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Sechsunddreißigstes Kapitel.

Orkutt tot? fragte der Bezirksanwalt.

Er liegt im Sterben, erwiderte Byrd.

Wie ist es geschehen, wann – wo?

Bei ihm zu Hause. Ein herabfallender Baumast hat ihn erschlagen.

Der Bezirksanwalt, der aus dem ersten Schlaf aufgeschreckt worden war, um die Unglücksnachricht aus Byrds Munde zu vernehmen, sah die verstörten Mienen des Boten und konnte seine heftige Bewegung nicht bemeistern. Auch der junge Detektiv stand noch ganz unter dem Eindruck der furchtbaren Erschütterung.

Man hält Ihre Gegenwart für durchaus notwendig. Es ist möglich, daß er die Sprache noch wiedergewinnt – und – und – Sie werden Fräulein Dare dort im Hause finden. Nach diesen hastig ausgestoßenen Worten entfernte sich Byrd schnell.

In größter Aufregung beeilte sich Ferris, ihm zu folgen; es dauerte nicht lange, so befand er sich auf der Straße. Als er Orkutts Haus erreichte, sah er es von einer Schar teilnehmender Nachbarn und Bekannten dicht umdrängt. Am Tor warf er einen scheuen Blick auf den Riesenbaum und den gebrochenen Ast und schritt der Haustür zu. Er erhielt sofort Einlaß; Doktor Tredwell stand vor ihm, und im Hintergrund sah er eine Gruppe von Orkutts vertrauten Freunden versammelt. Den Coroner hier zu finden, war für Ferris eine böse Vorbedeutung; er reichte ihm schweigend die Hand und fragte dann mit bebender Stimme, ob der Rechtsanwalt noch am Leben sei.

Tredwell bejahte dies mit ernster Miene und ging Ferris voran nach Orkutts Schlafzimmer. Hier bot sich dem Bezirksanwalt ein seltsamer Anblick. Er strich sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er einen bösen Traum verscheuchen, dann wandte er sich zu dem Coroner:

Doktor, sagte er, mir scheint, wir sehen diesen Auftritt nicht zum erstenmal; er weckt eine furchtbare Erinnerung in meiner Brust.

So war es auch. Was sie vor Monaten in dem kleinen Hause am andern Ende der Stadt erlebt hatten, schien sich hier wiederholen zu sollen: auf dem Bette lag eine bleiche, bewußtlose, schwer atmende Gestalt mit starren Zügen, die Beute des nahen Todes. Auch Orkutt war am Kopf verletzt, wie die schweren Binden bezeugten, und derselbe Arzt, der damals zu Frau Klemmens gerufen worden war, weilte an der Seite seines Lagers. Am Fußende des Bettes aber, das wachsame Auge stets unbeweglich auf denselben Punkt gerichtet, saß Imogen Dare, als habe sie das nächste Recht an dem Sterbenden. Keiner wagte ihr den Platz streitig zu machen, auch Orkutts Schwester nicht, deren liebevolles Gemüt von dem schrecklichen Verlust tief gebeugt war.

Ferris und Tredwell hatten sich in die entfernteste Zimmerecke zurückgezogen.

Ist keine Hoffnung mehr vorhanden? fragte ersterer.

Nein, die Wunde ist lebensgefährlich; zudem hat sie merkwürdige Aehnlichkeit mit derjenigen, welche Frau Klemmens' Tod herbeiführte. Er wird vielleicht noch einmal zum Bewußtsein kommen, aber seine Stunden sind gezählt. Ein Trost ist's nur, daß diesmal kein Mord vorliegt.

Der Bezirksanwalt sah nach Imogen hinüber: Wie kam siein seine Nähe? fragte er.

Tredwell ging mit ihm ins Nebenzimmer.

Das Unglück hat sich gerade zugetragen, als Orkutt Fräulein Dare zur Gartentür begleitete, erklärte er; der Ast ist auf beide herabgestürzt.

Und das Fräulein ist nicht verletzt? fragte Ferris mit düsterer Miene.

Tredwell schüttelte den Kopf. Sie ist heil und gesund, erwiderte er.

Und doch waren sie dicht beisammen?

Sie stand neben ihm, der Ast warf sie beide zu Boden, flüsterte eine Stimme an seiner Seite: Byrd war hinzugetreten.

Es geschah also in Ihrer Gegenwart? fragte Ferris den Detektiv.

Ja, ich war dabei, lautete die kurze Antwort.

Bald darauf ward Tredwell durch einen Freund abgerufen.

Haben Sie mir noch Näheres mitzuteilen? fragte Ferris, als er sich mit Byrd allein sah.

Ich weiß nicht, entgegnete dieser, von ihrer letzten Unterredung haben wir wenig gehört.

Dann erzählte er dem Bezirksanwalt, was sich an dem Abend begeben hatte; er berichtete genau, wie Imogen mit allen Zeichen der Furcht aus dem Bibliothekzimmer entflohen, und Orkutt ihr nachgeeilt war; auch wiederholte er das Gespräch, welches zwischen ihnen unter dem Baum stattgefunden, bis der Ast sie in seinem Sturze begrub.

Hickory und ich, fuhr er fort, glaubten nicht anders, als daß sie zerschmettert und blutend darunter liegen würde, aber sie richtete sich bald auf, und als sie Orkutt regungslos am Boden sah, beugte sie sich über ihn, gerade als lausche sie gespannt, ob er den angefangenen Satz nicht vollenden werde.

Welchen Satz?

Seine letzten Worte, ehe das Unglück geschah, lauteten: »Wenn ein Mensch die Strafe für das Verbrechen erleidet, so soll es nicht Craik Mansell sein, sondern –«. Weiter kam er nicht.

Mein armer Freund, rief Ferris voll Trauer, mitten aus den Pflichten seines Berufs, dessen Zierde er war, ist er so plötzlich dahingerafft worden! Wahrlich, die Wege der Vorsehung sind dunkel.

Schmerzerfüllt trat der Bezirksanwalt wieder in das Sterbezimmer zurück, wo inzwischen keine Veränderung vorgegangen war; der bleiche Mann lag in den Kissen, und am Bette wachten der Arzt und Imogen, die noch immer unbeweglich dasaß, weder Gram noch Hoffnung in den Mienen, nur entschlossenes schweigendes Warten.

So schlich eine Stunde nach der andern in drückender Langsamkeit dahin. Es war fast vier Uhr geworden, als Ferris, der etwas abseits gesessen hatte, sich erhob und von unbestimmtem Grauen getrieben, näher an Orkutts Lager trat. Er starrte nach ihm hin, unfähig zu begreifen, was er vor sich sah. Auch aus Imogens Blicken sprach stummes Entsetzen. Was war denn vorgegangen? – Der Sterbende gab kein Zeichen von wiederkehrendem Bewußtsein, aber das war nicht mehr der Mann, den sie seit Jahren gekannt und verehrt hatten: ein fremder, bösartiger Ausdruck lag in seinen Zügen, der alle, die ihn liebten, aufs peinlichste berühren mußte. Auch verschwand dies Bild nicht flüchtig wieder; nein, wie bei einer unsichtbaren Schrift, die, ans Licht gehalten, deutlich hervortritt, kamen nach und nach alle die feinen unverkennbaren Linien zum Vorschein, die Zeugnis ablegten von dem wahren Charakter, von der verborgenen Gesinnung des Mannes, der bisher in der Achtung der Welt so hoch gestanden hatte.

Fragend hob Imogen das Auge zu Ferris empor, um zu sehen, ob er die furchtbare Veränderung gewahre; die Erschütterung, welche sie in seinen Mienen las, gab ihr genügende Antwort.

Und wieder schlichen die Minuten träge dahin.

Plötzlich machte der Arzt ein Zeichen: Tredwell, Ferris und ein fremder Herr, der gerade eingetreten war, eilten herzu. Aber schon hatte sich Imogen erhoben; auf ihren Wink, halb Bitte, halb Befehl, wichen die andern zurück, und sie beugte sich langsam über das Bett des zu Tode Verwundeten. – Er hatte sie erkannt, seine Lippen bewegten sich; sie hielt das Auge fest auf ihn gerichtet, ihre ganze Seele lag in dem Blick; dann wiederholte sie ernst und feierlich die Frage, die sie in jener verhängnisvollen Stunde an ihn gestellt hatte: Wenn Craik Mansell die Witwe Klemmens nicht getötet hat – sagen Sie mir – wer ist der Mörder?

Sie wartete auf die Antwort, die ihre entschlossene Gebärde unabweisbar zu fordern schien, während die Zeugen des Auftritts, welchen die Bedeutung ihrer Worte unverständlich war, nicht anders glauben konnten, als daß der letzte schwere Schlag ihr den Verstand geraubt habe.

Ein krampfhaftes Zittern durchzuckte die Glieder des Sterbenden, vergebens forschte sein Auge in ihren Zügen nach einer Spur von Nachsicht oder Milde, dann öffneten sich die starren Lippen:

Hat nicht das Schicksal gesprochen? sagte er laut und nachdrücklich.

Hoch aufgerichtet stand Imogen da und deutete mit dem Finger auf die bleiche Gestalt.

Ihr habt es gehört, rief sie, Tremont Orkutt gesteht auf dem Totenbette, daß die Vergeltung des Himmels sich an ihm verkündet. Wer den Fluch vernommen hat, den die Witwe Klemmens gegen ihren Mörder schleuderte, muß wissen, was das bedeutet.

Ferris, der von allen Anwesenden wohl das wärmste Gefühl für den Rechtsanwalt hegte, war außer sich vor Entrüstung über die ruchlose Beschuldigung, die das Sterbelager seines Freundes entweihte.

Wahnsinnige, rief er, sie von dem Platze verdrängend, was für eine Raserei werden Sie noch ersinnen? – Er beugte sich nieder, um ein erklärendes Wort aus Orkutts eigenem Munde zu vernehmen, allein der Leidende war schon wieder in Bewußtlosigkeit zurückgesunken; nach allen Anzeichen konnte der Tod nicht mehr fern sein.

In heftiger Erregung wandte sich Ferris an die bestürzten Anwesenden. Diese Anklage, rief er, erinnert lebhaft an diejenige, welche Fräulein Dare gestern vor Gericht gegen sich selbst erhoben hat. Sie ist von Sinnen und weiß nicht mehr, was sie redet.

Niemand kennt jenen Mann, so wie ich ihn kenne, sagte Imogen ruhig und bestimmt. Dann zog sie sich still in eine dunkle Zimmerecke zurück, das weitere abzuwarten. Sie war überzeugt, daß der Finger Gottes selbst den Mörder gezeichnet habe, nach welchem man so lange vergebens geforscht hatte.

Jetzt sah Ferris, der kein Auge von dem Freunde verwandte, wie Orkutt abermals zum Bewußtsein erwachte und starr ins Leere blickte. Mit klarer durchdringender Stimme, als spräche er vor versammeltem Gerichtshof, rief er: Blut fordert Blut, und dann in leisem, vertrautem Ton: O Imogen, Imogen – alles um deinetwillen. Seine Augen schlossen sich wieder, und ihren Namen noch auf den Lippen, versank er zum letztenmal in Bewußtlosigkeit.

Imogen war aufgestanden. Meines Bleibens ist hier nicht länger, murmelte sie; ich habe meine Pflicht getan, nun will ich gehen.

Sie blickte um sich; in den Gesichtern aller Anwesenden glaubte sie ihr Verdammungsurteil zu lesen. Das brach ihr den Mut, sie schwankte und wäre umgesunken, hätte nicht ein ihr unbekannter Herr den Arm ausgestreckt, um sie zu stützen. Noch einmal wandte sie sich an Ferris:

Hören Sie mich, ich rede die Wahrheit! Besser als Craik Mansell, als Valerian Hildreth und als die unglückliche Imogen Dare, hätte der Mann, welcher hier von der Rache des Himmels ereilt, auf dem Sterbebette liegt, Ihnen sagen können, wie Frau Klemmens den Tod gefunden hat.

Sie wankte aus dem Zimmer und dem Ausgang zu. Matt lehnte sie sich gegen den Türpfeiler. O, wie soll ich es beweisen, wer wird meinen Worten Glauben schenken? stöhnte sie dumpf.

Verzagen Sie nicht, Fräulein Dare! ertönte eine Stimme voll väterlichen Wohlwollens hinter ihr; vertrauen Sie sich mir an, ich will Ihnen glauben, und wir wollen sehen, was sich tun läßt.

Ueberrascht blickte sie auf. Vor ihr stand ein freundlicher Herr mittleren Alters, derselbe, welcher ihr vorhin so hilfreich den Arm geboten. Er flößte ihr Zutrauen ein, und doch lag etwas Rätselhaftes in seinen Mienen, auch sah er sie nicht an, während er sprach, sondern schien die düster brennende Hängelampe im Hausflur mit teilnehmenden, fast mitleidsvollen Blicken zu betrachten.

Wer sind Sie? fragte sie mit bebender Stimme.

Seine Augen schweiften von der Lampe nach dem Schleier hin, den sie fest in ihrer Rechten hielt.

Wenn ich es Ihnen ins Ohr flüstern darf, sollen Sie es wissen, erwiderte er.

Sie neigte sich zu ihm hin, und er murmelte einige Worte, die sie neu zu beleben schienen.

Und Sie wollen mir helfen? rief sie.

Zu welchem andern Zweck bin ich hier? war seine Antwort.

An der Treppe stand eine wohlbekannte Gestalt, die Imogen jetzt erst bemerkte.

Hickory, befahl jener Herr mit der ruhigen Bestimmtheit eines Vorgesetzten, sorgen Sie dafür, daß während meiner Abwesenheit niemand das Krankenzimmer betritt oder verläßt!

Darauf geleitete er Imogen nach der Bibliothek und schloß die Tür hinter sich ab.


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