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27. Kapitel

Es war abermals am Freitag, Morgens zehn Uhr, als wir Alle, die wir das Drama im Hause Sir Robert Grahams glücklich hatten enden sehen, mit dem Gefühle einer ernsten, aber notwendigen Pflichterfüllung den großen Reisewagen des Viscount von Dunsdale bestiegen, um uns insgesamt nach Codrington-Hall zu begeben. Nicht die Macht einer ganzen Welt hätte Percy jetzt von seiner Ellinor getrennt, er hatte ihr und sich selbst gelobt, sie keinen Augenblick aus dem Auge zu verlieren, denn man wird mißtrauisch auf ein kostbares Besitztum, welches man schon einmal und fast unwiederbringlich verloren hatte, und fürchtet es stets von Neuem zu verlieren.

Um die Reise aber möglichst zu beschleunigen, hatte Percy seine eigenen Pferde schon zwei Tage vorausgeschickt, während wir jetzt mit Sir Robert schönen Schimmeln unseren Weg antraten und von der Dienerschaft des Viscount begleitet wurden.

Das Wetter begünstigte unser Vorhaben eben nicht, denn es regnete, stürmte und wetterte, wie es der September im nördlichen England leider recht oft mit sich bringt. Doch was konnte uns vier Personen die Witterung anhaben, die wir in einem bequemen, dicht verschlossenen Wagen saßen und das Glück, unter uns und beisammen zu sein, mit uns auf die Reise nahmen!

Sonnabend und Sonntag Morgen wechselten wir die Pferde, und es kam die Abendstunde des Sonntags heran, als wir die Grenze der umfangreichen Güter des Marquis von Seymour vor uns liegen sahen.

Die Betrachtungen, die dieser längst vorhergesehene und jetzt wirklich ins Leben getretene Augenblick in jedem Einzelnen von uns erweckte, waren besonderer Art und von entschiedener Wirkung auf unsere gegenseitige Stimmung und Unterhaltung. Bisher hatten wir froh und harmlos miteinander geplaudert – und es plaudert sich so schön in trautem Beisammensein nach schwerer und langer Arbeit und Mühe. Wir wurden einsilbig, allmählich stiller und stiller, und zuletzt verstummten wir ganz. Der dumpfe Flügelschlag einer ernsten Stunde mochte mahnend an unser inneres Ohr schlagen – wir hatten Ursache genug, die nächste Zukunft nicht mit allzu glänzenden Farben uns auszumalen.

Denn ach! es war nicht mehr der lachende, heitere, grüne, von Ellinor einst so kindlich geliebte Wald, in dessen kühlen Schatten wir, gastlich aufgenommen, treten sollten; es war das stille Waldhäuschen nicht mehr, die unbescholtene Wohnung des tugendhaften Pfarrers, welche Ellinors friedliche Kindheit, ihre Jugenderinnerungen und ihre heimischen Freuden und Genüsse umschloß die verhängnisvolle, schwere Hand eines trostlosen Geschickes hatte sich auf diese Fluren, auf diese Wohnung des Friedens gesenkt – hier war das Gräßlichste selbst geschehen: der Vater hatte seinem Kinde geflucht, der Priester war von seinem Altar getrieben worden, Bruder hatte gegen Bruder die mörderische Hand erhoben – hier flammte der Herd des Unheils, das während vier unvergeßlich langer Jahre auf die Häupter so vieler Unschuldigen geschleudert worden war. Hatten wir nicht Grund genug, mit einem gewissen gerechtfertigten Grauen diese verlassene und mit Entsetzen bezeichnete Öde zu betreten?

Wir kamen rasch näher und näher; jeder Baum, jeder Strauch, vom heulenden Winde geschüttelt, sprach seine Mitwissenschaft an den hier verübten Verbrechen aus – jeder Schritt unserer Pferde führte uns dem Orte näher, an dem so viele Seufzer hingen und um den so viele Tränen geflossen waren. Kaum waren diese getrocknet, da erinnerte er uns schon wieder, daß er neue hervorrufen könnte.

Jetzt erst bemerkten wir, daß es kein heiterer Sonnentag war, dessen Luft wir einatmeten. Zum ersten Male hörten wir deutlich das Heulen des Windes, das Krachen der brechenden Äste und Zweige, das Rauschen des fallenden Laubes – es wurde plötzlich eisiger Winter in unserer lebenswarmen Brust.

Ellinor schmiegte sich fester an Percy. Percys Auge schaute düster und traurig in den Wald; auf seiner zusammengezogenen Stirn lag eine dunkle Wolke, das Zeichen eines in seiner Brust heraufziehenden Gewitters. Sir Graham saß voller Spannung da, ich voll banger Erwartung des nun zunächst Kommenden.

Da hielt der Wagen an – uns Alle befiel ein Beben, das Gefühl eines nahenden und sich entscheiden sollenden Verhängnisses ergriff uns. Wir stiegen aus; nur Ellinor blieb in dem Wagen sitzen, während Phillipps an der Tür desselben Wache hielt. Und siehe! da standen wir vor dem traurig und verlassen blickenden grauen Waldhause mit den beiden runden Türmen von Stein. Noch waren, wie damals, seine Türen und Fenster geschlossen, nur dichter noch bedeckte ein modernder Rasen seine so lange unbetretene, ungastliche Schwelle. Keine harmlose Rauchsäule, aus den zerfallenen Schornsteinen aufsteigend, verkündete, daß Leben und Behaglichkeit in seinen kalten Mauern herrsche, kein lebendiger Laut verriet, daß irgendein Mensch seine schweigenden Zellen bewohne. Es war finster, unerfreulich und kalt von Innen wie von Außen.

Da traten wir, Percy, Sir Robert und ich, ein paar Schritte zur rechten Hand an das Ufer des sturmbewegten Sees. Er schüttelte wie in krampfhaftem Schmerze seine langen, düsteren Wogen, die schäumend an das kahle Ufer schlugen – der ganze Himmel, soweit das Auge reichte, war mit dichten, grauen Wolken umzogen, die sich wie erbitterte Feinde auf- und niederjagten, und kein Fleckchen des lächelnden, durchschimmernden Blau leuchtete im ganzen Umkreise des erzürnten Horizontes hervor.

Da ergriff Sir Robert Graham des Viscount von Dunsdale Arm.

»Sieh, mein Sohn, meine Prophezeiung scheint in Erfüllung zu gehen«, sprach er in feierlich tiefem Tone. »Dein Geschick hat die lange vorher verkündete Wandlung erfahren – Wolken und Wogen stürmen gegeneinander, aber in dein Herz wird Ruhe und Friede versöhnend einkehren!« Wir standen lautlos und schauten in das Brausen der schaumgekrönten Flut – unsere Blicke allein begegneten sich freundlich und bejahten schweigend die Wahrheit des eben Gesprochenen.

Endlich raffte sich Percy zusammen.

»Wir müssen handeln!« sagte er. »Gehen Sie, mein Freund, und tun Sie den letzten Schritt – dort hinten ist meines Vaters Haus gehen Sie zu ihm und – Sie wissen ja – tun Sie das Ihrige!«

»Ich werde gehen!« antwortete ich. »Und wenn Sie erlauben, so werde ich dem Haushofmeister einen Wink geben, daß er diese Tür öffnen und diese Zimmer wohnbar machen lasse. Es sind Gäste gekommen, wie sie nicht alle Tage da sind, Gäste, die des wohnlichen Herdes und des flackernden, heimischen Feuers bedürfen. Bleiben Sie denn Alle hier, bis ich Sie rufen lasse, behalten Sie aber Ihre Diener bei sich – doch ich hoffe, es wird keine Gefahr mehr vorhanden sein.«

Wir drückten uns die Hände und ich ging – ging noch einmal auf das alte Codrington-Hall los, dessen graue Mauern mir, wie das erste Mal, unfreundlich und kalt entgegentraten.

Bei dem Unwetter hielt sich kein Mensch draußen auf. Ich näherte mich unbeobachtet dem Eingangstor und bewegte den Klopfer, dessen dumpfe Töne wie damals durch das ganze Haus schallten.

Die Sonne war jetzt von unserer Halbkugel verschwunden, und die Nacht brach eilend herein.

Derselbe Diener, der mir bei meinem ersten kurzen Besuche in Codrington-Hall den barschen Bescheid gab, der Marquis sei nach London gereist, öffnete mir zufällig auch diesmal die Tür.

»Wer klopft so stark?« schrie er mich an. »Weiß man nicht, daß Seine Herrlichkeit kein Geräusch vertragen kann – ha!« und er fuhr zurück, als er mein Gesicht sah, das ich durch Mantel und Hut bisher etwas verborgen gehalten hatte.

»Warum erschreckt Ihr?«

»Sind Sie nicht der Herr, der neulich – vor wenigen Wochen –«

»Der bin ich!«

»Und der den Gruß von St. James an mich zurückgelassen hat?«

»Der bin ich, der bin ich – warum?«

»Nun, Sir, ich danke Ihnen, die richtige Bestellung hat mir Peitschenhiebe eingetragen –«

»Peitschenhiebe? Das wäre! Von wem?«

»Von wem sonst als von Sir Mortimer.«

»Warum? – Geschwind, warum?«

»Ja, was weiß ich! Er schrie: du lügst, du lügst! Du hast ein Gespenst gesehen, es ist nicht wahr, nicht möglich – und da ich es versicherte, schlug er auf mich mit seiner Jagdpeitsche los und wollte mir das Gesicht austreiben –«

»Welches Gesicht?«

»Nun, das Ihrige wahrscheinlich –«

»Aha! Und darum erschrakt Ihr – doch wo ist Sir Mortimer?«

»Fort! Schon seit drei Tagen fort, zu Pferd und ganz allein.«

»Wohin, wißt Ihr nicht?«

»Das weiß kein Mensch! Sir Mortimer pflegt Niemandem zu sagen, wohin er geht und von wannen er kommt.«

»Ruft mir sogleich den Haushofmeister hierher!«

»Bedaure sehr – Sie sprechen zwar in sehr bestimmtem Tone, aber er kann dennoch nicht kommen.«

»Und warum kann er nicht?«

»Weil er bei Seiner Herrlichkeit sitzt und sich die Lunge ausschwatzen muß, um Seiner Herrlichkeit schwarze Gedanken zu vertreiben – hm!«

»Er muß dennoch kommen und sogleich – ich will es – im Augenblick – geht hinein und sagt ihm, der Arzt aus St. James sei da!«

Der Mann starrte mich mit einer Miene an, die mir unter anderen Umständen ein Lachen ausgepreßt haben würde, so halb verwunderungsvoll, halb ängstlich war sie.

»Schon wieder aus St. James?« rief er. »Ich werde mich hüten.«

»Ihr werdet Euch hüten, meine Befehle nicht zu erfüllen; noch einmal, ich will es, ich befehle es Euch im Namen Eures Herrn, der mich erwartet – jede Zögerung komme auf Euer Haupt!«

»So? Ha! das ist was Anderes – entschuldigen Sie, Sir!«

Und er verschwand.

Ich trat in die Vorhalle, das Wetter war zu abscheulich draußen. Es dauerte nicht lange, so kam der Haushofmeister herabgestürzt.

»Gott sei Dank, daß Sie da sind, Sir!« rief er mir lebhaft entgegen. »Das ist gut, das ist sehr gut!«

»Ist irgendetwas geschehen?«

»Nein, nein! Aber er ist wieder – ganz verdreht. Ich glaube, die Angst vor Sir Mortimer – ist Mylord Percy mit Ihnen?«

»Ja, er hält mit seinen Leuten vor dem Hause da unten am Ende der Kastanienallee – laßt es aufschließen und Feuer anzünden, denn es ist nicht angenehm im Freien.«

Der Mann sah mich wie versteinert an.

»Vor dem Hause dort unten? Dem alten Pfarrhause? Da will er einkehren? Warum nicht hier?«

»Es ist nur für den Augenblick, bis ich ihn hierher rufen lassen kann – es sind noch Andere mit ihm –«

»Ja so, ja so – ich werde sogleich Befehl geben – heda!«

Und er rief die Namen mehrerer Diener.

»Ah, Sir, gehen Sie eine Treppe hinauf – das zweite Zimmer links, Sie können es nicht verfehlen – ich werde Alles so schnell wie möglich einrichten lassen –«

Der brave alte Diener lief in seiner Freude und Überraschung atemlos zurück, die zögernden Diener selbst aufzusuchen und zur Eile anzuspornen.

Ich stieg eine Treppe hinauf und kam an die zweite Tür links. Alles war wieder so still und einsam, wie es in Seymour-Castle gewesen war; ebenso dichte Teppiche wie dort deckten auch hier den Boden der Gänge und Treppen. Ich pochte an die Tür. Niemand rief: herein! – Ich drückte das Schloß leise auf und trat ein – ich schauerte unwillkürlich – es war vielleicht dasselbe Zimmer, aus dem Percy verjagt worden war.

Und was sah ich? Ein düsteres, wieder von dunklen Vorhängen beschattetes Gemach, den Boden wieder mit dem schwarzgrünen Velourteppich belegt – und wäre nicht ein ziemlich helles Kaminfeuer dagewesen, ich hätte, da bereits die Dämmerung eingetreten war, nichts um mich her erkennen können.

Dicht am Kamin, auf seinem gewöhnlichen Sessel und in Pelze gehüllt, saß, lag oder kauerte vielmehr die mir so wohlbekannte abgezehrte Gestalt des alten Marquis von Seymour.

Aber es war eine Veränderung mit ihm vorgegangen, eine große Veränderung, die mir sogleich auffiel. Er war noch bleicher, aschfarbener, hohläugiger geworden, als er bei meinem ersten Besuche gewesen war. Die Sonne, die einen Augenblick über seinen abirrenden Geist aufgegangen, hatte sich wieder hinter trüben Wolken verborgen. Der Einfluß meiner Gegenwart war zwar für den Augenblick stark, aber nicht dauernd gewesen – ich bemerkte einen eigentümlichen, mir sehr bekannten und charakteristischen Zug in seinem verschrumpften Gesichte, seine Augenbrauen waren, wider seine Gewohnheit, beide nach Außen in die Höhe gezogen, und verliehen seinem abgemagerten Antlitze mit der totenähnlichen Physiognomie jenen auffallenden Ausdruck des Irrwahnes, den man leider so häufig in Irrenhäusern wahrzunehmen Gelegenheit hat.

»Hu!« schrie er auf, als ich eintrat, und wehrte mit seinen mir zugekehrten Handflächen meine Erscheinung ab. »Wer kommt da? Was wollt Ihr?«

»Ich bin es, Mylord!« sagte ich und trat ihm näher, indem ich Hut und Mantel, die ich in der Eile noch nicht abgelegt hatte, beiseite warf.

»Wer, wer? Mein Sohn? – Mortimer?«

»Nein, Mylord!« entgegnete ich, faßte seine kalten Hände und stellte mich dicht vor ihn, so daß das Licht vom Kamin aus auf mein Gesicht fiel, »ich, der Arzt, der Sie vor wenigen Wochen in Seymour-Castle besuchte –«

»Ha!« rief er, und schien sich zu freuen, »Ja, ja, ich besinne mich – ach! daß Sie da sind, das ist gut, das ist schön – aber Sie – Sie wollten nicht – allein kommen!«

»Ich komme auch nicht allein, ich bringe – ihn, ihn – ja, ihn!«

»Ihn? Wen? – Mortimer?« fragte er mit ängstlich gespannter Miene.

»Nein, Mylord! Percy, Ihren Sohn, Ihren teuren, lieben Sohn Percy –«

»Ha! Percy! Wird er mich nicht umbringen? Ich habe ihn schlecht behandelt – sehr schlecht –«

»Vergessen Sie das, Mylord, das war ja früher – davon weiß er nichts mehr. Sie haben ihn ja auch gesegnet, da Sie wissen, er liebt Sie, er betet für Sie!«

»Ach ja!« sagte er und stützte sein eisgraues Haupt auf die eine Hand, als besänne er sich. »Ja, er betet für mich – das ist sehr gut!«

»Wissen Sie denn nicht mehr, Mylord«, fuhr ich mit lauterer Stimme fort, um die Sprache seines Gewissens zu übertönen, »Sie gaben mir ja den Auftrag, ihn zu Ihnen zu rühren –«

»Ich besinne mich – ich weiß es, ja, jetzt weiß ich's – haben Sie denn den Auftrag erfüllt? Wo ist er? Ich sehe ihn nicht –«

»Wollen Sie ihn sehen? Er kann jeden Augenblick hier sein – er ist im Pfarrhause –«

»Im Pfarrhause? Bei Graham? – ha!«

»Bei Sir Robert Graham, ja! Und mit Sir Robert Graham und Lady Ellinor, seiner Gattin!«

Der Greis richtete sich höher auf und blickte mich verwundert an; er schien sich allmählich zu besinnen und sich der vergangenen Umstände klarer bewußt zu werden.

»Bei Sir Robert Graham und mit ihm?« sagte er wieder; »und mit Lady Ellinor? Ist denn der Pfarrer auch wieder da?«

»Ja, Mylord, er wartet nur auf Ihre Befehle, um Ihnen seine Freundschaft, seine Achtung zu beweisen.«

Der Marquis lächelte schmerzlich.

»Graham mir seine Freundschaft – seine Achtung! Und ich jagte ihn fort!« lispelte er.

»Das hat er vergessen, Mylord; jetzt ist er nicht mehr der Pfarrer, jetzt ist er Sir Robert Graham, der Baronet, und der Schwiegervater Mylord Percys, des Viscount von Dunsdale, Ihres Sohnes –«

»Sir Robert Graham – Baronet – Schwiegervater Percys – so, so, ist es das! Nun, das ist mir lieb – ja, ja, ich habe schon davon gehört – es ist aber lange her – und er will auch zu mir kommen?«

»Gewiß will er das – und Lady Ellinor will auch kommen und will Ihre Knie umfassen, an Ihr Vaterherz will sie sich legen und Sie um Ihren Segen bitten –«

»Meinen Segen – o! Wenn ich noch einen habe, will ich ihn ihr gern geben – aber sie werden mir nicht böse sein – ich bin so schwach!«

»Keinen Augenblick, Mylord; im Gegenteil sie freuen sich, endlich einmal vor Eurer Herrlichkeit zu erscheinen.«

»Nun, und warum kommen Sie nicht?«

»Sollen sie, sollen sie gleich kommen?«

»Ja!« brachte er langsam und zitternd hervor.

Ich wollte mich entfernen, um Percy rufen zu lassen.

»Halt!« rief er mir nach. »Wo wollen Sie hin? Ich kann nicht allein bleiben – Mortimer –«

»Ich will nur den Befehl geben, Mylord Percy rufen zu lassen.«

»Percy! – Ja! Aber Mortimer? Mortimer?« fragte er flüsternd, »was wird der sagen? Wird er mich nicht umbringen?«

»Mortimer ist nicht da, Mylord, er wird Sie nicht umbringen, Percy wird bei Ihnen bleiben und Sie gegen ihn in Schutz nehmen.«

»Das ist gut, das ist recht – ach! ich fürchte mich so sehr!« In diesem Augenblick trat der Haushofmeister lauter als gewöhnlich ein.

»Ich habe ihn gesehen, ich habe ihn gesehen!« rief er. »Ach! Euer Herrlichkeit Sohn – Mylord Percy ist da – er hat mir die Hand gedrückt!«

Der Greis nickte mit dem Kopfe und schien zu lächeln.

»Geht schnell und ruft ihn her!« sagte ich. »Er und Alle mögen kommen, der rechte Augenblick ist da.«

Der Haushofmeister verschwand sogleich. Gleich nach seinem Weggehen kam der Diener und stellte zwei große, silberne Armleuchter, auf denen je vier Wachskerzen brannten, auf zwei sich gegenüberstehende Tische.

Als jetzt alles wieder im Zimmer still war, hörte man den spritzenden Regen laut an die Fenster schlagen und auch der Wind sauste ungestüm im Kamin.

Ich stand bei dem Marquis und hielt seine zitternde, kalte Hand. Er sah mich ängstlich, aber doch mit einem unbestimmten Ausdruck halb erwachter Freudigkeit an. Ich sprach ihm Trost und Mut ein – es vergingen einige Minuten wieder im Stillschweigen ich wartete, ich horchte, ich wußte nicht, warum ich die nächste Szene zu beeilen wünschte.

Da hörte ich rasch Jemanden die Treppe heraufstürzen – es waren die Tritte, die Stimmen mehrerer Menschen – die Tür flog mit beiden Flügeln auf – Percy, Ellinor an der Hand haltend, war der erste auf der Schwelle, hinter ihm Sir Robert Graham, gefolgt von dem atemlosen Haushofmeister und Phillipps. Alle stürzten jetzt auf einmal herein, Alle vom gleichen Wunsche beseelt, einer Szene beizuwohnen, welche das unverhofft glückliche Ende eines langen Trauerspiels sein sollte.

Eine Sekunde blieben sie an der Schwelle stehen – sie suchten den unglücklichen Greis mit den Augen – sie hefteten einen ängstlich zagenden Blick auf die gebeugte, welke Gestalt, die ich kaum atmend in meinen Armen hielt, dann, laut aufschreiend Vater und Sohn schrien zugleich auf – flog Percy zu seinen Füßen, umklammerte seine Knie und schluchzte laut:

»Mein Vater! mein Vater! Ach! mein armer Vater!«

Da ermannte sich der unglückliche Greis – er machte eine Bewegung aufzustehen, worin ich ihn unterstützte.

»Steh auf, steh auf, mein Sohn!« rief er.

Percy erhob sich – da fiel der Vater zu Boden und umklammerte die Füße seines Sohnes.

Es war der ergreifendste Moment, dem ich je beigewohnt.

Aber Percy, schnell, augenblicklich, hob den knieenden Vater in seinen starken Armen empor, preßte ihn mächtig an sein Herz und wir hörten glühende, kindliche Küsse, die ersten in seinem ganzen Leben, die er auf die fahle Wange seines Vaters drückte.

»Mein Vater, mein Vater!«

»Mein Sohn, mein Sohn!« war Alles, was wir vernahmen.

Da trat auch Ellinor, auf ihren Vater gestützt, der seine Tränen nicht zurückhalten konnte, heran.

»Guten Abend, Mylord!« sagte ganz einfach und mit unaussprechlicher Rührung der ehemalige Pfarrer und streckte seinem früheren Herrn versöhnend die Rechte entgegen.

Der Marquis ließ Percy los und blickte Sir Robert an.

»Graham! Graham!« rief er, »und auch Ihr?«

»Auch ich, auch ich, Mylord, und meine Tochter – Ihre Tochter!«

Und abermals öffnete der erschütterte Greis seine Arme und Sir Robert und Ellinor umschlossen ihn.

Nach fünf Minuten saßen wir Alle beieinander, dicht vor dem wohltätigen Feuer des prasselnden Kamines. Der Marquis hatte sich etwas erholt und lächelte so freundlich, wie er lächeln konnte. An der einen Hand Percy, an der anderen Ellinor haltend, sah er zärtlich bald den einen, bald die Andere an. Sein Herz war aufgegangen, seine Seele war noch eine kurze Zeit bei uns.

»Das war schön – sehr schön!« sagte er. »Dreißig Jahre Haß und eine Minute Liebe – und doch ist mir so wohl!«

»Und auf ewig deinen Segen, mein Vater, nicht wahr?« fragte Percy.

»Auf ewig!« wiederholte der Vater und schaute seinem edlen Sohn zum ersten Male in seinem Leben mit dem Blicke eines entzückten Vaters an.

»O, wie mir leicht ist!« lispelte er, »wie leicht! Meine Brust ist offen – ich sehe Alles – Alles! ich weiß Alles – wer hätte das denken können! Mir ist, als wenn es erst gestern geschehen wäre, und als wäre ich erst heute aus einem langen, traurigen Traume erwacht. Ach, das Leben ist doch sehr schön! Nicht wahr, Graham? Nicht wahr, Percy? Nicht wahr, Ellinor? Und ihr seid meine Kinder ach! ich glücklicher alter Mann!«

Da kam ein heftiger, harter Tritt die Treppe herauf – eilig, hastig. Die Tür ward aufgerissen – Alle sprangen von ihren Stühlen heftig empor – es entstand eine Pause, in der kein Laut sich hören ließ. Alle Gesichter waren erschreckt, bleich, Besorgnis und Unwillen ausdrückend zur Tür gewandt – denn durch diese war, die Haare in Unordnung, die Kleidung naß, die Fäuste geballt und die Augen voll stechender Wut – Sir Mortimer eingetreten.

Er sah uns erschrocken, erstaunt und drohend, aber mehr drohend als erschrocken an, und blieb an der Tür, wie von Geistern gebannt, stehen. Er wollte sprechen, aber er vermochte es nicht seine Brust arbeitete bloß in einem ohnmächtigen Versuche. Seine Blicke schweiften fragend, suchend im Kreise umher – endlich blieben sie auf Ellinor haften – mit der Rechten schlug er sich, daß es laut in dem stillen Gemach widerhallte, vor die Stirn, und es entfuhr seinen geöffneten Lippen nur der einzige, aber mit furchtbarem Entsetzen hervorgebrachte Laut:

»Ha!«

Da trat ihm Percy entgegen, abwehrend, besänftigend. Auch seine Augen flammten, auch seine hohe, freie Stirn leuchtete, doch wie himmelweit verschieden war der Ausdruck dieser beiden, an Gesichtsbildung sich sonst so ähnlichen Brüder!

Abermals standen Beide einander gegenüber – Mortimer hatte geschworen, es solle dies ein Zusammentreffen auf Tod und Leben sein.

»Mortimer!« rief Percy mit sanfter, überredender Stimme, »Mortimer!«

Da erkannte er erst Percy vollständig, da sah er uns Alle auch erst einzeln an, denn seine Überraschung hatte ihn bisher nur das allgemeine Bild unserer Vereinigung auffassen lassen. Aber dieses Erkennen war schrecklich – er zuckte zusammen wie vom Blitze getroffen – er wandte sich halb ab – das strahlende Auge Percys war zu siegreich, zu niederschmetternd, denn der gute Geist war in demselben lebendig und sprach aus ihm, und nie hat diesem der böse Geist offen ins Gesicht blicken können.

»Guten Abend, Mortimer!« sagte Percy noch einmal.

»Ha!« rief jener. »Du hier? Was willst du?«

»Habe ich nicht gleiches Recht, hier zu sein, wie du? Doch wenn du es wissen willst – meinen Vater sehen und seinen Segen empfangen! Uns aber, da wir einmal Brüder sind, laß uns, wenn auch nicht lieben, doch einander ertragen lernen!«

»Und mich um meine Erbschaft bestehlen, setze nur hinzu, nicht?«

»Mortimer! Sei ruhig! ich warne dich! Laß die vergangenen Zeiten, laß sie schlafen – ein neuer Tag leuchtet herauf – erinnere mich bei deinem Leben nicht an die Vergangenheit – ich will sie, unserem Vater und unserer Mutter zuliebe, vergessen!« rief Percy mit einem zugleich bittenden, aber festen und vorwurfsvollen Tone.

»Ja, Percy, ja!« antwortete Mortimer höhnisch, »du willst vergessen, aber ich mag nicht.«

»Ha!« unterbrach ihn Percy, aber er schwieg sogleich wieder.

»Ich ganz gewiß nicht! Ein neuer Tag leuchtet heran, du hast Recht – aber dich erkenne ich nicht als meinen Bruder an – denn du bist verrückt, du kommst aus dem Tollhause – ich, ich allein bin der Erbe des Marquis von Seymour!«

»Verrückt!« schrie Percy und ein bitteres Lächeln flog wie der Schatten der finsteren Nacht über sein stolzes, in diesem Augenblick zwar schönes, aber zugleich schrecklich anzusehendes Gesicht, »ha! mahne mich daran nicht – ich vergesse mich sonst, so gern ich mich beherrschen möchte.«

Und es war, als wenn er mit einem Blick in sich hinein schaute die Vergangenheit kam über ihn – ich fürchtete einen Augenblick die rasende Heftigkeit dieses entfesselten Herzens, doch er bezwang sich. Er sah Ellinor, er sah Graham, er sah seinen Vater und mich an, als wollte er zu uns sagen: »Ihr hört es – Ihr seht es – Ihr wißt es – und ich, ich bleibe gelassen!«

»Willst du etwa wieder mit mir kämpfen, ringen, du Athlet?« fragte Mortimer spöttisch. »Kämpfen um dieses schöne Erbe? Du siehst mir ganz danach aus. Hast du wieder deinen Wolfshund hinter dir, du schlauer Spion? – Nein, er scheint nicht hier zu sein haha! du möchtest dich irren, ich kämpfe nicht mehr mit dir um das, was mein ist – du kennst mich nicht! – Aber beruhige dich, mein Bruder, wenn du dich doch so nennst – rolle die Augen nicht so fürchterlich – dein Blick zerschmettert mich nicht und ich fürchte dich nicht, denn – denn, haha! das Testament ist gemacht und unterzeichnet – haha! Der da!« und er zeigte auf mich, »und der da!« und er zeigte auf den Haushofmeister, »Beide deine Freunde wahrscheinlich – haben es unterschrieben, als der da«, und hierbei zeigte er auf seinen eigenen Vater, »der jetzt hier wie tot liegt, noch bei Verstande war. Haha! weißt du es nun? Da, da, in jenem Kasten liegt es«, und er deutete auf einen kleinen elfenbeinernen, mit Silber ausgelegten Kasten, welcher auf einem Tischchen dicht neben Lord Seymours Sessel stand.

Mylord Seymour, durch diese hohnlachende Rede bis in die tiefsten Fugen seines morschen Lebens erschüttert, sank, als er auf das Kästchen zeigte, wie ein gebrochenes Rohr zusammen, denn ihn erfaßte die entsetzliche Angst, der wütende Sohn werde von ihm den Schlüssel fordern und den ihm gespielten Betrug entdecken. Ellinor kniete neben ihm auf einer Fußbank und verbarg das Gesicht in ihren Händen, denn auch sie fürchtete eine unnatürliche Tat. Phillipps stand dicht hinter seinem Herrn, Entschlossenheit in seinen kräftig arbeitenden, scharf markierten Zügen und seine Blicke abwechselnd von Percy zu Mortimer und von Mortimer zu Percy jagend, als wollte er jeder feindlichen Bewegung zuvorkommen, die gegen seinen Herrn mutmaßlicherweise würde gerichtet werden. Sir Robert Graham sah unverwandt auf Percy, denn die herrliche Stellung desselben und der fürstliche, gebieterische Ausdruck seines in diesem schrecklichen Augenblick von allem Glanze des guten Gewissens strahlenden Antlitzes mochte den alten Mann zur Bewunderung hinreißen. Ich aber blickte auf Percy und Mortimer zugleich, denn ich glaubte jeden Augenblick, der eine oder andere würde auf diese oder jene Weise der gräßlichen Szene ein Ende machen.

Es entstand eine lautlose Stille. Hastigen Trittes, das Auge funkelnd vor Rachgier, schritt jetzt Mortimer durch das Zimmer auf den Kasten los – er nahm ihn in die Hand – er verlangte nicht von dem Vater den Schlüssel – das hätte ihn zuviel Zeit gekostet, – sondern er schlug mit der geballten Faust darauf, daß er krachend auseinandersprang und mehrere Papiere aus ihm herausfielen.

Percy hatte jede seiner Bewegung mit dem Auge eines Falken verfolgt. Sobald er erkannte, was Mortimer beabsichtigte, rief er mit abmahnender, halb bittender Stimme:

»Laß das Testament, Mortimer! laß es, ich brauche es nicht, ich will es nicht.«

Aber der Ruf kam zu spät oder wurde nicht beachtet; der Schlag war geschehen und die Wirkung davon sollte nicht ausbleiben.

»Aber ich, ich brauche es und ich will es!« schrie Mortimer, wühlte unter den Papieren, die herausgefallen waren, warf die übrigen beiseite und hielt jetzt das gesuchte seinem Bruder frohlockend entgegen in die Höhe.

»Lies!« jauchzte er beinahe, »lies! und ihr Alle lest!«

»Lies du, wenn du es gelesen haben willst!« donnerte jetzt Percy, dessen Geduld zu Ende war, und schleuderte einen furchtbaren Blick auf den wie im berauschten Zustande wütenden Menschen, den ihm die Natur aus Irrtum zum Bruder gegeben hatte.

Und dieser Blick tat eine entsetzliche Wirkung. Der Donner seiner gewaltigen Stimme hallte an den Wänden, der Decke des Zimmers und in unser Aller Brust wieder. Mortimer, der fürchterliche, starke Mortimer selbst schrak vor dieser Stimme und vor diesem Blicke zusammen – denn so hatte er seinen gehaßten Bruder nie gesehen. Es lag etwas Zermalmendes in dem Blicke dessen, den er zu demütigen und zu enterben gekommen war.

Langsam, allmählich, wie von einem inneren abmahnenden Geiste aufgehalten, erhob er das verhängnisvolle Blatt vor sein Gesicht – er schlug es auseinander – er schien darin zu lesen – und ein Schatten, schwarz wie die Nacht, flog über seine erbleichenden Züge.

»Ha!« rief er bebend vor Wut und Schrecken, und das Blatt entfiel seiner zitternden Hand. Dann gegen uns Alle speiend und mit von den finstersten Leidenschaften entstelltem Gesichte zur Tür schreitend, drehte er sich noch einmal herum, als er schon auf der Schwelle stand:

»Bestien! Hunde! die ihr seid, ich speie euch an – ihr Alle seid Verräter – Ihr – Ihr –« und der Zorn erstickte seine Stimme, »ihr sollt von mir hören!«

Er verschwand durch die Tür – sie schlug krachend hinter ihm zu, daß durch die sich fortpflanzende heftige Erschütterung mehrere Kerzen von den Leuchtern fielen – wir standen sprachlos, entsetzt, starr – es war eine fürchterliche Pause!

»Er bringt mich um!« wimmerte der Marquis und knickte auf seinem Stuhle zusammen. »O! ich – sterbe!«

Alle eilten zum Sessel zu, wo der unglückliche Vater lag – er sah einer Totenmaske ähnlich – sein gläsernes Auge starrte uns stier an – er schüttelte noch einmal den greisen Kopf und sank dann zurück – sein Verstand war völlig von ihm gewichen.

 

Es war eine späte Stunde der Nacht, die diesem verhängnisvollen Abend gefolgt war, als ich in mein Zimmer zurückkehrte, das mir im Schlosse des Marquis von Seymour angewiesen war. Ich war bis dahin bei dem unglücklichen Greise geblieben, hatte an seinem Bette gesessen und den plötzlichen vollständigen Ausbruch der traurigsten und lange schon vorbereiteten Krankheit mit ihren schnellen Fortschritten hinreichend beobachtet, um mir selbst ein Zeugnis ihrer Unheilbarkeit ablegen zu können. In der Tat, der Sturm des Unglückes hatte entsetzlich in diesem Hause und in dieser Familie gewütet; jetzt aber, bei der Ruhe der Nacht, welche alle Aufregungen besänftigt, war ihm eine tiefe, wenigstens scheinbare Windstille gefolgt, man atmete wieder freier, man blickte wieder hoffnungsvoll in alle vier Weltgegenden der Möglichkeiten und gab sich einer ungewissen, aber doch nicht völlig trostlosen Zukunft hin.

Percy hatte auf allen Wegen vertraute Boten nach seinem Bruder ausgesandt, der nach jenem Auftritt im Zimmer seines Vaters, vom Sturme seiner Leidenschaften gepeitscht, allein in die stürmische Nacht davongeritten war. Percy, der gute, edle Percy, hatte diese Boten ausgesandt, um ihm zu sagen, daß er selbst aus freien Stücken auf die Erbschaft verzichte, daß Alles, Alles ihm allein zufallen, daß er nur kommen und seinen Bruder erkennen und begreifen solle.

Jetzt war er mit seiner Gattin in einem neben dem meinigen gelegenen Gemache zur Ruhe gegangen, mit ihr, die ja den Trost und Schutz, den es für sie gab, nur an seiner starken Brust allein zu finden vermochte. Sie schliefen gewiß schon lange den Schlaf der Müden, die in ihrer Brust den Frieden haben, der der köstlichste auf Erden ist und den die Natur allen guten Menschen gibt, die nur mit Schmerz den Kampf erblicken und bestehen, den das Zerwürfnis der Welt und ihre irdischen Verhältnisse so oft wider unseren Willen an unserer friedlichen Schwelle aufpflanzen.

Auf der anderen Seite neben meinem Zimmer war das Schlafgemach Sir Robert Grahams zubereitet. Die Tür zwischen unseren beiden Zimmern war nicht verschlossen, nur angelehnt; ich horchte einmal an ihr, und da ich die ruhigen, sanften Atemzüge des alten Mannes hörte, schloß ich die Tür leise, um ihn nicht durch mein Auf- und Niedergehen zu stören, denn es war mir unmöglich, mich anfangs irgendeinem ruhigen Gedanken, viel weniger aber dem Schlafe hinzugeben.

Ich war so gern des Nachts wach, wenn Alles um mich schlief, ich hörte so gern das gleichmäßige, gesunde, stille Atmen einer Menschenbrust; denn dann pflegte jene geistige Stille über mich zu kommen, die der Gedanken Element und der festen, männlichen Entschlüsse günstigste Rennbahn ist.

So war es mir auch in dieser Nacht. Allmählich wurde ich ruhiger, die Verhältnisse lagen klarer vor mir; ich sah, was ich sehen wollte, sowohl was mich, als was Andere betraf. Ich blickte in die Gruft der Vergangenheit zurück und suchte in den zeugungsreichen Schoß der Zukunft einzudringen. Meine Tage in England waren gezählt; noch wenige Wochen nur durfte ich bei den mir so Teuren verweilen, dann rief mich meine Pflicht und mein Beruf in mein Vaterland zurück.

So sehr ich auch an den Meinen hing, diesmal wogen sie leichter in der Wagschale meiner Liebe. Ich hatte auch hier Herzen gefunden, an die ich mit unzerreißbaren und heiligen Banden geknüpft war. Das allmächtige Band der Freundschaft umschloß fest meine Brust, ich füllte mich wider meinen Willen gehalten, und schon der Gedanke an die nahe bevorstehende Trennung preßte mir einen unglaublichen Schmerz aus. Auch glaubte ich, hoffte ich – o nein! ich wußte es bestimmt, daß auch Percy und seine Verwandten mich ungern würden scheiden sehen, und ich baute schon im Voraus Pläne, wie wir uns auf den breiten und langen Wegen des weitverzweigten Lebens einmal wieder treffen könnten.

Aus diesen stillen, zugleich bitteren und süßen Betrachtungen zog mich das mit jeder Minute stärker tobende Unwetter draußen. Der Regen schlug in großen Tropfen prasselnd an meine Fenster, deren Vorhänge noch nicht herabgelassen waren, und der Wind heulte in dem Rauchfange meines Kamins und fing sich bisweilen dergestalt darin, daß die Funken in meinem Zimmer spielend umherstoben. Ich sah und hörte diesem Spiele der Elemente mit gemischten Gefühlen der Lust und Erregung zu. Ich liebte den Sturm, mochte ich ihm ausgesetzt oder vor ihm geborgen sein; gern hatte ich es, wenn auf der Reise der Regen mir ins Gesicht schlug, und das ungestüme Heulen des Windes war meinen Ohren von jeher Musik gewesen. Aber auch in einem warmen behaglichen Zimmer geborgen, hörte ich es gern, wenn die Außenwelt im Kampf und Streit ist; dann am lodernden Kamin zu sitzen, bringt jene innerliche und gesellige Behaglichkeit mit sich, die wir Deutsche fast gar nicht aus Erfahrung und nur durch Überlieferung von Reisenden und Schriftstellern kennen.

Da der Wind immer stärker wurde und ich für mein Zimmer und mein Feuer besorgt war, schloß ich die Klappe halb, die oberhalb meines Kamins angebracht war und durch einen Draht in Bewegung gesetzt werden konnte, schürte dann langsam die Brände an und stellte zum Schutze gegen die sprühenden Funken das feine messingene Drahtgitter davor, welches man in jedem wohleingerichteten Hause in England zu diesem Behufe vorfindet.

Mich fing an zu frösteln, und doch fühlte ich keine Neigung, mein Lager zu suchen, welches in einem Alkoven stand, der nach Sir Roberts Zimmer hineintrat. Neben diesem Alkoven befand sich die Tür, die in dieses Zimmer führte, ihr gegenüber aber eine andere, welche Percys Zimmer von dem meinigen trennte; eine dritte war den Fenstern gegenüber befindlich und führte auf den Korridor.

Ich war eben im Begriff, den leichten Rock, den ich trug, mit einem wärmeren zu vertauschen, als ich ein leises Kratzen an dieser letzteren zu vernehmen glaubte. Ich hielt in meiner Beschäftigung inne, trat näher zur Tür, die verschlossen war, und horchte noch einmal genauer hin. Es war wieder still.

Ich glaubte mich getäuscht zu haben und trat wieder zurück an das Feuer vor dem Kamin, auf dem zwei Kerzen brannten und, mit der düsteren Glut der Kohlen vereint, ein nicht allzu lebhaftes Licht durch das Zimmer warfen, denn dieses war groß und hoch.

Da glaubte ich, das Kratzen wieder zu hören, und diesmal lauter als vorher.

Ich ging nochmals zur Tür, lauschte noch einmal und hörte jetzt deutlich neben dem Kratzen das schnuppernde Nasengeräusch eines Hundes.

Leise, um Niemanden zu stören, öffnete ich, und siehe, da trat Othello bei mir ein. Aber obgleich er, wie zum Danke, mit dem Schweife wedelte, freute er sich doch nicht wie gewöhnlich, wenn er zu mir trat, kaum sogar erhob er seinen Kopf gegen mich. Wie eine Katze schleichend, ging er mehrere Male, den Kopf tief zur Erde gebeugt, im Zimmer umher, beroch mein Bett, einige Stühle und blieb endlich vor der Tür liegen, die in Percys Schlafkabinett führte.

»Was der Hund für einen unglaublichen Instinkt hat!« dachte ich, und bewunderte das schöne Tier, das sich so dicht wie möglich an der Tür niedergestreckt hatte. »Er weiß, daß sein Herr darin ist, und nun will er nicht von seiner Schwelle weichen.«

Ich bückte mich nieder, streichelte ihn und flüsterte:

»Du gutes, treues Tier!«

Aber der Hund achtete gar nicht auf meine Liebkosungen, sein Auge und sein Ohr hingen unabgewandt an der Tür, als vermute oder erwarte er, sein Herr werde daraus hervortreten. Es kam mir dies durchaus nicht ungewöhnlich vor, denn unsere Bekanntschaft schrieb sich erst aus einer kürzeren Zeit her.

Während ich dies oder etwas dergleichen bei mir dachte, erhob sich der Hund plötzlich, spitzte die Ohren und schlug mit seinem großen zottigen Schweife heftig seine Flanken und seinen Rücken. Jetzt erst ward ich aufmerksamer, ich wandte ebenfalls meine Blicke und mein Ohr unwillkürlich auf die Tür.

»Was geht da vor?« dachte ich und sann einen Augenblick nach.

Da erhob sich der Hund auf seine Hinterpfoten und legte leise die Vorderläufe gegen die Füllung der Tür. In dieser Stellung war er so groß wie ein erwachsener Mensch. Aber immer noch gab er keinen Laut von sich als bisweilen ein ängstlich klingendes und mir wahrhaft Besorgnis einflößendes leises Gewimmer.

»Othello!« rief ich ihm halblaut zu, »was willst du?«

Der Hund schien nicht auf mich zu hören – jetzt knurrte er aber schon weniger leise und heiser – da war es mir, der ich ein scharfes Gehör habe, als wenn ich im Nebenzimmer ein knackendes Geräusch vernähme. Mechanisch trat ich zum Kamin, nahm den Armleuchter herunter und kehrte wieder zur Tür zurück – atemlos horchte ich – es war so natürlich, in diesem Hause Furcht zu empfinden und Gefahr zu ahnen, und doch hatte ich jetzt noch gar nicht daran gedacht. Aber noch wollte ich mich über das ungestüme Klopfen meines Herzens mit Vernunftgründen beruhigen, als ich plötzlich im Nebenzimmer einen lauten Schrei ausstoßen und dann Alles wieder still werden hörte.

Jetzt war keine Zeit zur Überlegung mehr vorhanden; auch sprang der Hund wütend und laut aufheulend gegen die Tür und biß in das Holz und den metallenen Drücker, daß ich seine Zähne daran knirschen hörte. Ich setzte den Armleuchter auf den Boden und ergriff den Drücker – die Tür war von Innen verschlossen.

»Hilfe! Hilfe!« hörte ich es jetzt aus dem Nebenzimmer schallen – dann folgte ein dumpfes Stampfen mit den Füßen, und ein Ächzen, ein Stöhnen wie das zweier um Tod und Leben ringender Menschen.

Sir Robert Graham, von dem Lärm und dem Hundegebell erweckt, war schon bei mir – wir warfen uns mit Gewalt, mit aller Anstrengung gegen die Tür – der Hund heulte vor Wut und biß sich selbst in die Pfoten – wir stießen mit aller Kraft der Verzweiflung mit den Füßen gegen das Schloß – es gab nach – die Tür sprang krachend auf – unser Licht drang hinein – wir stürzten – vor großer Gott, was sahen wir!

Aber Alles, was wir sahen, war das Werk eines kurzen Augenblickes – es befand sich kein Licht im Gemach – das unserige erleuchtete zuerst die Szene dieses entsetzlichen, unnatürlichen Kampfes – denn wir standen mit hocherhobenen Lichtern und keuchender Brust da – sahen Ellinor in ihrem Bette kniend, die Hände gegen uns – gegen – ha! gegen Mortimer erhoben, der, wie ein blutdürstiger Tiger dastehend, einen blanken Dolch in der hocherhobenen Rechten schwingend, auf Percy losstürzte, der ihm, fast ganz entblößt, entgegengesprungen war und mit seiner Linken die so schrecklich bewehrte Rechte seines Bruders umklammert hielt.

Kein Laut wurde jetzt gehört – ein heftiges, schweigsames, aber um so verzweifelteres Ringen fand statt – in diesem Augenblick kamen wir – Percy schleuderte mit einer furchtbaren Gewalt seinen vorstrebenden Bruder rückwärts und war im Begriff, nach einem Degen zu greifen, der, von seiner Scheide entblößt, dicht neben ihm auf einem Tische lag.

Da sprang der Hund, brüllend wie ein Löwe und unaufhaltsam in seiner lange zurückgehaltenen und nun endlich losgelassenen Wut auf sein längst gesuchtes Opfer – ein wilder Sprung – ein kräftiger Biß – ein Ruck, und er stürzte mit Mortimer zugleich, mehrere Stühle zusammenbrechend, die im Wege standen, zu Boden und stand nun, ein schrecklicher Sieger, über ihm.

Aber wo war der Dolch? Wo war die starke Rechte, die ihn so mörderisch geschwungen hatte? Weg war die Waffe und kraftlos die Hand. Wir hörten nichts als ein tonloses Ächzen.

Aber Percy war sogleich über den Hund hergesprungen, riß ihn, mit beiden Armen das mächtige Tier gewaltig umschlingend, mit lautem Zuruf zurück, trug ihn so in unser Zimmer, schloß die Tür und stürzte schnell wie der Wind wieder zur Szene des Kampfes zurück.

Und was sahen wir nun? Mortimer blieb am Boden liegen und regte sich nicht – ein Strom warmen dampfenden Blutes drang aus seiner Seite hervor.

Percy kniete neben ihm.

»Mortimer! Mortimer!« rief er. »Was ist dir? Was hast du? – Hörst du mich?«

Aber Mortimer antwortete nicht; er gab nicht einmal ein Zeichen von sich. Nur seine Hände zogen sich krampfhaft zusammen und seine Augen rollten gläsern in ihren Höhlen herum.

»Mortimer! mein Bruder!« schrie er lauter. »Was willst du von mir? Die Erbschaft? Nimm sie, nimm sie – ich will sie nicht, wenn du dadurch glücklich werden kannst.«

Aber Mortimer antwortete auch diesmal nicht, hörte nichts mehr. Durch den unerwarteten und gewaltsamen Angriff des treuen Hundes zurückgeworfen, hatte er im Fallen sich selbst den Dolch in die rechte Seite gestoßen. Noch ein Seufzer, noch ein Ächzen ließ sich hören – und der verzweifelnde Mensch, der Bruder Mylord Percys, der Sohn Mylord Seymours, lag als Leichnam am Boden.

Wir standen entsetzt und blickten uns und den Toten an – kein Mensch wußte noch, wie das alles begonnen, und schon war es beendet.

»Das war Gott und seine allmächtige Hand!« sprach tief ergriffen Sir Robert Graham.

Jetzt stürzten die Diener, von dem entsetzlichen Lärmen herbeigezogen, ins Zimmer – es entstand ein lautes Gedränge – Percy zog die Vorhänge des Bettes, in dem Ellinor halb bewußtlos noch immer auf den Knien lag, zusammen und ließ den Leichnam seines Bruders hinaustragen.

Für diese Nacht war natürlich unsere Ruhe dahin, und ach! als der erste bleiche Morgenstrahl in die Fenster von Mylord Seymours Schloß drang, wie anders war es da, als es kurz vorher gewesen – ich hatte alle Hände voll zu tun, denn ich hatte einen Toten, einen Wahnsinnigen und eine Ohnmächtige, die sich noch immer nicht erholen konnte, außerdem aber zwei weinende Männer, deren Tränen Gold waren und deren Schmerz wie glühendes Eisen in ihrem Busen wühlte.


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