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Fünfzehntes Kapitel

Die Wunde, die er sich im Sommer am Finger zugezogen hatte, war noch immer nicht verheilt. Er hatte sie mit einem Pflaster verklebt, war aber schon so nervös, daß er fortwährend daran herumbohrte. Die Wunde wurde schlimmer, der Finger schwoll häßlich an. Er ging abermals zum Arzt. Der Arzt mußte zum Messer greifen. Diese kleine Operation tat scheußlich weh, aber sein Finger kam wieder in Ordnung. Als der Arzt die Wunde zum zweiten Male begutachtete, nickte er:

»Es heilt. In einigen Tagen werden Sie gar nichts mehr davon sehen.«

»Es wird auch Zeit. Aber was zum Teufel war damit los, daß es solange nicht heilen wollte?«

»In diesem Alter ist das kein Wunder, lieber Meister, das kommt öfter vor.«

Das hörte er nicht gerne. Auf sein körperliches Wohlbefinden war er stets sehr stolz, und es ergriff ihn immer eine eitle Freude, wenn man sein Äußeres lobte. Jetzt mußte er sich darein finden, daß er alt wurde. Das Alter hatte ihn viel später erreicht als andere und auch jetzt noch, wenn er sich mit anderen Fünfundsechzigjährigen verglich, wölbte er stolz seine Brust. Unter den anderen fand man schon Greise. Er aber stand noch immer seinen Mann. Aber nur noch im Vergleich mit jenen. Sonst begannen seine Zähne schlecht zu werden, er mußte mal den einen, mal den anderen endgültig ziehen lassen, weil er einer abermaligen Plombierung nicht mehr standhielt. Und abends hatte er oft Fieber, wenn auch nicht hoch, so doch spürbar.

Wenn er über sein Alter nachdachte, so suchte er sogleich bei den Frauen Trost. An der unveränderten Teilnahme der Frauen hätte man nicht merken können, daß er älter wurde. Er war von jeher der Ansicht gewesen, daß auf die ewige Eva nichts so sehr Eindruck macht wie die Berühmtheit des Mannes. Er hatte immer die Erfahrung gemacht, daß der Ruhm über die Frauen eine unwiderstehlich berauschende Macht hat. Jetzt paßte ihm das nicht mehr ganz. Die epidemieartige Schwärmerei der Frauen, nicht nur ihre Zudringlichkeit, hätte er zu gerne, wenigstens einen kleinen Teil davon, vom Konto seines Ruhmes auf das seines Äußeren überschrieben. Wenn er allein war, studierte er lange sein Gesicht im Spiegel, und insbesondere, wenn er frisch rasiert war, fand er dieses warzige, scharf gezeichnete Gesicht, das ihn aus dem Spiegel forschend ansah, recht anziehend. Er fing an, auf sein Äußeres noch mehr Gewicht zu legen als bisher. Jetzt trug er nur noch zu Abendgesellschaften oder zu feierlichen Gelegenheiten das Priestergewand, tagsüber zog er lieber eine schwarze Hose und Gehrock an und behielt nur die hochgeknöpfte Weste und den Priesterkragen bei. In seinen Mußestunden zu Hause zog er statt des Gehrockes eine bequeme Hausjacke aus Samt an. Sein Haar kämmte er mit besonderer Sorgfalt und war sehr ärgerlich, wenn er in dem Kamm viele ausgegangene Haare fand. Um so mehr freute sich Spiridion, der mit diesen Haaren einen schwunghaften Handel trieb. Er sammelte sie, und für ein oder zwei solcher kleiner Bündel erzielte er märchenhafte Preise. Die Echtheit der Haarsträhnen beglaubigte der tüchtige Diener eigenhändig, wie die verantwortlichen Leiter eines Museums die Kunstgegenstände auszuweisen pflegen. Und Käufer waren mehr vorhanden, als er bedienen konnte. Die Frauen, die Frauen. Deren heiße Anteilnahme wuchs auch jetzt noch, statt abzuebben.

Das machte ihn sehr glücklich. Für den Schmerz des Alterns war das die einzige Medizin. Und wenn sich eine Frau fand, die ihm gegenüber kein Interesse bezeugte, war ihm der Tag verdorben. Nur Ilonka Ravasz brachte es fertig, daß er ihr das nicht weiter nachtrug. Das Mädchen war jetzt Schülerin seines Lehrganges an der Musikakademie geworden, der Unterricht fand dreimal in der Woche nachmittags statt. Und es kam die Zeit, da Ilonka der Ehre, Gast in seiner Privatwohnung sein zu dürfen, auswich. Sie machte durchsichtige Ausflüchte. Man sah ihr an, daß jemand anders ihre Zuneigung gewonnen hatte.

»Was ist denn mit dir los, du kleine Hexe?« fragte endlich einmal der Abbé auf dem Gang der Schule. »Du willst mich nicht mehr sehen?«

»Oh ja. Ich wollte den Meister gerade besuchen und ihn um Rat bitten. Ich habe mich in jemanden verliebt, nur deswegen, weil er dem Meister so ähnlich ist. Er drängt mich jetzt andauernd, ich soll ihm sagen, was ich an ihm liebe. Raten Sie mir bitte, ob ich es ihm sagen soll.«

Der Abbé lachte.

»Es ist gut, mein Kind, hab ihn nur lieb, weil er mir ähnlich sieht, aber sage es ihm nicht. Ein Mann verträgt nur schwer den anderen.«

Dann tätschelte er ihre Wangen und ließ sie ihres Weges gehen. Aber auch weiterhin zog er sie allen seinen Schülerinnen vor. Für diese Wunde eine heilende Salbe zu bekommen, war nicht schwer. Er brauchte nur mit geschlossenen Augen die Hand auszustrecken, und wenn er zugriff, fand er eine Frau darin, eine berauschte und schwärmerische Frau, die in dem Wohlwollen des berühmten Mannes ihre irdische Seligkeit sah.

Unter seinen Schülern liebte er einen blonden, ätherischen, durchgeistigten Jungen am meisten. Er hieß Aladar Juhász. Er war unter den ersten Schülern der Musikakademie der begabteste und zweifelsohne ein Klaviertalent von europäischem Format. Kaum hatte sich der Meister einige Wochen lang mit ihm beschäftigt, merkte er bereits, daß er sich einen Nachfolger aus ihm würde erziehen können. Dabei war dieser Junge klug und gebildet, wohlhabend und stammte aus einer angesehenen Familie. Der Abbé verkehrte alsbald in der Familie. Es waren sehr liebenswürdige Menschen. In der Fortunastraße, oben in der Burg, lag ihr Heim. Oftmals hatten sie einen kleinen Kreis um sich versammelt, von den Mitschülern Aladars die besten, Verwandte und musikliebende Bekannte. Andreas Juhász, der Hausherr, war ein konservativer ungarischer Herr. Er ließ auf jede nur mögliche Art und Weise erkennen, wie dankbar er dem großen Manne für die seinem Sohne erwiesene Liebe sei und welch große Ehre ihm seine Besuche seien.

Überhaupt schloß sich, wie er allmählich in Pest seßhaft wurde, auch der Kreis seiner Bekannten mehr und mehr. In diesem Kreis der Pester Gesellschaft war jede intelligente Schicht vertreten. In aristokratische Häuser lud man ihn ebenso oft ein wie in die Künstlerwelt, zu den Führern der kirchlichen oder der regierenden Kreise oder zu den Größen der Finanzwelt. An einem Tage lud ihn die Gräfin Livia Zichy, am anderen Tage Trefort, am dritten der Abtpfarrer Schwendtner ein, dann Wahrmann, dann die Familie Jókai. Nunmehr kannte ihn nicht nur das sogenannte Publikum, sondern auch das Volk der Straße. Er wurde eine bekannte Gestalt von Pest. Wenn er mehrere Wege zu besorgen hatte, fuhr er mit einem Schimmelgespann umher, und da ihn das Aufsehen nicht befremdete, hielt er in der einen Hand die brennende Kerze, in der anderen das Brevier. Und obwohl er es mit aufrichtiger Andacht las, während Spiridion in irgendein Geschäft einkaufen ging, war es ihm auch angenehm, daß alle, die an ihm vorübergingen, sich gegenseitig auf ihn aufmerksam machten: schau, schau, Liszt sitzt im Wagen, er geht bald zum König von Holland und zum Großherzog in Weimar.

Und er fuhr tatsächlich zum König von Holland. Der alte Wilhelm III. hatte mehrere musikalische Stipendien gestiftet und zu deren Verleihung eine internationale Prüfungskommission einberufen. Die Mitglieder dieses Komitees kamen jährlich in Loon, im Brabanter Schloß des Königs, als Gäste des Hofes zusammen. Auch der Abbé war unter ihnen. Bei diesen Sitzungen führte er das Präsidium. Dann fuhr er nach Düsseldorf, weil man dort seinen »Prometheus« und die »Graner Messe« aufführte. Von dort fuhr er nach Hannover, wo er mit seinem früheren Schüler Bronsart ein Konzert zugunsten Bayreuths gab, dann fuhr er nach Weimar. Und dann nach Bayreuth. Als ihn die Eisenbahn eintönig durcheinanderrüttelte und er bei dem blinkenden Licht der an dem Sitz befestigten Kerze das Lesen satt bekam und das Buch in den Schoß fallen ließ, dachte er darüber nach, daß er auch jetzt noch immer ruhelos unterwegs war. In einem Jahre abwechselnd in drei Ländern zu wohnen, war an sich schon mit viel Reiserei verbunden, und erst recht beschwerlich, wenn man sich langsam den Siebzig näherte. Und er war auch noch über diese Reisen hinaus dauernd unterwegs, fuhr hierhin und dorthin, ließ sich durcheinanderschütteln, fuhr die Nacht durch, durchquerte halb Europa, um irgendwo zwei Tage verweilen zu können, dann saß er abermals in der Eisenbahn. Warum bloß? Niemand hätte es ihm als alten Manne verübelt, wenn er auf den einen oder den anderen Weg verzichtet hätte. Aber der Wandertrieb hetzte ihn vorwärts, eine innere Unruhe ließ ihn nicht seßhaft werden, als ob er in seinem ganzen Leben etwas gesucht hätte und auch jetzt noch suchen müsse, was er weder nennen, noch finden konnte. Wenn er seine Vergangenheit wachrief, konnte er in jedem Zeitabschnitt seines Lebens diese nomadenhafte Wanderlust entdecken, ja sogar während der Weimarer Jahre, als er grundsätzlich ständiger Einwohner dieser Stadt war und sich trotzdem öfter in Dresden, in Leipzig, in Berlin, in der Schweiz, ja in Paris aufhielt. Er mußte wandern, weil er das Unnennbare suchen mußte. Ob er wohl jemals in seinem Leben erfahren würde, was er fortwährend suchte, seit er auf der Welt war?

Bayreuth wurde für die Welt geöffnet. Wagner hatte dreimal hintereinander die Tetralogie auf dreimal vier Abende angesetzt. Für die erste Aufführung hatte er den 12. August bestimmt. Der Abbé war schon am 1. August in Wahnfried mit den Briefen der sich heftig sträubenden Carolyne in seiner Tasche. Die Fürstin hatte aber diesmal schreiben können, was sie wollte, hier durfte er nicht fehlen. Dort oben auf dem Hügel stand jetzt das fertige Gebäude, seine grüne Kuppel glänzte weithin im hellen Sommersonnenschein. Wagner und Cosima schufteten wie Sklaven in einer Tretmühle, sie schliefen kaum und kümmerten sich um ihn überhaupt nicht. Den Proben wohnte er anfänglich bei, er hatte aber bald das Gefühl, die Arbeit Wagners nur zu stören, da ging er nicht mehr hin. Er spielte mit den Kindern. Mit den beiden größeren Töchtern, den Kindern Bülows, sprach er schon wie mit Erwachsenen. Sie reiften langsam heran. Daniela war schon vierzehn Jahr alt, Blandine zwölf. Halb scherzhaft, halb im Ernst behandelte sie der Großvater wie erwachsene Damen, er bot ihnen den Arm, an der Tür ließ er ihnen den Vortritt. Mit der kleineren Tochter und mit Fidi, dem sieben Jahre alten Jungen, konnte er stundenlang spielen. Er spielte Versteckens oder Räuber mit ihnen, sie zimmerten sich in der Villa ein Kindertheater, während die Eltern im Theater arbeiteten und nicht einmal zum Mittagessen nach Hause kamen. Die Kinder verkleideten sich mit Deckchen, Tischdecken und Tüchern in märchenhafte Könige und Feen, und der Großvater spielte ihnen Klavier dazu.

Dann kamen die großen Tage. Die Eisenbahn schüttete förmlich Wagnerianer aus allen Ländern Europas aus. Der Traum wurde zur Wirklichkeit, und das schien fast genau so ein feenhaftes Märchen wie das, was der Großvater mit seinen Enkeln spielte. Ein Dirigent aus Dresden, dessen Stücke gräßlich durchgefallen waren, der einmal nur aus dem Erlös seiner versetzten Taschenuhr seiner Frau Essen schaffen konnte, hatte sich in den Kopf gesetzt, ein besonderes Theater zu erbauen, wo nichts anderes aufgeführt werden konnte, als seine Werke. Diese Unglaublichkeit stand jetzt zu Stein geworden dort auf dem Hügel. Und zur ersten Vorstellung kam sogar der Deutsche Kaiser. Der Gräfin Schleinitz war es gelungen, den Herrscher zu überreden, dessen Geschmack nichts ferner lag als die Wagnermusik. Die Gräfin aber wußte, was und wie sie dem Kaiser etwas erklären mußte. Die schilderte ihm die außerordentliche nationale Kraft, mit der Bayreuth das ganze Deutschtum beschenken würde. Dafür hatte der Kaiser schon eher Gefühl, der mit Bismarck die deutsche Einheit zustandegebracht hatte. Seine Anwesenheit verlieh der ersten Aufführung der Tetralogie und der Tetralogie selbst eine sich auf das ganze Land erstreckende Bedeutung.

»Das habe ich alles genau vorher gewußt«, murmelte der Abbé.

Er sagte es aber nur für sich, es war sonst niemand da, dem er es hätte sagen können. Jeder achtete nur auf den Kaiser und Wagner, sie beide waren die Helden, die zwei großen Deutschen. Der alte Meister schrumpfte hier zu einer Nebenfigur zusammen, man befaßte sich nicht mit ihm, nicht ihm spendete man Beifall, es schien fast so, als ob er im Wege wäre. In der Doppelloge der Familie Wagner wohnte er der Vorstellung bei, die auch sein Sieg war. Als am ersten Abend der erste Ton des »Rheingold« erklang, der langangehaltene, mystische Es-Ton, als das Urchaos, aus dessen Formlosigkeit langsam, kaum bemerkbar, das B entspringt, und die ganze Welt für den Zuhörer versank, da zitterte er vor künstlerischer Erregung. Er fühlte darin das Größte vom Großen. Jeden Abend saß er da, inmitten des begeistert drängenden Stromes der sich um Cosima Scharenden, und er selbst konnte weder mit Cosima, noch mit Wagner einen einzigen glücklich vertrauten Augenblick verbringen. Seine Zugehörigkeit war ja selbstverständlich, auf ihn brauchte man keine besondere Rücksicht zu nehmen, auf seine Meinung mußte man nicht aufgeregt warten, hier zählten nur die, von denen etwas abhing, die man erobern mußte.

Der Kaiser blieb nur die ersten beiden Abende, nach der »Walküre« reiste er ab. Zuvor aber brachte er seine volle Anerkennung über die nationale Bedeutung des bisher Gehörten zum Ausdruck. Am vierten Abend, nach der Vorstellung der »Götterdämmerung«, veranstaltete man in dem zum Theater gehörenden Speisesaal ein Festbankett für siebenhundert Personen. Wagner war der Redner. Und inmitten seiner Rede wandte er sich mit einem Male dem Abbé zu, der bescheiden auf seinem Stuhl saß, fast um Entschuldigung bittend, daß er da war.

»Hier ist derjenige, welcher mir zuerst diesen Glauben entgegenbrachte, als noch keiner etwas von mir wußte, und ohne den Sie heute vielleicht keinen Ton von mir gehört haben würden, mein lieber Freund, Franz Liszt.«

Sofort wurde Beifall gespendet. Der Abbé verneigte sich sitzend nach rechts und links. Er verneigte sich auch gegen Cosima in diesem Augenblick, der sie drei nach den Kämpfen so schwerer Jahre durch den Sieg miteinander verband. Aber Cosima applaudierte nicht. Sie saß mit steifem Gesichtsausdruck da, die Augen zusammengekniffen. Jeder Beifall, der an diesem Tage nicht ihrem Manne galt, störte sie. Der Abbé erhob sich, um auf die an ihn gerichteten Worte zu erwidern.

»Ich danke für diese ehrenvolle Auszeichnung meinem lieben Freunde, dessen untertänigster Bewunderer ich stets bleiben werde. So, wie wir uns vor dem Genius Dantes, Michelangelos, Shakespeares und Beethovens beugen müssen, neige ich mich vor dem Feuergeist des Meisters.«

Jetzt applaudierte auch Cosima. Und jeder applaudierte. Wagner stand da am Höhepunkt seines Lebens, auf dem Gipfel der Geltung und des Verstandenseins. Mit seiner Lebensgefährtin zusammen. Der Abbé setzte sich und fühlte sich unendlich einsam.

Er blieb in Bayreuth bis zum Schluß, er hörte sich bis zum letzten Ton alle drei Aufführungen der Tetralogie an. In der Einsamkeit seines Herzens mußte er an Hans denken, über den er von den vielen Künstlern der Festspiele, die ihn kannten, ein paar flüchtige Bemerkungen hörte. Bülow machte eine schlimme Zeit durch. In Amerika hatte er sich überanstrengt und fast zu Tode gearbeitet. Das dortige Tempo war nichts für seine zerrütteten Nerven. Schwerkrank war er nach Hause zurückgekehrt und mußte sich in ein Sanatorium begeben. Er lag jetzt in Godesberg, wohin nur Menschen mit ernsten Nervenleiden zu gehen pflegten. Während der lärmenden, siegreichen Tage der Bayreuther Festspiele hatte Franzi viel an diesen armen Menschen denken müssen, der ebenso allein war wie er.

Er fuhr zu ihm hin. Daß er seinen musikalischen Glauben Brahms zugewendet hatte, darum kümmerte er sich jetzt nicht. Und Hansens übereilte, sich selbst widersprechende musikalische Ansichten konnten in ihm die Erinnerung an jenen jungen Schüler nicht verwischen, der einst mit Himmel stürmendem Glauben für ihre Sache gekämpft hatte.

Als einen gebrochenen, zitternden Greis sah er ihn wieder. Sie saßen zusammen im Garten des Godesberger Sanatoriums. Der Gast wollte unter keinen Umständen von der Eröffnung Bayreuths sprechen, der Kranke hingegen nur davon. Er fragte ihn über das Tempo der einzelnen musikalischen Sätze aus, über die Akustik, über den Erfolg schwieriger Gesangspartien, über alles, was einen Theatermenschen in seinem Fach interessieren kann. Der Gast war gezwungen, sich in Einzelheiten einzulassen.

»Was sind seine Pläne jetzt?«

»Er wird jetzt den ›Parsifal‹ komponieren, wenn er sich wieder an die Arbeit macht. Dann hat er noch einen ganz neuartigen Plan: er will in Bayreuth eine Stilschule gründen, wo die Sänger den zu einem Musikdrama erforderlichen Gesangsstil studieren können, wo bildende Künstler Unterricht erhalten, in welcher Weise sie dem Musikdrama dienen sollen. Er plant sogar auch einen Lehrgang, in dem junge Dirigenten die Geheimnisse der richtigen Tempi erlernen.«

»Ein ausgezeichneter Einfall. Unbestritten eine riesenhafte Begabung, das kann man nicht leugnen.«

Sie schwiegen. Über ihnen schwebte der bis jetzt noch unausgesprochene Name. Bülow aber konnte sich nicht beherrschen und sprach ihn aus:

»Und Cosima?«

»Danke«, versuchte der Abbé einen gleichmütigen Ton anzuschlagen, »es geht ihr gut. Sie ist ein bißchen müde, in den letzten Wochen hat sie sehr viel gearbeitet und konnte sich nie richtig ausschlafen. Ich habe sie im übrigen selbst kaum sprechen können, jede ihrer Minuten war ausgefüllt.«

»Und die Kinder?«

Der Abbé wollte antworten, er kam aber gar nicht mehr dazu. Bülow brach in ein nervöses Schluchzen aus. Schon war eine Pflegerin da, die bis jetzt auf einer entfernten Bank gesessen hatte. Sie trocknete dem schluchzenden Manne die Tränen und beruhigte ihn, als ob sie mit einem Geistesgestörten spräche.

»Sie haben ihn sehr aufgeregt«, sagte sie vorwurfsvoll zu dem Abbé. »Jede Erregung schadet ihm sehr.«

»Das tut mir leid, aber ich gehe schon. Gott mit dir, Hans, ich freue mich, daß ich dich gesehen habe.«

Der weinende Mann blickte hoch.

»Sage es ihnen nur, was sie aus mir gemacht haben. Sage es Richard, in welcher Verfassung du mich angetroffen hast. Mich, der bereit war, für ihn zu sterben.«

Dann wandte er sich ab. Franzi sprach noch mit dem Arzt, der ihn beruhigte. Arg mitgenommene Nerven, eine gründliche Neurasthenie, aber unmittelbare Gefahr bestünde nicht. Er würde sich hier schon allmählich beruhigen und seine Schaffenskraft sicherlich zurückgewinnen. Sein Gehirn sei vollkommen gesund, er müsse nur ruhen. Und er müsse jede Aufregung meiden.

Der Abbé fuhr ab. Er bereute, daß er hierhergekommen war. Ein langer Brief voller Anteilnahme hätte auch genügt; es war schade, daß er durch sein persönliches Erscheinen die Nerven des kranken Mannes aufgepeitscht hatte. Der mochte sich während der Bayreuther Tage recht gegrämt haben. Wahrscheinlich hatte er sich an die Zeiten in der Altenburg zurückerinnert, als sie den langen Brief Wagners über den Plan des Ringes und die eben vollendete Partitur des »Siegfried« gemeinsam gelesen hatten. Mit welch aufopfernder Begeisterung gründeten sie beide damals die Wagner-Partei: Liszt und Bülow. Wieviel Leid war seit dieser Zeit hereingebrochen, bis sie bei der ersten Bayreuther Vorstellung des »Siegfried« angelangt waren. Und jeder hatte dort sein können, nur dieser unglückliche Schwärmer nicht. Er mußte in dem seelischen Elend der Nervenheilanstalt bleiben, während Cosima ihren Halbgott bewunderte.

Die Fürstin war fürchterlich aufgebracht, daß der Abbé zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele gefahren war. Aus ihrem Zorn und Haß machte sie in ihren Briefen keinen Hehl. Zum ersten Male seit ihrer Bekanntschaft wurde der Abbé richtig böse. Carolyne ließ sich hinreißen, Wagners Werke musikalisch zu bekritteln. Sie legte dabei so viel dilettantenhaftes Unverständnis und Kleinlichkeit an den Tag, daß es zugleich schmerzlich und ernüchternd war. Der Abbé sann tagelang über diese Briefe, über seine Vergangenheit und seine einstigen Gefühle nach. Seine Liebe war längst gestorben. Auch die Fäden ihres freundschaftlichen Einvernehmens waren inzwischen schon sehr locker geworden. Jetzt begannen sie auch noch zu reißen. Wenn er sich die sechzigjährige alte Frau vorstellte, wie sie im dichten Zigarrenrauch in dem ungelüfteten Zimmer bei erdrückender Hitze ihren fünfzehnten oder zwanzigsten Band über die Ursachen der äußerlichen Schwäche des päpstlichen Staates schrieb, zwischendurch nur Wagner und Cosima haßte und sonst von der ganzen Welt nichts sah und hörte, – dann tauchte die Frage in ihm auf, die auch immer mehr Menschen gegenüber in ihm laut wurde: was ging ihn diese in religiösen Wahn verfallene, schrullige, unberechenbare Frau eigentlich noch an? Er beschloß, nicht nach Rom zu fahren, sondern gleich nach Pest.

In seiner Abwesenheit waren düstere Dinge geschehen. Im Parlament griff man die Musikakademie an. Es waren viele, die sich der unverhüllten Abneigung Koloman Tiszas gegen Liszt angeschlossen hatten. Sie fielen über ihn her und zerrten das Buch über die Zigeuner vor. Daß der Verfasser dieses Buches die von ihm ins Leben gerufene Musikakademie trotz allem in Ruhe leiten könnte, damit wollten sie sich nicht einverstanden erklären. Es waren welche da, die beantragten, das Parlament sollte den für die Musikakademie bewilligten Betrag diesem Zweck entziehen. Daraus entstand eine große Debatte, und Trefort bestand umsonst auf seinem Recht, die Opposition erkämpfte sich in einer geschickt gewählten Minute eine Abstimmung, und die zufällige Mehrheit des Parlaments stimmte gegen den Minister. Eine Regierungskrise wurde nicht daraus, dieser gut vorbereitete Streich hatte aber zur Folge, daß die am Halplatz fleißig arbeitende Musikakademie von der Regierung keinen Heller mehr erhielt. Man hätte sie gleich schließen können. Aber Franz Josef selbst griff ein, den Graf Julius Andrássy eingehend unterrichtet hatte. Der König schätzte eine derartige Unordnung nicht. Die Opposition durfte nicht im Rechte bleiben. Und kurze Zeit darauf erschien in den Zeitungen die Nachricht, daß Seine Majestät die Kosten der Aufrechterhaltung der Musikakademie von nun an in vollem Umfange aus seiner Privatschatulle zu decken geruhen würden. Die Akademie konnte ihre Tätigkeit ungestört weiter fortsetzen.

Er kam zwar erst an, als alles schon wieder in Ordnung war, es tat ihm aber weh, daß man ihn nicht gern hatte, und ab und zu dachte er daran, das Ganze aufzugeben: wo man ihn nicht brauchte, dort wollte er auch niemandem zur Last fallen. Was sollte er aber dann in Pest machen? Ohne einen Wirkungskreis konnte er nicht leben. Pest war ihm so ans Herz gewachsen, daß er die hier verbrachten Monate nicht missen wollte. Ruhig und geduldig mußte er also doch an der Spitze der Akademie verbleiben. Hin und wieder sann er aber doch tiefer über diese Fragen nach. Er dachte an Koloman Tisza, dessen Namen er in Gesellschaft zu nennen sorgfältig vermied, an den er ohne Wissen der anderen aber um so mehr dachte. Er hatte sich Mühe gegeben, diesen Menschen zu verstehen, er hatte sich bemüht, in seine Seele einzudringen, um die Gründe seiner Abneigung zu erforschen. Diese Gründe konnten ja auch persönlicher Art sein. Wenn ein Mensch dem anderen aus irgendeinem Grunde nicht gefällt, so kann man das nur oberflächlich erklären, die tief in der Seele verborgenen Gründe sind unerforschbar. Es war aber nicht zu bezweifeln, daß die feindseligen Gefühle Tiszas auch überzeugende Gründe haben mußten. Das einzige, was der Abbé wußte, war, daß Tisza ein Mensch ohne Musik war, von den Strömungen in der Kunst verstand er gar nichts, einen musikalischen Standpunkt hatte er nicht. Um so stärker war aber sein Gefühl für Nation und Rasse. Koloman Tisza war durch und durch Ungar. Hier lag der Fehler: Tisza sprach ihm, Franz Liszt, das Recht ab, ein Kulturinstitut in Pest zu leiten. Wie kam er dazu? Durfte er über den Komponisten der Rhapsodien so urteilen?

Die Rhapsodien … Er hatte ungarische Volkslieder in ihnen aufgearbeitet oder Melodien, die er für ungarische Volksweisen gehalten hatte. Er hatte sich mehr als einmal geirrt und falsch gegriffen. Eine Melodie der zweiten Rhapsodie hatte er von dem ungarischen Komponisten Ehrlich gehört, der ihn einst in Wien aufgesucht hatte. Erst viel später stellte sich heraus, daß das kein Volkslied gewesen war, sondern eine eigene Komposition von Ehrlich selbst. In der dreizehnten Rhapsodie war eine Melodie enthalten, die er ebenfalls für ein Volkslied gehalten hatte, die aber eine Komposition Rózsavölgyis war. In der vierzehnten Rhapsodie hatte er nach Erkels Meinung gegen die ungarische Melodik schwer gesündigt. Eine andere Melodie hatte er an einer ernsten und erhabenen Stelle der »Heiligen Elisabeth« verwendet, um diesem Werk ungarischen Charakter zu verleihen. Von dieser Melodie hatte es sich herausgestellt, daß der zu ihr gehörige ungarische Text nichts weniger als erhaben war. Einem Ungarn, der sich diesen Satz anhörte, mußte sofort der ursprüngliche Text einfallen, der von schwarzem Brot und Rettich handelte, und der Zuhörer konnte sich eines Lächelns kaum erwehren. Kurz und gut: daß er nicht ungarisch konnte, hatte solche Versehen zur Folge. Erkel, Mosonyi und den anderen passierte dergleichen gewiß nicht. Das war nicht zu bestreiten. Und wie unangenehm mußten sich solche Fehler dem ungarischen Ohr aufdrängen. Man brauchte nicht einmal besonders musikalisch zu sein, um sie zu bemerken; man brauchte nur ein Ungar zu sein. Und Koloman Tisza, der in seinen einsamen Stunden sicherlich über alles genau so gründlich nachdachte wie er, war bestimmt gutgläubig und aus der ehrlichsten Überzeugung seines eifersüchtigen Ungartumes heraus der Ansicht, daß es für die ungarische musikalische Jugend nicht gut war, solche Fehler von ihrem Meister zu lernen.

Und dann erwiderte er, der in seinen Gedanken widersprechende Koloman Tisza, die Musik Liszts, die in ihren Zielen mit der Wagners identisch sei, könne nicht die offiziell empfohlene Atmosphäre für eine ungarische Musikakademie sein. Schubert habe ja auch ungarische Melodien bearbeitet. Auch Brahms. Der ungarischen Musikkultur die Grundlage zu schaffen, dazu sei trotzdem keiner von beiden berufen. Die ganze Tradition der Musikakademie müsse auf nationalem Boden Wurzeln schlagen.

Die Schatten erdachter Gestalten führten diese Debatte in seinen geheimen Grübeleien: ein erdachter Liszt und ein erdachter Tisza. Besser gesagt, sein inneres Ringen mit sich selbst mit Beweisen und Gegenbeweisen. Und dieses innerliche Ringen mit sich selbst führte zu keiner vollkommenen inneren Befriedigung. Er konnte nur eins feststellen: seine Vergangenheit und sein in der Fremde verbrachtes Leben stellte sich ständig zwischen ihn und seine Heimat. Gerade dann, als er mit reinstem Glauben und restloser Hingabe sich seinen Landsleuten geben wollte. Und welcher Schmerz war es für ihn, jetzt, wo er nach Hause gekommen war, fühlen zu müssen, daß es Landsleute gab, aus deren Herzen er verbannt war.

Dieser Gedanke tat ihm weh, verursachte aber kein Leid mehr. Seine Seele war weise, geduldig und nachsichtig geworden. Er war dabei angelangt, auf der Welt alles so zu nehmen, wie es war. Schließlich ist im Leben nichts so wichtig wie das, was auf dieses Leben folgt. Man mußte alt werden, um die Worte des Thomas a Kempis wirklich zu verstehen: vanitatum vanitas. In unserem irdischen Leben gibt es nichts, was nicht mit Eitelkeit verbunden wäre. Zur Einsicht dieser Tatsache war er jetzt beinahe gekommen.

Aber nur beinahe. In seiner Seele war immer noch eine Stelle, mit der er noch nicht ganz fertig war. Sein sich nach der Hingabe der Frauen sehnendes Männertum war noch nicht genügend gealtert. Er sehnte sich noch nach Liebe. Er wußte, daß er wesentlich jünger aussah im Verhältnis zu seinem Alter. Den verdammten Segen der Begierde, die seit seiner Jünglingszeit sein stärkster Trieb war, fühlte er noch in sich. Sein ganzes Leben war eine ununterbrochene Verkettung dieser Kämpfe, die die wütende Freude des Kusses und die nach Reinheit strebende Tannhäuser-Sehnsucht in seinem Inneren ausgefochten hatten. Diese Kämpfe hatten noch nicht aufgehört. Im Gegenteil, sein nahendes Greisenalter gestaltete das Verlangen in ihm noch heftiger und noch dringender. Mit ganz verdutztem Schreck fragte er sich, ob es denn möglich wäre, daß es mit der Liebe aus sein könnte? Nein, noch nicht. Das Schicksal sollte ihm nur noch eine einzige Liebe gewähren, nur noch eine einzige, dann sollte es gut sein, dann mochte die weise, ausgekühlte Ruhe kommen.

Und das Schicksal gewährte ihm diese Liebe. Das Schicksal schenkte ihm Sophie Menter. Die fröhliche, entzückende Sophie lebte mit ihrem Manne, dem Cellisten David Popper, sehr schlecht. Sie blieben auch nicht lange beieinander. Eines Tages bekam Sophie die ewigen Szenen satt, packte ihre Sachen und beschloß, sich in Pest niederzulassen. Sie wollte nahe beim Titanen des Klaviers sein, den sie vergötterte.

Ihr bisheriges Verhältnis war schon sehr vertraut. Sie waren sich näher gekommen, als Sophie in Wien trotz einschüchternder Vorhaltungen dabei blieb, das Es-dur-Klavierkonzert vorzutragen, das sich seit der abfälligen Kling-Klang-Kritik Hanslicks niemand in Wien auf die Spielfolge zu setzen getraut hatte. Sophie hielt dieses Werk für eine ganz großartige Schöpfung, und dem mächtigen Kritiker ganz offen trotzend, spielte sie sie erst recht. Zwei große Belohnungen brachte ihr das ein: den überaus starken Erfolg des Konzertes und die besonders herzliche Zuneigung des Meisters. Sophie konnte man auch mit Recht sehr liebhaben. Ihr süddeutsches, blondes Wesen strahlte einen sonnigen Reiz aus. An ihr war nichts Kompliziertes, sie war die schlichte and natürliche Güte selbst. In musikalischen Dingen war sie sehr hartnäckig, in allen anderen nachgiebig. Sie war sehr klug, dabei aber naiv, in ihrem Beruf fleißig und selbständig, über das Klavier hinaus aber bescheiden, jedermann achtend und folgsam. Sie war leicht gerührt, Kindern und Tieren besonders zugeneigt; wenn sie einen herumirrenden Hund sah, füllten sich ihre Augen sofort mit Tränen.

Der Abbé hatte gerne Briefe mit ihr gewechselt und war bestrebt gewesen, sie dorthin einzuladen, wo er sich gerade aufhielt. Er lud sie zur Familie Augusz ein; als er über Wien fuhr, vereinbarte er einen Treffpunkt mit ihr, er lud sie nach Weimar ein. Innige Briefe der Freundschaft schrieben sie einander. Sophie schwärmte von den »ewig unvergeßlichen Stunden«, und der Abbé schlug ihr gegenüber auch einen so warmen Ton an, wie er einst nur an Agnes geschrieben hatte. Sie vermieden aber beide, von Liebe zu sprechen. Der Abbé hatte die Reinheit des Mädchens geachtet, die Schwärmerei des jungen Mädchens war frei von jedweder Koketterie gewesen. Dieses unbeschreibliche Etwas, dessen Duft bei dem Zusammensein zweier Menschen, die sich zueinander hingezogen fühlen, stets in der Luft spürbar ist, schwebte trotz allem immer zwischen ihnen.

Da verliebte sich Sophie in den Cellisten. Ihren Entschluß, seine Frau zu werden, teilte sie vor allem dem Abbé mit.

»Jeder Kavalier kann sich darüber nur freuen«, erwiderte scherzhaft, aber nur halb scherzhaft, der Abbé, »wenn ein so schönes Mädchen heiratet.«

Diese frivole Bemerkung tat ihm aber sofort wieder leid.

»Nein, nein«, fuhr er ernst werdend fort, »das billige ich nicht, mein Kind. Tue es nicht. Die Ehe ist im allgemeinen schon ein sehr kühner Schritt, und erst recht zwischen Künstlern.«

»Das ist wahr«, gab Sophie offen zu, »ewig kann ich aber nicht allein leben. David ist ein guter Mensch und wird mich achten.«

Der Abbé sah, daß man an Sophies Entschluß nichts ändern konnte, er sagte nichts mehr. Auch seit dieser Zeit hatten sie sich auf der Landstraße Europas öfter getroffen. Sophie schwieg sich aber immer über ihr Eheleben aus. Und jetzt erschien sie in Pest und besuchte ihren Meister. Sie war einunddreißig Jahre alt, blond und begehrenswert. Eine große Freude empfing sie. Der erste Gedanke des Abbés war die Frau, das verschwieg er aber. Sein zweiter Gedanke war die Künstlerin, und darüber sprach er.

»Ich bin aufrichtig glücklich, Sophie. Du weißt, wie sehr ich dich immer geliebt habe, du weißt auch, wie hoch ich dein Können stets eingeschätzt habe. Von dir habe ich jedermann erzählt, daß du von meinen sämtlichen Klaviertöchtern die einzige legitime bist. Alle anderen sind illegitim. Ich denke manchmal von dir, daß du das Klavier selbst bist. Du kannst mir jetzt hier großartig behilflich sein. Du kommst auf die Akademie zu meinen Stunden und wirst ihnen zeigen, wie man es machen muß. Willst du?«

»Sehr gerne. Sind Begabungen darunter?«

»Es gibt einen gewissen Aladar Juhász, der ist eine große Begabung. Unter den Mädchen eine Ilonka Ravasz. Eine ganz gute Klavierspielerin, hauptsächlich aber ein entzückender, liebenswerter Fratz.«

Sophie drohte mit dem Finger.

»Na, na!«

»Aber, mein Kind, wie weit liegen diese Kindereien schon hinter mir. Diese Ilonka ist ein tadelloses Mädchen.«

»Lassen Sie sich nicht auslachen. Jedermann weiß nur zu gut, daß Sie auch heute noch ein großer Verehrer des zarten Geschlechtes sind. Aber ich gehe jetzt, ich muß meine Katze füttern. Morgen komme ich wieder.«

Sie kam anderntags wieder, auch am dritten Tage, jeden Tag. Die dreimal in der Woche stattfindenden Liszt-Nachmittage in der Musikakademie besuchte sie ebenfalls. Inzwischen hatte sie sich auch nach einer Wohnung umgesehen und sich eingerichtet. Dann besuchte sie der Abbé jeden Tag. Und es war noch keine Woche vergangen, da wurde er schon stürmisch. Er umarmte sie und wollte sie küssen. Zart, aber bestimmt schob Sophie ihn von sich.

»Nein, nein, lassen Sie mich in Ruhe. Ich habe die Liebe so satt, daß ich davon nicht einmal hören will. Und zwischen den vielen Ziffern nur eine Nummer zu sein, unter diesen vielen hundert Abenteuern, dafür bin ich zu gut.«

»Aber davon ist doch keine Rede. Ich denke viel mehr an dich und ganz anders, als wie du dir das vorstellst.«

Sophie lachte.

»Sie sagen das ja förmlich so, als ob Sie es ernst meinten. Sie sind fast ein ebenso guter Schauspieler wie Klavierkünstler. Na, setzen Sie sich mal schön auf diesen Stuhl. Plaudern wir in aller Ruhe. Das ist nichts Ernstes.«

Der Abbé zuckte die Achseln und setzte sich wieder. Er lachte dazu. Sein Herz tat ihm aber sehr weh. Er dachte bei sich: Ich bin alt, mich braucht niemand mehr. Andertags begann er abermals zu stürmen, – mit demselben Erfolg. Sogar mit noch weniger Erfolg, denn als sich Sophie endlich aus der Umarmung befreien konnte, war er ganz außer Atem. Sein Atem langte nicht aus. Er wurde alt. Und das tat ihm wiederum sehr weh.

Sophie hatte eine Katze, ein außerordentlich possierliches Tierchen. Ihr Körper war schneeweiß, nur um ihre Nase herum war ein kleiner schwarzer Fleck, als ob sie Tinte geleckt hätte. Der Abbé gab ihr den Namen »Klecks«, und dieser Name blieb an ihr haften. Klecks führte ihr ureigenes, hochmütiges Leben, kümmerte sich um niemanden, nur ab und zu ging sie zu Sophie, rieb sich mit krummem Rücken an ihrem Rock und stellte ihren Schwanz kerzengerade hoch.

»Ist das nicht ein liebes Tier? Ich habe es auf der Straße gefunden. Ich kann kein verlassenes Tier sehen. Aus Mitleid bin ich im allgemeinen zu allem fähig. Popper habe ich auch deswegen geheiratet, weil mir sein Herumquälen leid tat.«

Dann begannen sie von etwas anderem zu sprechen. Aber dem alten Verführer ging das nicht wieder aus dem Sinn. Er wartete einige Tage, daß es nicht zu sehr auffallen sollte. Dann begann er von seinem Alter zu sprechen. Er klagte, wie traurig das wäre, alt zu werden, was für eine Qual das wäre, Jüngere und Stattlichere zu sehen, die noch das Recht hätten, glücklich zu sein. Dem Alternden bliebe aber nur das Herz jung, damit es dann um so mehr weh tue. Er redete und redete mit dem zartesten und ergreifendst instrumentierten Bariton. Und zwischendurch beobachtete er gespannt Sophie, die immer ernster wurde und schwieg. Und wie sie da so nebeneinander saßen, rückte er verstohlen immer näher zu ihr. Als dann plötzlich zwei dicke Tränentropfen bei diesem ergreifenden Geständnis in Sophies blauen Augen erschienen, umarmte er die verführerisch runden Schultern. Der blonde Kopf fiel brav auf seine Brust. Er preßte Sophie an sich, um sie zu küssen. In seinen Armen fühlte er die alte, wilde Kraft wiederkehren.

»Um Himmels willen«, flüsterte Sophie durch ihre Tränen lächelnd, »Sie zerbrechen mich ja …«

Dann küßten sie sich. Im Herzen des Abbé klopfte stürmisch die Freude. Er hatte schon unzählige Frauen so in seinen Armen gehalten, aber keiner gegenüber hatte er einen so tiefen und aufrichtigen Dank empfunden.

Er war über sechzig Jahre alt.


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