend zwischen uns stellen; er hatte sich gewiß eingeredet, meine phantastische Gemütsart suche aus diesem Konflikte die Einsamkeit; nur deswegen hatte er sich überwinden können, an ein Thema zu klingen, über das er einmal gesprochen und an das er seiner Art nach ohne Grund nie wieder angekommen wäre.

Ich sah damals deutlich den tapferen, treuen Kampf in seinem Innern. Ich klammerte mich feige an das zarte Gefühlsgewebe, das er in mir zu ersehen glaubte und ließ ihn dabei.

Es war ja der Same aus meiner Schuld auch schon aufgegangen und eine Lüge mußte jede kommende mitreißen.

Er war weggefahren, allein. Und während er über die Berge hin wanderte und die Kraft und den Mut seiner Liebe erhärtete, im stillen vielleicht sogar daran dachte, daß mein flatterndes Gemüt gar bald die Augenblickssehnsucht würde überwunden haben und er dann den Freund nicht mehr auf dem Wege sähe, den er langsam und zäh schon betreten gehabt hatte – indessen trank ich das Glück eines Weibes, seines Weibes, denn er, Luke allein auf der ganzen Welt wäre dieser Liebe wert gewesen. Hanne gegenüber hatte ich seinen Namen niemals erwähnt; irgend etwas hatte mich stets davon abgehalten. Ich glaube, sie wußte gar nicht, daß wir bekannt und so nahe Freunde waren. Ich fürchtete vielleicht auch im Innersten, mein Wert könnte die leise Anbahnung nicht ertragen, von der er mir Erwähnung getan. Die feige Verleumdung und Verlogenheit meiner Handlungsweise überhaupt war mir aber in jenen goldenen Tagen gänzlich aus dem Bewußtsein entschwunden. Ich hatte es nicht etwa vergessen, nein, ich wußte gar nichts davon. Es war alles, als müßte es so sein und nicht anders.

Ein einziges Mal flog auch an mein Herz eine leise Mahnung. Das war, als ich eines Morgens einen dringenden Brief von Luke aus irgend einer Berghütte erhielt, darin er mich bat, zu ihm zu kommen.

›Marr, sei gescheit und fahre mir nach! Es ist so feenhaft schön hier und mir ist schrecklich einsam. Dir ja gewiß auch. Du vergrübelst dich sicherlich wieder einmal in unsinnige Dinge! ich hab' fast eine Angst, du könntest dich irgendwie verlieren. Ich bitte dich, sage es mir, wenn dir etwas in die Quere geht! Am besten, du packst dich sofort zusammen und kommst mit dem nächsten Zug. Hier werden wir beide ruhig und klar werden und unsere Treue wird erstarken, auch wenn ein scheinbarer Schatten zwischen uns lag. Es muß alles kommen, wie es bestimmt ist. Sei du aber gescheit und komm!‹

Ich las den Brief einmal, zweimal; draußen lag noch der Nebel vor den Häusern; Luke stand jetzt sicherlich längst im hellsten Sonnenlicht über dem Nebelmeer.

Ich sah ein Schlangentier aus einer Ecke mit triefendem Geifer um das Schlitzmaul. Es reckte sich langsam immer höher, näher und stierte mit gläsernem Blick auf mich her. Ich wußte, daß es das greuliche Ungeheuer war, das die Geschicke der Wankenden in seinen Giftkrallen zermalmt; ich wußte auch, daß das Ungeheuer für mich ein Schicksal trage. Ich hatte vor ihm weder Furcht noch Grauen; denn ein stärkerer Schmerz pochte an mein Gewissen und wollte keine Ruhe haben. Ich hielt den Brief in der Hand und meinte, einen Baum sich in die Höhe dehnen sehen, der wuchs wie grünes Leben und blieb doch dürr und kahl.

Ich knüllte das Papier hastig zusammen und warf es dem Gespenst in den züngelnden Rachen. Zugleich aber faßte mich eine Todesangst, ich fühlte kalten Schweiß an den Schläfen und ein erstickendes Röcheln in der Brust. Das Untier wuchs und wuchs und schob lautlos seinen schleimigen Körper auf mich zu. Es wurde finster um mich her, nur diese Augen glühten einen seltsamen Haß auf mich, eine Schadenfreude zugleich, ein irres Menschenkind nutzlos zu zertreten und andere Geschicke mit in einen häßlichen Abgrund zu zerren. Näher, näher – meine Finger wurden starr, in meinem Hirne tobten beißende Nadelstiche. Das war der Feueratem dieses Grauenwesens.

Ich schrie laut, laut schrie ich, ach so laut schrie ich in der entsetzlichen Angst eines Machtlosen. Dort – dort das Gespenst, das Geschick – – –

Dann verlor ich die Besinnung.

Ich mußte einige Stunden am Boden gelegen haben. Der Nebel war fort und draußen heller Sonnenschein. Ich dachte an Hanne. Dann wurde mir meine unerklärliche Lage bewußt und ich wollte mich besinnen. Dunkel, wie ein wirrer Traum stand das Erleben vor mir. Ich hatte doch geschrien, meinte ich; aber es war alles still und ruhig, die Türe unversperrt. Wie war es nur? Hätte mich meine Hausfrau nicht hören müssen?

Der Brief fiel mir ein. Es zuckte wieder in meinem Herzen, doch ich mußte an Hanne denken und hatte nur mehr ein unklares Gefühl, als hätte mich irgend etwas geschreckt. Ich sah ein Papierknäuel in einer Ecke liegen; ich stieß es mit dem Fuße unter den Schrank. Ich konnte keinen Gedanken und keine Erinnerung mehr fassen; denn es war so sonnig draußen und Hanne mußte jeden Augenblick drüben unter dem Brunnen stehen und winken.

Dunkel nur schwebte es mir vor, als habe in einem Briefe ein bitteres Geschick gestanden und ich würde machtlos an den Grenzen alles Wollens zerschellen. Ich dachte auch wieder daran, daß es ein Brief von Luke Gröner gewesen sei, von Freund Luke, den ich doch – – –

Dann winkte es drüben am Brunnen. Mein Schicksal war es wohl, mein lichtes, freundliches Schicksal: Hanne.

Es war ein stiller, besonders klarer Herbsttag geworden, der die Farben prächtig aus dem Walde löste und unendlich viele Berge aus dem Himmel hob. Es war sonnig, rein und schön.

Das war der Tag, an dem morgens Lukes Brief in meiner Hand lag und die finstere Schicksalsmacht mir ihren grausigen Boten gesandt hatte. Der Baum meiner Schuld war an diesem Tage jäh gewachsen, ich konnte nimmermehr dagegen ankämpfen. Hatte ich nicht geschrien gegen das Ungeheuer? Es ist stärker als ich, ist stärker gar als Luke …

An diesem Tage hat Hanne Borg mir auch mit glückseligem Lächeln gestanden, daß sie ein Kind von mir trage und nun erst ihr Glück endlos sei.

Ich kniete vor ihr und drückte meinen Kopf an ihre Brust. Ich wollte das glücklichste Schlagen ihres Mutterherzens erlauschen, ich wollte den Dank einer Sehnsucht in ihren Busen küssen. Sie strich wortlos und wie dankend an meine Stirne, als ob ich es sei, der das grenzenlose Glück spenden könne, während sie doch gab und immer nur gab.

»Jetzt kann nichts mehr zwischen uns treten, Marr; nun werden deine Augen zugleich meine sein und mein Blick wird aus deinem den Gottesglauben unseres Kindes uns entgegenleuchten. Mario, Mario, wie kann es nur sein, daß es immer noch größer und heller um uns wird?«

Ich konnte nicht sprechen. Mir brannte ein Schluchzen in der Kehle, das sich nicht befreien konnte. Ein Kind! Hannes und mein Kind, auf dem unsere doppelte Liebe ruhen würde wie ein Segen gegen alle Ungemach der Welt.

Lange, lange saßen wir beisammen und dachten nur daran, daß nun zugleich mit den blühenden Bäumen und den lachenden Sommerwiesen ein neues Leben an unserer Seite erblühen würde, dessen Freude uns Weh keine andere Heimat haben dürfe als unsere Liebe. Und Hanne schien aufmerksam in sich zu lauschen, als stünde ein Rätsel neu und schön in ihrem Dasein, für dessen tiefstes Empfinden sie nimmer eine Sprache finden würde.

So friedlich, so wunderbar heimlich war es um uns an jenem Abende; es kamen die Sterne langsam empor und wir hörten beide ihren ewigen, reinen Gesang …

Ja, die Sterne haben an jenem besten Abende über uns gesungen; es war das Lied der urewigen Harmonie, die in dem großen Weltall erklingen mochte und daran wir den Abend lang bewußt und frei unser Teil trugen.

Es kann eine Stunde im Leben die allerschönste sein. Vielleicht nicht einmal die glücklichste zugleich, nicht einmal die, da etwa unsere tiefsten Gefühle widerklingen könnten. Aber die reinste, beste, kann es sein, so unendlich weitab von allem Lärmen und Wogen des Lebens, so unendlich licht und klar über allem Zeitdünkel unseres gewöhnlichen Dahingehens, daß alle Schranken zwischen uns und dem großen Weben in der Natur zu fallen scheinen und wir wesenlos in das rauschende Meer des Ewigen hinübergleiten. In solcher Stunde hört das Ohr keinen Laut und das Auge steht keinen Strahl. Die Seele selbst ist Hören und Sehen, es sind die tiefen Verbindungen alles Daseins überhaupt, die sie mitschwingend erlauscht. Dann sind die Sterne nicht im Endlosen und die Zukunft rollt nicht in ein Gewesenes; dann ist der aufbrechende Blütenkelch eins mit dem Werden der ganzen Welt und das Auf und Nieder alles Geschehens steht stille wie das Gewebe eines zauberhaften Teppichs.

Eine solche Stunde war es, als Hanne und ich über das neue Leben träumten und unser Zweisein keine Schranke noch Ende hatte.

Wir wußten beide das Lied, das die Sterne sangen. Wir kannten nicht Tod, nicht Glück, nicht Untergang. Wir waren selber die Welt und ihr Sein, wir waren wie von Schwingen über einen Raum getragen, der in unsagbarer Harmonie uns das Innerste, das wesentlich Wesenlose offenbarte.

Es war über uns gekommen wie eine neue Macht. Vielleicht auch zitterte die Bangigkeit der hehrsten Stunde eines Lebens unbewußt mit.

Wir tranken diese Stunde wie die Erlösungsseligkeit alles möglichen und harrenden Leides, wie das Opfer, um das ein Leben gelebt und gestorben sein muß, wie den Eingang in das verlorene Land Eden.

Und die Sterne sangen uns ihr ewiges Lied …

 

An demselben Abende aber war es auch, daß ich später rastlos in meinem Zimmer auf und nieder ging, und, so sehr sich mein gehobenes Gefühl dagegen sträubte, nüchterne und kalte Gedanken um mich fliegen sah. Ich kam mir fast tüchtig vor und dennoch hatte ich Angst vor allen diesen kleinlichen und banalen Fragen, die heute mit einem Male aufstanden: Ich, ohne Stellung und Einkommen; sie, ein Mädchen in Diensten und eine werdende Mutter; Luke betrogen – doch ich dachte jetzt kalt und höhnisch daran, wie ich doch wohl hintenherum alles zum Unabänderlichen stempeln könnte. Wir müßten nun zusammenleben und es müsse für Brot und Kleidung gesorgt sein, auch um einen Namen für das arme Wurm. Ich staunte über mich selbst, wie praktisch und umsichtig ich denken könne. Zugleich wurde es so leer und tonlos in mir, ich fühlte eine unnennbare Bangigkeit vor mir selbst und allem Kommenden. Auch stieg der Druck des Blutes wieder heftig gegen meine Schläfen, so daß ich mich zeitweise kaum halten konnte.

Einen Augenblick lang, einen ganz winzigen Augenblick lang, aber dennoch deutlich und gewiß, konnte ich an Hanne denken wie an ein gleichgültiges Fremdes, konnte etwas wie eine Last über meinem Leben fühlen und das war das Kind, war Luke, die Sorgen und alles, alles, vor allem auch Hanne.

Es war nur ein winziger Augenblick, aber mein Herz schlug wie rasend und meine Hände zitterten: Jetzt, eben jetzt war ein Sprung in mein Bestes gekommen und nichts, nichts mehr konnte dies heilen. Wenn ich nun Hanne küssen würde, dann war es nur mehr, um diesen Sprung zu verkitten – aber der hellste Ton konnte nimmermehr erklingen.

Wozu aber auch diese zerstörenden Sorgen eines lächerlichen Alltags! Das mußte ja Müdigkeit und üble Gespinste zeitigen, wiewohl ich doch eben erst von den reinsten und wundersamsten Gefühlen meines Lebens getragen gewesen war! Daß ich überhaupt auch an dieses so nüchtern dachte, war schon falsch! Die Stunden nach einem Großen sind immer leer und klanglos, was aber leer und klanglos ist, hat in diesem kurzen Dasein keinen Wert! Also fort, fort! Niemand kann sich gegen die Zeit stemmen, niemand ein Geschehenes widerrufen. Sicherlich und unumstößlich ist ja nur das eine, daß alles über uns kommen werde und alles vergehen. Wozu die Ungeduld in das Jetzt werfen? Wozu in lächerlichen Sorgen das Beste fad und schal machen und die seligsten Gedanken zerstören?

Es blieb dennoch kalt und öde um mich und um meine Gedanken au Hanne, auch als ich längst ruhlos im Bette lag und mich zwang, das Übermaß der holden Stunde noch einmal wachzurufen. Die Freude war wie tot, das Glück wie ein fernes Land, das Lachen ohne Klang. Ich stand mitten in einem fremden Wald und hörte nur die Bäume von etwas rauschen, das ich selbst sollte erlebt haben und daran ich nun erstaunt vorüberginge, ohne zu verstehen.

Erst als die Traumfäden sich über meine Gedanken zu spinnen begannen und ich halb schlafend, halb bewußt, noch Wahrheit und Schein durcheinandermischte, stand Hanne Borg wieder ganz in meinem Herzen, ja, größer noch als je, denn auch eine Kindessehnsucht floß in meinen Schlaf hinüber.

 

Ich mußte diesmal zwei oder drei Tage mit dem Schreiben warten, denn es war zu ruhig draußen vor meinem Fenster. Es mußte erst ein Sturmwind kommen – denn auch damals ist just in der Nacht nach unserer Sternenstunde ein Sturm losgebrochen und der trübere Herbst ins Land gekommen. Er hat die Blätter von den Bäumen gerissen, hat sie hoch in die Luft gewirbelt und hart über den Boden hin viele Meilen weit getrieben; er hat schwere Wolkenmassen aus Westen über die Erde gejagt und mit dunklen Schleiern die Häupter der Berge verhüllt. Es ist auch ein Regen gekommen, der schnitt wie Nadeln durch die Luft und peitschte mit einem hellen, grausamen Ton gegen die Fensterscheiben; strich schräg bald von da, bald von dort in allen Himmelsrichtungen durch die Kälte und blieb als klebriger Kot in den düsteren Straßen liegen. Die Bäume ließen traurig die Zweige hängen und krochen in sich selbst zusammen; jetzt erst wußten sie, daß es ernst mit dem Sterben und die Sonne wohl für immer dahin sei. Auch die Menschen blickten alle muffig und griesgrämig drein und alle Fröhlichkeit schien verschwunden.

Kalter Regen und Sturmwind sind den Menschen gute Freunde; sie töten alle Begeisterung, wie ein heftiger Zahnschmerz das bitterste Seelenleid überschreien kann, sie heißen die Sehnsucht sich verkriechen. Sie geben dem nackten Dasein für die nackte Erkenntnis Raum: es steht sich eines für das andere und alles zusammen nicht dafür, denn in hundert Jahren sind wir alle tot.

Und es ist schon recht, daß heute der Wind an meinen blassen Fenstern rüttelt und der Wärter im Gang draußen friert. Ich kann das Bett, den Tisch, die kahlen Wände wie eine fremde Wohnung ansehen, ohne Interesse oder Kritik. Ich sehe alles Vergangene vor mir ausgebreitet und nehme darin wühlend lächelnd dies und jenes zwischen die Finger, als wären es Warenproben, die einen nichts angehen und die man nur im Vorbeigehen aus langer Weile befühlt.

Ich habe heute selber die Bitte vorgebracht, mich in den Garten zu führen, der mir doch sonst so verhaßt war. Erst staunten sie, dann willfahrten sie meinem Wunsche. Ich wollte wissen, ob auch in diesen trüben Tagen ein Hauch von Eden über die Mauern her wehen könne und freute mich im voraus schon an dem hämischen Gedanken, daß alles tot und kahl bleiben müsse. Der Wärter blieb im Hausflur stehen und hatte den Kragen hochgeschlagen. Ich aber schritt mit einer harmlosen Freudigkeit in das nasse Unwetter hinaus, denn alle unguten Träume und Gespenster waren heute sinnlos.

Also hinter diesen Mauern ist Eden gelegen, solange die Sonne scheint? Und ich hätte wirklich geschrien und getobt und meine Nägel an den Steinen zerrissen? Hahaha, das ist ja alles Wahnsinn, Unsinn, Irrsinn! Ich schritt die Mauer ab und wollte nach Eden suchen. Die erste Mauer entlang horchte ich in den Regen hinein: nichts. Die zweite ging ich entlang und horchte und lauschte nach den Stimmen von drüben: leer alles und lautlos. Auch an der dritten Mauer war es dasselbe und die vierte war das Haus. Kein Laut in der Luft als der eintönige Regen und der Wind, der die Blätter in die Ecken wirbelte. Ich ging rasch zu dem Baum in der Mitte und sah mich um; der Wärter stand im Torbogen und achtete auf weiter nichts. Rasch! Heute soll mir Gewißheit werden! Ich warf meine Jacke fort und kletterte hurtig an dem Baume hoch. Die Rinde war schlüpfrig und ohne Halt. Aber ich hatte mit einemmal Riesenkräfte und klebte an dem kahlen Stamme wie eine Ameise. Endlich war ich in der Krone. Aber der Baum war zu niedrig, um über die Mauer sehen zu können. Ich dachte auch gar nicht weiter daran, warum ich erst heraufgekommen, sondern setzte mich auf einen Ast und ließ den Regen über mich rinnen. Das war wunderschön und erfrischend, das ging so kühl und ruhig über mein brennendes Hirn. Die letzten Blätter raschelten um mich, flogen zu mir her und blieben an mir haften. Ich schaukelte leicht den Zweig, der mich trug, und hielt die Augen weit offen gegen den Regen hinauf, damit die Tropfen kühlend in meine heißen Augenhöhlen fallen mochten.

Eden war wirklich ganz und gar ohne Sinn und in mir weder Schmerz noch Klage. Wie liebe ich dich doch, kalter Regen! Komm immer stärker und heftiger, fülle diese kahlen Mauern mit deinem linden Elemente und laß deine Fluten mählich zu mir emporsteigen, bis ich selber darin versinke und das ewige Brennen verlöscht. Du plätscherst so friedlich in ein irres Gemüt, du kannst alles Weh oder Glück schal und farblos machen. Das ist so gut! Wenn schon so wenige Stunden sind, die uns in reiner Glückseligkeit tragen, warum sollen die Leidstunden Tage lang und Nächte durch an ein Leben fressen dürfen? Warum soll jede Minute des Glückes mit Jahren der Finsternis und Qual ausgewogen werden?

Komm, Regen, wiege mich ein, wieg' mich ein …

Sie haben mir natürlich diese stille Stunde mißgönnt. Sie haben mich heruntergeholt und fortgetragen. Wer es ist darob kein Ärger in mir, denn der kühle Regen hat mich friedvoll und abgeklärt gemacht und es ist nichts mehr, was mein Blut noch erhitzen könnte. Denke ich doch absichtlich fest und stark an Hanne oder an Luke und male mir diese und jene Bilder recht haarklein vor die Erinnerung. Ich sehe sie an, denke mir ein ›schön‹ oder ›ekelhaft‹ dabei und greife ruhig zu dem nächsten.

Dem Arzte erzählte ich heute, wie wohl ich mich fühle und er solle nicht böse sein, wenn ich ihn in den heißen Tagen sooft mit lächerlichen Bitten und unerfüllbaren Bitten betrübe. Er hat mich so eigentümlich angeschaut und leise den Kopf geschüttelt. Vielleicht fürchten sie, daß ich gesund würde und doch noch zum Richter gehen könne?

Mir wird jetzt alles gleichgültig. Ich vergesse fast, daß ich schreiben soll, um mich zu verklagen und um für Luke zu sprechen. Warum? Wer zweifelte denn je an Luke? Und daß sie meine Schuld nicht glauben wollten oder wenigstens so taten, um mich hier einsperren zu können, warum soll ich ihnen eigentlich die Freude machen und mein Dasein schwerer nehmen als es ist? Ich werde hier meine Jugend alt werden sehen und jahraus, jahrein dem Tode entgegenwarten. Es können noch zehn Jahre sein, vielleicht dreißig, vierzig. Wenn nur der stechende Schmerz im Nacken nicht so häufig käme oder wenigstens die wilde Sehnsucht nach den Gärten draußen jenseits der Mauern tot bliebe!

Es sollte nie, nie mehr zu regnen aufhören. Ich will heimlich beten darum, zu dem lieben Gott, den ich früher einmal gekannt habe. Damals war ich noch ein Kind, ich hatte manches zerbrochene Spielzeug nachts an das Fenster gestellt und ihn so sehr gebeten, er möchte es mir heilen. Er hat mich damals stets im Stiche gelassen, wohl weil ich nicht brav genug gewesen, so sagte Mutter wenigstens. Wenn ihm ein Kind schon nicht brav und gut genug ist, dann ist es wohl sehr, sehr schlimm mit allen Großen bestellt! –

Wo war ich aber nun mit Hanne Borg geblieben? Ja! Es war eine Sternenstunde gewesen und dann der fröstelige Regen gekommen. Das war kein guter Tag! Als ich morgens erwachte und das Wasser gegen die Scheiben trommeln hörte, blieb ich regungslos liegen und eine große Müdigkeit war in mir. Ich wollte gleich an Hanne denken und an unser Kind. Doch ich mußte solche Gedanken wieder fortwerfen, denn der Regen schlug gegen die Fenster und ich konnte Hanne nicht anders sehen als mit nassen, verklebten Haaren und mit schmutzigen Regenstrichen über den Wangen.

Langsam, langsam wurde ich mir bewußt, daß die Sternenstunde zu groß für mich gewesen sei, daß das Höher zum Höchsten gestiegen war und mein Herz die Kraft nicht hatte, seinen Sinn allmählich wieder bergab zu lenken. Es konnte nur jubeln oder weinen, konnte auch zerbrechen – aber es konnte keine Leere tragen, wenn ich es auch selber war, der die Leere darin erstehen ließ. Machtlos, von Grauen gepackt, sah ich nach der besten Stunde eine wenn noch so kurze, so doch rückgehende Zeit an mich kommen. Ich liebte Hanne wie nie zuvor. Es kam eine Lust an mich, diese Liebe zu quälen, um doch in etwas über den Alltag zu kommen; ich war sehr traurig darüber.

Diesmal brachte mir nach langer Zeit wieder einmal die kleine Herta den Morgenkaffee. Sie hatte ein wenig frischere Wangen als unlängst, doch in den Augen lag ein merkwürdiger Glanz von Begehren und Kampf.

»Na, Fräulein, sind Sie nicht mehr im Geschäft drüben?«

Sie schüttelte den Kopf und lachte ein wenig. Als sie mir das Brett auf das Nachtkästchen schob, bemerkte ich ein schmales Goldkettchen um ihren hübschen Arm. Sie hatte es früher bestimmt nie getragen. Ich griff nach ihrer Hand, wie um das Geschmeide bester betrachten zu können und zog sie unwillkürlich etwas näher her. Dann schob ich das Kettchen bis an das Handgelenk herunter und wieder hinauf, bis es prall saß. Das wiederholte ich drei, viermal.

»Sie haben wohl eine andere Beschäftigung gefunden, Herta, oder sind Sie wieder zu Hause?«

»Ja! Ich mag nimmer tagaus tagein in dem engen Loch sitzen! Und die andern haben immer so nette Geschichten erzählt und auch lustige Dinge. Wer das sind lauter Ältere als ich und bekommen mehr Geld und mehr freie Zeit. Wer ich will's auch so haben! Und Fritz sagt's auch.«

»Wer ist denn das, der Fritz –« fragte ich und zog sie noch ein wenig näher an mich. Ihr Arm war voll und weich, ich strich nun leise mit dem Daumen über ihr Gelenk. Sie hatte die Lippen halb offen und ihre Augen wurden ein weniges dunkler.

»Fritz? Das ist einer von meinen Bekannten. Eine Kollegin hat mich einmal in eine kleine Abendgesellschaft mitgenommen und jetzt sind wir fast jeden Tag beisammen. Gott, man will doch auch was von seinem bissel Jungsein haben!«

Sie sagte die letzten Worte trotzig und hart, so, als wäre ich derjenige, der zu erlauben oder zu verbieten hätte. Vielleicht war es der Ton, den sie ihrer Mutter gegenüber anschlagen mußte.

»Hast recht, Herta!« sagte ich leise und wußte kaum, daß ich sie duzte. »Hast recht; ums Jungsein weinen muß eine verlorene Sache sein! Drum laß es nur nicht soweit kommen. Jetzt –« Ich setzte mich auf und legte die Hand auf ihren Oberarm. Es war so eine drückende Luft, mein Blut wallte und Herta atmete heiß. »Jetzt gibst mir einen Kuß, kleines Mädel!«

Rasch schlang ich den Arm um ihren Hals, zog sie hernieder und küßte sie auf den Mund. Sie gab mir den Kuß zurück, wild, mit aufbrausendem Verlangen. Dann riß sie sich hoch und war bei der Türe draußen. Ich lag noch ein Weilchen still und fühlte lange ihre Lippen auf den meinen brennen. Irgend eine lockere Freude war um mich und die Lust eines verschwommenen Erlebens.

›Soso – soso‹, dachte ich und trank meinen Kaffee mit der sicheren Ruhe eines Mannes, der sorglos über die Oberfläche des Lebens dahingleitet. Der Regen trommelte unaufhörlich gegen das Fenster, manchmal rüttelte auch ein Windstoß daran und klirrte in den losen Scheiben.

Ohne Farbe, ohne Erregung malte ich mir aus, wie Herta hereinkommen würde, heute abend, morgen vielleicht, ganz still und sachte; wie wir uns heimlich küssen würden, leise, damit niemand etwas höre, wie wir uns traute Worte zuflüstern und den Wahn eines Augenblickes bewußt und von verborgener Romantik umgeben trinken müßten.

Hanne Borg kam in meine Gedanken; sekundenlang stand ihr Bild neben Hertas blassem Gesichtchen. Dann erwachte auch meine Liebe wieder so voll und stark, wie sie ja nicht anders sein konnte. Ich ballte die Faust, ich wollte eine Schande aus meinem Herzen reißen. Liebte ich doch Hanne wie mein Leben, mehr noch, wie ihr Leben!

Doch die Lüge konnte nimmermehr ungeschehen sein.

Damals war es wohl, daß der dürre Baum meiner Schuld seine letzte Rinde sprengte und ein wirres Gefüge von Ästen und Ästchen sich ausbreitete, eines immer aus dem andern wachsend und doch alle aus einer einzigen Wurzel.

Ich habe Hanne Borg und die Unendlichkeit betrogen; das war schmachvoll und schändlich gewesen. Aber daß nicht eine Glut von Reue über meine Seele peitschte, daß nicht jedes Fäserchen meiner Gedanken sich prüfte, ob denn das Herz gewußt habe, was der leere Tag verschuldet, daß ich nichts wußte, nicht weinte um ein zerbrochenes, verratenes Glück, das war der Keim, aus dem alles Unglück erwachsen mußte.

Hanne Borg liebte ihre einzige Liebe, groß, unendlich, schön wie die tiefsten Geheimnisse der Welt. Sie hat diese Liebe einem Unwürdigen gegeben.

Einem irren, haltlosen Manne.

 

Der Tag wollte kein Ende nehmen. Eine Unruhe war in mir und das Verlangen nach Hannes guter Hand. Endlich war die Stunde da, mit ihr zusammenzutreffen. Es regnete und regnete in einem fort. Hanne sah mir fest in die Augen, doch ich mußte den Blick abwenden. Ein ängstlich bekümmerter Zug legte sich um ihren Mund.

»Was ist dir, Marr, ist dir nicht wohl?«

»Warum?« Da lag nun der Trotz darinnen in diesem Wort, der Trotz, der eine Scham und Schuld verstecken will.

»Deine Augen flackern so seltsam, Marr; so wie damals, als du krank warst.«

Ihr sorgender Ton machte mich weich und friedlich. Ich zog sie mit mir fort, immer rascher begann ich durch den Regen zu eilen. Die Dämmerung war heute früher eingebrochen, die ersten Lichter warfen ihren Schein auf das nasse Pflaster.

»Gehn wir in den Dom, Hanne, dort ist es so ruhig!«

Ich wußte, daß der Dom um diese Zeit menschenleer war und ich liebte die schwere Größe seines Raumes. Wir warm auch bald zur Stelle. Ich zog das riesige Portal auf, wir traten ein, und langsam fiel es hinter uns wieder zu. Wie ich es erhofft, war der mächtige Raum gänzlich leer und öde. Der letzte Schein des Tages floß durch die hohen Fenster über die stummen Bankreihen hin, spielte mit verworrenen Lichtern an dem weiten, mit Fresken überladenen Rundgewölbe des Hauptschiffes und verlor sich in dem geheimnisvollen Dunkel der seitwärts durchgebrochenen Bögen. Ganz vorne über dem Hochaltar schimmerte ein kleines rotes Licht.

Wir setzten uns ganz hinten in die letzte Bank und schauten schweigend die Majestät dieses Raumes. Endlos schien sich das Mittelgewölbe nach vorne in das reiche Presbyterium zu erstrecken. Über die Mitte hin teilte fast in den gleichen Riesendimensionen ein breites Querschiff den ganzen Raum in eine einfache, ungeheure Kreuzform, und wo die beiden Wölbungen sich schnitten, rundete sich eine hohe freie Kuppel wie zur Krönung dieses erhabenen Baues empor. In dieser Kuppel war es auch noch am hellsten; und je dichter sich die schwere Nacht herabsenkte und die Ausdehnung dieser harmonischen Größe ins Unbegrenzte zu erweitern schien, um so losgelöster blieben die Reste des Lichtes in der Halbkugel droben gefangen, als schwebe sie schützend und gottweisend über dem Dunkel der Tiefen. Gespenstig standen die leeren Bankreihen vor uns, gespenstig wuchsen die schweren Säulenbögen zu Riesengrößen empor. Wie schwarze Höhlen starrten die Durchgänge in die Seitenschiffe zu uns her, das rote Licht vorne vor dem gemarterten Heiland schwankte hin und her.

Es war totenstill. Ein leichtes Grauen flog aus den finsteren Gewölben auf uns zu, es kam mir vor, als wäre ein Tor zugefallen und hätte uns für immer in diese Niesengruft verschlossen. Wir konnten die begrenzte Größe, die Stille kaum ertragen.

Ich aber suchte die Weihe dieses Schweigens, damit es durch seine Macht von außen her mein Herz erwecke, das den Druck einer gefesselten, unklaren Sehnsucht von selber nimmer überwand.

»Hanne, Hanne!« sagte ich ganz leise. Wer der große Raum trug meine Flüsterstimme fort, hob sie über die weiten Hallen zu den wirren Kapitalen hinauf, schlug sie an den Gewölben und Bogen bis in die schwere Kuppel empor und tönte sie tausendfach wie ein Rauschen durch diese Leere.

Wir saßen beide erregt und lauschten ängstlich in dieses seltsame Raunen hinein. Bald war es wieder totenstill.

»Hanne!« sagte ich nun laut und klar. Da ging es wie ein Brausen durch den Dom, von oben, von vorne, von allen Seiten hallte es wider, wuchs zu einem mächtigen Akkord und verrann nur allmählich in die starrende Dunkelheit der Portale.

Ich fühlte, wie Hanne nach meiner Hand griff.

»Was zitterst du, Marr? Komm, gehn wir!«

Sie sprach dies ganz dicht bei meinem Ohr, lispelnd, um die tönenden Geister dieser Riesengruft nimmer zu wecken.

Aber ich blieb. Die ängstliche Kleinheit unseres Selbst neben der Macht, die uns umgab, ließ mich Hannes Nähe und Halt voller und tiefer empfinden als je. Ich schloß die Augen, öffnete sie wieder und jedesmal hatte sich das Dunkel um uns verdichtet. Eine fürchterliche Aufregung begann in mir zu hämmern, da eine Ahnung in mein Bewußtsein stieg: Nun hält die Erhabenheit von außen noch einmal und zum letzten Male deine Wahrheit wach. Geh nie, nimmermehr von hier fort!

In diesem Augenblicke flackerte das rote Licht zu Ende.

Ich riß Hannes Arm zu mir her und wollte ihr etwas ins Ohr schreien: Das rote Licht! Unser glutrotes Licht ist nun verloschen! Aber ich hatte eine Angst vor dem schallenden Brausen dieser Räume. Ich wollte aufstehen, es ging nicht mehr. Aus den schwarzen Bogen der Kapellen sah ich Riesenhäupter ragen wie die ernsten Heroen vergangener Zeiten. Sie hatten alle ihre finsteren Augen groß und klagend auf mich geheftet und hielten mich im Banne. Meine Glieder waren starr und gelähmt.

Dann begann eine Glocke zu läuten, dann noch eine, viele huben an, sie waren alle innerhalb dieser Dunkelheit und flogen droben unter der Kuppel hin und her. Sie läuteten und sangen und die ernsten Gestalten in den finsteren Gängen zeigten alle hinauf, richtend, strafend, als käme von dort eine qualvolle Sühne.

»Hanne, eine fremde Macht wird mich von dir reißen!« so lallte ich; meine Stimme hatte keinen Klang und der Schall der Glocken überschrie das Brausen.

»Hanne, diese fremde Macht ist in mir … «

Tonloser als zuvor zischte ich diese Worte hin. Ich wollte auch ihre Hand greifen – alles leer! Starr, im Krampfe hing ich in der Bank – Hanne war nicht neben mir.

Entsetzt stierte ich in die Dunkelheit. Dort! Dort ging sie Hanne ging aufrecht und schwebend durch das endlose Schiff gegen den Altar hin. Sie hatte ein weißes Gewand um ihre Glieder rinnen und ein handbreiter Strahlenkranz zitterte um ihre Gestalt. Sie ging nicht; der Schall der Glocken trug sie vorwärts, weiter, immer weiter, es waren viele ungezählte Stunden, die sie durchschritt. Und immer noch wiesen die ernsten Gesichter in die Kuppel empor, wo die Glocken läuteten.

Ich sah Hanne über dem Altare schweben und mit der Hand über die goldene Ampel streichen. Da flammte das Licht wieder auf und warf einen roten Schein in Hannes Antlitz, das nun so übervoll von Güte und Liebe erstrahlte, daß ich in auflodernder Sehnsucht mich emporreißen wollte, hin zu ihr.

Aber meine Glieder waren tot, meine Stimme erstickt, meine Sehnsucht vergebens. Ich war gefesselt in Finsternis und konnte ihr meine tiefste Liebe nimmer sagen, die ja trotz allem immer, immer verblieben war. Sie sah auch gar nicht mehr zu mir herab, sie sah zu den Glocken auf, so traurig, so entsetzlich traurig, als hätte sie mich verloren. Und ich saß doch hier und krampfte ohnmächtig meine stummen Schreie in der Kehle, wand mich hilflos in Sehnsucht nach ihr.

Durch den Dom klang es wie ein schleppender Schritt …

Dann war plötzlich ein helles, wunderbar glänzendes Leuchten um sie, zugleich lag ihr Blick voll und groß auf mir. Liebe, Dank und ihre ganze Seele waren darin.

Nun konnten auch meine Schreie sich lösen –

»Hanne! Hanne!«

Die Lichtgestalt verfloß in die schwingende Kuppel hinein, die Glocken erklangen aus weiter Ferne und eine eisige Finsternis legte sich grausam um mich.

– Und mit einem Schlage war alles wie vorher; nur daß einige Lichter die Wände entlang brannten und Hanne mit einem Kirchendiener neben mir stand. Auch die rote Ampel sah ich ruhig leuchten; Hanne hatte sie wohl entzündet.

»Haben dich die Glocken doch nicht fortgetragen!« rief ich erleichtert und stand auf. Hanne hielt mich unter dem Arme, sie schien mich zu führen statt ich sie.

Draußen strich der kalte Regen über uns und führte uns in die nüchterne Wirklichkeit zurück. Hier erst fand Hanne ein Wort:

»Was hattest du nur, Marr! Ich bitte dich, bitte dich, Marr, achte auf dich und geh zu einem Arzte! Du hattest wieder so einen Ohnmachtsanfall.«

War es der Regen, der über ihre Wangen lief?

»Hanne, weißt du denn nicht, warum? Wenn mich die ernsten Augen steinerner Gestalten fesseln und du immer weiter und weiter entschwebst? Wenn ich dich fortstoße und dann die Kraft nimmer hab', dich zu rufen?«

»Was du wieder fabelst, Marr!« Sie wollte mich leicht und obenhin täuschen, doch ich fühlte, daß sie zitterte und weinte. Sie weinte aus Sorge um mich!

O Hanne, Hanne, warum wolltest du es nicht gestehen, daß du gegangen bist, das rote Licht zu entzünden? Ich wußte es damals nicht, daß deine feine Seele sich der Unendlichkeit ihrer Hingabe schämen mochte; aber die ernste Nacht im Dome hat sie mir aus deinen Augen verraten.

Ich habe später dich nimmermehr zurückrufen können!

Hanne ging mit mir in mein Zimmer hinauf und bestand darauf, daß ich mich niederlege. Indessen ging sie zur Wirtin hinaus und schien um irgend etwas zu verhandeln. Dann saß sie bei mir und streichelte mein Haar.

Herta kam herein, sie trug ein Tablett mit einer dampfenden Teekanne und stellte es neben mich hin, so wie heute morgens. Ich sah wieder das goldene Kettchen funkeln und fühlte eine heiße Welle in mein Gesicht schlagen.

Hanne schaute unverwandt in Hertas Antlitz, um deren Mund ein freches Lächeln spielte, das das ganze Geheimnis des Morgens in sich tragen sollte und zugleich eine hämische Anspielung auf Hanne war. So schien es mir wenigstens. Sie ging gleich wieder hinaus.

Hanne sah jetzt über mein glutendes Angesicht, aber im selben Augenblicke küßte sie mich wie bittend auf die Stirne und ich hörte ein gepreßtes »Verzeih! verzeih!« von ihren Lippen stammeln.

Ich konnte sie nicht recht begreifen.

Sie saß auch wieder aufrecht und ich bemerkte an dem Schatten ihrer Augen, daß sie irgend einem Rätsel nachfühlen wollte.

»Mario, kränke dich nicht; darf ich dir etwas anvertrauen?«

Ich sah sie groß an.

»Mario, diese Herta ist nimmer so gut, wie sie vielleicht ehdem war. Gott verzeih, wenn ich ihr unrecht täte. Aber wir Frauen fühlen dies unbewußt und doch so klar.«

Sie umschlang mich heftig, voll ängstlicher Leidenschaft.

»Mario! Du bleibst bei mir, Mario!«

Ich dachte an heute morgen, an den goldenen Reif und an Hertas Lachen. Es lag mir nichts daran. Ich konnte keinen Richter spielen und ihr Schicksal glitt heute ohne Widerhall an mir vorüber.

Einen Augenblick lang drängte es mich, Hanne ganz schlicht und lustig den Vorfall von heute früh zu erzählen. Ich wußte aber keinen Anfang. Hätte ich dann nicht auch meine leeren, toten Gedanken erzählen müssen? Meine Angst vor dem Abstieg aus der Sternenstunde? Meine qualvolle Lust, ihre Liebe im Leid zu sehen? Meinen irren Wunsch, eine Härte über sie, die Reine, spielen zu lassen, um dem eigenen Wanken wieder einen Halt in dem neuen Erleben zu suchen?

So schwieg ich. Es war ja auch friedlich jetzt, da sie meinen Abend bewachte und ihre Sorge um mich spann. Wir hörten den Regen an die Scheiben klopfen und zwischendurch trugen die Glocken vom Dome die Viertelstunden durch die Nacht.

Nach langer Zeit erst erhob sich Hanne, nachdem sie zur Überzeugung gekommen war, daß mir heute nichts mehr zustoßen könne.

»Leb' wohl, Marr!«

Und noch einmal drehte sie sich um und trat dicht an mich heran.

»Ich hätte heute einen Augenblick lang fast etwas Schlechtes von dir denken können. Es ist ganz dumm! Verzeihst du mir?«

Ich drückte ihre Hand; sie mochte ihre Antwort darin haben.

»Es wird schon alles gut werden, Marr, alles gut!«

Ein Riß ging mitten durch mein Herz. Es war eine Lüge in mir, irgend eine große Lüge, die mich mit Gewalt in ihre Netze gespannt hielt.

Hanne küßte meine Stirne noch und noch einmal; sie richtete sich auf, glückstrahlend; dann ging sie.

Ich war allein, voll Angst und Furcht –

 

Angst und Furcht aber war es vor mir selber oder vielmehr vor einer fremden Macht, die über mir stand und der ich keinen Namen zu geben wußte. Es war so oft gewesen, daß sich irgend eine folgenschwere Handlung ohne jede Überlegung in meinen Lebensgang stellte, wiewohl eine bessere Stimme in mir machtlos dagegen ankämpfte. Wie das Werkzeug eines finsteren Despoten, der über meine Seele herrschte, mußte ich oft blind einem sinnlosen Drange nachgeben und, was immer geschehen mochte, seinem Willen gehorsam sein. Hätte ich es im Laufe der Zeiten nicht gelernt, der Reue über unabänderliche Geschehnisse keine Stimme zu geben, ich wäre längst unter Felsenlasten verirrter Taten zusammengebrochen. Ohnmächtig rütteln wir an den Kerkergittern, die den einmaligen Gang unseres Lebens umschließen und dennoch den Blick in tausend lockende Möglichkeiten offen lassen: denn es gibt Menschen, die wissen stets um ihr Erleben im voraus und müssen auch um die tiefsten Stunden ihres Empfindens kalte Beobachtungen legen. Neu und immer neu suchen sie dann das Leben ohne Programm und von außen her auf sich stürzen zu sehen; doch auch dies Suchen ist kein echter Wert mehr.

Dem Reflexiven hat nur dasjenige einen Gefühlswert, was unvorhergesehen kommt; und um die Möglichkeit des Vorwegnehmens in Gedanken hintanzuhalten, wird ihm das Unmögliche ein kurzweiliges Spiel.

So lastete in jener Nacht die Gewalt des Ändernmüssens voll Angst und Schrecken auf mir.

Die Seele, die eine Sternenstunde erlebt und vorübergehen gesehen hatte, mußte so schnell als möglich eine Tiefwelle durchkreisen, um wieder emporzueilen, wenn der Gedanke nicht alle Möglichkeiten des Abwärtsgleitens voraus erleben wollte.

Aber diese Leere war für ein Herz nimmer zu ertragen, das solche unendliche Weiten wie Hanne Borgs Liebe überschaut hatte. Je hartherziger jene grausame Macht mich zwang, den klaren Gottesglauben um Hanne Borg in ein schales Nichts zu zerpflücken, um so hartnäckiger klammerten sich die Gedanken an Erinnerungen jener Zeiten, die von Glut und Leidenschaften weniger durchrüttelt waren und daher wie ein stilles Licht ohne Trübung für immer in der Brust behalten werden durften.

Und in derselben Nacht, da die trostlose Unbeständigkeit meiner Seele mir Hannes Bild ferner und ferner rückte und, so sehr ich meiner besseren Einsicht mich wehrte, mir den Hochflug meiner Liebe stahl, war es, daß Luke Gröner wieder in meine Träume trat und viel um mich war.

Wenn die Augen guter Menschen über diese Zeilen gehen, so mögen sie eine wankende Treulosigkeit nicht allzu hart verurteilen, solange sie nicht ahnen, welche Qualen einem Menschen beschieden sind, der sein Herzblut an die Idee, die er in andere Menschen legt, sehnend verschwenden muß und dennoch weiß, daß die Idee sich ändert und dann die gradherzige Seele des andern schon vernichtet sein kann, indes er noch an den Rechtfertigungen seines Wankens grübelt.

Die gebundene Liebe hatte ihr ganzes Verantwortungsgefühl in einer Sternenstunde zum Höchsten getrieben; nun griff mit gleicher Macht die Sehnsucht einer stillen Freiheit an mich. Es ist aber ein Fluch, wenn jedes Gefühl in seiner Unendlichkeit erfaßt sein will, so sehr, daß ein anderes, wenn noch so gutes, daneben keinen Raum zugleich haben kann.

Wenn ich ein guter Mensch gewesen wäre, so hätte ich an Luke Gröner denken dürfen und an Hanne Borg; an unsere Liebe, an seine Treue, an die Bergfahrten unserer Erinnerung und an mein Kind, an alles, alles, und es hätte mich stolz und groß machen müssen. Doch die Nacht in meinem Innern, die mein Leben seinen unklaren Weg gehen hieß, wollte mit lockenden Bildern von dem freien Erleben anderer Tage meine Liebe zu Hanne vorübergehend töten. Es ist ihr gelungen; die irren Einbildungen weniger Stunden zerstörten drei Leben; denn als ich erkannte, daß mein Tiefstes zu allen beiden treu stehen wolle, war es zu spät.

Mit Hertas Erscheinung bin ich erst selber wankend und zweifelnd geworden. Dann ist das rote Licht im Dom erloschen und meine Sehnsucht wach geworden, Hannes unendlichen Liebesblick auf mir zu fühlen, auch wenn ich grausam über sie hinüberschritte. Wollte meine Liebe das Liebste leiden sehen, um selber im Mitleiden zu erstarken? Wie sie aber grausam war gegen sich selber, vergaß sie, daß sie gegen Hanne grausam war. Meine Liebe wollte sich selber sehen und damit war ihre Reinheit zerbrochen. Über die Leere dieser Trümmer mußte die starke, getreue und echte Gestalt Luke Gröners emporsteigen.

In der Erinnerung verblaßt der Alltag und nur der stille Friede weniger Stunden bleibt bestehen. Eine Leidenschaft wird müde, wirft die Maienpracht ihrer Blüten mit dem Sturme fort und läßt nichts zurück, als ein kahles Geäste, daran das Erinnern fremd und leer vorbeisteht. Ein kleines Lied, ein stiller, einsamer Gang durch den Wald, ein Sonnenstrahl in einer traulichen Kaminecke, solche Kleinigkeiten können hingegen bis in die fernsten Tage im liebsten Gedenken bleiben und die Erinnerung daran sich wie eine Sehnsucht nach dem verlorenen Eden unserer Kindheit erfreuen.

Unser reinstes Glück ist das Kinderland. Deshalb sind es in späteren Tagen einzig solche stille, friedliche Stunden, welche, so wenig Ereignis sie auch haben mögen, in unserer Erinnerung dem augenblicksgläubigen Märchensein des Kinderlandes am nächsten kommen.

Es ist ja weiter nichts Sonderliches daran; wenn ich versuche, ein oder zwei solcher Bilder, wie sie damals in meiner Erinnerung aufstiegen, wiederzugeben, so mag dies kindisch und dumm erscheinen – und doch haben diese Bilder mein Schicksal weitergetrieben.

Luke und ich gehen durch einen Wald, der ist hoch im Neuschnee versunken und webt die Stille des Winters um uns. Der Himmel ist grau und verhangen, weiße Flocken beginnen lautlos zu fallen, erst da eine, dann dort eine, dann immer mehr und mehr und schließlich spinnen unzählige Milliarden der Niedersenkenden euren weichen Flaum durch den Wald. An einer Riesentanne drückt der Schnee die Zweige bis an den Boden, die wölben nun eine friedliche Kapelle um den Stamm. Wir bleiben stehen und schlüpfen an einer weiteren Stelle in diesen Raum. Wir sitzen auf einer Wurzel nieder, schauen schweigend in die sinkende Dämmerung hinaus, in die Stämme des Waldbodens, die nahe schon verschwinden und vor die die großen Flocken sanft niederschwebend einen Schleier weben. Ein kleines Erdmäuschen kommt um die Wurzel gekrabbelt, klettert mit knisterndem Geräusch rund um den Stamm unserer Hausung empor und äugt neugierig zu uns herab. Draußen fallen die Flocken aus grauem Gewölbe, zeichnen weiße Linien neben die Bäume oder scheinen regungslos in der Luft zu stehen. Es war still und schweigsam und voller Heimatfriede.

Später sind im Tale drunten die Weihnachtsglocken erwacht …

Ein andermal war es wieder ein verschneiter Wald und wieder fielen die Flocken tanzend um die Bäume. Es ist Nacht und wir schreiten fröhlich unserem Ziele zu. Da fällt ein roter Lichtschimmer kreisförmig über den Schnee. Ein altes Bäuerlein hat auf einem Baumstrunk kurze Rast gemacht, hält seine Laterne an den Knien und wärmt sich die Hände über dem heißen Metall. Es hat aber der Schnee einen weißen Kranz über seine Mütze gebaut, hat in dem Silberbart des Alten glitzernde Kristalle angesetzt und die Schultern und Arme mit einem weißen Mantel geziert. Dies alles hebt der matte Lichtschein der Laterne so weltfern aus dem Dunkel der Waldnacht, daß wir den guten alten Waldgeist unserer Kindheit zu sehen meinen und uns auch der artige Gruß des Alten die heimelige Träumerei nicht zerstören kann.

Wie wir weitergehen, verliert sich der Schein gar bald in der stillen Nacht.

Oder wir wandern durch den Märchenwald im Hellen Sonnenschein; so friedlich und still wie der Winterwald, so heimlich und traumhaft zugleich wie verschneite Bäume in Raureif und Sonnenlicht ist nichts auf weiter Welt. Stunden um Stunden wandern wir, schauen Märchengebilde und flimmernden Goldregen, wenn der Schnee von den Bäumen stäubt und vor der Sonne niederrieselt. Und dann steht die glühende Sonne über den Bergen und wir ruhen auf einsamer Höhe. Rundum schneiden die unzähligen Gipfel in das Himmelsblau, weißstrahlend in ewigem Eise. Luke pafft leichte Wölkchen aus seiner Pfeife in die Luft; auch ich schaue wortlos in diese Bergespracht hinein und alle Seligkeit freier Höhen ist um uns.

»Luke,« sage ich endlich leise, »mir ist manchmal, als könnten wir nimmer oft solche Herrlichkeit erschauen; es kann ein Sturm kommen und alles rauben, doch wir ahnen nicht, woher er seine Gewalten über uns schüttet!«

»Laß solches hier, Marr!« erwidert Luke langsam und bedächtig, ohne den Blick von den Weiten zu lösen. »Will's Gott, so werden wir wohl noch viele Male so einsam und still beisammen sein.«

Wir schweigen wieder und sitzen noch ungezählte Stunden dort oben in dieser Zauberwelt, solange, bis ein leuchtend roter Schein die fernen Gipfel umglutet, zu feurigem Purpurrot sich vertieft und erst allmählich vom Tale her erblassend in der grauen Dämmerung verlischt.

Ein Bild um das andere wechselt aus selbstfreier Zeit. Ihre Gewalt und Macht wird größer, je enger die Friedenssehnsucht sich an der starken, sicheren Gestalt Luke Gröners emporrankt. Luke Gröner ist betrogen, die Bilder sind zerstört und Hanne ist es, durch die der Unfriede in unsere Herzen kam …

Eine kindische Einbildungskraft wollte sich einen edlen Ruhm erwerben: die Liebe zu töten, um Luke Gröner den Weg zu Hanne Borg frei zu machen. Ich war mir des feigen Selbstbetruges dieser Gedanken durchaus nicht klar. Wenn ihr euch wundert, daß ich es heute so kalt zergliedern kann, so ist es eben euer Irrtum, daß ihr mich für irrsinnig haltet. Ich betrachte mich selbst wie eine fremde Pflanze und lege alle Fasern auseinander. Damals freilich wußte ich nur das eine, daß Luke Gröner der einzige Mann wäre, Hannes Liebe tragen und erfassen zu dürfen; ich wußte es, als meine beste Stunde verrauscht war und ich ihn betrogen hatte. Daß aber bei ihr diese Unendlichkeit nie vergehen könne, um meinen Gespinsten zuliebe neu zu erwachen, daran dachte ich nicht. Ja, mir flog sogar mehrmals der dumme Gedanke durch den Kopf, daß sie vor mir doch auch eine falsche Liebe hat vergessen können. Die Möglichkeit eines Vergleiches stieg voll Weh an mein Herz, wallte auf und verging. Dann baute ich lichte Pforten um mich und um ein Gewesenes, baute noch lichtere mit leichter Hand um ein Kommendes und hatte nicht nur die anderen, sondern auch mich selbst belogen, als ich aus dem dunklen Dickicht meines Weges mich so harmlos und gleichsam lächelnd wieder ins Licht stehlen wollte. Ich glaubte daran.

So wuchs meine Schuld; näher und näher dem Ende zu streckte sie ihre kahlen Zweige empor. In mir war keine Liebe, kein Haß mehr, kein Weh und kein taumelndes Glück. Ich lag ruhig und starrte auf die Zimmerdecke, über die der Laternenschein der Straße helle Vierecke malte. Ich baute an einer schönen Zukunft, deren Gefühlsbetonungen ich mit sicherer Folgerung in die Menschen erfand, als wären sie wie ich. Ich sah Hanne Borg und Luke Gröner beisammenstehen, sah, wie sie sich verstanden und immer fester zusammenfanden und niemand den Gedanken fassen könne, daß Hanne einem anderen alles sei als Luke und umgekehrt. Ich sah mich selber zufrieden an der Sonne dieser beiden erwärmen und durch sie ein ruhiges, gutes Sein in mein Leben kommen. Ich träumte sogar, wie das Kind von drei Menschen geliebt und gehütet würde und ich aus seinen strahlenden Augen den Glauben an mich selber erwecken könnte. Dies alles war, als Traum und Wirklichkeit keine sichere Grenze mehr hatten und mich allmählich ein tiefer Schlaf dorthin leitete, wo ein ausgeglichenes Gewissen, wo Friede war – und Sonne.

Die Sehnsucht, Luke Gröner wieder zu haben, die Sehnsucht, die Gestalt Hannes nicht für ewig aus dem Herzen reißen zu müssen, gaukelte mir lichte Bilder der Unmöglichkeit vor und ließ mir die einzige Wahrheit verborgen: Daß der tiefste Reichtum der Seele einer Hanne Borg nur ein einziges Mal und für immer sich eröffnen konnte und daß meine schwankenden Glücksträume dieses Reich dem besten Freunde gestohlen hatten, um es achtlos zu vernichten.

 

Ich erwachte am nächsten Tage mit dem plötzlichen Einfall, sofort zu Luke Gröner zu fahren und mir irgendwie Mut für die nahe und ferne Zukunft zu holen. Ich war so erregt durch den Gedanken an diesen Plan, daß ich mir gar keine Vorstellungen über das Wie des Gegenüberstehens machte. Dem Augenblicke ergeben sprang ich hurtig aus dem Bette, kleidete mich an und warf rasch die notwendigsten Gegenstände in meinen Rucksack. Ich hatte schwere Schuhe genommen und die wettererprobte Tracht unserer Bergheimat angelegt. Draußen plantschte immerfort noch der Regen nieder, es war kühl und der Wind hatte gegen gestern noch zugenommen. Luke mußte sich nun in das kleine Bauerndorf im Eingangstale zu seinen letzten Touren zurückgezogen haben und das ärgste Unwetter dort abwarten. Seine Zeit war noch nicht um, so wußte ich, daß weder Sturm noch Regen ihn von seinen einmal festgesetzten Plänen abzubringen vermocht hätten.

Es war noch früh am Tage, als ich aus dem Hause trat und über die kotigen Straßen die Richtung zum Bahnhof einschlug. Plötzlich fiel mir ein, daß ich Hanne verständigen müsse. Ich bog ab und machte den Umweg zu ihrer Wohnung. Aber mein Schritt wurde schwerer und schwerer, es wollte ein Sonnenschein in meinem Herzen aufbrechen und war doch ringsum alles trübe und regnicht. Was sollte ich ihr sagen? Daß ich zu Luke führe, dessen Freundschaft mit mir ich ihr nie genannt? Daß ich allein wegführe, in diesem elenden Wetter, ohne Grund und Anlaß? Sie würde mir in die Augen sehen und ich könnte den Blick nicht ertragen. Ich würde vielleicht die Kraft zu einer Lüge aufbringen, aber es wäre vor ihrem Blick ein gewagtes Spiel. Also würde ich wohl den Rucksack wegwerfen und in ihre Arme fliegen und alles, alles Glück meiner Liebe wie immer in mir tragen. Kann es auch anders sein? Ich ging wieder rascher und voll Ungeduld.

Da stieg die Nacht noch einmal in mir herauf und die friedvollen Gedanken, die sie mir gebracht. Da erwachte die Lust wieder, ein neues Erleben aus unser aller Sein zu erschaffen, abermals trieb mich eine Gewalt, mich einem Strome zu überlassen und staunend zuzusehen, was alles kommen und werden könne. Ich fühlte: Jetzt, und nur jetzt, hatte ich die Augenblickkraft, fortzugehen und die keimende Sehnsucht nach ihrer Nähe zu ersticken.

Und ich eilte an ihrem Hause vorüber, sah nicht links noch rechts, immer nur vor mich auf den Boden hin und in den Kot der Straßen. Ich lief mehr zum Bahnhof als ich ging, stieß da und dort an einen scheltenden Fußgänger an und drängte mich zur Kasse. Dann saß ich auch schon im Zuge und in wenigen Minuten fuhr der Zug aus der Halle hinaus, von der Stadt fort, in der Hanne Borg mich und unser Kind jetzt noch einer hellen Zukunft entgegenträumte, indes draußen der wüste Spätherbst sein häßlichstes Gesicht zeigte.

Der Augenblick, der die keimende Sehnsucht erstickt hatte, da es noch Zeit gewesen wäre, zu ihr zu gehen, derselbe Augenblick war es auch, den mein Geschick und die dunkle Gewalt, die die Handlungen eines Menschen treibt, mir zum Eingang alles Schlimmen bestimmt hatte. Es wäre ja früher oder später doch so gekommen.

Ich will mich nimmer grämen mit dem ›wenn‹ und ›würde‹. Das ist alles vorbei. Gewiß, ›wenn‹ ich in Hannes Liebe mich wiedergefunden hätte, ›wenn‹ ich ihr alles vertraut hätte, sie würde mich und meinen verfahrenen Weg in ihrer Liebe wohl zum Besten geführt haben. Aber der Weg ist felsenfest aus dem Schicksal gemeißelt und es mußte jener Augenblick mir ihre helfende Nähe versagen. Der Glaube au unseren Willen ist Trug und Qual; im Entscheidenden lenkt ein Höheres diesen Willen dorthin, wohin es hat sein sollen und läßt uns nur das Leid des ›würde‹. Denn unsere Geschicke stehen lange schon im Buche der Welt geschrieben – oder wähnst du, das Kind, das irgendwo spielt, könne das ändern, was es erleben wird, unbedingt so erleben wird, wie es die Zeit beweist? Es ist die Lüge Zeit, die uns diese Qual auferlegt. Das Rollen alles Werdens steht immerdar als Macht über uns und unser Sinn ist zu klein für ein Verstehen.

Nach wenigen Stunden Fahrt und einem längeren Fußmarsch durch den strömenden Regen kam ich in dem Dörfchen an. Ich ging zunächst aufs Postamt, um Hanne kurz mitzuteilen, daß ich zwingender Gründe halber hier sei, aber in längstens drei Tagen wieder bei ihr sein würde. Ich gab ihr auch die genaue Adresse an, damit sie nicht beunruhigt wäre und bat sie noch, mir alle Erklärung bis zur Rückkunft zu erlassen. Dann suchte ich den kleinen Gasthof auf; mitten am Marktplatz stand er mit der Schmalseite nach vorne, ein uraltes Gebäude mit unregelmäßigen Fenstern und Simsen und mit den Spuren vieler Zu- und Abbauten seiner jeweiligen Besitzer. Rund um das Örtchen stiegen die Wiesen und kargen Felder bergan, doch verschwanden sie heute gar bald in dem schweren Gewölk, das sich an Regentagen in diesen Gegenden bis tief in die Talsohle niedersenkt und brauend und brodelnd jeden weiteren Ausblick verhangen hält.

In der niedrigen, verrußten Gaststube, an einem der groben Eichentische, sah ich Luke Gröner sitzen, ein Glas Wein vor sich, daran er kaum genippt haben mochte, den Kopf in beide Hände gestützt und seine sonst so frischen, lebensmutigen Augen finster auf die fleckige Tischplatte geheftet.

Als ich ihn anrief, sprang er mit einem Satz in die Höhe, so daß sein Scheitel fast an die Decke stieß, und er hielt mir beide Hände hin, während ein Lächeln um seinen Mund spielte.

»Das ist recht, Marr, daß du gekommen bist, das ist recht! Eben hab' ich es verdammt langweilig gefunden und deswegen auch lauter dummen Gedanken nachgehangen, wie so oft in den letzten Tagen. Sag', warum bist du nicht schon früher hergefahren?«

Ich bemerkte, daß er nicht sonderlich gut aussah und eine Art nervöser Hast in allen seinen Bewegungen lag, die mir bei ihm gänzlich fremd war. Ich sagte es ihm.

»Ja, ich hab' mich vielleicht ein bissel überanstrengt, ich habe ein paar recht stramme Bergfahrten hinter mir!«

Wir sprachen auch nicht weiter davon, sondern setzten uns zusammen und er frug mich nach diesem und jenem aus der Stadt, ängstlich bemüht, auf unser dereinstiges Beisammensein, und was damit zusammenhing, nur ja nicht anzuspielen. Mir war dies sehr recht, ich fand dadurch bald den alten Ton wieder und wiegte mich immer mehr in den Gedanken, daß ja alles gut werden könne.

Der Wirt schob mir euren Krug Wein her, fragte nach meinen Quartierwünschen und auch, ob er die Lampe über dem Tische schon anstecken solle. Letzteres lehnten wir ab, und da außer uns kein Mensch da war, zog sich der Wirt in die anliegende Küche zurück, durch deren buntverkleisterte Glasfenster gar bald der einzige matte Lichtschein über uns und die alte Wirtsstube fiel. Unser Gespräch wurde allmählich schleppend und hörte schließlich gänzlich auf. Wir tranken jeder unseren Wein, lauschten dem Sturme, der ganze Sturzladungen von Wasser an die kleinen Schemen trieb und mochten jedes unsere eigenen Gedanken spinnen, die in mir mit jeder Minute nüchterner wurden, wie die Zeit sich zwischen Jetzt und das Vergangene schob.

Einmal wollte ich Luke nach seinen Touren fragen. Er gab zur Antwort, daß er fast jeden Tag viele Stunden lang herumgestiegen sei und nur immer den Wunsch gehabt habe, mich hier zu sehen.

»Denn, Marr, es ist so eine Unruhe in mir und ein ungebändigtes Anpackenwollen von etwas Ungreifbarem. Ich kann es auch mit der größten Mühe nicht hinunterkriegen. 's ist Hanne, weißt du!«

Er sagte es leise, horchend. Es war so dunkel um und, daß er es nimmer gesehen haben konnte, wie eine Blutwelle über mich hinging. Die Finsternis ließ aber auch ihn die Scheu ein wenig überwinden, die sonst sein Inneres umfangen hielt, und so konnte er fortfahren, langsam, tastend, die Worte gleichsam aus sich selbst zusammenlesend:

»Wir müssen ja doch bald wieder davon reden, Marr! Seit ich fort bin, ist die ganze Gewalt meines Gefühles zu jenem Weibe durchgebrochen, ich hörte ein Neues, Unbekanntes in mir ertönen und das jubelte und weinte Tag und Nacht um Hanne. Ich bin über Gletscher und Fels mühselig hingewandert, ich habe über den Almen gelegen und stundenlang die Wälder durchzogen; stets ist Hanne neben mir gegangen und es hat mich stolz und kräftig gemacht. Ich wollte ihr schreiben, eine Karte als alter Bekannter wenigstens, damit sie unsere kleine Freundschaft nicht vergesse. Doch ich habe es nicht getan, Marr, du weißt ja, warum. Jetzt weiß ich die Macht meiner Liebe, ich habe sie hundertmal geprüft und abgewogen. Gelt, Marr, daß ich immer an sie gedacht habe, da ist doch nichts Böses daran?«

Er sagte dies so schlicht und treuherzig, daß alle meine tiefe Neigung zu ihm hoch emporschlug. Hannes Bild schwamm wie ein Schleier in der Ferne vorüber, da ich bei Luke war und das Hohe unserer Kameradschaft neu erwachen fühlte. Er aber fuhr fort:

»Warum soll ich dir's verschweigen, Marr? Ich habe mir zugeschworen, wenn diese Liebe in mir wirklich wahr und echt ist, dann muß ich die Kraft behalten, gerecht zu sein, und nicht dort zu fordern, wo ich kein Recht dazu hätte. Was immer kommen mag, Marr, ich könnte meine Liebe für immer in meinem Herzen verschließen, wenn ich Hanne dadurch glücklich wüßte. Ich würde ja mein Herz selber hingeben, wenn es um sie sein kann. So stark war ich in allen sonnigen Stunden.«

Er beugte sich ein wenig vor und seine Stimme wurde abgehackt, zitternd:

»Aber es sind auch böse Stunden gewesen, Marr. Ich sah sie im Leid, im Elend, in Gram und Sorge, ich sah keine schützende Hand über ihr und keine Liebe. Das konnte mich rasend machen und das Blut gefrieren lassen.«

Er schwieg ein Weilchen und krallte die Faust um sein Glas. Dann trank er lange und ich hörte wieder den frischen, offenen Ton seiner Stimme:

»Die sonnigen Stunden überwiegen wieder, Marr, und das echte Gefühl beginnt ja erst da, wo es die Selbstsucht überwindet. Hier in den freien Höhen habe ich dieses echte Gefühl gefunden!«

Nun schlug die Welle in mir hochauf zu Luke hin und ich empfand gar keine drückende Last in dem Gedanken an das Vorgefallene. Dies stand irgendwo ganz ferne und unwirklich, es kam ein Wesen darin vor, das Hanne hieß und ein anderes, das ich sein sollte und niemals ich war. Ich saß ja hier bei Luke, bei Freund Lukas Gröner, und es ist immer so gewesen. Hanne aber klang in mir so weit, so fern wie ein schönes Lied, das einem einmal die Sinne durchschauern gemacht. So war es, weil Luke da war und mein Hingehen zu ihm mich ganz erfüllte, nur jetzt, und es war kein Raum für anderes in dieser Stunde.

»Es war gut, Mario, daß ich hieherkam; nun weiß ich, was Liebe ist. Darum wollte ich auch so gerne, daß du kämest. Wer es ist ja alles recht, du bist jetzt da und wir werden noch einige Zeit hier bleiben. Wir haben nun einmal daran geklungen, wer weiß, ob unsere Herzen so leicht wieder offen stehen, drum sagen wir es ein für alle Male zu Ende. Marr, meine Hand drauf, es kann nichts mein Vertrauen in dich ändern. Liebst du Hanne?«

Ich spürte den Druck in den Schläfen und den Stich im Nacken. Dann rauschte es in den Ohren wie schwarze Weltfluten und dann war alles wieder wie vorher: Die düstere Stube, der scharfe Umriß von Lukes Kopf, der Regen draußen und der Sturmwind fernab von der Stadt, fernab von der Zeit, von der Wirklichkeit. Luke Gröner war ganz in mir.

»Nein!« sagte ich fest und laut. Herrgott im Himmel, ich habe in diesem Augenblick wahr gesprochen!

»Ich kannte dich doch, Marr, sei nicht bös darüber, aber es war damals doch gut so … «

Herrgott im Himmel, ich hatte die Wahrheit gesagt! Ich liebte Hanne wie nichts, nichts auf der Welt, ich liebte sie, als sie tot war und mein ganzes Fühlenkönnen im Schmerze für immer zerriß. Wer damals war sie mir ferne –!

Zugleich wußte ich, daß ich ein feiger Betrüger war. Doch ich hatte keinen Mut mehr. Wäre ich hingestürzt zu Lukes Füßen und hätte alles gestanden, er hätte ein finsteres Verstehen für mein irres Wesen gehabt und dereinst vielleicht ein Verzeihen. Hätte! Wäre! Ich stürzte eben nicht zu seinen Füßen, ich saß stumm und schweigend und fühlte ein tobendes Hämmern in meinem Hirn. Ich mußte die Knöchel gegen die Stirne schlagen, um nicht zu schreien vor Schmerz. Eine Zeit breitete sich unklar vor mir aus, die alle Möglichkeiten und Lösungen in sich trug und wo ich kalt und gesund den ganzen Wust würde entwirren können; nur jetzt nicht! Auch war mir Luke heute so nahe, so offen und sicher, daß ich mir diese letzte Stütze nimmer um einen ungewissen Ausgang verderben mochte. Ich war krank, ich fühlte es, daß ich krank war und ohne Wille.

Luke war still geworden, ich hörte ihn tief atmen wie einen Genesenden, der zu einem glücklichen Leben erwacht. Nun durfte ich es nimmer sagen; morgen vielleicht, vielleicht später noch. Einmal mußte es ja doch gesagt sein.

Der Baum, der dürre, kahle Baum in dem Moorland, nun hat er seinen letzten Zweig angesetzt und die giftdunstenden Zerrbilder von Blüten brechen auf, werfen ihren blinden Samen in die Winde, hauchen einen ekligen Geruch über das tote Land. Nimm eine Axt und schlage die Wurzel entzwei! Kratze mit den Fingern die Erde auf, wühle unter den Stamm, reiße mit den Zähnen die Rinde entzwei und sauge das stinkende Mark in dich, um ihm die Lebenskraft zu nehmen. Umsonst, umsonst! Der Giftsame ist mit den Winden gegangen und keine Tat bringt ihn zurück …

 

Einmal noch in meinem Leben ist eine gute und wahre Stunde gewesen; wahr, weil ich der Tat kerzengrad ins Angesicht schaute und alle Heimlichkeit überwand; gut, weil ich das tiefe und doch so schwankende Gefühl meiner Liebe seinetwegen unterdrücken wollte. Es mag aber sein, daß meinem irren Leben ein für alle Male der Stempel des Unheils aufgedrückt war, oder daß es zu spät gewesen ist und der Same seine todbringende Frucht auskeimen mußte. Leget es und wendet es wie ihr wollt, ihr Herren mit den dicken Gesetzesbüchern und dem Buchstabenherzen: Wenn Luke Gröner und Hanne Borg hingehen mußten, wenn zwei solche Menschen uns allen genommen wurden, warum haben eure Paragraphen denn keinen Satz, der den einzig Schuldigen einer Sühne zuführt? Warum straft ihr mich mit einem lebendigen Tode, den eure Gesetze gar nicht kennen und der meinem Herzen keinen Frieden geben kann? Ich will gesühnt in Eden eingehen und Hanne wird mir ihr mildestes Lächeln entgegenbringen. Doch ihr wollt es nicht, ihr wollt mir weher tun als die furchtbarsten Martern es könnten! Ich bin so gesund wie ihr, ich sehe so klar wie ihr, und wenn das qualvolle Toben und Pressen in meinen Schläfen mich zum Schreien bringt, wenn meine Glieder diese entsetzlichen Krampfe schütteln, und das Blut wie rasend durch den Körper jagt – wer leidet denn darunter, ich oder ihr? Und doch ist alles noch viel, viele Male leichter zu ertragen als der Schmerz, der mein Herz tot und leer gemacht hat …

Luke und ich hatten nimmer viel gesprochen, nachdem mein durch die dumpfe Gaststube die Lüge gesagt hatte, die doch auch Wahrheit war. Ich sah Lukes Augenfunkeln und über seinem Munde blitzte ein Lächeln. Die Wirtin, eine gute, abgearbeitete alte Frau, hatte nun, ohne viel zu fragen, das Licht angesteckt und unsere Wünsche wegen des Nachtessens zu erfüllen versprochen. Luke Gröner zog seine Brieftasche hervor und entnahm ihr einen kurzen alten Brief, der sehr abgegriffen und zerlesen war; er breitete ihn vor sich aus und blickte darauf, wie man über ein Schreiben schaut, das man hunderte Male gelesen. Ich wußte, daß er seinerzeit fleißig mit Hanne im Briefwechsel gestanden hatte und es mußte dies wohl einer jener Briefe sein, vielleicht der letzte, vielleicht der ihm wertvollste.

»So schrieb sie einmal, Marr, darf ich vorlesen? – ›Und wenn Sie, lieber Freund, trotz Ihrer vielseitigen und fruchttragenden Tätigkeit dennoch einen tieferen, unerkannten Inhalt Ihrem Leben ersehnen, so weiß ich ebensogut wie Sie es wohl letzten Endes erträumen, was Ihnen einzig diesen Inhalt geben könnte. Es ist aber besser, in langer Zeit ein festes Gefüge von Grund auf zu errichten; dazu will ich Ihnen bauen helfen. Ich fühle etwas so Großes in meinem Herzen erzittern, doch ich kann die Schale nicht mutwillig zerbrechen; das soll von selber sein, morgen, oder in Jahren … ‹« Luke las noch weiter, aber seine Stimme wurde leiser und leiser, ohne daß er sich dessen wohl bewußt war.

Ich saß vor ihm, alles war schal und wesenlos außer ihm. Ich konnte, konnte nichts sagen. Eine unsichtbare Hand spannte ihre Geisterkrallen um meine Kehle, ich fühlte die Vergangenheit um mich versinken. Ich saß wie das Bild eines Verstorbenen, das nur die Züge trägt und keine Seele kennt. Das Leben pochte außerhalb wie ein Fieberwahn, ängstlich, verworren und doch voll wesenloser Glut. Es hätte immer irgend etwas geschehen sollen, etwas Sonderbares, Unerklärliches, damit es den Druck erlöst hätte, der über allem lastete.

Aber es geschah nichts. Der Sturm ratterte um das Haus, ein schwacher Mondschimmer brach durch das jagende Gewölk. Luke hatte sich in die Fensternische gelehnt und sah lange, lange hinaus.

»Es wird morgen nicht regnen, Marr. Dann gehn wir ein paar Stunden über die Almen hin; das ist so fein, wenn die Nebel kochen und rasche Blicke ins Tal öffnen oder schließen. Komm, gehn wir zu Bett. Du bist ja auch müde und schaust gar so finster drein. Wenn dir was umgeht – du weißt, Luke ist immer für dich da!«

Am nächsten Morgen hatte der Regen wirklich aufgehört, doch lagen schwere Nebel in den Tälern und schoben sich auf und nieder die Höhen entlang. Wir ließen uns lange Zeit, brachen erst knapp vor Mittag auf und beschlossen, eine bedächtige Höhenwanderung längs der nahen Vorberge zu machen. Die Wege waren weich und schlüpfrig, von den Bäumen tropften die kleinen Wasserkügelchen, die der Regen milliardenfach an die Nadeln und Nädelchen gehängt hatte. Ansonsten war es still und ruhig und der nebelverschlossene Blick just das Rechte, wenn Kopf und Herz zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Wir gingen weiter und immer weiter. Manchmal lichtete sich der Nebel ein wenig oder wir traten aus einer Wolke heraus, dann sah aus dem tiefersinkenden Tale ein Gehöft, ein Kirchlein zu uns empor oder von oben her legte sich ein felsiger Hochkamm, eine gelbliche Almmatte, unseren Blicken frei. Dann schoben sich wieder die Wolken vor, hüllten uns und einen kleinen Umkreis in ihre grauen Wände, die vor uns mit unseren Schritten langsam zurückwichen und hinter uns doch den neuen Raum wieder erfüllten. Die feuchte Luft war würzig und frisch, sie spülte wie ein Jungbad durch Lungen und Adern und löste das schwere Spannen aus den Schläfen. Je weiter wir gingen, je höher wir kamen, um so lichter und klarer wurde trotz Nebel und Trübnis mein Inneres und das dunkle, dämonisch triebhafte Gespenst zurückgedrängt, das als Liebe und Haß, als Grauen und Glück sooft meine Tage quälte. Luke Gröner ging vor mir, die breiten Schultern zurückgeworfen, den Kopf frei und stark im Nacken, mit dem langsam getragenen Schritt eines Mannes, dem das weiße Glück nimmer verlorengehen konnte. Sagte diesem Manne nicht eine innere Stimme, daß er seine Treue und Achtung einem Unwürdigen schenke? Oder war doch ein Nest von Güte und Wahrheit in aller Wirrnis verborgen, von Unglück und Liebe überwuchert?

Wie die Nebel stiegen und sich senkten, wie weiße Fahnen mit greifender Veränderlichkeit um die dunklen Berge krochen, wie hier ein Fetzen sich löste und, nie sich selber gleich, zäh und schaumig über ein Tal floß, wie dort eine Riesenwolke in unzählige Finger sich spaltete und dann doch wieder zu grauen, balligen Massen zusammenschlug – so auch gärte und kochte in mir ein freies Schauen über mich selbst. Ich stand abseits und sah meine Tat. Ich lächelte mit einem Male über die Torheit einer Lüge, die sich nur befreien konnte, indem sie das Netz umdunkelter Geschehnisse vor dem Lichte zerriß. Dieses aber mußte ein starker Halt wie Luke Gröners Freundschaft für mich erwecken.

So leicht, so spielend sah ich plötzlich einen Weg ins Freie. Es ist mir immer so gewesen, daß just die schicksalsschwersten Handlungen nur flüchtig mich bewegen konnten: Der Weg schien mir licht und hoch und füllte mit edlen Träumen meinen kindischen Stolz.

»Das ist recht, Mario, daß du jetzt deine Eulenmiene von gestern abgelegt hast! Sagte ich es dir nicht schon lange, du sollst heraus aus der Stadt und zu mir? Ist dir wohl was Schönes eingefallen?«

»Schön, Luke, und schwer zugleich. Schön und bitter, aber es wird alles gut sein, weil es kein Falsch mehr hat!«

»Unsinn, was du faselst!«

Er wußte nicht, daß in dieser Minute mein Entschluß gereift war, ihm alles zu sagen und mich von Hanne zu lösen.

Wir gingen noch manche Stunde weit. Die Nebel wollten sich nicht mehr erhellen, der Wind wurde wieder stärker und trieb sie auf und ab im Kreise herum. Und doch war es so gut und wohlig in diesem Wetter, die Luft so herb, so gesund, der nasse Waldboden atmete schwere Dünste von frischer Erde und Harz, der Wind schüttelte die Tropfen aus den Zweigen, hin und wieder brach krachend ein dürrer Ast von den Bäumen.

Sonst aber war es, wie es sooft schon gewesen: Luke und ich, einsam unsere Berge und Wälder durchstreifend, ohne viel Worte dennoch das starke Band einer tiefen Zusammengehörigkeit zwischen uns. Draußen, weit, irgendwo Städte und Menschen, Sorge und Mühe und die Kämpfe, die aus dem Reiben und Treiben der vielen erwachsen. Hier aber Stille und Friede ohne die große Tragik kleiner Geschehnisse. Und in meinem Herzen Wahrheit und Genesung.

Es war der letzte gute Tag meines Lebens.

Vielleicht nicht der letzte stille Tag. Denn still kann es auch jetzt sein, wenn abends der Tritt des Wärters verklungen ist, der Tür an Tür die Schlösser nachsteht. Das geht immer ferner und ferner, weitab schlägt dann noch eine Türe – dann geht das Licht droben hinter der eisernen Gitterkugel zu Ende, das heißt, es bleibt der Draht ganz zart rot glühend, so daß die wenigen Dinge des kleinen Zimmerchens nur in Umrissen stehenbleiben. Dann wird es still. Ich wage kein Glied mehr zu rühren, selbst das Blinzeln der Lider mache ich bewußt und verstohlen, um die Stille nicht zu brechen. Ich weiß, es schweben nun hinter mir seltsame Gestalten, die näher und näher kommen und wieder entschwinden. Ich habe gräßliche Angst – aber mehr Angst noch, die Stille zu zerreißen und damit vielleicht irgend etwas Entsetzliches zu lösen, ein Kinderschreien mitten in dunkler Nacht, ein Flehen und Jammern in einsamen Höhlen, etwas Ungreifbares, Halbgeahntes und doch so Lähmendes. Ich würde auch nimmer versuchen, den Kopf zu wenden, selbst wenn ich schon kalte Finger in meinem Genick spürte. Die Gestalten, die hinter mir kreisen, die haben drohende und lockende Gebärden, aber ich habe sie nie gesehn. Dafür läßt dann das Stechen und Hämmern unter der Hirnschale nach, das ich früher, auch vor Hannes Zeit schon, sooft gehabt habe, meist dann, wenn eine Entscheidung in mein Leben drängte. Dann handelte ich so oder so und hatte weder Rechenschaft noch Reue …

An unseren Waldgang aber denke ich noch wie an ein freundliches Land, das man für immer verlassen. Denn es war alles so einfach und schlicht und ohne verworrene Grübelei. –

Und abends, als wir heimgekehrt waren, ging ich mit heimlicher Freude daran, die Knoten zu lösen und endlich Licht und Klarheit in allen Harm zu bringen.

Ich ging in mein Zimmer hinauf, setzte mich an den wackeligen Tisch und schrieb au Hanne. Wohl mochte die Feder in der Hand zittern, auch flammte das Papier und die Tinte hatte den roten Strich des Herzblutes. Wer dann war Luke wieder bei mir, ich fühlte sein tiefes, glückliches Atmen aus der breiten Brust. Hanne war fern; ich wollte mir ihre Stimme in der Erinnerung wecken, doch es gelang zum Glück nicht recht. Ich hörte Luke sagen: ›Liebst du sie –‹ und hörte mein ›Nein!‹ wieder schallen, ihre Stimme aber hörte ich nicht. Ich wollte auch ihre lieben Augen vor mir sehen, sooft ich jedoch ihren Blick bannen mochte, trieben Nebelfetzen um uns her oder die düstere Stube nahm alles Augenlicht.

So schrieb ich denn. Ich sagte ihr offen und ohne Umschweife, daß meine Liebe ein Verirren gewesen sei, daß ich zu schwach sei, die Tiefe ihrer Neigung zu tragen und lieber heute dieser Erkenntnis Raum gäbe als erst dann, wenn eine quälende Müdigkeit das Andenken auch der lichtesten Stunden versanden gemacht hätte. Ich sagte ihr ferner, daß ich der gute Mensch nicht sei, für den sie mich in ihrer Liebe gehalten und daß mein heißester Wunsch wäre, sie würde bald die tiefere Erkenntnis ihres Fühlens einem Würdigeren, dem Würdigsten sogar, zurückgeben.

So schrieb ich, und die feine Anspielung zu Luke hinüber gefiel mir insonders, weil ich sie für jede Weiterentwicklung günstig hielt.

Während des Schreibens wühlte wohl dumpf meine Liebe in mir, aber gerade dieses Unterdrückenmüssen, dieses Opfergefühl eines herrlichen Glückes, hat mir vor mir selber jene Scheingröße gegeben, daß ich die lächerlich-traurige Seichtigkeit, die frivole Leichtigkeit meiner Epistel nicht einmal ahnungsweise begriff. Ich stellte mir den tiefen Kummer auf ihrem Antlitz vor, ich sah die Tränen über diese Blätter fallen und eine süße Härte und Entsagung stieg in mir hoch, die mich die Stelle küssen hieß, darauf ihre Tränen fallen würden. Was Glück, was Märchenspiel! Leid und Gram muß die Seele zerfressen und sie aus dem nüchternen Alltag in die hohen Wandelbahnen der klaren Sterne heben. Aus Weh und Schmerz muß das Wesen emporsteigen können und nur im tiefsten Leid verborgen ruht die Ewigkeit. Denn ewig ist allein die Wahrheit und wahr ist nur immer das Vergehen, Sterben. Im Weh, das ein zerrissenes Antlitz schweigend erträgt, schlummert der Keim der Größe, die um so echter wird, je weniger der Taumel des Glückes Sonnenstaub vorgaukelt.

Eine leise, leise Stimme nur mahnte dagegen. War es ein Kinderlachen, ein Kinderweinen? Doch ich schrieb mit zitternden Händen den Brief zu Ende und eine gehobene Stimmung seltsamster Erregung stellte die Worte eins ums andere auf das Papier. So muß es Kindern zu Mute sein, wenn sie einen Maikäfer an den Baum spießen und dennoch das gequälte Krabbeln bis in ihre Nervenspitzen fühlen. Hastig, verstohlen schloß ich den Brief, rannte die Treppe hinunter und zur Post. Nur niemandem begegnen! Nur nicht in einem öden Worttausch diesem Rausch entrissen werden und eine so köstlich reflexionslose Tat einer Versandung preisgeben! Denn das Echte geht zugrunde, wo Vernunft und Beobachtung kalt das Spontane, Plötzliche in allen Einzelheiten der Zukunft vorwegnehmen.

Mag es schlecht sein oder gut, hier ist Leben! Leben?

Als ich wieder zurückging, war dieser Rausch immer noch in mir. Nun mußte Luke alles erfahren. Ich wollte mir keine Worte zurechtlegen, ich wollte nur die Hand gegen die Brust pressen und fest ihm in die Augen sehen.

Die Stube war wieder leer, das Licht brannte indes schon und Luke saß auf der Ofenbank. Ich stand gleich dicht vor ihm. Er sah zu mir herauf und wurde plötzlich ernst.

»Wie siehst du aus, Marr? Du hast getrunken!«

»O nein, Luke, nur Lust und Freiheit!«

»Geh zu Bett, Marr, sofort! Deine Augen flackern ja, wie wenn du Fieber hättest. Sag', was dir fehlt, mach' keine Dummheiten, Marr!«

»Es ist nichts, Luke! Aber ich muß dir noch etwas sagen, zu gestern noch … «

Nun konnte ich ihm doch nicht in die Augen schauen. Er schien auch gar nicht erschrocken und sein Ton war gar nimmer scheu oder wankend, als er leicht die Frage aufwarf:

»Liebst du sie wieder, Marr?«

Mittendurch traf er mich. Nun war der Augenblick, wo ich die gute Tat vollenden konnte und mich über mich erheben, um das beste Opfer der Sühne zu erringen.

»Nein, Luke, es ist ganz, ganz was anderes. Ich hätte es dir lange sagen sollen, aber – aber –«

Ich stockte. Wie sollte es weitergehen? Erst mußte ein Bild zerbrochen werden, dann wohl meine Schuld gesagt sein – und dann würde der neue Bau aus den Trümmern erstehen …

»Du wirst es erstlich wohl so leicht nicht nehmen können, Luke. Und doch muß es gesagt sein.«

»Hand aufs Herz, Marr! Rennst du wieder einem Irrlicht nach oder was willst du eigentlich sagen?«

»Es ist nicht um mich, Luke. – Hanne Borg liebt einen Mann – und sie wird bald ein Kind von ihm haben –«

Nun ging's nicht weiter. Groß, steif, hünenhaft stand Luke vor mir, seine Augen traten hervor, sein Mund zuckte und verzerrte sich hin und her. Mit einer ruckhaften Gebärde fuhr seine Hand gegen die Stirne, dann ein Schrei: »Sie hat mich vergessen!« Und der schwere Körper dieses Mannes fiel krachend über die Bank hin.

»Luke! Luke!« rief ich und ein Stich ging durch mein Herz. Die Wirtin kam herausgeeilt, sah den Mann ohnmächtig liegen und war schon bei ihm, löste ihm Kragen und Rock, strich mütterlich über seine Haare und ihre Lippen murmelten ununterbrochen Worte:

»O mein Gott, der gute Herr, ist's ihm übel wor'n. Nein, so ein lieber Herr, daß Gott, wie er immer 'rumg'rennt is, i hab's ihm hundertmal g'sagt, 's wird nit gut sein für ihn. Und er is doch allerweil wieder auffi, hat no mei'm Mann g'holfen abends beim Holzen oder mit die Kinder umtollt. So ein guter Herr, daß ihm glei besser wurd'! Und so lusti allweil und fidel! Aber i hab' mir's denkt, 's kommt nit ganz vom Herzen weg, weil er oft so traurig dreinschaut, wann er allein is, so wie wann er an staden Kummer hätt'. Soo, Herr Gröner, jetzt kommen S' doch auf, na so was, und der große, starke Mann!«

Luke atmete nun schwerer und tiefer, dann öffnete er groß und starr die Augen und sprang im nächsten Augenblick auf die Füße. Er sah sich um wie in einer fremden Welt.

»Lassen Sie es gut sein, Frau Wirtin, es war nur eine kleine Übelkeit.«

Dann stand er dicht vor mir, seine glühenden Augen lagen wie Kristalle unter den Höhlen, eine steife Furche stand schräg um seinen Mund. Er legte die Hand auf meine Achsel und sagte kurz und fest:

»Ich danke dir, Marr; laß mich heute allein!«

Damit wandte er sich tun und ging aufrecht und sicher in sein Zimmer hinauf. Ich folgte ihm bald.

Bis ich einschlief, hörte ich seinen Schritt nebenan auf und nieder gehen, erst als ich gegen Morgen einmal erwachte, war es ruhig.

Ich hab' ihm das Weitere, Schwerere nimmer sagen können.

Denn ich schlief diesmal bis weit in den Tag hinein, und als ich endlich an seine Türe pochte und, da sich nichts rührte, eintrat, war das Zimmer leer.

Auf dem Tische fand ich einen weißen Bogen mit flüchtigen Worten: ›Sei nicht böse, Marr, daß ich davon bin! Ich gehe über den Breitkopf zur Bahn. Ich muß erst klar sehen in mir. Wenn sie glücklich ist, Gottes Segen für sie! Wenn es ein Schuft war – dann Gottes Gnade für ihn! Luke.‹

Ich hielt den Zettel in der Hand, die Buchstaben tanzten vor meinen Augen einen lustigen Tanz. Haschend im Kreise ging es um mich und immer war es wieder ein Name, den sie zeichneten: Hanne Borg, Hanne Borg, Hanne Borg …

Und meine Liebe wurde in diesem Tanze ein glühender Haß. Warum ist sie in mein Leben gekommen, warum hat das himmelhohe Glück aus Schuld und Schmach erwachsen müssen und alles Elende, Verletzende ihn getroffen, ihn, Luke Gröner? Vergessen war der sonnige Tag, da ich mein Wort im Herzen gebrochen, vergessen die Nacht, die Hanne und mich so fraglos aneinandergeworfen, vergessen die selige Zeit, die Sternenstunde …

Ich sah nur eine Zeit vor Hanne, die kam mir harmlos und weich vor und viel gutes Erleben aus Lukes Hand war darin; und ich sah eine Zeit um Hanne, da wogten Leidenschaften und rissen Gluten und Feuerbrände um mich.

Ich dachte nicht einmal an Luke, der jetzt über die steilen Hänge des Breitkopfes hinstürmend erst fein Gleichgewicht sich erkämpfen mochte, ehvor er weiter handeln konnte. Ich war wie von einem starren Krampfe gefesselt, der mein Blut bedrängte und seine eigene Ungerechtigkeit überschrie, immer neu überschrie, aus Notwehr wohl, um sich die grenzenlose Verzweiflung der nackten Wahrheit zu verbergen. Denn hinter der wahren Einsicht fühlte ich den Wahnsinn lauern.

Und ich log mich aus diesem Hasse dem Leben zurück –

Was für einem Leben!

Dieses Leben schien mir schön und traurig.

 

Ihr alle werdet es in eurem gerechten Lebenssinn vielleicht nicht glauben, was für merkwürdige Ungereimtheiten ein Menschenherz überkommen können. Und wenn ihr auch die Köpfe schüttelt über allen Mangel sicherer Berechtigung – es hat dennoch dieses Herz lebenshungrig in der Brust geschlagen und immer den großen Tag gesucht, den ihr in euren geordneten Bahnen gefunden zu haben meint. Es hat auch das Verkehrteste feine tiefen Wurzeln in der Seele und wenn uns die innere Einsamkeit zwingt, die Gesamtheit menschlicher Taten nach einer äußerlichen Gewohnheit zu beurteilen, so mag der Wirkung mitunter Gerechtigkeit widerfahren sein, die Ursachen aber bleiben für ewig verschlossen.

Mein ganzes Leben ist eine Kette von Unglaube gewesen. Ich habe Wirkliches verworfen und nur an Träume meine Hoffnungen geklammert. So konnte ich denn diese einzige tiefe Liebe nur für wahr hinnehmen, indem ich es versuchte, sie aus dem Herzen zu reißen und mit Hohn zu zerbrechen, dabei heimlich zitternd vor Glück, daß es dies eine Mal dennoch vergebens sein würde.

Ihr meint, Haß oder zynische Gleichgültigkeit oder was immer könne nicht aus Liebe entspringend wie ein Irrlichttanz mit dem Herzschlag umhüpfen; ihr wißt eben nicht, daß eines Menschen Seele von fremden, ungebärdigen Gewalten geführt sein kann und daß an mir alle Einsicht vorüberging. Denn ich habe dies alles damals nicht gewußt, es ist langsam geworden, wenn meine Zweifel jene Stunden umgrübeln. Es war ein Rausch in mir, der Worte über die Zunge treibt und dennoch im Innersten eine Stimme offen läßt, die mahnt: Bist du es, der dies sagt und so sagt? Was die Hände erfassen, ist fremd und schwer, was die Augen halten wollen, dämmert seinen Namen erst, bis es vorüber ist.

So war dieser Tag gewesen und viele Tage. Ein Baum trieb wuchernde Dornen, die zerrissen mein Fleisch, doch brannten die Wunden in anderen, schuldlosen Herzen. Es muß ein Stern im Weltmeer erloschen sein, der hat glühende Asche über alles geworfen und die Augen erblinden lassen. Die Hände eines Blinden griffen wahllos in ein kunstreiches Gefüge und zerstörten es; sie wußten ja nicht, daß sie nicht greifen dürften in das helle, klare Licht hinaus.

Gebt mir eine Sühne für die äußere Tat! Das war Mord. Was steht darauf? Ich zittere nicht.

Aber nach Eden sollt ihr mir nimmer die Wege nehmen!

 

Die Blutrosen, die ich im Garten hinten in einem kleinen Treibhause gesehen hatte, kaufte ich der Wirtin ab. Ich trug sie sorglich in mein Zimmer hinauf, ich legte sie auf das Blatt, das Luke mir gelassen, und sah träumend über die roten Blüten hin. Die zarteste mit dem fein gelblichen Geäder hatte den Duft von Hannes Haar. Ich legte die zweite, die groß und voll war, quer darüber, von der dritten aber riß ich Blatt um Blatt los und ließ es über die beiden ruhenden tropfen, langsam und schwer wie flüssigen Rubin. Und bei jedem Tropfen sollte auch ein Stück meines Herzens mitsterben, im Rosenhauch, den Hanne so sehr geliebt. Der stieg denn auch betäubend zu mir empor und legte sich beengend um meine Gedanken. Die Rosen vor mir wurden größer und blühender, der rote Regen floß nun von der Decke, von den Wänden mit unzähligen Rosenblättern um mich herab. Ich hob die Hände und griff streichelnd in dieses Blutschneien hinein, ich legte den Kopf weit zurück und ließ den linden Duft über mich spielen. Die Blätter alle stiegen wieder zur Höhe, hoben sich, senkten sich und drehten sich langsam in weiten Kreisen um meine erstaunenden Blicke. Jedes der zahllosen Blütenblätter aber trug eine liebe, liebe Erinnerung und immer war es Hanne; so viele, viele ihrer doch waren, sie wurden immer wieder neu und seltsam und konnten kein Ende haben.

Dann sah ich mich plötzlich selber an dem Tische sitzen, die zwei Rosen lagen welkend vor mir. Es war kühl und dumpfig im Zimmer und ich sah mich verstört um. Da stand das alte knarrende Bett mit den rotweißen Überzügen, ein schiefer Sessel davor. Dann war der schmale Waschkasten mit der winzigen Blechschüssel, der wackelige Tisch mit dem fleckigen, verzogenen Kaffeetuch darüber, die vergilbten Gardinen an den kleinen Fenstern und der kalte kleine Eisenofen, dessen Rohr wie eine ausgezehrte Schlange fast unter der ganzen Decke rundum lief, die schief und kaum übertüncht dem Gebälk des Dachstuhles folgte. Eine fliegenbeschmutzte Muttergottes hing an einer finsteren Wand. Es war alles so öde und tot.

Was Hanne wohl zu meinem Briefe empfunden haben mag? Muß ich noch einmal Phrasen erfinden? Nichts darf zu gering, zu schlecht sein, was ihre Liebe ein für alle Male in ihrem Tiefsten treffen und vernichten kann. Meine Freundesschuld muß sich erlösen! Was die Gewalt eines Augenblickes an plötzlicher Lüge einhämmern könnte, ich müßte es erfinden!

Luke Gröner steigt nun über die jähen Nordfelsen des Breitkopfes zur Bahn hinab. Sein Schritt ist sicher und fest, sein Blick geht starr über den Weg hin; er hat das Leid tief in der Brust verborgen, schwer und ewig wie sein Lieben. Hanne Borg sitzt regungslos in einem düsteren Zimmer und ein unbestimmter Schatten lagert zwischen ihren Brauen. Die Augen sind dunkel und lichtlos, die Lippen ohne Blut. Hanne Borg steht ihre Liebe zerbrechen, die sie für Luke Gröner im Herzen getragen und die ein Nichtswürdiger erweckt hatte. Keine Schuld lastet über einer Stunde, die zwei Menschen fraglos zueinanderzwingt; Schuld aber wuchert über dem kahlen Moore, der Same ist lange schon von den knorrigen Wurzeln umklammert und kein Auge könnte ihn mehr aus dem morschen Holze erkennen.

Und Mario Hetting? Der, den sie ›Marr! Marr!‹ riefen seit so vielen Jahren, und dem das ›Narr! Narr!‹ so widerlich in den Ohren klang? Mario sitzt über zwei Rosen gebeugt, stumm, ängstlich, denn die Zeit hat aufgehört zu laufen. Das Rauschen und Brausen in den Adern ist nicht von heute, es sind die Glocken, die durch einen leeren Dom hallen, mitten in der Nacht. Das Stechen in den Schläfen sind die Dornen all der jungen Rosen, die Hanne je geliebt hat. Das ist ein süßer Schmerz und Mario läßt ihn toben und wühlen. Oder ist es jetzt, während ich hier schreibe, oder immer? Das träume ich ja alles, es sind die Fieberphantasien meiner Kindheit! Nun werde ich fest, fest einschlafen und den Schmerz vergessen – oh, wie das gut tun wird, so gut! Denn wenn ich erst erwache, sehe ich das helle Zimmer wieder mit anderen Augen an, ohne Fieber. Ich werde still lächelnd über die bunten Figuren schauen, die dem Simse entlang laufen, werde über mein weißes Bettlein hin streicheln – ja, dort haben sie meinen lieben Bären hingesetzt und den dummen Wurstel auch! Und weiter – o Gott, nun sieht die Mutter auf mich her, ihre Augen glänzen ein wenig und der bekümmerte Zug wird ein gutes, ach, so gutes Lächeln. Darf ich die Ärmchen recken, Mutter, darf ich zu dir aufspringen? Doch sie hüllt sorglich die Decke um mich und streichelt mein schweißfeuchtes Haar … Bald, bald wird dies Erwachen sein und fort sind die wirren Träume und seltsamen Gestalten! Denn ich träume dies alles, alles, das öde Zimmer mit dem ärmlichen Gerümpel, die roten Rosen auf einem Papierblatt, die Berge, die Jahre, Hanne –

Soll Mario die Zeit verlieren, weil er sitzt und fiebert? Es klappern Holzschuhe über die ächzende Treppe, das ist die Wirtin, die heraufkommt. Nun steht sie still, just vor meiner Türe. Dann pocht sie leise und guckt herein. Ich wende mich gar nicht um.

»Herr Hetting«, sagt sie schüchtern, und noch einmal: »Herr Hetting!«

Ich rühre mich ganz und gar nicht. Ich will tot sein.

»Herr Hetting, es ist eine Dame unten –«

Ich springe wie ein Wahnwitziger in die Höhe und taste mit der Rechten zuckend über das Papier hin. Der Tisch ruckt hörbar, so zittere ich. Ich schaue die Alte an, meine Kiefer schlagen aneinander.

Nun steht sie noch immer in der halb offenen Türe. Zum Teufel, Weib, was will sie eigentlich! Eine Dame unten?

Leise, schleppend höre ich einen Schritt die Treppe heraufkommen. Es muß ein schwerer Schritt eines leichten Körpers sein. Ich höre Weh und Gram aus diesem schleppenden Gehen. Es zögert so, es kann nicht weiter, es lauscht.

Ich kralle die Finger um die Rosen, die sich feucht und kühl an meine Hand gelegt haben. Ich muß sie ihr ins Gesicht schleudern, wenn es Hanne Borg ist. Es kann nur Hanne Borg sein.

Nun hämmert es in meinem Hirn mit glühenden, spitzen Schlägen. Genau doppelt so rasch als mein Herz schlägt; ich achte einige Sekunden eigens darauf. Der Schmerz ist fürchterlich.

Ich beiße die Zähne in die Zunge, um nicht zu schreien. Wieder geht es draußen schleppend und schwer näher, so langsam, so langsam geht es und muß doch ein Ziel haben. Nun muß es vor dem letzten Absatz sein …

Um Herrgottes willen, ich darf Hanne nicht sehen!

Ich höre meine Stimme klingen, es muß aus mir selber sein, aber es tönt von überall her und ist hart und schallend:

»Sagen Sie Hanne Borg, daß ich für sie nicht zu sprechen bin!«

Es knarrt draußen, als zucke jemand unter einem Peitschenhieb. Ha, es muß lustig sein, mit Keulenschlägen den tobenden Schmerz aus dem Hirn zu jagen. Aber der schleppende Schritt geht wieder.

Ich darf sie nicht sehen – Wirtin, Weib – o Gott –

»Sagen Sie Hanne Borg, ich will sie nicht sprechen!«

Und der ganze Haß wird in mir wach, absichtlich; auch eine höhnische Grausamkeit, die Qual meines Leidens in irgendwelche Worte zu legen:

»Sagen Sie Hanne Borg, sie soll wegfahren, sofort, sie soll zu Luke Gröner gehen, sie muß, muß ihn lieben!«

Draußen bleibt es nun ganz still. Noch lauter muß ich meine Stimme vernehmen.

»Und sagen Sie ihr, es kann ja jetzt der dritte sein!«

Nun ist doch draußen so ein leises Geräusch. Ich lache in mir, und eine stürmende Freude ist es, die das Toben und Foltern in meinem Hirn überdrängt. Es wird heller und lichter, denn nun, nun wacht alles auf, meine heiße, unendliche Liebe …

Hanne muß ja gleich vor mir stehen. Sie wird weinen, wird allen Jammer tragen. Ich werde sie sehen und, die Rosen in Händen, vor sie hinfallen und um Erbarmen flehen. Mein Gott, Hanne, nun bist du da – und wir können ja doch nicht voneinander lassen!

Ich lausche ängstlich wartend und erregt auf den schleppenden Schritt. Alles still. Ich lausche ängstlicher, glücksbangend, atemlos –

Da, da! Der schleppende Schritt! Da geht es wieder. Langsam und schwer höre ich es – o du Gott droben!!

Mühsam, zerbrochen tastet ein schleppendes Gehen weiter und ferner zurück. Meine Finger gehen im Krampf steif und verkrüppelt auseinander, mein Mund reißt auf und bleibt verzerrt. Schreien ist unmöglich. Etwas umklammert meine Glieder mit eisernem Griff.

Nur das Ohr ist scharf. Ich höre es leiser und leiser die Treppe hinunterschleichen, so schwer, ach so schwer, und dennoch wie ein Fallen. Einmal ist es auch wie ein Schluchzen, wie ein ersticktes Aufheulen aus einer gräßlich verstümmelten Kehle.

Dann schlägt eine Türe hin und her. Ich warte. Sie schlägt immer nur hin und her – eine ganze Weile. Nun weiß ich es auch. Die Türe ist offen geblieben und der Wind ist es, der sie hin und her schüttelt.

Ich muß jetzt Hanne nacheilen, rasch, sie halten, sie rufen.

Verdammt, Weib, was steht die alte Bestie in der Türe und schaut so leer auf mich? Willst mir den Weg versperren, den Weg zu Hanne Borg? Sie spreizt ihre schlotternde Magerkeit in die Türpfosten, sie stiert mich an, voll Angst. Teufel und alle Heiligen, so geh doch, geh mir aus dem Wege!

Ich muß ihr an die Kehle springen! Ich ducke mich tief an den Tisch her, ich klammere die Hände in die Sesselbeine und hole zum Sprung aus –

Mit einem Schrei ist sie draußen. Sie hat die Türe zugeworfen und dreht den Schlüssel um; das knistert in dem alten Schloß wie Fingernägel, die über eine Mauer kratzen. Mein Körper fällt polternd an die Türpfosten, ich rüttle und zerre an der Klinke und schlage wie besessen an die Bretter – vergebens, nichts rührt sich.

Fenster auf. »Hallo! Hallooo!« Das Fenster ist schmal und hoch und eine eiserne Stange querüber. Unmöglich, da hinunter. Der Sturm reißt mir den Flügel aus der Hand, klirrend zerkracht das Gerümpel an der Mauer. Naßkalter Nebel peitscht um meine Ohren. Dort! Dort! Ich sehe die Wirtin hastig die Straße hinunterlaufen, ich will ihr etwas zuschreien, aber wieder legen sich Eisenhände um meinen Hals. Noch kann ich taumelnd in die Luft greifen, mich an den Fensterläden einkrallen – doch immer fester und grausiger schlingen sich die Knochenfinger um mich, um den Hals, um die Brust nun, und reißen mich rücklings zu Boden. Mein Hinterhaupt schlägt krachend gegen die Diele, ich kann nur aufstöhnen und so dumpf heulen wie der Sturm, der in dem Ofen faucht.

Blitze hin, her, grell und blendend, tanzen vor den Augen. Es saust und rauscht in mir und macht mein Blut sieden und dampfen. Flammen wogen in meinem Kopfe, der tobende Schmerz wird so unerträglich, daß ich die Hand zwischen die Zähne wühle und Biß um Biß mein Fleisch bis an die Knochen zerreiße. Wie sonderbar wohl dieser Wundschmerz tut! Ich sauge das warme Blut in meine Mundhöhle und spüle es die trockene Kehle hinunter. Schreien kann ich noch immer nicht.

Hanne! Hanne! Ich muß ihr nach, sie halten, rufen, ihr alles, alles sagen! Loslassen, sag' ich, loslassen um aller Himmel und Barmherzigkeit Sühne willen, laßt mich los, ihr gierigen Krallen! Bohrt glühende Nadeln unter meine Haut, reißt mir mein Augenlicht aus den Höhlen, schüttet siedende Gluten durch meine Kehle, aber laßt mich los, zu Hanne, zu Hanne laßt mich!

Wie ich mich drehe und winde, mit schaumtriefendem Munde zucke, stoßweise, ruckweise, wie ein Kranker – es ist alles vergebens. Sie kommen.

Sie kommen aus dem Nebel durch das Fenster, kommen aus den verschnittenen Ecken der Decke, aus allen Winkeln. Weiße, leblose Fratzen mit grünschillernden Augen und schwarzen Gruben zwischen den Kiefern. Sie neigen bleich und schwebend ihre formlosen Flächen zu mir nieder, steigen hinauf, gleiten herab, kreisen, kreisen.

Nur eines steht starr in die Luft genagelt vor mir. Das ist immer Hannes Bild, einen Augenblick lang ihr liebliches Antlitz, doch plötzlich rinnen häßliche und verzerrende Züge darüber und entstellen meines Herzens Altar zu grinsenden Mißgeburten. Ihr Auge wird rot, ihr Mund geht weit auseinander und ein schmutziger Schleim quetscht sich zwischen zerlöcherten Zähnen hervor; dann wieder sehe ich Hunderte von kleinen Ameisen über ihre eitrigen Wangen hasten – das ist so grauenvoll, so grauenvoll, weil es immer Hanne bleibt und ich meinen Blick nimmer fortdrehen kann …

Mit einem Male ist mir alles bewußt und klar. Ich liege auf der Diele, häßliche Wunden sind an meiner linken Hand. Das Zimmer ist grau und kalt. Was ist nur? Ich springe auf; groß, ziehend recke ich mich empor.

Und nun weiß ich es: Hanne war hier und ich habe irgendwie ihr Herz zerschlagen. Ich muß aber doch –

Sie ist ja fort, fort! Rasend schnell läuft alles durch mein Bewußtsein. Die Türe soll versperrt sein? Ich fühle mich taumeln, wanken, ich versuche einen Schritt, noch einen Schritt der Türe zu.

Nun höre ich meinen eigenen Schrei – endlich! Laut, gellend wie die Todeserkenntnis eines Gefolterten schneidet es durch mein Ohr:

Hanne! Hanne Borg!

Dann ist es Nacht, zeitlose Nacht für immer …

 

Ich weiß, daß ich in einer Zelle sitze und schreiben darf. Ich weiß auch, daß alle jene Zeit, Gott Dank meinem Frieden, für immer meiner Erinnerung entschwunden ist. Was ich sehe, ist das Bild des Mario Hetting, der damals und in den folgenden Stunden oder Wochen oder Jahren sein Herz verdorren gesehen hat; was vor mir steht, schreibe ich heute rasch nieder, denn ein Fremdes führt meine Feder und verwischt Zeit und Dasein von hier und damals. Es hat weder Regel noch Sinn. Sie sagen, ich sei krank und lügen mich an. In ihrem Herzen ist keine Hanne Borg gewesen, kein Luke Gröner. Über ihrem Leben stand auch nicht solche Gewalt des Müssens ohne Ziel und Frage. Ich habe sie alle gesehen, Luke, Hanne, die Männer – aber es waren meine Augen und dann wieder ganz fremde Augen, es war mein Erkennen und doch auch wieder das tote Miterleben einer vergangenen, nacherzählten Geschichte. Es war auch kein Maß darin, immer nur Jetzt, ein Nie, ein Flattern und, ja, und auch ein Leid; dieses nämlich war das einzige Ich, es trug den letzten Verbindungsfaden durch alle wirren Bilder und Gesichte; es hatte keine Grenze, keine Klage und ist in sich verglüht – – –

Ich sage dem Arzte: »Gehn Sie, Herr Doktor, gehn Sie schnell fort! Ich sehe heute noch Mario Hetting und schreibe dem Richter. Mario kommt nur noch einmal her!« Der Arzt flüstert mit dem Wärter und beide sehen auf mich her. Dann gehen beide. Ich gleich lautlos und wie ein Dieb den Sessel vor die Türe und das Tischchen vorgezogen; nun kann niemand mehr herein – und Mario, hihihi, das will ich ganz leise sagen: Mario ist schon hier –!

Es ist das Zimmer im Gasthof droben mit einem Male ganz anders gewesen. Schwarze Lederpolster auf schmalen Bänken und an den Fenstern schieben sich viele Gegenden vorüber. Mario sitzt zwischen zwei Männern, die er nicht kennt und die dennoch zu ihm gehören. Sie haben Uniformen an wie Soldaten und tragen mürrische Gesichter wie das graue Herbsttagen, das draußen lastet. Die Gegend lebt. Dort dreht sich ein Berg aus der Ebene herüber, über einem Nebelgipfel ragt ein schneeweißer Felsen empor. Er zittert langsam näher und näher, wendet seine Schmalseite allmählich zum Langrücken über, spitze Türme und graue Dachreihen lösen sich von seinem Fuße los. Kommt denn die Stadt auf uns zu? Nun pfaucht und stöhnt es in einer langen Halle. Menschen hasten hin und her, einige bleiben stehen, schauen ein wenig dumm zu Mario hin, der mit seinen Begleitern über glatte Steine geht.

Dann ist ein anderes Zimmer, ein weißes Bett sieht mitten drin und Mario sitzt stundenlang darauf. Er muß sich auf etwas besinnen und es fällt ihm nicht ein. Ein Mann mit einem blauweißen Anzug und einer roten Mütze kommt herein und bringt eine Tasse mit Schüsseln.

»Sagen Sie, guter Herr,« beginnt Mario und quält sich zu einer Frage hin, die so wichtig ist; aber er weiß sie noch nicht; »wer – wer – zahlt heute die Wirtin?«

»Sie sind gestern hergekommen; was meinen Sie?«

»Was mit der Wirtin ist; ja, hat sie nicht ein Umschlagtuch umgeworfen und ist durch den Nebel gelaufen? Sie sollte mir doch die Türe öffnen, denn ich wollte fort! Ich mußte zu der Dame unten –

Hanne, o Gott, Hanne … «

Mario packt den Arm des Mannes, der im Nu das Brett hingestellt hat und Mario an beiden Unterarmen eisern festhält. Zugleich geht die Türe auf und zwei Herren treten herein. Mario hat sie nie gesehen, aber aus dem Zwang des Gehaltenwerdens löst sich ein klarer Wille los.

»Meine Herren, bitte helfen Sie mir! Ich muß zu Hanne gehen, augenblicklich!« Er spricht den Namen ruhig aus, aber eine wilde Sehnsucht geht durch ihn. Und unklare Angst.

»Nun, nun,« sagt der ältere der beiden und steht freundlich zu Mario hin, »nun sprechen Sie doch! Wer sind Sie denn? Sie können alles Vertrauen zu uns haben.«

»Ich muß zu Hanne gehen, jetzt, sofort, bitte! Lieber Herr, führen Sie mich hin! Sie muß krank sein, es ist gut, wenn ich nicht allein gehe!«

Die Herren haben dem Blauweißen gedeutet, loszulassen, dann flüstern sie miteinander. Marios Augen hängen voll Erwartung an ihren Lippen.

»In einer Viertelstunde können wir gehen. Sie haben recht, wir müssen vorerst zu Hanne … «

Unruhig geht Mario auf und nieder. Es wollen unausdenkbare Geschehnisse aufsteigen und dennoch ist alles ruhig und erwartend. Er fühlt keinen Schmerz außer einem leichten Brennen in einer verbundenen Hand. Mario erinnert sich keiner Verletzung.

Endlich rollt ein Wagen. Es klappern die Pferdehufe am Pflaster, die beiden Herren im Rücksitz bewegen sich hin und her. Vor den Fenstern des geschlossenen Abteils wehen braune Leinenvorhänge.

»Wo wohnt denn Hanne nur?« fragt der alte Herr.

»Natürlich immer noch bei Frau Püller, am Sigmundsplatz!«

Der junge schreit etwas zu dem Kutscher hinaus.

Einige Menschen treiben sich herum. Es weht die scharfe Luft der Gasse. Ein Mann in Uniform steht unter dem Tor. Der alte Herr spricht einige Sekunden mit ihm. Seine Fragen werden plötzlich erregt. Er hält Mario unter dem Arm und der andere Herr desgleichen. Widder drängen ein paar Menschen herzu.

Marr hört nur einen Satz: Ja, sie ist tot.

Ein Kreisel dreht sich im Funkenstaub durch seinen Kopf. Er weiß es, daß Hanne Borg tot ist. Seine Augen trocknen aus wie im glühenden Sand. Dann fährt ein Blitz durch seinen Körper, losgeschnellt wie ein Raubtier greift fein Sprung über sechs Treppen empor, links über den Flur, eine finstere Treppe weiter, ein Stock, zwei Stockwerke, es sind grauenhaft viele Stufen geworden, seit er zuletzt hier war.

Wieder steht ein Mann an der Türe. Mit einem Fluch stößt ihn Mario vor die Brust und taumelt in ein Zimmer. Er steht an der Wand, die gespreizten Hände pressen sich rückwärts gegen die Mauer, seine hagere Gestalt reckt sich auf den Zehen. Er zittert.

Auf dem Bette liegt Hanne Borg, schneeweiß im Antlitz, einen schweren Schatten über der bleichen Stirne.

Am Boden knien zwei Leute um einen röchelnden Mann. Es ist Luke Gröner, dessen verkrampfte Faust einen Revolver umspannt.

Mario steht lange, lange. Es müssen viele Stunden gewesen sein. Dann treten seine Begleiter hastig herein. Die beiden Knienden stehen auf. Es ist ein kurzes, flüsterndes, unendlich leises Sprechen in dem Raume.

Mittendurch klingt eine Stimme klar und ohne Zittern vor:

»Ich, Mario Hetting, ich habe die beiden ermordet!«

Da dreht sich der eine um, Regierungsrat Dollingers ernste Amtsmiene hängt grau und wie von einem Lachen verzerrt vor Mario in der Luft, ganz nahe.

»Meine Herren, ich leite die Untersuchung. Mario Hetting gilt als verhaftet. Seine Beschuldigung ist natürlich lächerlich, da er ja seit zwei Tagen bei Ihnen ist. Bitte ihn nur der Form halber in die Inquisitenabteilung der Klinik zu geben.«

Wieder tönt Marios Stimme voll und ruhig hervor:

»Senden Sie mich nicht in ein Spital, Herr Regierungsrat; meine Wunde an der Haus ist ohne Belang. Aber ich habe Hanne Borg und Luke Gröner ermordet!«

Der eine Herr kniet wieder vor Luke. Dollingers Gesicht verschwindet vor Marios Augen. Er hört nur die Stimme, die zu dem alten Herrn in einem mitleidigen Tonfall spricht. Wieder dreht sich der Kreisel um und um. Das Zimmer ist leer, weiße Rosen blühen aus den Ecken hervor und neigen sich über die tote Frau. Die schlägt die Augen empor, ihr Blick geht suchend über die Rosen hin und erfaßt endlich Marios Augen. Es ist dasselbe Schauen, wie es einmal in einer hohen Domkuppel zu ihm niederfloß. Mario geht aber heute ohne Hemmnis leise zu ihr hin. Er muß über einen röchelnden Körper steigen, dann erst kniet er vor ihrem Bette. Aber ihre Lider sind wieder geschlossen, wächsern steht er den Augapfel durch die dünne Haut schimmern. Er legt ganz sanft seine Lippen darauf, doch die Augen öffnen sich nicht. Auch sind keine Rosen im Zimmer. Die Männer tragen einen Körper fort, der stoßweise atmet.

»Ist Luke auch tot?« fragt Mario gelassen.

»Nein, er lebt. Seine Wunde ist schwer.« Dies sagt der alte Herr, freundlich und ohne Abscheu vor dem Mörder.

Mario steht wieder vor Hanne und schaut auf sie nieder. Er zählt die Knöpfe der Decke, die über ihrem Leib liegt, er wundert sich, daß Hannes Hände darüber gefaltet sind.

Es kommt ein Sonnenstrahl durch das Fenster und zeichnet einen goldenen Weg. Gelbe und rote und braune Blätter rinnen über einen Waldweg, sie funkeln und leuchten im Sonnenlicht wie farbige Regentropfen. Dann ist auch wieder ein handbreiter Strahlenkranz um Hannes Haupt, ihre Haare zittern leise über das Kissen, als striche ein Spätsommerwind kosend über ihre Stirne. Mario streichelt scheu darüber und es knistert unter seiner Hand wie rieselnder Goldsand. Die Sonne verblaßt wieder und die Blätter zergehen. Dollinger steht an der Seite Marios und legt die Hand auf seine Schulter. Es geht wie ein Feuer durch Marios Körper. Er weiß es in diesem Augenblicke, daß dieselbe Hand auch Hannes Haare einst gestreichelt hat.

Sein Haß zerrinnt in einer dämmrigen Müdigkeit.

»Kommen Sie, Hetting!« ruft der alte Herr, der nun auch hinzugetreten ist. Mario dreht sich willig um. Er ist sich ganz klar, daß er Hannes Antlitz nie mehr sehen wird. Und dennoch geht er harmlos und befangen mit den anderen fort …

Die Schreie, die eine rasende Sehnsucht seinem Innern abgepreßt hat, die wüsten Kämpfe, die vergebens um ein unsagbares Leid seinen Körper durchschüttelten, die furchtbaren Qualen eines verlorenen und zerbrochenen Lebens, dies alles ist später erst aus vielen, vielen Nächten in die kahlen Mauern einer Irrenzelle verklungen und erstorben.

 

Ich wollte über die Wege gehen, die Hanne und ich gegangen, und sie haben mich hingeführt, oder ich habe es vielleicht geträumt. Sie haben mir aber gewiß keinen Wunsch versagt, denn auch an Hannes Grab bin ich gestanden und habe rote Rosen in meinen Händen zerrissen, denn ein schwerer Glanz von Hyazinthen leuchtete um ihren Sarg.

Sie haben mich auch zu Luke geführt, als er nach mir verlangte. Es war ein Nachmittag, vielleicht derselbe, an dem Hanne gestorben, vielleicht auch viel später.

Die Stunden aber, die ich an Lukes Bett verweilte und sie uns allein gelassen hatten, waren hell in mir, ohne Weh und es war mir dermalen alles klar und einsichtig, auch wenn es bald wieder von wirren Dunkelheiten umschlungen ward.

Luke lag fiebernd in einem reinlichen Eisenbette, ein Strauß weißer Chrysanthemen neigte sich von dem Nachtkästchen zu ihm hin. Seine Augen glühten heiß und begehrlich, seine Finger tasteten ruhelos über die Decke. Er konnte sich sonst nicht mehr bewegen.

Ich saß bei ihm nieder und strich leise immerfort seine Hand. Irgend ein Wort wollte sich von meiner Zunge lösen, aber es wurde nicht frei. Luke sprach zerbrochen, röchelnd, aber deutlich:

»Mario, Mario, sag' ihnen allen, daß ich nicht Schuld trage an ihrem Tode! Sag's ihnen, Mario, gelt?«

Immerfort streichelte ich seine Hände und neigte mich tiefer zu ihm.

»Du – du bist immer treu zu mir gestanden, Marr; ich darf dir sagen, wie schwer, wie schwer mir mein Sterben ist. Und doch – wie sollte ich leben ohne sie? – Und ich weiß gar nicht, was sie so zerbrochen hat. Ich war gleich oben bei ihr, doch es war niemand daheim. Ich ging abends wieder hin, ohne Plan, nur um sie zu sehen, um zu wissen, ob sie glücklich ist. Sie war noch immer nicht daheim. Erst am Morgen traf ich sie. Ich stand vor ihr, bittend, zag – aber sie war so seltsam, sie konnte meinen Blick nicht tragen und zitterte am ganzen Leib. Sie mußte etwas Furchtbares erlebt haben. Ich nahm sie recht zart an der Hand und sagte meine dummen Worte: ›Hanne, ich bin mit einer Waffe in der Tasche hergestürmt, um einen Schuft zu töten. Ich finde Sie, und weiß kein Handeln mehr. Wollen Sie einem treuen Freunde sein Mitgefühl glauben?‹ Sie sah mich groß an, so anders wie einst, doch sprach sie kein Wort. Dann wieder schüttelte sie ein inneres Weinen –«

Luke schwieg und atmete schwer und schmerzhaft. Seine Hand preßte sich gegen die Brust, sein großer Körper dehnte sich wie unter Qualen. War es die Wunde in seiner Lunge, war es das Erinnern an jene Stunde? Bald wieder hielt er meine Hand umfaßt und sprach weiter, so leise, daß ich mein Ohr ganz nahe zu ihm neigen mußte.

»Dann kam das Unfaßbare. Sie war aufgesprungen, ihre Hand fuhr blitzschnell in meine Manteltasche und schneller, als meine Augen sehen konnten, krachte der Schuß. ›Leb' wohl, Lieber, ich kann es nicht!‹ stöhnte sie noch in meinen Armen, aber sie sprach dies wie in eine Ferne hinaus und ich konnte es nimmer verstehen. Wie muß sie jenen Mann geliebt haben! Ich aber, wie ich sie sterben sah, Herrgott, wie ich dieses Weib, das so sehr mein ganzes Sein erfüllte, tot und schlaff in die Kissen sinken ließ und die Waffe ihrer kleinen Faust entrang, da stieg das entsetzliche Bewußtsein eines leeren Daseins so grenzenlos elend vor mir auf, daß ich in Verwirrnis und Leid mir selber die Kugel gab, die einem anderen gebührt hätte, einem, von dem ich doch nicht einmal wußte, was er Hanne angetan! Marr, Marr, ich bin feige gewesen und habe vor dem liebleeren Leben gezittert. Warum hab' ich nicht an dich gedacht – ach Himmel, wem nütze ich mit meinem Tode?«

Ruhelos flackerten seine Augen hin und her.

»Aber sie war so bleich, Marr, ihr Mund so von Gram zerstört. O Mario, auch du hättest es nicht ertragen! Wie erst ich, der sie so unendlich geliebt hat? Aber gelt –« und nun wollte er mich noch näher ziehen und in seiner klanglosen Stimme lag Grauen und Todesangst, »gelt, Marr, du glaubst nimmer, daß ich ihr ein Leids getan hätte! Behalt' mich lieb, Marr, nun haben wir sie keiner besessen! Und – und sie hätte – doch bald in – in unsere Treue einen Bruch gebracht … «

Abermals schüttelte ihn ein schmerzvolles Stöhnen.

In mir aber starb nun Fühlen, Denken und Leben.

Es war die einzige Guttat, die ich ihm noch geben konnte, daß ich ihm seinen Glauben an mich nicht nahm. Gott verzeih mir!

Es ist ein furchtbarer Tod gewesen, den Luke Gröner gestorben ist. Das Leben wollte diesen Mann nicht hergeben, der so vieles noch zu vollbringen imstande gewesen wäre. Viele endlose Stunden lang hat das Fieber diese starken Glieder durchlebt, die sich des Todes wehren wollten; vergebens. Gegen Abend lag er in wilden Phantasten, sah Hanne immer vor sich mit dem Revolver in der Hand, er rief meinen Namen flehend um Hilfe und bat mit zitternden Lippen, ihm die Wunde zu heilen. Dann wieder schrie er seinen Trotz und Stolz in die Nacht, mit Hanne gestorben zu sein und ihr letztes Atmen auf seiner Wange gefühlt zu haben. Oder er klagte sich seiner Feigheit an, daß er sich aus dem Leid eines enttäuschten Lebens gestohlen. Immer aber schlang irgend eine gute Bitte oder ein treues Gedenken um meinen Namen, und sooft sein ›Marr! Marr!‹ über seine heißen Lippen bebte, ging ein Dolchstich durch mein schuldschweres Herz.

Später ist seine Stimme schwächer und schwächer geworden, nur das Gesicht zerrissen Zuckungen und seine Hände fanden auch in den meinen keine Ruhe mehr.

Gegen Mitternacht ist er ganz ruhig geworden. Dann plötzlich hat ein heulender Schrei durchs Zimmer geschnitten, sein Oberkörper bog sich hoch und steil empor, sein Blick stierte in die Zimmerdecke. Der Arzt wollte ihm eben wieder Morphium geben, doch Luke fiel schon schwer zurück und war tot.

Auch zu seinem Grabe haben sie mich gehen lassen, ich stand, von niemandem gekannt, zwischen meinen Begleitern unter der Menge von Freunden, Ingenieuren und Arbeitern und allen denen, die ihn lieb gehabt haben. Ob einer darunter war, der ihn so lieb hatte wie ich? Ob einer war, der ihm so schlecht vergolten hat? Ich konnte nicht weinen. Ich war nun immer schon so leer und klanglos und hatte Angst, meinem Leid ein Tor zu öffnen.

Als die ersten Erdschollen über den Sarg hinabpolterten, begann es sachte zu schneien. Weiße Flocken tanzten nun bis in sein finsteres Haus hinunter, glitten schemenhaft in die schwarze Höhlung, die wie ein geheimnisvoller Schlund dem Leben da heroben entgegenstarrte.

Ich sah einige Männer weinen.

Mario Hetting hat keine Tränen gehabt.

 

Auch die kommenden Wochen und Tage sind nur von einem wesenlosen Wunsche getragen gewesen, meine Schuld an das Licht zu zerren und den doppelten Mord zu sühnen. Sie haben mich auch über meine bestimmten Äußerungen in ein Untersuchungsgefängnis gegeben. Dort saß ich viele Nächte lang auf der Pritsche und grübelte mir die Ereignisse zusammen, die ich ihnen sagen wollte. Wer sooft ich vor die Herren getreten bin und zu erzählen begann, haben sie mir die Worte abgeschnitten und sich an lächerliche Tatsachen geklammert, die nur die Zufälle eines Schicksals waren, dessen verhängnisvolles Wachsen zuletzt immer wieder in mir allen Keim der Schuld trug. Ich wurde aber zu müde, um dieses immer neu und vergebens zu wiederholen.

Ihr Richter, ihr habt wohl Grund und Gesetze, ein armes Leben zu zerstören, wenn Hunger und Not eine Mutter zu einem Stück Brot gezogen haben, wenn zornglühender Liebesschmerz ein Messer locker in der Scheide fand, wenn gerechte Empörung über verborgene Gemeinheit einem vom Unglück verfolgten Vater Zucht und Ordnung – eure Ordnung! – vergessen machte. Denkt ihr daran, wenn der tote Buchstabe schweigt und euer Menschenherz wach ist? Wenn aber eine Kette von Schuld zwei wertvolle Menschenleben in den Tod getrieben hat, dann finden eure tintenmüden Augen kein verborgenes Wörtchen in euren dicken Büchern!

Es sind grauenvolle Nächte gekommen, in denen meine Müdigkeit verkümmert ist und ihren starken Wall gegen alles Leid nimmer halten konnte. Damals haben sie mich hiehergebracht – wie es war, das darf mein Erinnern nicht berühren.

Das war immer Nacht und kein Tag dazwischen. Manchmal war mein Zimmer schrecklich leer und viele Augen um mich; seltsam regelmäßig wie die Heftknöpfe von Matratzen sahen sie auf mich her, oben und unten und überall waren die Mauern weich wie Polster und überall glotzten die Matratzenaugen. Doch dies war alles so verschwommen und undeutlich, ich glaube nur, daß auch meine Kleider damals so enge waren. Diese Nächte aber haben mein Herz tot und leer gemacht.

Nun wird es immer seltener, daß die spitzen Nadeln in mein Hirn stechen und meine Schreie durch die Nacht gellen. Ich fühle mein Blut rauschen, das schafft einen Nebelflor um meine einsame Kammer. Nun schlafen die Wächter, auch der Arzt schläft, Hanne Borg schläft, Luke, Dollinger und der Oberlandesgerichtsrat. Alle haben mich allein gelassen. Aber es ist mir keine Mühe. Es muß Winter sein mit blühendem Schnee – ich habe so ein Frösteln in allen Gliedern und doch auch eine linde Blumensehnsucht.

Komm nur näher, Hanne, ich tu dir kein Leides an, ich doch sicherlich nicht! Hörst du denn nicht die Glocken klingen, siehst du denn die weißen Blüten nicht zwischen den bunten Herbstblättern? Gib mir die Hand und sei nur recht stille, lieb Hannele, unser Kind schläft dort zwischen den Schneegräsern und muß noch lange ruhen! Sieh nur, wie es die Fäustchen unter das Kinn ballt, gerade so hast du es auch im Schlafe gemacht. Gelt, Hanne, es hat dein Herz, das Kleine, es hat deine Augen und deinen Sinn! Ob es auch so glücklich werden kann wie wir beide? Nimmer, nimmermehr!

Oder bist du vordem glücklicher gewesen?

Achte doch nicht auf diesen Schritt draußen! Schleppend ist er? Unsinn! Es ist mein Wärter, weißt du, Hanne, der jetzt noch einmal um die Gänge schleicht. Sei still, Hanne, sie dürfen dich nicht hören! Was zitterst du denn so?

Lieder sind es, die leise durch die Luft ziehen. Ich hab' einmal ein Mädchen Lieder singen hören, die waren so schön, daß sie nimmer vergehen und in manchen Stunden von selber erwachen. Heute aber, wie sie so besonders rein ertönen – sie rufen ja, sie rufen …

Ich will mich lieber doch nicht umsehen. Wenn die starre Hand hinter mir wäre mit den Krallen! Die packt mein Genick und reißt mich über den Weg. Ich komme nimmer los, sie stößt mich in den finsteren Taumel.

Es ist alles so unbarmherzig.

Mein Zimmer ist größer geworden, seit du hier bist, Hanne! Du darfst es dem Arzt nicht sagen, daß wir leise fortgehen wollen. Halte nur meine Hand, du Liebe, und führe mich weiter; die Welt versteht uns nicht; meine Augen sind nimmer so hell wie früher und gehorchen nicht mehr dem Willen. Aber so lange du vor mir gehst und meine Hand in der deinen ruht, sehe ich Sonne und Licht! Jetzt ganz, ganz leise! So, den einen Gang noch entlang – pst – hörst du nichts?

Sie schlafen ja alle, alle, Luke, Hanne und die Wächter …

Dort drüben war einmal eine alte Mauer, so wie droben auf der Bastei, weißt du noch? Die Mauer ist ja gar nimmer da! Schnell, ach schnell, Hanne, ich höre das Wasser um den wankenden Steg rauschen. Geh voraus, geh Hanne, ich lasse deine Hand nimmer! Rosendüfte sind es, keine Hyazinthen. So haben sie mich also immer angelogen! Es sind Rosen, Rosen …

Hanne, Hanne, gehen wir nach Eden ein?

Jetzt fest halten, Hanne! Sie kommen uns nach, Hanne, ich höre Schritte, so eins – zwei – eins – zwei – fest halten, Hanne, verlaß mich nur jetzt nimmer! Es ist nur ein einziger Schritt noch hinüber! Steht dort noch einer drüben? So hilf mir doch, ich kann den Fuß nicht heben – es ist kein Blut darin zum Leben – das strömt nun alles in die Schläfen hinauf, wie das nur hämmert und schmerzt. Wer stellt sich in unseren Weg? Es spannen diese entsetzlichen Klammern um mich, Hanne, die mein Leben auch immer umschlossen haben, damals, als ich dich erschossen habe. Dich und Luke habe ich erschossen.

Das tut so fürchterlich weh, so weh tut es, so weh, so weh – – –

Hanne, Hanne, Hanne, Hanne, Hanne – – –

*

Hier reißt das Manuskript ab. Interessant ist die angefügte Bemerkung des Anstaltsarztes: ›Der Patient wurde aufgefunden, die Hände über die zerstreuten Blätter gekrallt, den Kopf gleichmäßig gegen die Tischkante stoßend, ein unverständliches Wort ununterbrochen wie im Takte lallend, einem hoffnungslosen Delirium anheimgefallen.‹


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