Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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9

Blake hatte bequem auf dem Diwan gelegen und in der Abendzeitung gelesen, aber bei diesen Worten erhob er sich sofort und setzte sich zu Atherton an den Tisch.

»Meiner Meinung nach ist diese Angelegenheit weit ernster, als wir zuerst dachten, und es handelt sich vielleicht noch um größere Dinge als nur um das Verschwinden von Dick Malvery. Es scheint mir doch sehr wichtig, daß wir auch in die Vergangenheit zurückgehen. Wir müssen vor allem erfahren, was sich ereignete, ehe Dick damals auswanderte. Bringen Sie das Verschwinden von Miß Hester Prynne mit ihrem Ohnmachtsanfall gestern abend in Verbindung?«

»Die Sache sieht immerhin recht sonderbar aus. Ich weiß natürlich nur, was mir Boyce Malvery sagte. Miß Prynne erklärte, daß die heiße Luft des Zimmers an ihrer Ohnmacht schuld gewesen sei. Heute morgen schien sie wieder ganz gesund und normal zu sein, und kurz nach dem Frühstück ging sie in die Stadt, um Einkäufe zu machen wie gewöhnlich. Wir haben festgestellt, daß sie beim Fleischer und Gemüsehändler war, aber seit etwa elf Uhr hat man nichts mehr von ihr gesehen. Auch auf dem Bahnhof war keine Spur von ihr zu entdecken. Sie muß die Stadt zu Fuß verlassen haben. Boyce Malvery sagte mir, daß sie noch niemals den Ort verlassen hätte, seit sie vor fünf Jahren die Stellung bei seiner Mutter angetreten hat.«

»Wo war sie denn früher?«

»Hester Prynne ist die jüngste Tochter eines Landgeistlichen hier aus der Gegend. Ihr Vater starb vor ungefähr fünf Jahren und ließ die beiden Mädchen allein zurück. Und da Mrs. Malvery entfernt mit ihr verwandt war, nahm sie Hester in ihr Haus.«

»Und wo lebt die andere Schwester?«

»Soviel ich weiß, ist sie Erzieherin in London. Das können wir bald herausbekommen.«

»Ich frage nur, weil sich Miß Prynne vielleicht dorthin gewandt hat. Es ist allerdings sehr sonderbar, daß sie gerade jetzt verschwindet.«

Atherton schüttelte den Kopf und sah einige Augenblicke nachdenklich auf die Asche seiner Zigarre.

»Nun, es ist ja möglich, daß sie heute oder morgen wieder auftaucht und sich alles natürlich aufklärt.«

»Das glaube ich kaum! Es ist sicher wieder ein neues Geheimnis. Hester Prynne ist aus einem bestimmten Grund fortgegangen, und meiner Meinung nach hängt ihr Verschwinden mit Dick Malvery zusammen. Ich habe übrigens auch eine kleine Neuigkeit. Ich bin in dem kleinen Gasthaus bei Marshwyke während des Regens eingekehrt und dabei habe ich Judah und Gillian Clent gesehen.«

»Ach, das ist ja interessant! Was halten Sie denn von den beiden?«

»Sie sind kräftige, urwüchsige Menschen. Gillian erinnerte mich an eine Amazone. Ich habe auch eine Unterhaltung zwischen Judah Clent und einigen anderen Leuten gehört, und nach seinen Angaben kann er an einer Ermordung Dicks nicht beteiligt sein. Er erzählte, daß er Mitte Februar eine Reise nach der Levante antrat und daß er erst Mitte März zurückkehrte. Und persönlich bin ich geneigt, seinen Worten Glauben zu schenken.«

»Mag sein, aber seine Mutter und seine Schwester waren doch hier.«

Blake nickte, als Atherton ihm einen vielsagenden Blick zuwarf.

»Das stimmt. Die Mutter ist Gillian im Charakter wohl sehr ähnlich? Natürlich viel älter. Jedenfalls aber ein starkes Geschlecht!«

»Ich würde viel darum geben, wenn ich herausbekommen könnte, ob Dick Malvery in jener Nacht wirklich die Clents besucht hat.«

»Wie schon gesagt, das wichtigste ist für uns jetzt, die Vergangenheit aufzuhellen. Wenn wir erst wissen, was sich damals vor fünf Jahren ereignete, können wir die ganze Geschichte aufklären.«

»Ganz recht. Boyce Malvery liegt auch sehr viel daran, daß diese Fragen gelöst werden. Er hat vor, einen erstklassigen Detektiv zu engagieren und eine größere Belohnung auszusetzen.«

»Dann hat Boyce wahrscheinlich sehr viel Geld?«

»Er ist kein reicher Mann, aber er kann doch immerhin gegen tausend Pfund als Belohnung für wirklich wichtige Angaben aussetzen.«

»Wenn ihm wertvolle Informationen tausend Pfund wert sind, dann werde ich meine Belohnung ebenfalls auf tausend Pfund erhöhen. Und ich möchte die Hälfte der Kosten für den Detektiv tragen.«

»Das ist sehr großzügig von Ihnen, aber Boyce Malvery ist ein merkwürdiger Mann. Wenn er etwas unternimmt, liebt er keine Einmischung von anderer Seite. Und, im Vertrauen, mit Ihnen möchte er überhaupt nichts mehr zu tun haben, weil er Sie nicht leiden kann.«

»Ja, das weiß ich.«

»Er glaubt, daß Sie ihm etwas verheimlichten, als er jene Frage an Sie stellte. Sie wissen schon, welche ich meine.«

»Natürlich«, erwiderte Blake lächelnd. »Aber da irrt er sich. Mehr konnte ich ihm wahrhaftig nicht sagen. Nun, lassen Sie ihn ruhig auf seine Weise vorgehen, ich werde auch ohne ihn fertig.«

*

Am nächsten Morgen mietete Blake noch einmal das Pferd seines Wirtes und ritt kurz nach dem Frühstück nach Malvery Hold hinaus. Dicks Verwandte waren ja am ersten in der Lage, Aufklärung über seine Vergangenheit zu geben. Zwar war es hoffnungslos, den alten Vater um irgend eine Auskunft zu bitten, aber zweifellos würde Rachel alles erzählen, was sie wußte. Und auch andere Leute, wie zum Beispiel Jakob Elphik, konnten ihm sicher Wichtiges aus Dicks Vergangenheit berichten.

In der düsteren Allee traf Blake Jakob Elphik, der ihn argwöhnisch von der Seite ansah. Er war offenbar nicht in freundlicher Stimmung, und sein Ton war ungeduldig und gereizt.

»Was wollen Sie denn schon wieder hier?« fragte er, als ob er der Eigentümer des Herrenhauses selbst wäre. »Es hat doch keinen Zweck, immer wieder hierherzukommen und nach Mr. Richard zu fragen. Ich habe Ihnen doch längst gesagt, daß wir nichts von ihm gesehen und gehört haben, seitdem er von uns fortging. Und Sie können auch Miß Malvery nicht sprechen. Sie muß Sir Brian pflegen und hat keine Zeit. Sie tun am besten, wenn Sie wieder umkehren.«

Blake nickte dem alten Mann nur zu und ritt ruhig weiter, denn er hatte Rachel bereits gesehen, die in der Tür des Herrenhauses stand.

»Jakob scheint hier den Wachthund spielen zu wollen«, meinte er nach kurzer Begrüßung, während er abstieg. »Vielleicht glaubt er, ich will hier silberne Löffel stehlen. Auf jeden Fall ist ihm meine Gegenwart nicht angenehm.«

»Er behandelt alle Leute so. Mit der Zeit wird er sehr sonderlich, und ich muß ihm manches nachsehen.« Sie wandte sich an den Alten, der inzwischen herbeigekommen war und ein böses Gesicht machte. »Nehmen Sie Mr. Blakes Pferd, und führen Sie es in den Stall.« Dann trat sie mit Blake in die Halle. »Er kümmert sich schon darum; man kann sich auf ihn verlassen, so merkwürdig er auch manchmal ist. Es würde mir schlecht gehen, wenn er nicht hier wäre. Er ist der einzige, an dem ich noch einen Rückhalt habe.«

»Ich hoffe, daß Sie mich nicht vergessen«, sagte Blake schnell. »Ich bin doch gerade gekommen, um Ihnen zu helfen.«

»Sie meinen es gut, ich weiß es.« Sie sah ihn fragend an. »Haben Sie Neuigkeiten?«

»Nichts von großer Bedeutung, wenigstens soweit ich es bis jetzt beurteilen kann, aber vielleicht kann man weitere Schlüsse daraus ziehen.« Er erzählte ihr von seinem Abenteuer im »Gelichteten Anker« und von dem plötzlichen Verschwinden Hester Prynnes.

»Was sagen Sie dazu?«

»Wenn sich auch Judah Clent im vergangenen Februar nicht hier aufhielt, so waren doch seine Schwester und seine Mutter hier. Ich habe seit gestern viel nachgedacht, und ich bin immer mehr davon überzeugt, daß das Geheimnis von Richards Verschwinden mit den Clents zu tun hat. Über Hester Prynne kann ich nichts sagen.«

»Boyce Malvery erzählte aber doch Atherton, daß Hester Prynne sich in Dick verliebt hätte, bevor er fortging.«

»Dann mag Boyce Malvery das Geheimnis von Miß Prynne lösen«, entgegnete sie abweisend. »Er hat immer nur schlecht von Richard gesprochen. Sind Sie eigentlich mit einer bestimmten Absicht gekommen?«

»Ich möchte einmal Dicks Zimmer sehen. Wenn Sie mir das gestatten, will ich nachforschen, ob er irgendwelche Schriftstücke hier zurückgelassen hat. Vielleicht kann man daraus einen Schluß ziehen.«

»Richard war kein Freund von Papieren und Dokumenten, aber Sie können natürlich seine Zimmer sehen. Sie sind kaum berührt worden, seitdem er damals fortging. Ich will Sie führen.«

Als sie durch die verschiedenen Räume und Gänge des Hauses schritten, hatte Blake einen sehr traurigen Eindruck von dem verfallenen Zustand des Gebäudes. Er folgte Rachel zu einem Flügel, der sich auf der Seite des öden Marschlandes und der Bucht hinstreckte. Die Räume waren feucht, und überall hatte sich der Schwamm im Holzwerk festgesetzt. Die Tapeten hingen in Fetzen herunter, und die Möbel waren von Würmern zerfressen. Rachel sagte nichts. Sie schien die Dinge, die sie umgaben, nicht zu empfinden. Schließlich öffnete sie die Tür eines Zimmers, das verhältnismäßig weit entfernt von den jetzt bewohnten Räumen lag.

»Dies war sein Arbeitszimmer«, erklärte sie dann, »und der Raum nebenan sein Schlafzimmer. Sehen Sie sich hier um, soviel Sie wollen. Ich muß jetzt wieder hinuntergehen und mich um meinen Vater kümmern.«

 


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