Ulrich Hegner
Auch ich war in Paris
Ulrich Hegner

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Zweyter Theil.

 

Ἐα δ' ἐμαυτῳ ζῃν, ἰση γὰρ ἡ χαρις,
Μεγαλοισι χαιρειν, ὀμικρα ϑ' ἡδεως ἐχειν.
Euripides.

 

Wer wollte auch langsam in diesen tollen Jahrmarkt der Welt hineinfahren können, wo alles eilt, und jeder sich treibt und drängt, um keine der flüchtigen Stunden des Lebens vorbeyziehen zu lassen, ohne ihr wenigstens den Tribut der Fröhlichkeit zu entreißen!

Das war meine erste Empfindung, als ich in dem rasselnden Wagen durch die Gassen eilte, und die bunten Kramläden, die Hütten und Palläste, und das unzählige Gewimmel der Menschen wie ein Marionettenspiel an meinen Augen vorbey tanzte. Der Gedanke entzückte mich, daß ich nun mit Muße dieses alles, nach meiner Weise, in stiller Beobachtung gleichsam als ein für mich bereitetes Schauspiel werde genießen können, und ich frohlockte in mir selbst über die Gewißheit, daß ich nun da sey.

Der Conducteur wollte uns seinem Versprechen gemäß in einen Gasthof führen, wo wir so lange bleiben könnten, bis wir uns irgendwo eingemiethet hätten. Aber durch die Gefälligkeit unsers Landmanns Tr., der uns erwartete, war uns schon eine Wohnung bereitet. Eine Menge Lastträger drangen sich auf, wir 94 nahmen aber unsre leichten Mantelsäcke selbst unter den Arm, und zogen nach unserm nahen Quartier im Hôtel de la marine, rue croix des petits champs, wo mir ein zwar schönes aber unsauberes Zimmer gegen die lärmende Straße hinaus zu Theil ward.

Befreyt vom Staube der Reise zogen wir, es war noch früh am Abend, unter Tr. Anführung in der Stadt herum, bis es dunkel war. Zuerst durch das Palais royal, welches zunächst an meiner Wohnung liegt.

Daß mein erster Ausgang gerade diesen Mittelpunkt der Ueppigkeit von Paris, ja von der ganzen Welt, wie man behauptet, traf, war mir nicht zuwider. Je das Größte in seiner Art ist auch das Sehenswertheste, und es ist ein falscher Grundsatz, zu glauben, man müsse sich erst durch das Gemeine dazu stimmen lassen. Das Gemeine verstimmt. Hätte ich das Treiben von Paris zuerst auf andern öffentlichen Plätzen gesehen, so wär' es mir da, wo es am größten ist, nicht mehr so interessant aufgefallen. Dieß (möge es nur hier passen, wie ich es dort als wahr erkannte!) gilt in Sachen der Empfindung überall, in den Künsten wie im Leben und in der Natur. Wer die Alpen sehen will, eilt bey den Hügeln vorüber. – Wer das Große fassen mag, und weiß was er sucht, soll nicht erst am Kleinen herumschleichen, und sich dadurch die Lust und Gewalt des ersten Eindrucks und die Kraft eigner Wahrnehmung schwächen. So rieth 95 Winkelmann allen seinen kunstliebenden Freunden, den geradesten Weg auf Rom zu nehmen, ohne sich in den kleinen Städten Italiens mit subalternen Dingen zu verweilen. So fassen wir den Geist des Dichters, selbst in dem nur halbverstandenen Originale besser, als ihn uns die Anatomie des Commentars in seinen disjectis membris demonstrirt. So zieht uns ja auch, wenn wir nur in eine Gesellschaft von Menschen, oder Sammlung von Gemählden treten, Gefühl und Neugier unwiderstehlich zu dem Schönsten und Berühmtesten.

Aber es gibt Leute – und die sind Schuld an dieser Abschweifung – welche das nicht rathen, welche sich vor jedem überraschenden Genusse fürchten, und zu allem eine stufenweise Vorbereitung verlangen, Leute, die sich immer nach einer Leiter umsehen, um künstlich in den Tempel des Geschmacks hineinzusteigen, wenn schon die Pforten desselben sich einladend vor ihren Augen öffnen. Diese fangen dann bey deutschen Aesthetiken an, um sich zum Anschauen antiker Schönheiten würdig zu bilden, und lesen den Batteux (um mich nicht durch neuere Beyspiele verhaßt zu machen) vor dem Homer, und berauschen sich so sehr am mannigfaltigen Dunste der Vorkenntnisse, daß sie die Einfalt der Wahrheit nicht mehr zu fassen vermögend sind.

Das Palais royal also – weder die größte noch die schönste, aber die glänzendeste und blendendeste 96 Partie von Paris – sah ich zuerst. Um meinen Freunden diese »Capitale de Paris, comme Paris est la capitale de l'univers« nach Verdienst beschreiben zu können, bedürfte es eines längern Aufenthalts in Paris, als mir vergönnt ist; ich werde dieß also nie versuchen, sondern nur, wie bisher, meine jedesmahligen zur Sache, oder nicht zur Sache, gehörigen Bemerkungen zu Papier bringen. Jetzt war ich Kleinstädter ganz von Erstaunen hingerissen, nicht sowohl über die fürstlichen Kostbarkeiten der Gewölbe und ihre elegante Anordnung, als über den Strom von Menschen, die sich in unaufhörlichem Wirbel in den Gängen herumdrehen. Wie sie laufen, schleichen, hüpfen, lachen, weinen, rufen, singen, lispeln, schreyen, sich anschauen, nicht achten, winken, stoßen, brüsten, schmiegen, zur Schau stellen, verlieren! Mit welchem Modegeschmack der Kleidung, welchem Schein des Glückes sie in den Alleen des Gartens herumziehen, überschwenglich genügsam, als wenn ihnen gar nichts fehlte, und sie nur aus der Welt wären, um als lebendige Blumen diesen Garten zu schmücken!

Ich sah auch andre Personen da herum wandern oder sitzen, die ganz in sich gekehrt an nichts außer ihnen Theil zu nehmen schienen, und mit eben der Gleichgültigkeit sich betrugen, als wenn sie allein auf einem einsamen Spaziergange wären. Das sind alte Pariser, dachte ich, die von Jugend auf in der Nähe dieses Platzes wohnen, und, mit seinem festlichen 97 Getümmel vertraut, die bunten Haufen ungefähr mit eben dem Interesse ansehen, wie wir die Pfähle unsrer Weinberge. Fast lächerlich aber, wenigstens unbegreiflich, welches mit dem Lächerlichen oft eins ist, kamen mir einzelne Menschen vor, die auf Ruhebänken hingestreckt, in Büchern lasen. Ein paar Neuigkeiten aus einem Zeitungsblatte herauszuhohlen, das ließe sich allenfalls noch denken, aber in einem so engen Bezirke, wo tausende von Menschen in unaufhörlicher Bewegung vor unsern Augen vorbeygaukeln, sich in einem Zusammenhange der Gedanken zu erhalten, welches doch bey Lesung eines Buchs erforderlich ist, das schien mir eine Unmöglichkeit zu seyn. Warum gingen sie nicht lieber nach Hause, wenn sie lesen wollten, oder ins Freye unter einen grünen Baum! Ich sahe zwar das Gleiche auch bey den Damen der Kramläden, aber da läßt sich alles erklären, so wohl das Lesen als das Nichtlesen.


Von da gingen wir durch die Straße Nicaise, wo noch traurige Spuren der Verwüstung, welche die so genannte Höllenmaschine angerichtet, zu sehen waren. Wie viel erschrecklicher, als beym Lesen der Zeitungsblätter, kam mir nun an Ort und Stelle selbst, die mehr als teuflische Bosheit vor, um eines Einzigen willen so viel Unschuldige zu morden, und so viel friedliche Haushaltungen zu zerstören! O Bonaparte, 98 wärest du auch nicht groß und gut, so hast du doch das Schicksal des Großen und Guten, daß es gewöhnlich der Menschheit theuer zu stehen kommt!

Meine Empfindung blutete noch stärker, als ich über den Carrouselplatz in den Hof der Tuilerien trat, und die Mordthaten des zehnten Augusts und der folgenden Greuelnächte mir wider Willen erinnerlich gemacht wurden durch die Inschrift: le 10. Août, die unter jedem Eindrucke der Kanonenkugeln an der Mauer des Schlosses angebracht ist. Wie kann eine menschliche Regierung noch solche Fingerzeige unmenschlicher Pöbelwuth stehen lassen, die bey jedem unbefangnen Fremden die Erinnerung des Guten und Schönen, das ehedem und jetzt wieder in diesem Pallaste geschah und geschehen mag, in der Geburt ersticken, und ihm auch die sinnliche Freude über den Anblick dieses königlichen Gebäudes rauben! Ueberhaupt sollte man keinen Platz um deßwillen verewigen, weil Menschenblut auf ihm vergossen worden, wenn auch noch so viel eingebildete Ehre dabey aufzulesen war; und da hier noch dazu die Ehre auf der Seite der Ueberwundenen ist, wie jetzt alle Welt weiß, so sollte man diese nun beyde Theile beschimpfende Inschrift desto weniger stehen lassen! Daß meine Landsleute das Schlachtopfer waren, vergrößerte zwar meinen Unwillen, aber, ich muß es gestehen, nicht meine Betrübniß. Mein Unwille war beleidigter Nationalstolz, aber Betrübniß setzt Liebe zum Voraus, und davon – ich darf in Paris wohl 99 sagen, was ich zu Hause verschweigen müßte – empfinde ich für einen Schweizer, den ich nicht kenne, nicht mehr, als für einen unbekannten Chinesen.

Diese unmuthigen Empfindungen verschwanden aber alle, wie die Finsterniß vor der Sonne, als ich unter den Tuilerien durch und gegen den Garten hinauskam, und, auf der Terrasse stehend, des für mich so gänzlich neuen Anblickes genoß. Die Abendsonne strahlte mir golden über die weite Fläche des herrlichen Gartens entgegen, schwellte die Wipfel seiner hohen Linden, überglänzte die marmornen Bildsäulen, und verdoppelte durch das Spiel der Schatten das Heer von Menschen, das in den weiten Gängen herumschwärmte, ohne sich, wie im Palais royal zu drängen, denn hier ist, so kams mir vor, wie im Himmel Raum für alle. Alles gruppirt sich und stellt sich mahlerisch dar, und jeden Augenblick lebten Reminiscenzen von so oft betrachteten Gemählden und Kupferstichen alter französischer Künstler, die dergleichen Gegenstände vorgestellt hatten, in mir auf; ich wurde ihres Gefühls und anschauenden Sinnes theilhaftig; es war mir als wenn ein schöner Traum realisirt würde.

Von allen Seiten her schienen mir Statuen, die ich aus Abbildungen und Beschreibungen kannte, wie alte Freunde vertraulich zu winken; ich war aber nicht im Stande, eine einzige ruhig zu betrachten, es waren ihrer zu viele, und die lebendigen Menschengruppen zogen immer wieder meine Augen auf sich. Wie konnte 100 ich mich da in ungestörtem Anschaun freuen über die Gewendigkeit der schönen männlichen Gestalten, über die weiße Zartheit der weiblichen Gesichter und die Fülle ihres Wuchses! Mit welcher Eleganz das alles an mir vorbey zog, sich um die Bassins und Blumenbeete wand, um unter den Bäumen des mir noch unermeßlich scheinenden Gartens zu verschwinden! Wie schon im Palais royal, so fiel mir auch hier wieder die Salbung auf, mit der diese Leute spazieren konnten, der Schein des Genusses, den kein nicht hieher gehöriger Gedanke, kein Hauch des Unmuths zu trüben schien, dem ich aber nicht recht trauen mochte, eben weil er so allgemein war; es kam mir vielmehr vor, daß, wie ihre Dichter für jedes Sentiment eine eigne Theorie, die sie alle einander so ähnlich macht, haben, so die Franzosen überhaupt für jede Situation eine durch stillschweigende Uebereinkunft und Erziehung bestimmte Miene und Haltung annehmen müssen, worin eben ihre berühmte Lebensart besteht.


Bisher konnte ich nie recht begreifen, wie sich Bildsäulen, steinerne todte Massen ohne Bewegung und Farbe, in der vegetirenden, grünen und glänzenden Natur der Gärten mit Vortheil ausnehmen können, weil ich sie immer nur in kleinen oder kleinlichen Anlagen gesehen hatte, wo sie durch ihre specifische und historische Größe drückten; daher erwartete ich auch 101 hier, sie nur unter dem Säulengange des Pallastes und der weiten offenen Terrasse vor demselben in schicklichem schönem Standpunkte zu sehen, aber ich irrte mich; unter den hohen Gewölben der Linden und im dichtbelaubten Gebüsche der Lustwäldchen standen sie wegen besserer Beleuchtung oft noch mehr an ihrem Platze, freylich jetzt im frischen Glanze des Frühlings, der alles belebt; wie es aber in den spätern Jahrszeiten aussehen möge, wenn die todten Blätter an diesen zierlichen Formen kleben – an diesen Contrast mochte ich nicht denken.

Die besten alten und neuen Statuen, so ehemahls in Versailles standen, sind jetzt hieher gebracht worden. Auf hundert Schritte weit unterscheidet man aber an der theatralischen Stellung und dem fliegenden gezwungenen Kleiderwurfe die neuern des vorigen Jahrhunderts vor den alten oder nach den alten gebildeten.


Was aber allem Leben gab und mich immer von neuem wieder anzog, das war die strömende Menge von Menschen jedes Alters und Standes, die sich besonders zwischen dem großen Wasserbecken und dem Ausgange des Gartens zusammen drängte. Von der dort befindlichen Terrasse herunter konnte ich mich nicht satt an dem fluthenden Schauspiele sehen. Welche ganz andre Manieren des Betragens, der Haltung 102 des Körpers, des Gehens, Stillestehens, Sprechens und Lachens, als auf den öffentlichen Spaziergängen in meinem lieben, ehrbaren, hier möcht' ich fast sagen steifen, Vaterlande, wenn es nicht einem Tadel gliche! Wie geht hier alles so frey und ungezwungen einher, und ohne sich die Miene eines Amtes oder Standes zu geben! Man sieht keine hohe Staatspersonen mit studirter langsamer Bewegung, und dem Firnisse vaterländischer Sorgen auf dem Gesichte, oder mit Verbeugung heischendem Blicke; keine Gelehrten, die mit niedergeschlagenen Augen zu denken scheinen wollen, oder in süßer Eitelkeit den Beyfall für ihre Schriften auf den Mienen der Vorübergehenden aufsuchen. Auch die jungen Leute, die in neumodischer seltsamer Tracht einherziehen, haben nichts von dem Contorschnitte, oder der gezwungenen Unbefangenheit und malplacirten Lustigkeit vieler der Unsrigen, die mit zusammengelesenen Federn geschmückt aus der Fremde heimgeflogen kommen. Hier ist nicht das unbarmherzige Mustern der Vorbeygehenden, nicht der unabtreibliche Blick der Neugier, der an jeder fremden Person und jedem modischen Gewande klebet. Der vornehme wie der gemeine Bürger, selbst der Bettler, gehet sicher und ohne sich mit andern zu messen, seinen Gang, zwar nicht unbemerkt, aber ungeneckt und unbegaffet.

Ob auch das schöne Geschlecht einige äußerliche Vorzüge (denn nur von dem, was ich von der Terrasse des Feuillans herunter sah, rede ich) genieße, 103 wage ich nicht zu entscheiden. Zart und weiß ist allerdings die Haut der Französinnen und üppig ihr Wuchs; ihr Blick ist weichlich, und Perlen sind ihre Zähne. Das findet sich aber auch bey uns, zwar nicht so häufig, vielleicht nur weil man nicht so viele Frauenzimmer auf den öffentlichen Plätzen antrifft. Auch bey uns sah ich eben so kostbar gekleidete Damen, nur scheinen die Pariserinnen das vortheilhafte Tragen des Gewandes, das zierliche und leichte Auffassen desselben, wodurch der Körper eine so schlanke Gestalt bekömmt, besser zu verstehen. Obschon aber nach dem allgemeinen Glauben unendlich mehr Fangsucht (wie die Sprachbereiniger sagen – haben wir die Sache, so dürfen wir auch das Wort haben) hier herrschen mag, als anderswo, so sollte man doch beynahe das Gegentheil glauben, weil man so wenig von unzeitigem Erröthen, oder von kindisch umherblickender Zudringlichkeit und schreyender Naivetät sieht; denn selbst die Natürlichkeit scheinen die Franzosen in Regeln gebracht zu haben. Ob aber jene reine und stille Anmuth, die den edelsten weiblichen Seelen eigen ist, die allein die wahre bleibende Liebenswürdigkeit ausmacht, und ohne die alle äußere Reitze nur vorübergehende Wirkung thun, hier so zu Hause sey, wie da, wo man nicht so viel spaziert, dieß zu entscheiden, wäre eine nähere Bekanntschaft mit dem weiblichen Geschlecht erforderlich.


104 Die große Nationalsäule, welche auf der Place de la concorde wie ein hoher Thurm emporstrebt, zog schon lange meine Blicke auf sich. Ich verließ also meinen unterhaltenden Standpunkt, und begab mich auf diesen Platz, der die Tuilerien mit den Elysäischen Feldern verbindet, wo aber nicht mehr ruhiger Spaziergang, sondern Lärm und Gewühl herrscht. Buden, Glückspiele, Marionetten, Marktschreyer betäuben die Ohren, und die Wagen und Reuter, welche den Platz immerfort durchkreuzen, machen den Ungewohnten ängstlich.

So majestätisch mir von weitem diese hohe Säule vorkam, so wurde doch der günstige Eindruck sehr durch ihre hölzerne Gebrechlichkeit geschwächt, denn sie steht nur noch als bretternes Muster da für das steinerne Monument, welches à la gloire des armées françaises, wie die Inschrift sagt, wie bald weiß ich nicht, hier aufgerichtet werden soll. Rings an ihrer weiten Grundlage erscheinen alle Departemente der Republik, als Basreliefs von Bronze allegorisch gemahlt in lebensgroßen antiken Figuren, die sich einander die Hände biethen, ohne weitern distinktiven Charakter der Provinzen, den darunter geschriebene Nahmen ersetzen sollen, welches zwar ein wenig prosaisch aber doch nöthig ist, weil man sonst nicht wüßte, was dieser Tanz zu bedeuten hätte. Am Fuße der Säule sind als künftiger Marmor mehrere allegorische Wünsche und Complimente angebracht, und an den Ecken Trophäen von 105 Erz im antiken Geschmacke, aber mit Waffen der neuen Kriegskunst, welches ich jedoch nicht wie andere tadle, denn warum sollen die Waffen, welche gesiegt haben, nicht auch der Ehre genießen! Wenn Gegenstände der neuern Zeiten in antike Form rangirt werden können, ohne Proportion und Zeichnung zu verletzen, so soll der Geschmack auch nichts dagegen haben. Oben auf der Säule steht ein schönes Bild der Republik, und an den Stamm derselben sollen die Nahmen großer Krieger geschrieben werden.

Noch nicht drey Wochen steht diese colossalische Säule, und schon verbleichen die Gemählde, und spalten die Bretter. Ob sich gleich von Holz nichts besseres erwarten läßt und jedermann weiß, daß sie nur zur Probe da steht, so erlaubt sich doch das Publikum manchen bedeutenden Scherz, nicht nur über die architectonischen Mängel derselben, sondern eben über diese mürbe Pracht, und stellt laute Vergleichungen an zwischen den vielen eben so scheinbar hervorgestellten und so bald wieder verschwundenen politischen Gebäuden des Jahrzehends und dieser Säule. Nach den Bemerkungen, die ich schon an dem ersten Abende meines Hierseyns hörte, hätte die Regierung besser gethan, sie nach reifer Prüfung sogleich von Stein aufführen zu lassen, als so im Schattenrisse. Was einmahl vollendet da steht, daran gewöhnt man sich bald, und der Tadel schweigt wo er nichts mehr ändern kann. Wenn auch das Publikum gerechter und entscheidender 106 Richter über das Geschehene ist, so soll man es doch niemahls fragen über das, was man thun will, weil seine vielzüngige Stimme sich an Nebensachen heiser schreyt, und dabey der Hauptfrage vergißt. Viele finden es daher auch unklug an einer neuen Regierung, Monumente für die Ewigkeit provisorisch von Holz machen zu lassen, weil der Zuschauer dadurch wider seinen Willen an die Vergänglichkeit der Dinge erinnert wird.

Vorher soll das Modell zu einer Bildsäule der Freyheit hier aufgestellt gewesen seyn, die aber auch nicht zu Stande kam. Es wird schwer halten, meinen viele, ehe was republikanisches gedeiht auf diesem Boden, der mit dem Blute des Monarchen gedüngt ist.


Die Champs Elysées bilden zwey liebliche Lustwälder, die durch eine beständig mit Reutern und Wagen besetzte breite Straße getheilt sind, wo sich die Pariser Männer und Weiber und Kinder freyer als in den Tuilerien ergetzen, und dazu die mannigfaltigste Gelegenheit finden, denn hier und in der Nähe sind englische Gärten, Restaurateurs, Kaffe- Tanz- und Trinkhäuser aller Arten, hier werden alle möglichen Spiele und Leibesübungen getrieben bis auf das einsame Spazierengehen hinunter, denn auch zu diesem ist noch Raum. In den Tuilerien meinte ich, die ganze spazierende Welt sey da versammelt, und hier 107 war die Menge wenigstens eben so groß. Dieß war mir alles so überraschend neu, daß ich immer meinen Gefährten fragen wollte, was denn heute für ein Fest wäre? Ich sahe diesem flüchtigen Leben flüchtig zu, und merkte wohl, daß ich noch nichts sehe, war aber doch schon vergnügt über das was ich sahe.

Müdigkeit so wohl als Lust der Augen machte, daß ich mich bey einem Pavillon niederließ, der auf einem in den Wald ausgeschnittenen Platze angebracht ist, und mich durch seine reizende Lage und die Menge vorbeyfahrender, reitender, gehender, ausruhender Menschen und im Grase spielender Kinder unwiderstehlich anzog. Ich setzte mich mitten unter die Leute an eines der vielen Tischchen, die um dieß kleine Gebäude herum angebracht sind, und wurde mit Reinlichkeit und Geschwindigkeit bedient.

Ganz gegen meine Erwartung war die Dezenz, die ich allenthalben bemerkte. Selbst in den Bastringen, oder Tanzplätzen des gemeinen Volks, die zu unterst in den Champs Elysées angebracht sind, bemerkte ich nichts von der tobenden Ausschweifung und dem wilden Rausche, der »die schweinische Menge« anderer Länder charakterisirt, und auch hier zu Land in den wüthenden Revolutionszeiten mehr als irgendwo an der Tagesordnung gewesen seyn soll. Ein Beweis, daß die Franzosen wieder zu ihrer angebornen Sitte zurückkehren, die ihnen allenthalben, wo es nicht heimlich zugeht, äußern Anstand gebiethet. Ja man 108 erlaube mir noch zu glauben, sie haben durch die schrecklichen Ereignisse ihrer Revolution, wo nicht an Sitten doch am Scheine derselben, an gesellschaftlicher Achtung und Ehrbarkeit gewonnen. Es gibt keine Prinzen und Hofleute mehr, die so oft in ungestraftem Uebermuth die bürgerliche Tugend öffentlich mit Füßen traten, keine durch den Mißbrauch ihres Geldes verächtliche Finanziers, die, weil sie alles bezahlen zu können glaubten, in ihren glänzenden Wagen über die blutende Armuth hinwegrollten; keine stolzen Prälaten, die durch ihr üppiges Leben das Volk zur Gotteslästerung zwangen, keine Garden des Königs, die im herumstreifenden Rausche die Vorbeygehenden insultirten. – Alle Fehler der Großen und Mächtigen gegen den gesellschaftlichen Wohlstand theilen sich so leichtlich dem Volke mit, weil das Volk weniger durch Verstand als durch Beyspiele geleitet wird, diese Beyspiele aber haben sich durch die Revolution verloren; der Bürger und Handwerker leidet nicht mehr den empörenden Trotz der Reichen und Gewaltigen, und diese verscheuchen jede lärmende Ausschweifung des Pöbels, weil sie gefährlicher Sanscülotismus für sie ist oder werden könnte. Es waltet daher eine gegenseitige Duldung und auffallende Gleichheit des gesellschaftlichen Tons (mehr wohl als der Rechte) unter dieser Verschiedenheit von Menschen, die man wohl nirgends so vollendet antrifft. Freylich hat man diesen Vortheil den traurigsten Erfahrungen zu danken, aber eben darum, 109 weil er aus siebenfachem Unglück entstanden ist, sollte ihn das französische Volk auch als ein heiliges Geschenk des Himmels bewahren, wie Nathan der Weise seine Recha, nachdem ihm Feuer und Schwert seine sieben Söhne geraubt hatten.


Wie mancherley und seltsame Arten des Broderwerbs in Paris getrieben werden, konnte ich heute schon mit Erstaunen auf diesem öffentlichen Platze sehen. Ich sage nichts von den Speisewirthen, noch von denen, welche Lustgärten und Tanzsäle zum Vergnügen des Publikums halten, oder Geräthschaften zu Spielen ausmiethen, nichts von den schönen Mädchen, welche den wohlgekleideten Fremdling bald ausspähen, und wie Schmetterlinge umflattern, noch von den gewöhnlichen Bettlern, welche jedoch auch im Betteln eine ungewöhnliche Höflichkeit beobachten. Aber folgende Beyspiele seltsamer Industrie kann ich nicht unberührt lassen, weil sie zugleich den Geist des Volkes bezeichnen.

Gleich im Anfange der elyseischen Felder erblickt man einige zierliche Lehnstühle in Maschinen aufgehängt, denen gegenüber große Spiegel angebracht sind. Wer würde wohl errathen, was dies zu bedeuten hätte? Der Stuhl ist eine Wage, in die man sich setzt, um die Schwere seines Körpers zu erfahren, wobey man, um ja nicht betrogen zu werden, auf einem 110 Barometer sein respectives Gewicht selbst lesen kann; zudem hat man noch das Vergnügen, seine eigne Figur und den Anstand, womit man dieses physikalische Experiment macht, in dem Spiegel zu bewundern. Herren und Frauen, wenn sie von dem Restaurateur kommen, bedienen sich dieser Maschine oft, um sich an dem Paradoxon die Köpfe zu zerbrechen, daß man nach dem Essen nicht schwerer seyn sollte, als vorher.

Hier sah ich auch die Frauenzimmer, von welchen ich schon auswärts gehört hatte, die, mit einem Schleyer bedeckt und im Trauergewande, sich wie verloren in das Dunkel der Bäume setzen, und ohne ein Wort zu sprechen oder auf Fragen zu antworten, durch Gesang zu einer Harfe (dem Modeinstrument der Pariserinnen) oder durch künstliches Klavierspiel das Mitleiden der Vorübergehenden rege zu machen suchen, wo Euch dann eine alte Gouvernante, die ihr treu geblieben seyn will, oder ein gefühlvoller Zuschauer ins Ohr sagt, daß es eine Fräulein von hohem Stande sey, welche durch die Revolution um Eltern und Vermögen gekommen. Da aber die Erfindung nicht mehr neu ist, und schon mehrere Personen sich damit abgeben, so nahm ich auch keinen großen Zulauf wahr, bey einer ausgenommen, die es aber mehr ihrer schönen Stimme als ihrem tragischen Schicksale zu danken haben mochte.

Einem andern Wundermanne sah ich zu, der auf der Erde saß, und fünf Instrumente auf Ein Mahl 111 spielte. Mit der einen Hand regierte er eine Flöte oder Pfeife von besonderer Erfindung, mit der andern spielte er auf einer Zither, die er zwischen den Knieen hielt. Zwey messingene Becken hatte er so an seinen rechten Fuß befestigt, daß er sie mit einer Bewegung zusammenschlagen und öffnen konnte, und an den linken Fuß hatte er einen Schlägel gebunden, womit er eine große Trommel rührte; zugleich waren an diesem Fuße zwey Glöckchen fest gemacht, die mit jedem Trommelschlag ertönten. So machte er eine türkische Musik, die wohl nicht ihres gleichen in der Welt hat. Ein artiges Mädchen sammelte mit demüthigem Blicke und sanfter Stimme die Liards der Zuhörer ein.

Anderswo sitzt auf einem elenden Stuhle ein armer Knabe, der die Geige spielt. Den Hut, womit er das Almosen sammelt, hält er zwischen den Beinen, und neben ihm ist an einem Stecken ein Papier befestigt, worauf die Geschichte seines Unglücks zierlich beschrieben ist. Diese Schrift muß für ihn sprechen, denn er selbst spielt mit niedergeschlagenen Augen unablässig fort, ohne aufzublicken und ohne zu danken, wenn man etwas in seinen Hut wirft, als wenn er einzig und allein in sein Spiel und seinen Jammer versenkt keinen Antheil an der übrigen Welt mehr nähme.

An mehrern Orten stehen vor einem Tische Mann und Weib als Bänkelsänger, die bald singend und sich mit der Violine begleitend, bald in Prosa, aber im 112 höchsten Pathos, die Heldenthaten Bonapartes verkündigen, die Geschichte des 18ten Brümairs erzählen, als des Tages, der nach Jahrhunderten von Unterdrückung das Glück des Vaterlandes endlich fixirt habe; von dem Schutzgeiste Frankreichs sprechen, den mehrere Personen bey der Explosion sichtbarlich über dem Consul schweben sahen. Alles mit einem tragödischen Ernste, der zwar nicht mit dem Stoffe, aber mit dem Style und den Declamatoren selbst im lächerlichsten Widerspruche steht.

Nur die musikalischen Hülfsmittel hab' ich angeführt, womit sich die Armuth ein geneigtes Ohr zu verschaffen hofft; es sind aber solche kleine immer abwechselnde Lockspeisen allen Sinnen (wenn man auch ihrer mehr als fünfe zählen wollte) bereitet. Monathe Zeit und ein eignes Buch würden erfordert, sie alle zu prüfen und zu beschreiben. Auch die erwähnten konnte ich nur im Vorbeygehn haschen, weil mein Begleiter eilte; ich nahm mir aber vor, einen Tag auszusetzen, den ich ganz der Beobachtung dieser Bettlerindüstrie widmen wollte, für die ich mehr Interesse habe, als ein Mann von Geschmack von sich selbst gestehen sollte. Wenn es eine Seelenwanderung gibt, so bin ich selbst einmahl so ein Gassenmusikus gewesen, denn die Liebe zu ihnen ist mir angeboren. Schon in meiner Kindheit konnte ich einem alten Manne, der mit zitternder Stimme geistliche Lieder sang und sich mit einer Baßgeige begleitete, von Hause zu Hause 113 folgen, und ihm mit weinender Wehmuth meine Schillinge und Aepfel zustecken. Die Musik hat auf mein Gefühl dabey weiter keine Wirkung, als daß sie diese Leute aus dem gemeinen Leben heraushebt und isolirt der Phantasie vorstellt, wodurch ihre dramatische Rolle, die sie, vom größten Genie, der Noth, gelehrt, spielen, desto anziehender wird.


Wir mußten doch endlich zurück, weil sich der Tag zu neigen anfing. Vom Ende des Gartens aus nimmt sich der Pallast der Tuilerien sehr gut aus, in der Nähe aber schien er mir etwas zusammengeflicktes und zu viel kleinliche Partien zu haben. Der Weg ging dem Wasser nach, an der großen Gallerie hinaus, zum Louvre hin. Mein Herz pochte nach der berühmten Colonnade, und ich sah mich immer nach ihr um; ich mochte aber nicht gern fragen, weil ich mich scheute, meine kindische Sehnsucht kalten Ohren zu vertrauen, und auch weil ich kleinmüthig zweifelte, ob ich die Schönheit derselben im ersten Anblick erkennen werde, so daß man mich davor hinstellen könnte, ohne daß ichs merkte, und ich darüber zum Spott würde. Als ich mich aber um die Ecke herumwandte, und diese Fassade vor mir stand, wichen alle Zweifel. Ich fühlte sogleich, daß ich einen großen Gegenstand vor meinen Augen habe, noch ehe mein Verstand den Begriff davon fassen und die Uebereinstimmung desselben mit 114 meinem Gefühl erklären konnte. Alle die kleinen Schönheiten, die ich mühsam an den Tuilerien und der Gallerie aufgesucht hatte, verschwanden wie Sterne vor der Sonne. Das Auge blieb nicht an dem Einzelnen hangen, so zierlich auch das Einzelne vollendet ist, sondern wurde immer von dem Ganzen angezogen, und die so auffallende Einheit, bey dieser Pracht der Composition, machte schon in dem ersten Momente einen unvergeßlichen Eindruck auf mich.

Gewiß nicht nachsprechende Einbildung, sondern Empfindung der Wahrheit war meine Bewunderung der unvergleichlichen Harmonie der Theile zum Ganzen, an welchen bey allem Reichthum und der größten Zierlichkeit so gar nichts unschickliches und fremdes ist, wodurch der Sinn auf Nebenbetrachtungen geleitet werden könnte. Auch scheint nicht vorzügliche Schönheit einem besondern Theile eigen, sondern in allen, wie in den Gliedern eines vollkommenen Leibes, der zierlichste Bau mit den richtigsten Verhältnissen verbunden zu seyn, so daß die hohe Idee des ganzen Werks der Anschauung immer gegenwärtig bleibt, und auch durch das Wohlgefallen am Einzelnen nicht zerstreut wird, worin eben das Geheimniß der Schönheit besteht, und wodurch sich die ästhetische Schöpfungskraft bewährt, deren Werke zur Regel werden, ob sie gleich selbst durch keine Regel gelehrt und von keinem Fleiße erreicht werden kann.

115 Ich muß nur meine Empfindung sprechen lassen, weil ich in der Baukunst nichts verstehe; doch möcht' ich wissen, was Kunstverständige daran auszusetzen haben, und ob der Baumeister sich ganz an die Gesetze der alten Kunst gehalten, oder sich Neuerungen erlaubt habe? Denn es kann beynahe nicht anders seyn, als daß der Schöpfer eines solchen Meisterstücks sich eigne Freyheiten gestatte, die erst für Ueberschreitung und nachher für Erweiterung der vermeintlichen Grenzen gelten.

Obgleich der Mond zu scheinen anfing, in dessen große Gegenstände noch größer machenden Schlagschatten und silbernem Lichte ich das Louvre noch gern gesehen hätte, so war es doch für heute genug. Müde und belastet von den Erscheinungen des Tages hatte ich Ruhe nöthig, und kehrte zufrieden in meine Wohnung zurück.


Ich traute meinen Ohren kaum, als ich beym Erwachen Nachtigallen singen und Turteltauben girren hörte. Beym Mondschein zu Bette und beym Gesang der Nachtigallen heraus, das klingt gar nicht wie eine Beschreibung des Aufenthalts zu Paris, sondern eher wie Aeußerungen eines empfindsamen Mannes, der noch nicht lange auf seinem neuen Landgute lebt, und sich den Tag über mit Geßners Idyllen zu unterhalten bemüht gewesen ist; und doch ist es buchstäblich 116 wahr. Auch Wachteln hörte ich in allen benachbarten Gassen noch in der Nacht schlagen. An Surrogaten der Natur scheint es demnach hier nicht zu mangeln, desto seltner mag wohl die Göttin selbst zu finden seyn; man behilft sich also so gut man kann, nur Schade, daß solche Ersatzmittel des Naturgenusses auch das bereitwilligste Gemüth nicht lange befriedigen! Zwar läßt sich der Gesang eingesperrter Vögel noch am besten des Morgens im Bette anhören, wenn die Phantasie noch frisch ist, und man sich mit geschlossenen Augen Wald und Wiesen dazu träumen kann, aber im verschlossenen Zimmer war er mir immer unerträglich, weil ich dann nichts dabey empfinde, als das disharmonische Geschrey eines der Freyheit beraubten und aus seinem wahren Leben gewaltsam herausgerissenen Geschöpfes. Ein anderes ist es, diesen Gesang in der freyen stillen Natur zu hören, wenn leise Winde durch das Gebüsche fliegen, und der Mondstrahl im lispelnden Bache zittert, nur dann klaget die Nachtigall meinem empfindenden Ohre; nur dann vernehm' ich der Lerche Lobgesang, wenn sie unsichtbar über dem pflügenden Bauer ihren Morgengruß anstimmt, und fröhliche Hirtenknaben von Ferne jauchzen, und das Schifflein auf dem glatten See plätschert. – Kurz, der Vogelgesang ist kein Ganzes für sich, sondern nur eine schöne Partie von der wundervollen Symphonie der Natur, aus welcher er nicht einzeln herausgehoben werden kann, ohne seine Annehmlichkeit zu verlieren. 117 Allein man begnügt sich allenthalben mit dem Scheine und nimmt den Nahmen für die Sache, in großen Dingen wie in kleinen. Denn wie diese wähnen, daß ein gefangener Vogel ihnen das gleiche Vergnügen machen könne, welches er in der Freyheit der Wälder gewährt, so haschen jene nach Glück und Ehre, und meinen, wie lieblich diese Vögel in ihrem Käfich pfeifen werden, und erfahren dann oft zu spät, daß sie besser gethan hätten, sie in ihrem freyen Fluge nicht zu hemmen, und ihnen nur von fern zuzuhören. Auch ich, der ich andre tadle, betriege mich in ähnlichen Fällen in meinem kleinen Leben oft selbst, und heuchle aus Blödigkeit. Wie oft hab' ich nicht schon bey Büchern, die man mir anrühmte, lange Weile gehabt, indessen ich mich zur Theilnahme zwang, oder bey einer Musik, die zu künstlich für mein Ohr war, unwillkührlich gegähnt, und mich dennoch in Bewunderung ergossen!

Um mich aber nicht länger in übelzusammenhängenden Phantasien zu verlieren, fing ich an, eine Beschreibung meines Zimmers zu machen, um sie gelegentlich nach Hause zu schicken. Von der schönen Seite betrachtet wußte ich viel Gutes davon zu sagen, aber es hat auch, wie alles in der Welt, eine häßliche. Was hab' ich von sammtenen Lehnstühlen, wenn ich daran kleben bleibe, was von den großen Spiegelscheiben, wenn ich sie erst abwischen muß, um durchzusehen, was vom eingelegten Fußboden, wenn ich vor 118 Koth nicht weiß, ob er von Holz oder Stein ist! Lieber wollte ich auf der gescheuerten Bank einer reinlichen Appenzellerstube sitzen, als hier auf diesen geschmackvollen Stühlen, ob man mir gleich sagt, ich sey logirt wie ein Prinz.

Um 9 Uhr ging ich aus, um allein und auf Gerathewohl in den Straßen herumzuziehen. Es war heute (24. May) Pfingsten, aber es schien mir kein Mensch daran zu denken, als ich selbst; nirgends ertönte eine Glocke, nirgends hörte ich die rollenden Orgeln der Kirche oder den Gesang der Priester; statt der festlichen Stille, die jetzt bey uns herrscht, war ein Gedränge der Leute, ein Geschrey der Ausrufer, eine Schaubarkeit der Buden, ein Rasseln der Wagen, daß alles, was ich zu Hause von Messen, Jahrmärkten, Predigt- und Musterungsbesuchen und anderm Volksgewirre gesehen hatte, hier in Eins versammelt schien, und es mir noch gar nicht in den Kopf wollte, daß dieß etwas alltägliches sey.

Mein irrender Schritt führte mich auf den großen Fischmarkt. Hier sind also die fürchterlichen Poissarden, dachte ich, und ging mitten in das Getümmel hinein, um sie zu betrachten; ich konnte aber vor dem beständigen Ausweichen und dem Gassenkoth nicht recht zu ihrem Anschauen gelangen; so viel sah ich jedoch, daß es meistens dicke fleischigte Weiber, reinlicher angezogen als ich glaubte, sind. Ich hörte eben nichts grobes von ihnen, konnte aber auch ihre Sprache nicht 119 recht verstehen; doch gefielen mir ihre fetten rothen Backen nicht, die sich nie entfärben zu können scheinen, noch ihr trotziger Blick, so daß ich bald wieder einen Ausweg aus diesem Labyrinthe suchte. Am meisten aber schreckte mich der unerträgliche Fischgeruch zurück, der mir für heute das Fischessen verleidete, so wie der Anblick einer blutigen Fleischbank mir das Fleischessen verhaßt macht, und ich dann nicht begreifen kann, daß der Mensch dazu gebildet seyn soll, bis der Appetit selbst es mir beweist, der über diese und andre häßliche Geschäfte, wozu wir organisirt und also berechtigt sind, uns immer am besten die Zweifel löst.

Ich kam nun auf einen Gemüse- und Blumenmarkt, der mir schon besser gefiel; doch scheinen diese Weiber auch noch unter die Dames de la Halle zu gehören. Und von da auf den Trödelmarkt. Hier glaubte ich nun die berühmten Kleidungsgewölbe anzutreffen, wo sich, wie man mir erzählt hat, jedermann, der Kleine und der Große, der Reiche und der Arme, in einem Augenblick vom Kopf zum Fuße einen vollständigen Anzug nach seinem Geschmacke wählen kann. Aber ich fand nichts, als einen abscheulichen Lumpenkram, wo die elendesten Fetzen feil gebothen sind: alte Schnüre, zerrissene Bänder, handbreite Stücken Zeug, die man anderwärts nicht von der Gasse aufläse; ein Zeichen großer Armuth, die sich dennoch lieber in zusammengeflickte feine Lumpen kleidet, als in groben 120 aber ganzen Stoff. Jene berühmten Läden müssen also in andern Quartieren zu finden seyn.

So durchstrich ich mehrere Straßen, stand still, wo, und sahe an was ich wollte, ohne daß mir ein Mensch die Ehre anthat, Kenntniß von mir zu nehmen; niemand kam mir entgegen, niemand wich mir aus, vielweniger sah mir jemand nach, wohin ich ginge. Factus sum sicut passer solitarius in tecto – Das ist aber kein geringer Vorzug großer Städte, daß man einsam seyn kann, so lange man will; in kleinen ist man es eben so selten, wenn man gern will, als oft, wenn man lieber nicht wollte.

Caffé du Lycée des Arts! – Hier will ich frühstücken und den Gesprächen der Gelehrten und Künstler, die der Aufschrift zufolge sich hier versammeln werden, zuhören! – Aber ich kam entweder zu früh oder zu spät, denn ich traf niemand an, als Leute die Zeitungen lasen, und wenig philosophisches an sich zu haben schienen, als daß sie kein Wort sprachen, wofern dieß eine Eigenschaft der Philosophen ist. Auf dem Katheder saß eine Dame, welche die Bezahlung einnahm, und mir einige abgeschliffene Silberstücke herausgab, die ich nachher nicht mehr anbringen konnte.

Sodann kam ich wieder bey der Colonnade des Louvre vorbey, wovon mir jetzt der untere Theil etwas zu leer und vernachlässigt vorkam gegen dem Reichthum der Säulenreihe; diese aber erneuerte mir wieder den gestrigen Eindruck eines genialischen 121 Kunstwerks, das gewiß bis in seine kleinsten Theile in den reinsten Verhältnissen ausgeführt seyn muß, weil das Auge bey aller Pracht und Größe doch so leicht darauf ruht, und immer mit neuem Wohlgefallen davon angezogen wird; wogegen die andern Palläste zwar auch zierlich, aber ohne Größe und durch zwecklose Mannigfaltigkeit verkleinlicht sind.

Auch der innere Platz des Louvre gefiel mir durch seine majestätische Geräumigkeit, worin mir die Leute alle so klein vorkamen, und durch sein schwarzes Alterthum, hauptsächlich aber durch die Erinnerung an seine Bewohner und ihr Thun und Lassen von Charles IX. an bis zu Louis XIII. Ich setzte mich auf einen Stein nieder, und beschwor ihre Geister zurückzukehren aus dem Schattenreiche in diese königliche Burg, und in ihren alten Naturen vor mir aufzutreten. Bald hörte ich Karln IX. fluchen, und erblickte die wollüstigen Hoffräulein seiner Mutter in leichtsinnigem Reize an den hohen Fenstern. Ich sahe den ehrwürdigen Michel de l'Hospital, dem das Herz für sein Vaterland blutet, durch diesen Hof reiten, verspottet von jenem Gesindel und gesegnet von jedem, dem Tugend und Weisheit noch etwas galten. Die stolzen Guisen zogen prächtig vor meinen Augen vorüber, und vor ihnen trübte sich der neidische Blick des weichlichen Königs und seiner Günstlinge. Ich verweilte gerne bey mancherley Bildern von Heinrich IV., am liebsten sah ich ihn mit dem edeln Sülly an der Hand menschlich 122 und königlich einhergehen, und etwa sein freudiges Auge auf eine nahe Schönheit werfen. Blaß, hager, und mit einem in die geheimsten Tiefen des Herzens dringenden Blicke erscheint der Cardinal Richelieu, die Garden eilen ins Gewehr, erschrockener als wenn es der König selbst wäre, die Offiziere grüßen ehrerbietig, er aber würdigt keinen seines Anblicks, und schreitet langsam und leicht die Treppen hinauf, und hinter ihm Prinzen und Generale.

Wo sind sie nun, diese Herrlichkeiten der Erde? Schon lange abgetreten von ihrem schimmernden Schauplatze leben sie nur noch im segnenden oder fluchenden Andenken der Nachkömmlinge. Ihre vom Taumel der Freude erschallenden und von Thränen der Angst benetzten Gemächer sind nun der ruhige Aufenthalt glücklicher Gelehrter und Künstler, und unter jenen angestaunten Fenstern verrichtet jetzt der Pöbel, was er nicht sollte.


Als ich auf der andern Seite heraus kam, erblickte ich den Eingang zum Museum, Musée central des arts war die Inschrift: da konnte ich mich nicht zurückhalten, ob ich schon diesen Morgen nur dazu bestimmt hatte, in der Stadt herumzuwandern. Ich mußte aber vorher der Schildwache meinen Paß weisen, und ihr, da es von ungefähr ein Schweizer war, von Hause erzählen. Mit Herzklopfen trat ich in den 123 langen Saal hinein, der einen Theil der Gallerie des Louvre ausmacht.

Nur die Gemählde der deutschen, französischen und niederländischen Schulen waren zu sehen, die italiänischen aber durch einen Vorhang abgesondert, weil für den hier anwesenden König von Hetrurien ein neues Arrangement damit gemacht wurde. – Welch ein Schatz! Indessen war ich noch zu unruhig, ob ich gleich über zwey Stunden unter den zahllos scheinenden Bildern herumging, wo ich Stoff zum Nachdenken für ein ganzes Leben zu finden glaubte; immer zog ein neuer Gegenstand meine Augen von dem kaum angeblickten hinweg. Deßwegen suchte ich mich jetzt nur zu orientiren, und die Plätze der verschiedenen Schulen zu merken, und mich mit der örtlichen Gelegenheit bekannt zu machen.

Im Eingange des Saals sind gedruckte Verzeichnisse der Gemählde zum Verkauf, wofür man nicht mehr bezahlen darf, als auf dem Titelblatte steht. Eine Frau nimmt die Stöcke ab, und gibt sie wieder unentgeltlich zurück. In der großen Gallerie selbst gehen eine Menge Aufseher herum, die Achtung geben, daß nichts betastet werde, und den arbeitenden Künstlern das Nöthige reichen. Bey jedem Fenster steht eine Bank zum Ausruhen, eine freundliche Anstalt. Einen einzigen Tag der Dekade ausgenommen, hat der Fremde täglich (hingegen der Pariser ohne besondre Erlaubniß nur drey Tage) den offenen Zutritt von 124 zehen bis vier Uhr. Kurz alles verräth die gefälligste Bemühung, dem Publikum und besonders dem Ausländer den Genuß dieser Gallerie auf das möglichste zu erleichtern.

Nur Eins ist Schade: der Platz ist nicht für eine so gehäufte Gemähldesammlung gemacht; die Fenster sind zu tief, und die großen Bilder, die noch hängen, werden von untenher beleuchtet. Auch hat die linke Seite nicht genug Licht.

Ein Aufseher, den ich aber noch nicht dafür erkannte, da er sehr wohl gekleidet war, ließ mich, wie ich glaubte, aus besonderer Gunst, unter dem Vorhang durch zu den italiänischen Gemählden treten, und führte erklärend mich an denselben herum. Hätte mich aber auch nicht die ungewohnte Neuheit an deutlicher Betrachtung gehindert, so hätte es seine begleitende Erklärung gethan, die ich mir nicht verbitten durfte. Bey einem ersten Anblicke dieser Art geräth das Gemüth in Wallung, die uns verhindert, auch von dem bessern Verstande eine Weisung anzunehmen. Wir müssen uns allein überlassen bleiben, bis die freudige Unruhe sich verloren, und wir selbst durch Fragen von dem erfahrnen Begleiter Nutzen ziehen können.

Ich streifte an den herrlichsten Guidos, Carraccis, Correggios, Dominichins vorbey (der Aufseher trieb mich), wie man in einem Wagen bey Gruppen schöner Mädchen vorbey fährt, und ihnen nur einen 125 Blick der Liebe oder einen Laut des Wohlgefallens schenken kann.

Es herrschte noch eine große Unordnung in diesem Theile des Saales, denn allenthalben waren Arbeiter beschäftigt, Gemählde aufzustellen. In einer dunkeln Ecke stand, ganz unerwartet für mich, die Verklärung von Raphael zum Restauriren bereit; jetzt war sie noch voll Staub und an einigen Orten klebte noch die Gaze an, womit man das ohnehin schon schadhafte Gemählde vor weiterem Verderben auf der Reise zu schützen gesucht hatte. Es zog mich aber nicht mit der Schnelligkeit an, noch heftete es meinen eilenden Blick so unwiderstehlich auf sich hin, mit der Vergessenheit der Welt und meiner selbst, welche sonst wohl die Wirkung menschlicher Meisterstücke ist. Ich schreibe dieß nicht nur dem gegenwärtigen Zustand des berühmten Bildes, und den glänzenderen Sachen, die ich so eben vorbeygegangen, zu, sondern auch meinen irrigen Vorstellungen von dem Colorite und überhaupt meiner gespannten Erwartung davon, weil wir nichts Großes erwarten können, ohne uns ein Bild davon zu machen, das meistens in umgekehrtem Verhältnisse mit der Wahrheit steht.

Durch Beschreibungen und Dorignys vortreffliches Blatt hatte ich nach und nach von diesem Gemählde den Begriff des ersten von allen Gemählden der Welt bekommen; hiezu gesellten sich unwillkührlich Ideen von einer gewissen originellen Lieblichkeit der Färbung, 126 die ich bey dem allgepriesenen Raphael voraussetzte, so daß ich kaum mehr an die menschliche Beschränktheit dachte, sondern erwartete, die Eindrücke alles bisher gesehenen müßten wie Nebel vor dieser Sonne verschwinden. – Aber es war mir nicht wohl zu Muthe, als ich statt des zarten harmonischen Tons und durchsichtigen Zaubers, den ich mir, nicht gedacht, aber geträumt hatte, so viel kalte, trockne und schwarze Partien erblickte, die mir anfänglich auch die Erkenntniß der edeln Composition verhüllten. Ob nun gleich diese Fehler eben so sehr auf Rechnung der Zeit als des Meisters geschrieben werden mögen, so fielen sie doch beym ersten Anblick meinem sinnlichen Auge unangenehm auf, weil bey jeder Mahlerey das sinnliche Farbenspiel die erste schnelle Wahrnehmung ausmacht, noch ehe der Verstand spricht. Wehe aber dem Kunstwerke, wo dieser nicht bald zum Sprechen kommen kann! Hier war dieß jedoch der Fall nicht; denn bald verloschen meine Träume vor der wirklichen Gegenwart des höchsten Verstandes in der Zeichnung, Anordnung und Bedeutung, (alltägliche Ausdrücke, seit Mengs sie brauchte – ich weiß aber keine bessern) und mit jedem Augenblicke wurden die Figuren sprechender, runder und lebendiger. – Man kann kein Gemählde aus dem Gedächtnisse beschreiben, am wenigsten ein solches, zu dessen würdiger Betrachtung ganze Tage erforderlich wären, auch ist schon so viel darüber gesagt, und das Verdienst des Meisters so bestimmt angegeben 127 worden, daß ich nur den Nachklang des besser gesagten aussprechen könnte; ich begnüge mich deßwegen nur das Geschichtliche meines Anschauens anzuführen, und den Eindruck zu schildern, der die Folge meines kurzen Verweilens vor diesem erhabenen Bilde war. Ueber der bedeutungsvollen Richtigkeit der Gedanken und der geistigen und doch so einfachen Wahrheit, die mir immer deutlicher wurde, vergaß ich die praktische Kunst, welches wohl die schönste und zweckmäßigste Wirkung ist, die ein Kunstwerk auf uns machen kann, und verlor mich in dem ängstlichen Jammer des Vaters, der seinen wüthenden Knaben hält, und in der, durch Geberden und Mienen so edel und wahr ausgedrückten Klage der hülfsbedürftigen Freunde, die sich so verschieden äußert, und doch nur Eins: Rettung von dem unheilbaren Elend, fleht. Auch meinem Herzen theilte sich die Unruhe der Apostel mit über den schrecklichen Zustand des Leidenden und die Abwesenheit des göttlichen Meisters, der allein helfen könnte. Es war, als wenn immer eine neue Gestalt nach der andern vor mich hinträte, und in jeder derselben eine neue Ansicht von der Wahrheit der Scene und ein neuer Aufschluß über die Gedanken des Mahlers sich zeigte. Ich konnte darum auch für dieß Mahl von dem obern Theil des Gemähldes, der Verklärung selbst, so viel wie nichts sehen, weil mich jetzt die Freude über diese neue Entdeckung und über meine Fähigkeit, ihren Werth zu fühlen, forttrieb, und ich aus 128 Ehrfurcht besorgte, gleich anfangs zu viel zu thun, und den weitern Genuß lieber auf kommende Tage versparen wollte.


Unten sind die Säle der Antiken, die eine bessere Beleuchtung haben als die Gemählde, doch auch nicht alle; denn auf der linken Seite stehen sie zwischen dem Fenster und dem Zuschauer, ja einige gar an den Pfeilern zwischen zwey Fenstern, so daß sie von beyden Seiten Licht bekommen, und also gar nicht besehen werden können. Die besten Plätze haben Apollo und Laocoon, als die berühmtesten, und sind auch die einzigen mit Schranken umgebenen; sie stehen jede zu Ende des nach ihnen benannten langen Saales, bey dessen Eingange man sie sogleich in ihrer Herrlichkeit erblickt.

Diese Gegenstände meiner jugendlichen Sehnsucht hier nun endlich unter Einem Dache zu sehen, wäre allein schon der Reise werth gewesen. Ich sahe sie jetzt zum ersten Mahle in Marmor, hätte aber auch wünschen mögen, zum ersten Mahle etwas von ihnen zu hören; denn so schnell mir auch ihre Größe in die Augen fiel, so kamen mir doch immer Winkelmanns glänzende Entzückungen, die ich schon als Knabe auswendig wußte, in den Weg, und störten die reine ursprüngliche Empfindung, welche gern einen demüthigen Anfang nimmt, um nach und nach, nicht auf 129 fremden, sondern auf eignen Flügeln, sich an der großen Erscheinung und durch sie emporzuschwingen. Wäre es mir möglich gewesen, in dieses Heiligthum hineinzutreten, zwar mit gerechter Verehrung für alte Kunst, aber ohne diese Statuen anders als dem Nahmen nach zu kennen, wie mannigfaltig hätte mich der Anblick dieses schlangenumwundenen Vaters beschäftigt, an dem der Ausdruck des körperlichen so wohl als des geistigen Schmerzes mit bewundernswürdiger Kunst anschaulich gemacht ist, da der ganze Körper sich auf das heftigste von dem Bisse der Schlange wendet, ohne unedel zu werden, indessen der emporgedrängte Kopf vergeblich nach Hülfe von oben schreyt! Wie hätte mich jener junge Held, der als König des Tages stolz in sein Lichtreich hervortritt, angezogen! Er sendet seine Strahlen wie Pfeile in die Weite der Schöpfung, und vor ihm biegen sich in Lobpreisung die Kniee der Völker!

Ich hätte mich vor den hohen idealischen Gebilden dem wirksamen Streben meiner Seelenkräfte überlassen, und in geisterhebender Betrachtung nach Erkenntniß dieser erhabenen Kunst gerungen – aber jetzt zwang mich ein überlästiges Gedächtniß unwiderstehlich, vorher den Winkelmannischen Lobgesang abzubethen, der mich freylich durch seine Begeisterung auf eine Höhe der Anschauung hob, wohin ich allein nie gelangt wäre. Aber es war nicht meine eigne selbsterworbene Erkenntniß, sondern fremdes Gut, wodurch 130 ich auf Ein Mahl zu reich wurde, ein Standpunkt, auf dem ich mich seiner Höhe wegen nicht halten konnte. Ich ließ es also für heute bewenden, und zog mir nur die Regel aus der Erfahrung ab, daß man vorzügliche poetische Beschreibungen zwar lesen, aber nicht eher auswendig lernen dürfe, bevor man den beschriebenen Gegenstand selbst gesehen und mit eignen Sinnen geprüft hat, weil wir uns ihnen gemeiniglich zuviel dahin geben, und dann die subjectiven Vorzüge des dichterischen Lobes mit den Schönheiten des besungenen Gegenstandes in Collision kommen, und, einmahl dem Gedächtniß eingeprägt, wie ein Zauber unsre eigne Kraft lähmen. Kurz, man soll erst mit eignen Augen sehen, ehe man sich fremder bedient, und lieber seine eigne Beobachtungen durch fremde, als fremde durch eigne berichtigen, weil ersteres allein uns zum ächten Selbstgenuß und Fortschritt, letzteres aber nur zur unfruchtbaren Kritik führt.

Ich setzte mich in einem der Säle nieder, um von der Müdigkeit auszuruhen. Die Decke desselben ist mit Frescogemählden geziert, die eine große Fertigkeit und gutes Colorit verrathen; es war mir aber nicht möglich. dieses flache Farbenspiel, wenn es an sich auch noch so bedeutend gewesen wäre, neben den erhabenen Götter- und Heldengestalten, welche hier die Bildhauerkunst hervortretend aufstellt, mit einigem Interesse anzuschauen. Die Mahlerey hat unstreitig mehr Spielraum, durch Farben, Profile, Verkürzung, Perspectiv, 131 Ton, willkührliches Licht, hiemit durch größere Compositionen und vereinigende Anordnung derselben, auf unsre Einbildungskraft zu wirken, als die Sculptur, aber diese hat mehr Intension, Gegenwart und sinnliche Täuschung; ihre wirkliche, runde, tastbare Gestalten sind zum Theil wirklich das, was die andern nur nachahmen. Tritt nun noch Schönheit und geistvolle Bedeutung uns mehr und mehr aus diesen im wirklichen Raume schwebenden plastischen Ründungen entgegen, so verlieren vor ihrer Fülle und Gewalt die gemahlten Schatten der Bildertafel ihre Wirkung und ihren sonst verdienten Werth. Sind sie gleich ihrem Ursprunge nach Schwestern diese beyden Künste, so ist doch ihre Tendenz zu verschieden, als daß sie sich in enger Gesellschaft vertragen könnten. Der stille selbstständige Stolz der Aeltern verscheucht die gefällige Jüngere, die sich hinwiederum mit mannigfaltigern Reizen, und einer größern Anzahl von Liebhabern tröstet.

In diesen hohen Sälen, unter diesen »schönen Wesen aus dem Fabellande« mag wohl der feyerlichste und ruhigste Aufenthalt in Paris seyn. Einige Zeichner ausgenommen waren wenig Leute da, und diese schienen nur so an den ehrfurchtgebiethenden Bildern herumzuschleichen, ohne ihrer Größe im mindesten Abbruch zu thun, denn eine solche Gesellschaft macht alle Prätension zu nichte. Welch eine unversiegliche Quelle der Betrachtung, immer neu, auch für den, der sich schon durch tausend neue Vorstellungen ermüdet glaubt! 132 Hätten mich nicht die gähnenden Aufseher eines andern belehrt, niemahls würde ich geglaubt haben, daß man auch hier von der langen Weile ergriffen werden könnte.

So saß ich lange; vor mir über lag der sterbende Fechter. Ob gleich mein Blick noch neugierig herumschweifte, so zog ihn doch die Nähe und Wahrheit dieses edeln Kunstwerks immer wieder an. Es ist zwar keine von den erhabenen Formen der Götter- und Heldenzeit, deren so manche dieß Elysium bewohnen und beleben, aber es ist das treue Bild der letzten Stunde eines edeln Kriegers, der ruhig, obgleich im blutigen Tode, seine männliche Seele aushaucht. In dieser Hinsicht halte ich es doch für eines der ersten Stücke dieser Sammlung. Seine Gestalt ist schön und die Stellung hätte nicht wahrer und schicklicher gewählt werden können. Zu Boden gesunken und vom Blutverluste entkräftet, stützt er sich noch mit dem rechten Arme, aber so schwach, daß man jeden Augenblick glaubt, ihn zusammenfallen zu sehen; und eben dieser Moment ist es, der dem Bilde am meisten Interesse gibt; denn schon hängt er mit dem Kopfe vorwärts und eine allgemeine Erschlaffung dehnt sich durch seine Glieder aus; Schatten des Todes scheinen vor seiner Stirne zu schwimmen, und die Träume des Lebens sich ihm wie ferne Töne zu verlieren. Nur noch im dumpfen Gefühle seines Daseyns ohne Merkmahle des Schmerzes, der Schmerz ist schon vorbey, 133 ohne Zuckung und Angst, endet er würdig und wahr sein tapferes Leben.

Ich kann nichts als die lautere Empfindung angeben, welche das Anschauen dieser Bilder jedes Mahl in mir erregt; beschreiben will und vermag ich nicht, weder jetzt noch dann, wenn ich diese Werke mit mehr Ruhe werde betrachten können, weil ich mir keinen gelehrten Anstrich geben darf, der mir nicht natürlich ist. Ueber die historische Bedeutung und das Alter der merkwürdigsten Statuen haben schon gelehrte Meister abgesprochen, was könnt' ich Schüler sagen? Und von der Beschaffenheit des Marmors und seiner Behandlung verstehe ich nichts, in Büchern aber nachzuschlagen und mit veränderten Worten das Gelesene wieder von mir zu geben, dazu hätte ich hier nicht Zeit, wenn mir diese neue Manier auch weniger verhaßt wäre. Styl, Zeichnung, Verhältniß der Theile, und andre Erfordernisse der Kunst, wäre ich wohl selbst zu beurtheilen im Stande, aber mir ist, diese Schönheiten müssen jedem ohne meine Anweisung in die Augen fallen; kleine Zweifel aber dagegen aufzustellen und die paucas maculas zu nennen, die mich beleidigt haben, das sey fern von mir! Bin ich gleich nicht gekommen, um bloß anzubethen, so will ich doch in der kurzen Zeit meines Hierseyns mich lieber meiner neuen Freunde freuen, als sie anatomiren. Der größten Behutsamkeit bedarf es indessen für mich und jeden Neuling, daß die Aeußerung der Empfindung nicht 134 deklamatorische Begeisterung werde, denn die Gewalt dieser alten Kunst ist so groß, daß man, ehe man sichs versieht, von der prüfenden Aufmerksamkeit zur Bewunderung hingerissen wird.


Es war schon Abend, als ich nach Hause kam. Mein gefälliger Landsmann führte mich zu einem Restaurateur, dessen Speisezimmer eine vortreffliche Lage gegen den Pontneuf heraus haben, wo ich das erste Mahl in einem öffentlichen Hause in Frankreich elegante Reinlichkeit mit Pracht verbunden sah. Das Zimmer hat ringsum Spiegelwände, die ich sonst nicht liebe, weil sie schwindlich machen, aber in diesen zeiget sich durch die weiten Fenster das Bild der Seine, und der vorüberliegenden schönen Gebäude, wie ein lebendiges Gemählde. Allenthalben stehen kleine Tischchen zu drey bis vier Personen, und auf jedem derselben liegt ein gedrucktes Verzeichniß der Speisen nebst dem Preise; das ist aber für den unerfahrnen Fremdling eine große Verlegenheit, wenn er unter diesen unbekannten Kunsttermen der französischen Küche wählen soll, die meistens noch unorthographisch geschrieben sind. Ich wählte auf Gerathewohl und war froh, als mich der galante Aufwärter (den ich mich fast garçon zu nennen scheute) nur begriff. Schnell ist alles da, was man begehrt, und sehr gut; nur dem süßlichen wohlfeilen rothen Weine traute ich nicht recht; 135 auch kann ich nicht sagen, daß das Brod so ganz besonders gut sey, wie man behauptet und ein Franzose dem andern nachspricht. Am Ende ißt man wohlfeil, wenigstens in Vergleichung mit den unmäßigen Preisen unsrer schweizerischen Wirthshäuser. Auch gefällt mir das, so unfreundlich es klingt, daß jeder seine Schüssel für sich hat, und nicht mit seinem hungrigen Nachbar theilen muß, sondern nach Bequemlichkeit essen kann.


Wir gingen in die Kirche St. Gemain l'Auxerrois hinein, um zu sehen, wie das Pfingstfest gefeyert werde. Da fanden sich nur wenige und größtentheils gemeine Leute und Bettler, welche die Vesper anhörten. Das Innere der Kirche sahe sehr arm und nackend aus. So war es auch in St. Eustache, wo zwar ebenfalls Gottesdienst gehalten wurde, aber nicht wie es die prächtige Structur der Kirche erforderte, und es ehemahls mochte gewesen seyn. Denn jetzt schien nicht der majestätische Gott der römischen Kirche als König aller Könige, noch auch der Herr des Himmels und der Erde als Vater aller Menschen hier verehrt zu werden, sondern irgend eine untergeordnete obscure Gottheit, die sich in verlassene halbzerstörte Tempel zurückgezogen, und ihre Herrschaft auf armseliges Gesindel und zerknirschte Herzen alter Sünderinnen beschränkt hat.

136 Die Theophilanthropen, welche hier in großen Tafeln einige ihrer Sittensprüche aufgestellt haben, wollten dem sinnlichen Ceremoniendienste ihren Naturalismus substituiren, und die Lehre der Tugend, als wenn diese eine Gottheit außer uns wäre, zu einem öffentlichen Cultus erheben; sie erschöpften sich daher in erhabenen Gemeinsprüchen, die sie auf schwarze Tafeln mahlen, und als heilige Texte zu moralischen Reden in die Kirchen aufhängen ließen. Sie brachten es aber nicht weit, weil die Sache für den großen Haufen zu abstract und für die gebildete Klasse zu langweilig war, vielleicht auch, weil die Stifter selbst durch ihr Vorbild dem Sittengesetze keine dauernde Empfehlung verschafften. Einmahl jetzt ist ihr Luftschiff schon wieder stark im Sinken, und ihre erste Beschäftigung, wenn sie noch mit heiler Haut herunterkommen, wird wohl seyn, sich mit ihren zierlichen Alltagssentenzen nach Hause zu begeben, und einem andern politisch-theologischen Schauspiele Platz zu machen; denn jetzt, sagt man hier, sey noch alles der Politik untergeordnet, und die Wasser der Trübsal, welche auch die Kirche überschwemmt haben, fangen kaum merklich an, sich wahrhaftig zu läutern. – Schade ist's, daß man die schöne Außenseite dieser Kirche vor den zu nahen Häusern nicht recht sehen kann.

Durch die Halle aux blés, eine zierliche Rotunde, welche wegen der einfachen und regelmäßigen Structur, und Erleuchtung von oben herunter, ein würdiger 137 Platz zur Aufbewahrung der Antiken wäre, jetzt aber mit einer ungeheuren Menge von Fruchtsäcken angefüllt ist, kamen wir an dem Tempel vorbey. Es war uns aber nicht erlaubt, in das traurige alte Nest hineinzugehen, und uns mit menschlicher Neugier den Zustand der hier gefangen gewesenen königlichen Familie zu vergegenwärtigen.

Endlich gelangten wir auf den Boulevard, welches der sonntägliche Spaziergang des gemeinen Volks seyn soll. Da noch dazu heute ein Feyertag und sehr schönes Wetter war, so strömten die Alleen von Leuten und die Straßen von Wagen und Reutern über. Wir konnten uns vor dem Gedränge fast nicht umsehen, und verloren einander bey jedem Schritte aus dem Gesichte. Besonders zog sich alles nach den kleinen Schauspielen hin, deren alle nur erdenkliche Arten hier ihr Wesen treiben, vom zerlumpten Bänkelsänger an, der mit seiner Frau die Tugend und Weisheit der neuen Helden besingt, bis zum ambigu lyrique und ambigu comique, und von den Marionetten an, die ein Mann oben aus einer umgestürzten Tonne herausstreckt, bis zum Théâtre de la Gaîté, wo Eugenius Huß die Pariser mit dem »bezauberten Walde« bezaubert. Allenthalben, auch bey dem kleinsten Pöbeltheater sind die erhabensten Inschriften angebracht, als wenn gerade da allein die wahre Kunst und das ächte Vergnügen thronte.

138 Indessen lockte mich jetzt keine. Ich will diesen Volksbelustigungen eine eigne Zeit widmen, wenn ich nichts in der Tasche trage, und mich ohne bestohlen zu werden in die Haufen hinein wagen darf. Nur die Wachsbilder des Curtius ging ich zu sehen, weil ich einmahl, ich weiß nicht mehr wo, einen großen Ruhm davon hatte machen hören, und weil an dem Hause mit großen goldnen Buchstaben: la mort de Paul I. geschrieben stand, und ich also erwarten durfte, die Katastrophe dieses Todes mit eignen Augen anstaunen zu können. Ich war aber in meiner Erwartung sehr betrogen, denn die meisten Figuren waren nicht nur mittelmäßig gearbeitet, sondern auch schlecht gekleidet, und der Kaiser Paul lag ganz ruhig und untragisch auf seinem Paradebette. Es war auch zu sehen der Erzherzog Karl, wie er mit Bonaparte Frieden macht, an einem Tische mit noch andern Staatspersonen sitzend; allein das Bild glich jenem menschenfreundlichen Helden nicht. Glichen sie aber auch diese farbigen Bildsäulen, und wären sie noch so künstlich vollendet, so vertragen sie doch keine anhaltende Betrachtung, wie ich jetzt deutlich einsahe, besonders wenn sie in Handlung gebracht sind. Durch ihre Aehnlichkeit mit dem Leben machen sie Ansprach an gänzliche Täuschung, können aber solche nur im Momente des ersten Anblicks behaupten, denn eben diese täuschende Aehnlichkeit macht, daß man auch sogleich das erste und allgemeinste Kennzeichen des Lebens, die 139 Bewegung, von ihnen erwartet; da nun aber der Mangel derselben alsobald auffällt, so werden die unverwandten Augen, die athemlosen Gesichtszüge und steifen Glieder dieser Bilder jeden Augenblick unerträglicher, und so verlieren sie gerade dadurch am meisten, womit sie die stärkste Wirkung bezwecken, durch ihre allzugroße Natürlichkeit, wodurch sie über die Grenzen der Kunst hinausgehen. Wie ganz anders verhält es sich mit den steinernen Formen der Bildhauerkunst! In ihrem Anschauen kann sich der Verstand um so viel mehr vertiefen und die Einbildungskraft erheben, weil sie uns nur eine poetische Täuschung gewähren, und wenn sie auch in unsrer Vorstellung bis zu Idealen emporsteigen, es doch nur in ästhetischer Beziehung sind, und immer nur Gegenstände des Geschmacks und der Kunst für unsre Augen bleiben, da hingegen jene sinnlich-illusorischen Quiproquos gar keinen Kunstcharakter mehr haben.

Jedoch ein Kopf von Franklin zog mich an, nicht als Kunstwerk, ob er gleich besser gearbeitet, und vermuthlich von einem ältern Künstler war, sondern weil ich den berühmten Philosophen gern einmahl so leibhaftig als möglich vor mir sah. Ein herrliches Greisengesicht, voll reiner gutmüthiger Seele und ausgebildeten Verstandes. Wie sehen dagegen mehrere französische Staatsumwälzer, die auch da herum stehen, so gemein, charakterlos und ohne alle Elevation aus!

140 Von Zeit zu Zeit erklärt der Meister die Kunstsachen mit einer schreyenden Rede, und endet dann jedes Mahl: Amusez vous à cette heure, Spectateurs!

Auch prächtig gekleidete Marktschreyer mit goldbordirten Generalshüten traf ich auf diesem Boulevard an, welche Arzeneyen aus ihren Kutschen herausbothen, und Livreebediente und Musikanten in ihrem Gefolge hatten. Einer von diesen Herren gibt sich für einen Glarner aus und verkauft Schweizerthee, womit er sich viel Geld verdienen soll. Ich traf ihn heute schon zum dritten Mahle an, und erstaunte, wie seine Lunge das unaufhörliche Geschrey und sein Verstand das abgeschmackte Zeug aushält, das er immer wiederhohlt.

Diese geduldeten Marktschreyereyen von jeder Art und jedem Fache müssen nach und nach den Geist des Volkes der Hauptstadt verderben, und da diese, wie bekannt, allmächtig auf die Provinzen wirkt, so wäre es kein Wunder, wenn zuletzt die ganze Nation etwas marktschreyerisches bekäme.


Wir kamen endlich auf die Place de la concorde heraus und setzten uns zum Ausruhen in den Elysäischen Feldern nieder. Da ich mit dieser neuen Welt schon etwas vertrauter war, und die Schwärme von Leuten mir nicht mehr so erstaunlich vorkamen, ob sie gleich noch zahlreicher waren als gestern, so konnte 141 ich jetzt, was vorging, mit mehr Aufmerksamkeit betrachten.

Ich sah lange den mancherley gymnastischen Spielen zu, welche hier jeden Abend getrieben werden, und mußte zwar die Agilität und Stärke der Spieler und die vortheilhaften Stellungen, die sie sich zu geben wußten, bewundern; aber es wollte mir doch scheinen, als wenn zu viel Ostentation mit ins Spiel käme, und es ihnen mehr darum zu thun wäre, sich in schönen Wendungen zu zeigen, als den Regeln des Spiels mit Verstand ein Genügen zu leisten. Sie suchten mehr, den lufterfüllten Ballon zierlich anzuschlagen und hoch empor zu treiben, als solchen dem Gegner vortheilhaft zuzuschicken, und so das Spiel auf eine unterhaltende Weise für den Zuschauer zu verlängern.

So treiben sie auch das Ballspiel unter freyem Himmel, und die ganze Kunst besteht darin, daß sie sich den Ball auf eine weite Entfernung zuschlagen, wobey freylich viel Stärke zum Vorschein kommt, aber das Spiel hat auch gleich ein Ende, weil in dem weiten Fluge die Richtung des Balls unsicher wird, und sich nach ein paar Schlägen gewöhnlich verirrt. Daher konnte ich dieses für nichts anders, als eine ungereimte Ausartung des künstlichen Ballspiels, der schönsten aller männlichen Leibesübungen, ansehen. Aber auf einem offenen Platze zieht man mehr Augen auf sich als im geschlossenen Hause, und darum scheint es 142 ihnen eben mehr zu thun zu seyn, als um das Vergnügen des Spiels selbst.

Beym Barres-Laufen (dem ehemaligen Rennen der Appenzeller) fliegen sie zwar, wie die Winde, aber sie mögen nicht warten, sie brechen zu bald alle auf Ein Mahl los, und stürzen sich unter die Zuschauer, und dann endigt sich die ganze Sache damit, daß sich alle einzeln, uneingedenk der Kampfgesetze, in verwirrtem Laufe einander jagen, zufrieden wenn das schöne Geschlecht ihrem behenden Fluge mit Blicken warmen Beyfalls nachfolgt.

Um ihrer Unregelmäßigkeit willen gefielen mir daher diese gymnastischen Uebungen nicht recht, und es that mir leid, daß die schönen, starken und gewandten Jünglinge ihre Kraft und Kunst so ganz nur einem vorübergehenden sinnlichen Beyfall aufopferten, und nicht zu jedem Spiele einen Aufseher unter sich wählten, der sie zur Ordnung und Gesetzlichkeit anhielte, wodurch gewiß das Schauspiel weit interessanter würde.

Am sehenswürdigsten aber, und mich immer mit neuem Liebreize bezaubernd, kamen mir die zahlreichen Kinder vor, welche heute wegen des Feyertags in niedlichem Putze von ihren Eltern hieher geführt wurden. Wahrhaftig, wenn man die bejahrten Franzosen, welche das Alter zur Vernunft zurückgebracht hat, als die liebenswürdigsten Menschen lobt, so muß man ihren Kindern, welche noch in ihrer muntern Unschuld von Vernunft und Unvernunft nichts wissen, die gleiche 143 Gerechtigkeit widerfahren lassen. Schöner und anmuthiger kann man sich nichts denken, als die Kleinen, wenn sie so um ihre im Grase sitzenden Mütter und Führerinnen herumgaukeln, sich necken und jagen, oder die Leibesübungen und Spiele nachahmen, die sie vor sich sehen. Mit welcher Leichtigkeit sie sich bewegen, wie ungezwungen ihr Anstand ist, wie schlank und fein ihre Gestalt! Sie plaudern ohne rohes Geschrey und sind unaufhörlich in fröhlicher Bewegung ohne Wildheit; und das ist ihnen so natürlich und gibt sich alles so von selbst, als wenn sie durch unsichtbare Winke geleitet würden. Man vernimmt nichts von dem unerträglichen, stets ertönenden und alle Freude unterbrechenden Zurechtweisen, welches die Alten anderwärts sich zur Pflicht machen. Auch ihre Kleidung ist nicht so unpassend aus kostbaren Lappen zur Schau nach dem modischen Schnitte der Erwachsenen zusammengesetzt, sondern dem eignen Wuchse des Kindes gemäß, und eben so einfach als niedlich und sauber. Kurz hier erscheint die parisische Urbanität in ihrem schönsten Lichte, weil sie noch in kindliche Unschuld gehüllt und zuverlässig ist, und noch nicht dazu mißbraucht wird, schreckliche Gebrechen mit einem glänzenden Firnisse zu decken.


Wir verweilten noch bis es dunkel ward in den Tuilerien, und genossen ausruhend der erquickenden 144 Abendluft und der Wohlgerüche der schattenreichen Linden. So einladend die Kunstschönheit dieses herrlichen Gartens und die Pracht und Neuheit der Bildsäulen auch für mein Auge war, so lenkten doch die lebendigen Naturen meinen Blick immer auf sich ab, und ich konnte noch nicht, wie ich gern wollte, einer Vergleichung zwischen den alten und neuen Schönheiten anstellen. Es bedürfte auch wohl einer Macht über die Vorstellungen, die nicht jedem Nouveau Debarqué gegeben ist, um über dieses herumwandelnde mannigfaltige Leben hinweg zu sehen, und seine besondere Aufmerksamkeit an leblose Kunst zu heften. Ich sah aber auch niemand, der sich viel damit abgab, und das ist in der Ordnung; denn nicht nur ist das Publikum an diese Kunstwerke schon gewöhnt, sondern auch der Liebhaber mag und darf sich nicht durch scheinbare Untersuchung auszeichnen, parceque c'est afficher la singularité, wie mir einer sagte, welches in französischen Augen die unverzeihlichste aller Narrheiten ist; er verschiebt daher ihre Besichtigung lieber auf eine stillere Stunde.

Wenn man aber auch diese Bilder nur im Allgemeinen, als bloße Dekorationen der unvergleichlichen Anlage ohne besonderes Interesse ansieht, und nur Einen Tag gesehen hat, so muß man, meines Erachtens, von ihrer Unentbehrlichkeit an dieser Stelle überzeugt werden, und einem ohne sie der Garten, wenn er auch von Menschen überströmte, doch mangelhaft 145 vorkommen, und das nicht bloß um der Gewohnheit willen, sondern ihre schöne Gestalt, ihr ruhiges Daseyn in der Tiefe des Waldes oder auf der Höhe der Terrassen oder längs der farbigen Blumenbeete, wirken, wie alles was gut und schön und am rechten Orte ist, unvermerkt auch auf das Gemüth des Gleichgültigen, so wie die Sterne der Nacht auch demjenigen, der ihrer nicht zu achten vermeint, doch als nothwendige Zierde des Himmels mangeln, wenn sie nicht leuchten.

Doch fand sich gerade jetzt was daran, das plötzlich die Aufmerksamkeit der Menge beschäftigte. An dem Gestelle der Bildsäule eines sehr modernen Hannibals von Sebastian Slodts hatte jemand den Umriß eines menschlichen Kopfs in einer Marmorader entdeckt, und mit Wichtigkeit den Umstehenden gewiesen. Es bedurfte nur des neugierigen Stillestehens einiger weniger, um bald den großen Haufen herbeyzulocken, und in einer halben Stunde die ganze spazierende Welt in eine Gesellschaft naturae curiosorum zu verwandeln, und den weiten Umfang der Tuilerien, das Schloß einbegriffen, weil es über alle Bewegungen im Garten wacht, auf einen Augenblick von dieser Merkwürdigkeit, diesem jeu de la nature erschallen zu machen.


Wir kehrten, als es schon dunkel war, noch im Palais royal ein, um uns in einem der schönen Kaffehäuser zu rafraichiren da wir uns nicht mehr 146 restauriren mochten. Durch eine häßliche Wendeltreppe, deren Wände voller Inschriften waren, wo man die Bewohner des Hauses zu suchen habe, gelangten wir in einen äußerst prachtvollen Saal, der nach dem neusten, aus allen Zeitaltern zusammengesetzten, Geschmacke, das heißt, ägyptisch, griechisch, gothisch, italiänisch und französisch ausgeziert und möblirt war, und eine vortreffliche Beleuchtung von argandischen Lampen hatte, die sich in den großen alles bekleibenden Spiegeln verhundertfältigten. So eine Verschwendung in Glas und Marmor nur in einem Kaffehause setzte mich in Erstaunen. Es wimmelte von Leuten, sogar Frauen saßen an den Marmortischen herum. Auf einem erhöheten Platze thronte majestätisch die dicke Dame des Hauses, um das Ganze zu übersehen und das Geld einzunehmen. Sie war herrlich gekleidet, ihr Tisch mit Porzellan und prächtigen Blumensträußen besetzt, und sie verrichtete ihr Geschäft mit einer solchen Zierlichkeit, daß ich mich kaum ihr zu nahen wagte. Ich konnte ihr Gespräch hören, da ich nicht weit von ihr saß, und – »werde ich mich denn ewig von stolzen Manieren und getünchten Gräbern täuschen lassen!« sagte ich unwillig zu mir selbst; denn aus dem gemeinsten aller Gespräche zu schließen, war die ganze Hoheit dieser Frau nur äußerlich, und das Innere voll Wegwerfung und Verderben.

Ob es gleich schon gegen Mitternacht rückte, so war doch in den Arkaden ein Gedränge und ein Licht 147 wie bey Tage. Wenn die übrige Stadt schon schläft, so ist in diesem Mittelpunkte noch alles rege. Leute die aus den Schauspielen kommen, und andre sponsi Penelopes, die noch nicht schlafen können, tummeln sich noch voll Geschäftigkeit herum. Vorzüglich ist dieß die Stunde der schönen Mädchen, die einige Sittenrichter Jammermädchen zu nennen vorgeschlagen haben, ob man ihnen gleich von dem Jammer wenig ansieht, denn sie sind voll Leichtsinn und Reiz. Freylich ist es zu bejammern, daß sie an keine Zukunft als die des nächsten Augenblicks zu denken scheinen, jedoch, dieß abgerechnet, gehört für einen bloßen Zuschauer, der oft selbst nicht weiter denkt, der Anblick dieser niedlichen Phalänen, Sirenen, Lazerten, oder wie man sie nennen will, mit unter die interessanten und einzigen Scenen dieses Theaters der Ueppigkeit und des sündlichen Lebens.

Wer aus dem Lande kömmt, wo man nicht an Illuminationen gewohnt war, weil es keine Geburtsfeste großer Herren oder zweydeutige Staatsveränderungen zu feyern gab, noch neue Siege; wo man sich des Ruhmes der alten Schlachten nur durch gottesdienstliche Kreuzfahrten, die oft zu neuen Scharmützeln Anlaß gaben, erinnerte; wo man sich über das, was dem Gemein-Wesen Gutes oder Böses geschah, nur im Stillen freute oder betrübte, oder dem Andenken desselben durch etwas langweilige Dank- Buß- und Bettage die Richtung zu geben suchte; oder wer nur die wenigen sparsamen Erleuchtungen kennt, die dort seit einigen Jahren zu Ehren auswärtiger Angelegenheiten und zur Schande der innern gegeben werden mußten – der wird, wenn er des Nachts im Garten des Palais royal herumgeht, viel Freude haben an dem neuen Anblick der vielen tausend Lampen, die das regelmäßige Gebäude erhellen, und der Leute, die es beleben. Er wird sich anfänglich kaum überreden können, daß dieß Jahr aus Jahr ein alle Nächte so fortdauern könne.

So ward aus Abend und Morgen der zweyte Tag meines Hierseyns. Ich überdachte zu Hause noch ein Mahl was ich heute gesehen hatte, und siehe, es war alles, wo nicht sehr gut, doch wie ichs wünschte, mannigfaltig und neu. Indessen war mir der Gedanke an die ländliche Einsamkeit, die ich in meiner Heimath wieder finden würde, auch nicht unangenehm.


Des Morgens (25. May) schrieb ich meine gestrigen Bemerkungen nieder, und fing an zu bedauern, daß ich zu Hause nicht mehr über die Merkwürdigkeiten von Paris nachgelesen, und einen Plan dessen, was ich sehen wollte, gemacht hätte, weil ich nun ganz meinem schwachen Gedächtnisse überlassen bin, oder vielmehr ohne so genannten wissenschaftlichen Zweck mit dem Strome, der mich fortzieht, schwimmen muß. Doch richte ich mein Steuer auf den Wogen dieses 149 wilden Meeres immer nach dem ruhigen Museum, als dem Lande meiner Sehnsucht, hin, und lasse mir alle übrige Ereignisse und Ansichten wie lehrreiche Erscheinungen auf einer Entdeckungsreise wohlgefallen.

Den Anfang meines heutigen Tagwerks bestimmte mir Herr Lejeune, mein Hauswirth, der mich zum Policeypräfect hinführen wollte, um meinen Paß visiren zu lassen; ich ging aber allein hin. Ehe man mich in den Hof der Präfectur hineinließ, mußte ich erst eine Kokarde kaufen, die hier noch ziemlich häufig getragen werden, weil man an einigen Orten ohne dieselben nicht zugelassen werden soll, mehr aber, wie ich glaube, aus Erinnerung und Besorgniß des Unheils, das sich unlängst noch so mancher durch Verachtung dieser republikanischen Zierde zuzog. Wo der friedliche Bürger diesen vermeintlichen Talisman noch tragen muß oder aus Vorsicht freywillig trägt, da herrschen wohl noch begründete Zweifel gegen die Ruhe des Landes. Allgemeine Eintracht bedarf keines Unterscheidungszeichens, am wenigsten eines solchen das nichts beweiset; denn wenn auch noch Ruhestörer vorhanden sind, werden sie sich etwas daraus machen, dieses sichtbare Glaubensbekenntniß aufzustecken, wenn sie dadurch desto sicherer zu ihrem Zwecke gelangen können?

Nachdem ich fast eine Stunde an dem Schweife der Wartenden gestanden hatte, ward ich endlich nebst mehrern andern vorgelassen. Wir wurden schon im Vorzimmer eingeladen (weil man noch nicht wieder 150 befiehlt), unsere Papiere zu deployiren, um sie sogleich vorweisen zu können. Ich fand die Leute höflich und schnell, aber ihre Sorgfalt etwas beschwerlich, denn sie wiesen mich an den helvetischen Minister, wo ich meinen Paß abgeben, und ein Zeugniß von ihm in die Präfectur zurückbringen müsse. Diesen weiten Spaziergang wollte ich sogleich machen, konnte aber nicht mehr durch die Tuilerien kommen, weil heute, als an einem Quintidi, Bonaparte seine Garde musterte.

Ich stellte mich auf den Eckstein eines Thores hin, um die vorbeyziehenden Regimenter zu sehen; es war aber unter diesem Thore ein so großes, ja absichtliches Gedränge, daß ich den Rückweg suchte; ich mußte indessen allenthalben den herbeyziehenden Truppen ausweichen. Ein Mensch kam auf mich zugelaufen, und anerboth mir einen Platz, wo ich die ganze Parade, die heute wegen des fremden Königes sehr glänzend sey, à mon aise übersehen könnte, ich soll ihm nur schleunig folgen. Er zog mich, ehe ich mich besinnen konnte, fort in einen Garten und stellte mich an den Absatz einer Mauer hin, wo man in den Hof der Tuilerien sah – Aber die ganze Mauer war schon besetzt, und die Anwesenden lachten mich aus, als er sagte, ich sollte mir nun einen Platz aussuchen. Ich mußte ihm gleichwohl etwas geben, und mich dann begnügen, den andern zwischen den Beinen durchzusehen.

Inzwischen ergetzte ich mich mehr an den muntern Auftritten aller Art, die es unter den Zuschauern, 151 womit der Carrouselplatz übersäet war, gab, als an den militärischen Manoeuvres und Schwenkungen der Consulargarde. Mir ist auf der Welt nichts langweiliger, so nothwendig die Sache auch seyn mag, und alle Welt darnach läuft, als militärische Musterung; sollte sie auch, wie hier, von den schönsten und gewandtesten Kriegern der Welt geschehen. Es ist weder Spaß noch Ernst, weder Geist noch Leben in dem Geschäfte, aber mehr als genug Anmaßung und eintönige Langsamkeit, die nur zuweilen, wie die Adagios des berühmten Euporus, durch eine alle Instrumente durchfahrende schnelle Bewegung aufgeweckt wird, und sogleich wieder erstirbt. Ich sehe nicht gern zu, wie Menschen, an denen einzeln so manches schöne zu beobachten wäre, zu gleichförmigen Maschinen gemacht werden, und nach der Willkühr eines Einzigen in langen Reihen entweder wie Bildsäulen stehen, oder sich in langsamen Intervallen schnurgerade bewegen müssen.

Als es endlich hieß, Bonaparte komme, richtete sich auf Ein Mahl alles auf, und alles war nur Ein Blick nach ihm hin, und ich empfand jetzt lebhaft, daß es doch etwas sey: Digito monstrari et dicere, hic est! und daß sich wohl was dafür thun lasse. Er setzte sich auf ein weißes Pferd und sprengte, begleitet von Generalen und Offizieren, in den Reihen seiner Krieger herum, die wie unbewegliche Mauern da standen. Vor ihm neigten sich die Fahnen und eine herrliche Musik erscholl. Wegen der Entfernung konnt ich seine Miene 152 nicht recht sehen, wie ich wünschte, daher ich auch nicht sagen kann, daß er einen großen Eindruck auf mich gemacht habe; so viel sah ich, daß er gelbblaß und klein ist, und sehr einfach gekleidet war. Unterhaltend war es, meine Nachbarn zu hören, wie redselig sie jede seiner Bewegungen mit Worten begleiteten: Il fait un mouvement de la main, est-ce qu'il parle? fragten sie einander. Voilà qu'il arrête, il donne les ordres sans doute, sagten sie wenn er stille hielt. Und wenn er sich plötzlich in eine andre Reihe hineinwandte und die vorreitenden Offiziere zurückließ: Ah! il cherche à tromper ses aides-de-camp; tenez, comme il les attrappe!

In einer Stunde war dieß königliche Schauspiel zu Ende, das wenigstens dem Theil des Volkes, so ich beobachten konnte, sehr zu imponiren, und dasselbe mit tiefer Verehrung für die hohe Gewalt des Consuls zu erfüllen schien.


Da mich der Rückweg von meinem Restaurator (gewiß hat diesen Nahmen ein Fremder, der sieben Stunden, wie ich, herumgelaufen ist, erfunden) durch das Louvre führte, so fiel mir ein, das Gemählde der Sabinerinnen von David zu besuchen, das hier um einen gewissen Preis zu sehen seyn soll. Der erste Vorübergehende, den ich fragte, konnte mich dahin weisen.

153 In dem Vorzimmer zieht ein Mann das Geld ein, und gibt dafür eine gedruckte geschichtliche Erklärung des Gemähldes. Ich gestehe es, daß ich mehr hinging, um gesehen zu haben als zu sehen, mehr um mit Ja antworten zu können, wenn man mich künftig fragen würde, ob mir auch etwas von David zu Gesicht gekommen; denn auch von dem geschicktesten französischen Künstler wagte ich nicht etwas zu erwarten, dessen Anschauen nach den Meisterwerken, welche das Museum umsonst darbietet, mit Geld bezahlt zu werden verdiente. Aber hier hatte ich ein Mahl die Freude mehr zu finden, als ich erwartete. Gleich bey meinem Eintritte, als ich das Werk ansichtig wurde, verschwanden alle Vorurtheile, die ich von David, als einem Meister aus der französischen Schule, hatte, und, man erkläre es wie man wolle, auch die nachtheiligen Vorstellungen verschwanden, so ich von ihm als Mensch wegen seiner vormahligen politischen Excesse bekommen. – Ich sahe ein Gemählde vor mir von großer lebendiger Wahrheit, der richtigsten vom Genius des Alterthums geleiteten Zeichnung, und einer großen Kunst im Colorit, ich meine die gelungene Bemühung, widersprechende Partien desselben in gefällige Harmonie zu bringen.

Ich hörte freylich einige Anwesende über Disharmonie der Farben klagen, weil sie glaubten ein graulicher Ton einiger Theile steche gegen die kräftige und reine Wärme der Figuren des Vorgrunds zu stark ab; 154 ich fand aber nicht, daß dieser Abstand beleidige oder irgendwo die Harmonie störe, er schien mir im Gegentheil die Figuren mehr herauszuheben und die Haltung zu bestimmen. Wer wollte dieser geübten Hand, die man in jedem Pinselzug erkennt, Mangel an praktischer Wissenschaft vorwerfen, und sagen dürfen, der große Meister habe aus Unverstand gethan, was bey genauer Prüfung nicht einmahl ein Fehler ist, sondern vielmehr eine zarte Sorgfalt verräth, der Mannigfaltigkeit der Natur getreu zu bleiben, und eine, auch guten Künstlern so gewöhnliche manierirte Einförmigkeit des Tones zu vermeiden. Dem sey wie ihm wolle! Es herrscht eine solche weiche, natürliche Rundheit in den Gruppen und einzelnen Figuren, die von der größten Geschicklichkeit des Mahlers auch in den mechanischen Theilen der Kunst zeuget, und sich gewiß selten in einem so großen Bilde, das nicht auf eine gesuchte künstliche Weise beleuchtet ist, findet.

Da David viele Feinde hat, so sind auch seine Meisterstücke ungerechtem Urtheile desto mehr ausgesetzt. Solche Urtheile lassen sich aber nicht zurecht weisen. Wer sie öffentlich ausgesprochen hat, kann sie Ehren halber nicht wohl zurücknehmen, und der Neid thut es noch weniger. Klüger ist es, ihrer gar nicht zu gedenken, und nur über die Sache selbst, nicht über die Urtheile, zu urtheilen.

Ich werde nicht von Paris weggehen, ohne diese von einem hohen Geiste beseelte Composition, die den 155 größten Erfordernissen der Kunst entspricht, und, meiner Empfindung nach, neben den Meisterstücken aller Zeiten stehen darf, noch ein Mahl zu sehen, und noch näher über ihren innerlichen Werth einzutreten.

Dem Gemählde, das mitten im Zimmer in schöner Beleuchtung steht, hängt ein sehr großer Spiegel gegen über, damit es auch darin betrachtet werden könne, und Bänke sind umher gestellt, um es in jeder Distanz bequem zu sehen. In dem Vorberichte zu der gedruckten Erklärung rechtfertigt sich David bescheiden und würdig, und, wie mich dünkt, vollkommen über die vorher in Frankreich nicht übliche bezahlbare öffentliche Ausstellung. Wie gern wollt' ich nunmehr noch so viel geben, wenn ich seine andern berühmten Gemählde auch sehen könnte!


Nachdem ich zu Hause Uhr und Geld abgelegt hatte, weil ich nicht immer die Hände zur Huth in der Tasche haben mochte, so ging ich mit einem Bekannten in die Oper. Da Vestris heute tanzte, und der Graf von Livorno erwartet wurde, so war bald alles außerordentlich voll, und wir mußten anderthalb Stunden warten im Gedränge und Geräusche des Parterres, bis die Musik anfing.

Wer kennt nicht schon die Wunder der französischen Opera aus hundert wunderbaren Erzählungen und Beschreibungen! – Ich fand jetzt alles zu klein, 156 weil mir alles zu groß war vorgespiegelt worden. Das Haus ist auch wirklich, so geräumig es seyn mag, für die große Stadt zu klein; denn heute, und das soll bey berühmten Singspielen immer so seyn, wurden viele Leute, die zu spät kamen, wieder abgewiesen. Es ist aber höchst beschwerlich, wenn man, um einen mittelmäßigen Platz zu haben, zwey Stunden zu früh kommen und in der Menge fast ersticken muß. Tanti poenitere non emo, heißt es daher bey vielen des schwülstigen Gesanges und der Scenerey satten Parisern, welche dafür lieber die kleinern Theater besuchen, deren gefälligere Musik sie leicht auffassen, und im Nachhausegehn fröhlich wieder durch die Nase von sich geben können. Heute aber machten sie eine Ausnahme, um auch wieder einmahl einen König zu sehen, wie noch manche mit republicanischem Wohlbehagen sagten. Allein er kam nicht, und man mußte sich mit den fürstlichen Personen der Bühne und dem lustigen Könige des Balletvolkes begnügen, die auch ihr fabelhaftes Geschäfte besser verrichteten, als mancher andre sein wirkliches.

Das Spiel des Orchesters, der Gesang und die Reinheit der Stimmen kamen mir, der ich noch nichts so gehört hatte, bewundernswürdig vor; nur wollte mir das unmäßige Geberdenspiel, und besonders die künstliche Wuth der ersten Sängerin nicht recht einleuchten. In diesem Grade fand ich es unschicklich, weil es oft zweifelhaft war, ob der Gesang den 157 körperlichen Affekt oder dieser den Gesang begleite. Ueberhaupt schien es mir, sie thun durch zu viel mimische Action dem wahren Geschmacke des lyrischen Vortrags Abbruch. Es liegt, zumahl bey dem hohen leidenschaftlichen Gesang, schon so viel hinreißende Gewalt in der künstlichen und zweckmäßigen Verbindung der Töne, womit der Meister in der Kunst eine Empfindung wecken wollte, daß es oft nur einer schönen, entsprechenden und biegsamen Stimme, und nicht einmahl des Verstandes der Worte bedarf, ja selbst diese manchmahl hinderlich sind, um die Vollkommenheit des Eindrucks zu vollenden, und also ein zartfühlendes Gemüth durch die physische Anstrengung des Sängers, seinem Gesang allen möglichen sinnlichen Ausdruck zu geben, wenn sie auch noch so mahlerisch schön wäre, auf eine unangenehme Weise von der reinen Empfindung abgezogen und zerstreut wird. Ich war oft versucht, die Augen zu schließen, um nur zu hören und nicht zu sehen, und nicht in dieser überhäuften Beschäftigung beyder Sinne um den einfachen und wahren Genuß zu kommen, und mir fiel oft ein, woran vielleicht nur das übertriebene Spiel Schuld war, ob nicht überhaupt die überirdische Sprache der Musik, und also auch der menschliche Gesang, der schönste Theil derselben, jede andre, als ihre eigne unmittelbare Apparenz verschmähe?

Bey der Oper muß man nun freylich hierüber ein Auge zudrücken, oder vielmehr eines offen 158 behalten, weil sie nicht bloß ein musikalisches Werk seyn soll, sondern ein Schauspiel von Schauspielen, wobey alle schönen Künste konkurriren, und mimische Handlung als Instrument der Poesie, wie auch Mahlerey und Baukunst, eben so viel Anspruch auf das Auge machen dürfen, als die Tonkunst auf das Ohr. Ob dann aber alle diese gehäuften Wirkungen in eine einzige Empfindung im Innern zusammenfließen, und so die vollendete Täuschung ohne Gleichen hervorbringen können, die eigentlich der Zweck des Ganzen seyn sollte, das ist eine andre Frage, worüber ich im ersten Mahle nicht urtheilen kann; denn jetzt wenigstens war es mir nicht möglich, den bleibenden Eindruck einer zusammenhängenden Handlung daraus zu fassen. Hingegen aber, ich gestehe es, gefiel und bezauberte mich, außer dem Zusammenhange, beynahe alles, besonders aber die orchestischen Fechterspiele, so den Zwischenakt ausmachten, die mit unvergleichlicher Kunst, Behendigkeit und nach den Antiken studirter Zierlichkeit aufgeführt wurden.

Die Dekorationen sind zwar nicht abgenutzt, aber doch etwas alt; übrigens schön gemahlt, und täuschend, was nemlich Architectur vorstellt, denn Wald und Hügel werden auch die stärkste Imagination nicht ins Elysium versetzen. Sie werden durch ein widriges Pfeifen geleitet, und ihre Veränderung geschieht zwar als physikalisches Experiment schnell genug, doch nicht so, daß der Einbildung nichts zu wünschen übrig bliebe, 159 wie man mir gesagt hat. Von außerordentlicher Wirkung war jedoch am Ende des Stückes (Hecube) der Brand Trojas. Obgleich eine sinnliche Täuschung auf dem Theater nie statt hat noch haben soll, weil die Theaterwelt eine eigne und nicht die wirkliche Welt seyn und ihre Wahrheit immer in den Grenzen der schönen Kunst bleiben muß, so empfand ich doch unerwartetes Schrecken bei diesem Chaos der Zerstörung. Rauch stieg aus den Häusern empor und verzehrende Flammen. Tempel und hohe Palläste stürzten krachend ein. Zerstreute Krieger liefen ängstlich oder wüthend zwischen den brennenden Trümmern umher, und von fern entfloh der fromme Aeneas zu seinen am Meere wartenden Gefährten. Es war ein lebendiges Gemählde im Kleinen von der schrecklichen Begebenheit, dessen Wirkung noch durch künstliches Geräusch und das laute Erstaunen der Zuschauer vermehrt wurde. Freylich nur für Augenblicke täuschend, aber auch nur Augenblicke dauernd. So mannigfaltigen und großen Effekt, mit so viel Geschmack dargestellt, hätte ich in einem so beengten Raume nicht möglich geglaubt.

Zum Beschlusse wurde das Ballet Psyche gegeben, wo ich also beym ersten Besuche schon das Berühmteste in seiner Art, den Vestris als Amor, sahe. Ich mochte aber sehen wie ich wollte, so konnte ich jetzt noch keine Vorzüge vor den andern Tänzern an ihm bemerken, vielmehr fand ich mehr Behagen an andern, vielleicht nicht so künstlich schnellen, aber 160 schönern Gestalten; denn zu einem Amor schien er mir mit seinem großen Kopf und unamorosen Gesichte nicht gemacht zu seyn, besonders wenn ich mir den Cupido der Antikensammlung dagegen dachte. Allein ich will ihm nicht Unrecht thun; es ist nicht möglich, daß ein Neuling, wie ich hier war, die Feinheiten einer so vervollkommneten Kunst im ersten Erstaunen fassen könne.

In dem Anschlagzettel hatte ich gelesen, daß ein Tänzer, ich weiß seinen Nahmen nicht mehr, den Zephyr machen würde, und war neugierig zu sehen, wie man einen Zephyr tanzen könne. Ich begriff es aber bald. Der Knabe schien, wie von leichten Winden getragen, den Boden kaum zu berühren; man hätte geglaubt, er würde über Blumen hinhüpfen können, ohne sie zu verletzen. Er spielte auch die ganze Zeit über mit einer solchen Hingebung und naiver Anmuth, und doch mit so abgemessener Richtigkeit, daß er mein Wohlgefallen im vorzüglichen Grade hatte, indem ich bey den meisten andern eine gewisse Begierde in die Augen zu fallen, eine Hinsicht auf die Zuschauer wahrnahm, die nicht im Geiste des Stückes lag.

So gedacht und ausdrucksvoll die Pantomime übrigens ist, so thut man doch wohl, wenn man sich vorher mit dem Inhalte des Ballets bekannt macht, denn so klar ist die Darstellung doch nicht, daß man alles ohne Vorbereitung verstände. In dem Ausdrucke der Sehnsucht und des zärtlichen Verlangens schien mir indessen nicht nur die deutlichste Sprache, sondern 161 auch die meiste Grazie zu liegen. Aber auch üppige Freude, Eifersucht, Zorn, Veneration und andre Affecten wußten sie äußerst anschaulich zu machen, und dennoch alle ihre Bewegungen, auch die sprechendsten, immer in den Schranken der höchsten Eleganz zu erhalten. Dieß ist die Schule des körperlichen Anstandes, hier findet der leichte Franzose das Ideal seiner gefälligen Sicherheit und Gewalt über den Körper, wodurch er sich so sehr über andre Nationen erhaben fühlt. Aus diesem Garten pflückt die feine Pariserwelt die Blume der Grazien, und streut ihren Samen aus in die empfänglichen Provinzen, ja in ferne Länder, auf deren fremden Boden aber sie seltener in einheimischer Fülle gedeiht. – Wer wird es dem großen Vestris verargen, wenn er, sein unendliches Reich überschauend, seine Wichtigkeit fühlt, und sich den Unsterblichen zugesellt; Er, von dem Königinnen mit Bewunderung sprechen, und über dessen Anblick die Hirten der Völker ihre menschenbeglückenden Sorgen vergessen!

Erschöpft von Durst und Müdigkeit kam ich um Zwölfe nach Hause, denn ich hatte in der Oper eine unerträgliche Hitze ausgestanden und auf den Bänken des Parterres sehr enge und unbequem gesessen.


Des folgenden Morgens (26. May) machte ich mich bey guter Zeit mit einem meiner Reisegefährten 162 auf den Weg zum helvetischen Minister, der unweit der elysäischen Felder wohnt. Er hat ein schönes Haus, aber zu meinem Befremden fand ich es im Innern viel stiller und ruhiger, als ich bey einem Ambassador erwartet hatte. Nirgends keine Schildwache, keine Staatskarosse, keine rauchende Küche, keine Bedienten, nicht einmahl ein Hund in dem leeren Hofe. Mit Mühe entdeckten wir endlich einen Mann, der uns den Weg ins Büreau wies. Auf den einsamen Treppen und Gängen hörten wir, wie in einem Kloster, unsre eignen Fußtritte wiederhallen. Auch auf dem Büreau, wo zwey Secretäre saßen, schien mehr gute Ordnung als Geschäftsdrang zu herrschen, welches alles mir keine große Idee von der Bedeutsamkeit unsrer Republik gab. Da der Minister noch nicht aufgestanden war, weil er spät in die Nacht hinein arbeite, so hieß man uns (es war 9. Uhr) in zwey Stunden wiederkommen. Aber wohin sollten wir nun gehen, um die kostbare Zeit nicht zu verlieren? Es fing an zu regnen, wir waren weit von unsrer Wohnung, und da wir doch bald wieder kommen mußten, so wäre es nicht der Mühe werth gewesen, heim zu fahren. Wir waren unzufrieden mit unserm Gesandten, der wie ein großer Herr bis Mittag schläft, und wenigstens reisenden Landsleuten hülfreich seyn sollte, da er so wenig für die Republik thun kann. Das war aber im Unmuth gesprochen; wir thaten ihm Unrecht, weil wir ihn noch nicht persönlich kannten.

163 In dem anstoßenden Tuileriengarten war ein prächtiges neues Caffehaus, wohin wir gingen. An leichter und reinlicher Bedienung sowohl, als an reichem und geschmackvollem Bau der Zimmer, übertraf dieser Ort noch alle andern, so ich bisher gesehen. Solche feine Dekorationen und zarte Möblen, die man hier allenthalben antrifft, welche mit einem einzigen derben Rucke zerstört werden können, müssen gewiß auch einen guten Theil dazu beytragen, den Parisern die leise Geschmeidigkeit zu geben, so ihnen eigen ist; und diese zur Natur gewordene Eigenschaft raffinirt dann hinwiederum auf neue Gegenstände des Luxus nach ihrem Geschmacke, bis zuletzt das elegante Geräth so federleicht und dünne wird, daß man kaum mehr husten darf, aus Furcht, alles zum Fenster hinauszublasen.

Dann gingen wir noch in dem Garten herum. Da er jetzt noch ganz einsam war, so konnten wir seine Schönheiten und Vorzüge ungestört wahrnehmen und prüfen, die hauptsächlich in der edeln Einfalt seiner Anlage und der Vermeidung alles Ueberladenen und Gesuchten gegründet zu seyn scheinen. Hier erblickt man nicht mehr die zugestutzte Steifigkeit und langweilige Eurythmie der alten französischen, noch das eben so unerträgliche wilde Kinderspiel der englischen Gärten, nichts Unnatürliches und auch nichts Uebernatürliches, keine mauerhohe glattgeschnittene Hecken, keine mühsame Wasserkünste, die nur bey 164 Festivitäten laufen und die übrige Zeit stinkende Pfützen sind, keine verschnörkelte Bäume und Beete; hingegen auch keine kindische Ueberraschungen von zerfallenen Tempeln, enormen Brücken über seichte Bächlein, dürftigen Wasserfällen, arkadischen Grabmählern, und andern dergleichen Dingen, die niemand täuschen als wer gern sich selbst täuscht – sondern es ist ein edler Lustgarten von leicht faßlichem regelmäßigem Plan, in welchem aber in geschmackvoller Vereinigung alles angebracht ist, was die Natur dem Auge liebliches darbiethen kann, vom bunten Farbenspiele der auserlesensten Blumen bis zum erhabenen Gewölbe der grünen Linden. Alles ist wohlgeordnet und sauber unterhalten, ganz und unverstümmelt. Reihen der schönsten Orangenbäume zieren die offenen Gänge, und Bildsäulen von Marmor und Erz leiten unsre Phantasie in die großen Zeiten des Alterthums.

Allenthalben ist ein weiter offener Blick, nichts enges noch widriges für das Auge. Die vordere Seite des Gartens schließt das Schloß der Tuilerien, von welchem zwey Terrassen ausgehen, die den Garten umfassen und sich beim Ausgange desselben in zwey reichgeschmückte Hügel zusammenziehen, wo man die prächtigste Aussicht hat, die ich in meinem Leben gesehen, nicht nur über den weiten Garten hin bis an das Schloß, sondern über den Eintrachtsplatz und seine lebendige Welt, auf die zierlichen Gebäude des Gardemeuble und die elysäischen Felder, und jenseit des 165 Wassers über die königlichen Brücken, die Palläste und Hotels, den Dom der Invaliden, bis auf die fernen Höhen von Meudon und Passy.

Aber so ein Garten will bevölkert seyn, das ist offenbar der Zweck seiner Anlage, dazu sind die weiten Gänge, die luftigen Wälder, der mit Gitterwerk verwahrte Blumengrund und die reichen Terrassen, alles deutet darauf hin. Es ist nicht der Garten eines reichen Privatmanns, nur für seinen und einzelner Freunde Genuß gebaut, wo sich angenehme Irrgänge, romantische Scenen und liebliche Nachlässigkeiten zweckmäßig anbringen lassen; noch das phantastische Lustrevier fürstlicher Anglomanie, wo alle Schönheiten und Schrecknisse der Natur in eine Musterkarte zusammengedrängt sind, und vom Sturm zerrissene Wälder mit blühenden Fluren, haushohe Alpen mit unterirdischen Höhlen, und Nachtigallen mit Fröschen sich in ein harmonisches Ganze vereinigen müssen, das Mode und Gutmüthigkeit zwar einen Augenblick anziehend finden, aber eben so bald überdrüssig werden, weil aus diesem zusammengestückelten Naturgewande die Mühsamkeit der Kunst allenthalben zu schnell die Ohren hervorreckt, wo es dann mit dem eingebildeten Naturgenusse sein Ende hat.

Es ist ein öffentlicher, mit den anmuthigsten und edelsten Gegenständen der Natur geschmackvoll ausgeschmückter Platz, den neben seinen Pallast hin der König, oder sein Aequivalent die Regierung der 166 unermeßlichen Hauptstadt, großmüthig gepflanzt hat und unterhält, weniger für sich selbst als für die Ruhe, Erhohlung und gesellschaftliche Freude der zahllosen Einwohner; wo sich die Großen, Schönen und Beglückten gern und in Menge jeden Abend sehen lassen, und jetzt auch der bescheidene Arme ungestört wandelt. Das freudige Volk aufzunehmen und mit seinen Gaben und Schönheiten zu ergetzen, dies ist der Charakter und die Bestimmung dieses herrlichen Gartens, dafür strecken die weiten Alleen ihre Arme aus und biethen die breiten Terrassen ihren Rücken. Dann erscheint er auch in einer Vollkommenheit, die wohl nirgends in diesem Grade sich findet.


Als wir zu unserer einsamen Gesandtschaft zurückgekehrt waren, mußten wir unsere Pässe dort lassen, wofür man uns ein anderes Papier gab, das wir bey dem Polizeypräfect vorweisen sollten. Nachher führte uns der Secretär zum Minister selbst. Ich glaube, dieser gelehrte und liebenswürdige Mann habe hier, wie ers auch verdient, ein angenehmes Leben, das angenehmste von allen denjenigen, welche Berufswegen an unsrer Staatsgaleere rudern. Seine Bescheidenheit und Wissenschaft machen ihn in Paris beliebt, er hat ein gutes Auskommen und wenig Geschäfte, er ist entfernt von unsern tollen politischen Ereignissen und dem noch tollern Geschwätze darüber, und sitzt 167 gleichwohl an der Quelle der wichtigsten Neuigkeiten, und was ihm noch lieber und angemessener seyn mag, an dem castalischen Brunnen, der hier aus tausend Röhren unerschöpflich quillt. –

Er versprach uns Zutrittsbillette zur großen Parade, welches mir erwünscht war, denn wie dürfte ich mich zu Hause wieder blicken lassen, ohne die erste Frage beantworten zu können, ob ich den großen Bonaparte gesehen habe?


In der Policeypräfectur waren wir bald spedirt. Wir bekamen Sicherheitskarten, die wir während unsers Hierseyns beständig bey uns führen sollen. Von da suchten wir den Wechsler auf, welchem wir empfohlen waren. Da wir gestern eine falsche Adresse bekommen hatten, so liefen wir uns müde, ohne ihn erfragen zu können, bis uns endlich ein Geldtrager zurecht wieß.

Auf solchen unfreywilligen Wanderschaften lernt man die Straßen bald kennen, und ihre Wahrzeichen, wie die Handwerksbursche sagen. Am anziehendsten unter diesen war mir der Pontneuf, wegen der mancherley Vorstellungen, so ich mir von Jugend auf aus französischen Romanen und Lebensbeschreibungen davon gemacht hatte, und auch wegen seiner wirklichen Schönheit und mahlerischen Lage, vorzüglich aber wegen des regen Lebens und Treibens, das sich ruhelos 168 darüber hinwälzt. Man nennt diese Brücke mit Recht das Herz von Paris, weil von da aus als dem Mittelpunkte der großen Stadt die Bewegung in alle Gassen, wie das Blut in die Adern des Körpers, strömt. Vordem hieß es, man könne keinen Schritt auf der Brücke thun, ohne auf einen Pfaffen oder eine H . . . . zu stoßen, jetzt nicht mehr; jene sind verschwunden, und diese müssen vermuthlich andre Schliche haben, denn daß sie noch irgendwo existiren, beweisen die antisyphilitischen Zettelchen, die einem hier bey Dutzenden in die Hand gesteckt werden, wenn man schon sagt, man habe ihrer nicht nöthig. Außer dem Gewimmel der Hin- und Hergehenden, das so groß ist, daß zwey nicht bey einander stillestehen können, ohne fortgestoßen zu werden, hat die Brücke noch ihre besondern Bewohner; auf den Stufen des Trottoirs lagern sich in gehörigen Distanzen Schuhflicker und Schuhputzer, vorzüglich aber eine eigne Klasse von »Artistes,« die kleine Fahnen von Blech vor sich aufgestellt haben, worauf ihre Beschäftigung beschrieben ist: N. N. fond les chiens, coupe les chats et va en ville. – Längs dem Geländer der Brücke sind wohl versehene Buden aller Art, besonders findet man da auserlesene Früchte und Pomeranzen. Auf dem Platze Henry IV. steht jetzt ein niedliches Kaffehaus, das aber seiner vortrefflichen Lage ungeachtet sein Glück bisher nicht gemacht hat, weil der Geist des großen Heinrichs, dessen Bild hier aufrichtiger verehrt wurde, 169 als die fabelhaften Heiligen der Kirche, noch manchen von dem Eintritte in diesen entweihten Ort abwehrt. Gegen über liegt die Place Dauphine; wer hier in den vordersten Häusern wohnt, lebt an dem kurzweiligsten aber auch unruhigsten Orte von ganz Paris, und vielleicht auf dem bevölkertesten Flecke von Europa.


Da das Théâtre Montansier, welches in dem Palais royal liegt, noch nicht offen war, so ging ich in den Arkaden herum, und besahe alle die Bedürfnisse des Reichthums, welche hier in wundersamem Ueberfluß auf das reizendste zum Kauf ausgestellt sind. Wie viele Dinge gibt es, derer ich nicht bedarf! wagte ich mit Socrates zu sagen, ging aber vielleicht darin von ihm ab, wie leider noch in manchem, daß ich doch mit großem Vergnügen dabey verweilte. Dieß Verweilen bey den Gewölben scheint jedoch nicht zum guten Tone zu gehören, denn beynahe jedermann ging vorbey ohne die Sachen anzusehen, und mein neugieriges Betragen reizte die Aufmerksamkeit der umherwandernden Schönheiten, welche sich nicht unter die Dinge zu zählen pflegen, deren Socrates und die Fremden nicht bedürfen. Sie stellten sich in den Weg und wollten auch gesehen, oder gar, wie mir eine zu verstehen gab, ins Theater geführt seyn. Obgleich hierdurch der gute Ton weniger beleidigt worden wäre, als durch das Anstaunen der Butiken, so hielt ich doch 170 einen stillen Rückzug für das sicherste, weil ich keine Komödie in der Komödie spielen wollte, und die Socratische Methode der Unterhaltung mit diesen Hetären mehr theoretisch bewundere als praktisch verstehe.

Montansier ist das Theater für die lustige Welt, und daher außerordentlich besucht. Die Wahl der Stücke und der Schauspieler, alles ist nur auf momentanes Lachen abgesehen, und die Ausführung entspricht dieser Absicht vollkommen. Darüber hinaus wird aber kein Schritt gegangen, auch erwarten solches die Zuschauer nicht, denn es ist ein Geplauder und Gelächter in den Logen und allenthalben, daß man bald merkt, dieser Ort werde nur für oberflächliche Belustigung besucht, und bloß um die vornehmsten Züge und Melodien zu haschen, nicht um ernsthafter Ueberlegung einen Augenblick Raum zu geben. Da die sentimentale weibliche Kennerklasse, welche das Schöne nur in der Tugend und die Tugend in Worten sucht, diesen Schauplatz leichtsinniger Fröhlichkeit der Anständigkeit halber nicht besuchen darf, so wird der Geschmack einzig durch die Bedürfnisse derjenigen bestimmt, welche hier den Ton angeben, und das sind junge Müßiggänger oder reiche Parvenüs, dergleichen es jetzt so viele gibt, mit ihren Mädchen; diese Leute sind ungebildeten Geistes und wollen nichts als sinnlich belustigt seyn.

Ein Schauspieler ist hier, Brunet, der sich durch seine treffende Wahrheit in Vorstellung lächerlicher 171 Einfalt einen Nahmen gemacht hat. Er kam mir auch wirklich unterhaltend vor; allein man hat doch erst den rechten Genuß an diesen Leuten von schalkhafter Laune, wenn man sie näher kennt. Das erste Mahl machen sie nur geringe Wirkung, weil die erste Bekanntschaft unter Menschen immer ernsthaft ist. Wir müssen mit ihrer Weise bekannt werden, ihre Figur und ihr Tun muß uns nicht mehr fremd seyn, erst dann treten wir in ihre excentrische Bahn und begreifen ihre Eigenschaft. Und wenn sie einmahl den Beyfall erhalten haben, so hat niemand kein besseres Spiel als solche Lustigmacher und witzigen Leute; der Glaube eilt ihren Werken zuvor; man geht allen ihren Aeußerungen mit der Erinnerung ihrer vorigen Schwänke entgegen, und strengt seinen Scharfsinn an, alles ihr Thun und Lassen nach dem Ideale zu bilden, das man sich von dergleichen Lieblingen der lustigen Gesellschaft gemacht hat. Dann fällt es ihnen nicht schwer, es bald so weit zu bringen, wie der ehemalige Loustic der alten französischen Schweizergarde; wenn er nur das Maul aufthat, so lachte das ganze Regiment.


Wie wird es mir seyn, wenn ich wieder in meiner stillen Heimath bin, da ich schon jetzt nach Verfluß einiger Tage mich an den betäubenden Lärm des hiesigen Lebens zu gewöhnen anfange? – Wie einem, denk ich, der von seltsamen Träumen erwacht, und sich derselben auf seiner einsamen Lagerstätte behaglich erinnert. Lange werd ich dieses Traumes eingedenk seyn!

Da ich heute (27. May) das Museum verschlossen fand, weil es jeden Septidi ausgekehrt wird, so ging ich zum Zeitvertreib längs der Gallerie du Louvre an der Seine hin und her, welches bisher einer meiner liebsten Gänge ist, weil man auf beyden Seiten, besonders über dem Wasser, eine so weite Aussicht schöner Gebäude hat, und bey der Frequenz des Platzes doch vor den unerträglichen Kutschen und Cabriolets sicher ist. Hier erfuhr ich, daß eine Sache im gleichen Augenblicke mit gleichem Recht die ganze Aufmerksamkeit des einen beschäftigen und vom andern sehr gering geachtet werden könne, ohne daß deßwegen der eine oder der andre die Beschuldigung von Kälte verdiene, womit wir so geschwind über andre herfallen, wenn ihre Theilnahme unsrer Erwartung nicht entspricht. Denn indem ich auf der Mauer des Flusses saß und das Hôtel des Monnaies betrachtete, sahen alle Vorübergehenden nach dem neuangelegten Bade Vigiers hinunter, und sprachen mit Entzücken von diesem schwimmenden Inselchen, ohne einen Blick auf das Louvre noch auf die herrlichen Quaygebäude zu werfen, noch die weite mit nichts als schönen Gegenständen beschränkte Ausdehnung ins bewundernde Auge zu fassen. – Sie kannten alles dieses schon von Jugend an, aber das Bad war für sie eine neue Entdeckung; mich hingegen interessirte jetzt das winzige 173 Gärtchen nicht, weil mir alles gleich neu war. Bey ihnen mußten die alten Kenntnisse der neuen Wahrnehmung Platz machen, bey mir noch das Kleine dem Großen.

Indessen will ich diese niedliche Anlage nicht verachten; nichts ist unbedeutend was seiner Bestimmung entspricht, und schon der Vorgenuß der Pariser beym Anblicke dieses einladenden Bades gibt demselben einen wirklichen Werth. Ich meine vielmehr, jeder solle sich seiner eigenen Vorstellungen und Erkenntnisse freuen, wenn sie nur aus eigener Kraft hervorgehen, und nicht bloß anmaßlicher Schein oder Nebel der Einbildung sind. Dabey aber soll man auch nicht allzueilfertig, aus sogenannter guter Meinung, den andern bey der Hand nehmen und sagen: komm und theile meine Empfindung bey diesem Anlaß! denn dieß heißt in den meisten Fällen den Starken zur Kälte und den Schwachen zur Heucheley hinführen, weil das menschliche Herz sich eben so ungern zu Gefühlen auffordern läßt, als der Verstand zum Glauben.

Uebrigens empfangen wir manchmahl die größten Gedanken bey den kleinsten Gegenständen, und zwar nicht allein durch die Kraft, mit welcher Swift aus einem Besenstiel mehr Geist zog, als Harvey aus Sonne, Mond und Sternen, sondern öfters auch darum, weil unter den unzähligen Dingen, die Einfluß auf unser Gemüth haben, und den Werth unsrer Anschauungen bestimmen, Zeit und Laune nicht die 174 seltensten sind, so rein wir uns auch gestimmt wähnen mögen, und eine unmerkliche Analogie, eine dunkle Erinnerung unsern Verstand so oft leiten kann, als unsern Willen. Wir tragen nicht nur unsern Kopf, sondern auch unser Herz den Erscheinungen entgegen, und so gibt uns, Gott sey Dank, die Hütte eines Einsiedlers oft mehr zu denken, als die Säulenordnung des Louvres, ja die Erde oft mehr als der Himmel, und selbst in der strengsten Analytik weht der Geist noch wie und wo er will.


Eben so elend und abgeschmackt, als die Ehrenmeldung der Kanonenkugeln vom 10. August an den Tuilerien, kam mir jetzt die an einem Fenster des Louvres ausgestellte Schandschrift auf Karl IX. vor, welche sagt, daß er von hier aus mit einem Karabiner auf sein Volk geschossen habe. Hier schoß also der König auf sein Volk und dort das Volk auf seinen König; eins ist so sauber wie das andre. Welch ein Geschmack, die Schandflecken der Nation den Leuten durch Denkmähler ins Gedächtniß zu rufen; ist es nicht schon zu viel, daß die Geschichte davon sprechen muß! – Aber man wollte das Königthum verhaßt machen, und beging die Ungerechtigkeit gegen die Geschichte, aus dem Leben böser Könige die schrecklichste That herauszuheben, um sie zum Scheusal aufzustellen, und hingegen die Statue des guten Heinrichs umzuwerfen und das 175 Grab des heiligen Ludwigs zu entweihen; wodurch man zwar seinen Zweck erhielt, den Pöbel zu entflammen, aber damit auch eine größre Blutrache auf sich lud, als Karl IX. mit seinem Karabiner.

So wird aber die wahre Freyheit nicht gestiftet, so wenig als durch die öffentlichen Werkstätte der peinlichen Justiz die wahre Gerechtigkeit; und wer aus der abscheulichen Handlung eines Königs Haß gegen das Königthum schöpfen soll, darf auch mit gleichem Rechte um der Handlungen der Revolutionsmänner willen Haß gegen das Freyheitthum nähren.


Wer in einem Fiaker fahren will, muß sich mit kleinem Gelde versehen, denn die Kutscher machen immer Schwierigkeiten, wenn sie herausgeben sollen, und sich mit ihnen zanken ist für einen Fremden ein schlechter Gewinn; nicht so wohl, weil ein Fremder in diesem Labyrinthe nicht weiß, wo er sich Recht schaffen soll, als weil man hier nicht zankt, wie an andern Orten, denn auch der Zank hat hier seine Convenienz und der Zorn seine Sitte. Wehe dem, der diese nicht kennt und sich der Originalität seiner Leidenschaft überlassen, oder seine vaterländischen Ausdrücke des Unwillens ins Französische übersetzen wollte! Hier wird der Zorn in Spott gekleidet und der Schimpf muß zu lachen machen, sonst ist er nicht gültig, und kömmt, wenn er auch das größte Recht auf seiner Seite hat, 176 zu kurz. Ich hörte heute einen Schuhputzer mit einem Manne zanken, der ihn nicht bezahlen wollte, und erstaunte über das Besonnene und Abgemessene seiner Ausdrücke mitten im lebhaftesten Zorne; er wußte seinen Gegner mit einem Strome empfindlicher Reden zu beschämen, ohne ein unanständiges Wort zu sagen. Wo findet man das anderswo? – Aber es war auf einem offenen Platze unter einer Menge von Leuten; ob es unter vier Augen auch so höflich abgelaufen wäre, ist noch die Frage. Denn das ist eben des Parisers souveräner Grundsatz, welchem Vornehme und Gemeine bis in den Tod getreu bleiben, sich der Beobachtung vortheilhaft zu zeigen, und vor der Welt alles mit bonne grace zu thun. Nach dieser Maxime bildet er seine Geberden, seine Sprache, und sein ganzes gesellschaftliches Leben. Daher bey den Vornehmen dieser leise Ton, dieser Schein von Geduld und Theilnahme, diese oberflächliche Harmonie, diese Furcht vor Eigenheiten und »cet esprit fondé sur les phrases qui circulent,« und bey den Gemeinen die behutsame und doch leichte Manier in Ausdrücken, die Mäßigung im Affecte, das Schönreden mit Unbekannten, und die bey allem Freyheitsstolz sclavische Unterwerfung unter das, was öffentliche Manier ist.

Am meisten muß ich mich über die Leichtigkeit ihrer Sprache verwundern, denn es ist unglaublich, mit welcher Wohlredenheit man hier alles zu sagen weiß, und mit welcher Bereitwilligkeit sich ihre Worte ihrer 177 Vernunft, öfters auch nur einem Analogon derselben, anschmiegen. Sermo datur cunctis... kann man nirgends mit mehr Recht sagen.

So entsteht ihre Höflichkeit, eine Halbtugend, worin es die Pariser vor aller Welt am weitesten gebracht haben, und diesen Ruhm muß man ihnen lassen; denn wenn sie auch gleich nichts weiter ist, als Gefälligkeit in Worten, so ist doch dieß schon ein Verdienst, das jedermann behagt, und auch oft den Betrug versüßt, da hingegen die Grobheit niemand als sich selbst und der Schadenfreude gefällt.

Man würde sich auch irren, wenn man annehmen wollte, nach der Revolution seyen jetzt die Pariser weniger höflich; ich glaube vielmehr, sie seyen es mehr als vorher, aus dem gleichen Grunde, warum, nach Brydone, auf der Insel Malta mehr Lebensart herrschen soll als irgendwo, weil nun jeder von dem andern Genugthuung fordern kann, und daher keine verächtliche Behandlung mehr geduldet wird. Was in dem Sturme der Revolution geschah, wo der Teufel los und Grobheit an der furchtbaren Tagesordnung war, darf nicht dagegen gezählt werden, eben weil es ein vorübergehender Sturm war, auf welchen die natürliche Heiterkeit bald wieder folgen mußte.

Inzwischen ist Höflichkeit noch so weit von Dienstbereitwilligkeit verschieden, als Wort von That; auch kann gewiß mancher kalte und trockene Ausländer in dieser letztern wirklichen Tugend den aufmerksamsten 178 und geselligsten Franzosen beschämen, und wenn der Unterschied wirklich zwischen zwey Nationen sich fände, daß die eine höflicher und die andre dienstfertiger wäre, wer wollte nicht lieber zur letztern gehören? Ich bin weit entfernt, schon ein Urtheil fällen zu wollen, aber das muß ich doch sagen, daß ich bey dem ersten Besuche, den ich hier machte, ungeachtet aller dringenden Empfehlungen, so ich mitgebracht hatte, und aller Höflichkeit, womit ich empfangen wurde, verlustiges Geld auf meinen Wechsel herausbekam; und an dem zweyten Orte, wo ich einen Brief abzugeben hatte, ernstlich vor dem abscheulichen Geldhunger und Betrug, der hier herrsche, gewarnt und mir gesagt wurde, ich werde das Point d'argent point de Suisse anwendbarer auf die Franzosen als auf meine Landsleute finden.


Da heute die Andromache des Racine gegeben wurde, so war das Schauspielhaus (Théâtre français) schon zwey Stunden vor dem Anfange so voll, daß ich kaum noch ein Plätzchen auf dem Parterre fand. Ich hatte also Zeit genug, den wohlgemahlten aber etwas abgenutzten Vorhang zu betrachten, und die sonderbare Bauart der Logen, von welchen die untern ganz kahle Oeffnungen ohne Ausladung und Verzierung sind, hingegen springt bei den mittlern plötzlich eine reiche jonische Säulenordnung hervor, die zwar an sich niedlich ist, aber zu sehr gegen die Gemeinheit 179 der ersten absticht, um ein schönes Ganzes auszumachen; daher rief auch einer, der neben mir saß, aus: C'est un château bâti sur des hameaux!

Schon in der Oper hatte ich in den Logen die große und vornehme Welt mit ihrem imponirenden Gepränge vermißt, und hier noch mehr, wo in den ersten Plätzen alles so kunterbunt und gedrängt saß, daß man sich kaum regen konnte. Ich weiß wohl, daß es hier zu Lande kein Vorrecht der Geburt, der Ehrenstellen oder des Geldes geben soll, das sich Ehrenplätze auswählt, um von da auf andre hinabzusehen oder ihrer gar nicht zu achten, und das ist auch ganz recht. Aber das Theater hat seine eigne Welt, in der alles idealischer Schein ist, und alles sich nur in der abgemessensten Rangordnung bewegt und erhält. Sollte aber da, wo Könige und Helden uns zur Ehrfurcht, und edle Unglückliche zur Bewunderung oder zum Mitleid hinreißen, nicht auch eine der Natur des höhern Schauspiels analoge ernste Würde außerhalb des Vorhangs Platz haben, damit die Wahrheit der Fabel und des Spiels nicht durch den Widerspruch im Betragen der Zuschauer leide? Wenn man auch die Schaubühne nicht als eine Schule der Sitten ansehen will – sie ist es aber doch – so sollte sie doch, nur als Kunstwerk betrachtet, das durch die Personifikation der Geschichte unser Gemüth erheben will, von einem ihrem Zwecke angemessenen äußern Anstand unterstützt seyn. Wie sehr könnte dieser befördert werden, wenn statt 180 der buntscheckigen Menge nur solche Personen zu den ersten Plätzen Zutritt hätten, deren Gegenwart durch ihre innere oder äußere Vorzüge Ehrerbietung befiehlt. Wenn solche Ehrenplätze mit den Würdigsten besetzt sind, wenn in einer Loge der erste Consul mit seinen Gehülfen, in einer andern große Generale und Staatsmänner säßen, wiederum andre für berühmte Gelehrte, für das ehrwürdige Alter oder ausgezeichnete sittliche Verdienste bestimmt wären, und auch angesehene Fremde einen besondern Sitz hätten, so würde dadurch dem Schauspiel selbst, diesem schönsten menschlichen Zeitvertreibe, Ehre gemacht, und der große Haufe, der nie sich selbst beherrschen kann, wenn er keinen Herrn sieht, in den Schranken der Dezenz gehalten werden. Denn jetzt, da in den ersten Logen die gleiche muthwillige Unruhe herrscht, wie in den letzten, da alles in vermischten Haufen zusammen sitzt, frech herumgafft, sich zuwinkt, mit Gläsern beguckt, aus und ein geht, erhält die Versammlung den Anschein von Unwissenheit, Geschmack- und Zügellosigkeit, den sie wohl nicht verdient.

Diesen Anschein vermehrt noch, wenigstens für den Fremden, das unerträgliche Klatschen, das unaufhörlich aus allen Ecken des Hauses ertönt, und mehr ungeduldige Reizbarkeit als wahres Gefühl verräth. In ihrer übermäßigen Lebhaftigkeit unterbrechen sie durch Klatschen jede Empfindung in ihrem höchsten Punkte, und treiben es so lang, bis sie sich und 181 andere aus der Empfindung herausgeklatscht haben. Indessen steht der arme Schauspieler, mitten in seinem Affekte unterbrochen, entweder cataleptisch da, oder er hilft sich mit stummer Geberde, so gut er kann, selten aber auf eine geschickte Art, weil es mehr als schwer ist, zugleich der Gegenstand des lautesten Beyfalls zu seyn und eine fremde Rolle zu spielen. Würden nur die vorzüglichsten Schönheiten beklatscht, und kurz genug um das Spiel nicht zu unterbrechen, so möchte es noch angehen; aber auch das Mittelmäßige findet hier wie allenthalben seine Bewunderer, und diese sind desto lauter, je weniger Verdienst ihr Beyfall hat, und am lautesten, wenn man gegen dieß »Menschenrecht« Bewegungen machen will.


Hier also das französische Trauerspiel in seiner Vollkommenheit, dachte ich. Meine Erwartung war gespannt. Auf der einen Seite erinnerte ich mich des harten auswärtigen Tadels, auf der andern des überschwenglichen einheimischen Lobes; ich fand aber beydes übertrieben. Wer hier persönliche Wahrheit verlangt, charakteristische Züge individueller Natur, der sucht was er nicht finden wird. Dichter und Schauspieler fürchten sich vor dem natürlichen Leben, und aus Scheu gemein zu seyn, werden sie zu allgemein. Das wird nun freylich mit der Würde der Tragödie 182 und dem Charakter der Nation entschuldigt, indessen fällt es doch jedem unbefangenen Fremden auf, ehe er daran gewöhnt ist; er muß es aber bald werden, glaube ich, um der mancherley äußerlichen Vorzüge willen, welche die tiefer liegenden Mängel bedecken. Diese Vorzüge, die ich um so viel mehr bewunderte, weil sie der ganzen Bühne gemeinschaftlich sind, bestehen in dem Adel der Sprache, in der Zierlichkeit der Declamation, Kunst und Lebendigkeit des mimischen Ausdrucks, dem feyerlichen Anstande, der sich nie vergißt, und auch in dem letzten Schauspieler noch harmonisch mit dem Ganzen erscheint. Hier wird der tragische Dichter studirt, oder die Schauspieler und Zuschauer sind schon aus alter Bekanntschaft mit ihm vertraut, sein Geist und seine einzelnen Schönheiten werden gefaßt, und mit der berechnetesten Aufmerksamkeit auf den Geschmack des eingebornen Publikums vorgetragen. Da dieser Nationalgeschmack sich nur mit den äußerlichen Zeichen heroischer Leidenschaften begnügt, und nicht die ursprüngliche Stimme des Herzens vernehmen will, so können die daher entspringenden Mängel auch nicht dem Schauspieler zugerechnet werden, um so viel weniger, da auch die Dichter nach dieser Volkseigenheit sich bequemen. – Wenn auch das Stück nicht alles leistet was es sollte, so leistet doch der Schauspieler das, was sein Publikum von ihm erwartet, in der möglichsten Vollkommenheit, und ersetzt durch ästhetische Wirkung auf die 183 Einbildungskraft und den Verstand des Zuschauers, was ihm an unmittelbarer Berührung der Seele abgeht.

Es war mir immer, ich sähe den Geist Ludwig XIV. über der Bühne schweben, mit seinem angebornen königlichen Anstand und seinem falschen Ideal von Größe, woraus seine abgemessene Feyerlichkeit, sein oberflächlicher Glanz und das gespannte Bestreben, immer bedeutend und wichtig zu seyn, entstand, und die Anmaßung der Unfehlbarkeit in Urtheilen über Gegenstände des äußerlichen Lebens, welcher ganz Europa so unbegreiflich huldigte, und welche auch die großen Dichter jener Zeit zwang, ihre Ruhmbegierde diesem mehr königlichen als menschlichen Veto zu unterwerfen, und die Ausflüsse ihres Geistes in den monarchischen Damm zu leiten, der alles ausschließend, was gemeine Natur verkündigte, zwar den edeln Geschmack sicherte, aber auch manche originelle Quelle des Genies im Entstehen hemmte. Da große Menschen des Zeitalters dieser herrschenden Ansicht ein vollkommenes Genügen und selbst in diesen Banden noch viel leisteten, und keine größern nachfolgten, so wurden ihre Werke zur nothwendigen Regel gemacht, deren Gewalt mit ihrem Nutzen und Schaden sich noch auf den heutigen Tag erstreckt.

Schon lange aus schriftlichen und mündlichen Nachrichten mit dem französischen Theater bekannt, mußten sich mir jetzt bey eigner Vergleichung zwischen dem Gehörten und Gesehenen, und zwischen Gedicht 184 und Spiel diese und andere allgemeine Betrachtungen leicht darbiethen; über den künstlerischen Werth einzelner Schauspieler aber war ich noch nicht im Stand ein Urtheil zu fällen, weil man keinen Menschen, der eine öffentliche Rolle spielt, richtig beurtheilen kann, ohne ihn persönlich zu kennen, das ist, ohne mit seinen Eigenthümlichkeiten, dem, was ihm die Natur aus Liebe oder aus Haß gab, vertraut zu seyn, um nicht, welches so oft der Fall ist, an Idiosynkrasien zu hängen, und das wahre Talent zu übersehen.

Doch kann ich über Talma, der den Orest spielte, nicht schweigen. Der Verstand, womit er, ausgezeichnet vor allen andern, seine Rolle vortrug, machte mir ihn gleich anfangs schätzbar. Es war nicht bloße hergebrachte Manier der Declamation, sondern Gefühl dessen, was er sagte, und ohne die nothwendige tragische Würde zu vergessen, wußte er Wahrheit und Leben auch in den längsten Reden beyzubehalten. – Ob er im Affecte nicht zu oft die Hände über dem Haupt schüttle, ob sein Kopf nicht zu rund und sein Gesicht zu kleinlich für diese großen heroischen Rollen sey, wage ich noch nicht zu sagen, ob es mir gleich so vorkam; denn dieses sind eben jene vorübergehenden Eindrücke unvollkommener Neuheit, welche bald vor dem Uebergewicht der Trefflichkeiten verschwinden müssen.

Auch im Costüm zeichnet er sich aus, und scheint der Wahrheit desselben ernstlich, ja ängstlich 185 nachzustreben. Die emporgekräusten schwarzen Haare fallen freylich jetzt weniger auf, weil sie gerade Mode sind; aber die bis hinter die Elbogen nackten Arme hätten meiner Meinung nach mit fleischfarber Seide bekleidet seyn sollen. Ihre blasse Farbe und starken männlichen Muskeln gaben ihnen unter dem reichen farbigen Gewande ein trockenes und mageres Ansehen, das den heutigen Geschmack, der nicht gewohnt ist, nackte Mannsarme zu sehen, beleidigt. Der griechische Orest mag freylich keine seidenen Ermel getragen haben, aber der französische darf es gleichwohl thun, thut und sagt er doch noch vieles, das eben so wenig griechisch ist. Des Euripides Orest in der Maske und den Kothurnen mag dem Sohne des Agamemnon eben auch nicht sehr ähnlich gesehen haben. – Das Costüm des Theaters muß, so wie es Empfindung und Sprache auch ist, theatralisch, das ist, sublimirte Natur und nicht bloße historische Wahrheit seyn, und sich daher auch nicht allzustrenge weder an die alte noch neue Mode binden, um nicht durch jene zu fremde und durch diese zu alltäglich zu werden.

Uebrigens ist es doch ein großer Unterschied, ein Stück nur zu lesen oder von einem solchen Schauspieler aufführen zu sehen, denn so ein geschickter Mann weiß oft gerade das am meisten zu beleben, worüber man im Lesen kalt hinweggeht. So hat der letzte Auftritt, wo Orest den Geist des Pyrrhus zu erblicken glaubt, nie keinen Eindruck auf mich gemacht, sondern 186 ist mir immer nur als ein Handwerkskunstgriff des Dichters vorgekommen, um dem Pylades Gelegenheit zu geben, seinen Helden lebendig zu retten. Aber die erstaunliche Kunst, womit Talma nach und nach in diesen Zustand der Gemüthsverwirrung hineintrat und stufenweise bis zur Wuth und Ohnmacht fortschritt, erschütterte mich, und stellte mir ein eigenthümliches Gemählde dar, wovon das Verdienst allerdings mehr dem Schauspieler als dem Dichter zu gut kommt. Solche Darstellungen, deren Lebendigkeit und Gewalt keine lesende Phantasie sich ersinnen kann, sind es, die dem Schauspieler seinen Werth geben, und ihm in der ästhetischen Schöpfung einen der ersten Plätze anweisen. Nur Schade, daß er seinen Nachruhm nicht wie andere Künstler durch bleibende Werke fixiren kann, sondern bloß dem Nahmen nach in der Tradition und dem Rufe, den sein Zeitalter hat, fortlebt! »Le rôle d'Oreste fit crever Montfleuri« ist alles, was man noch etwa, wenn von der Andromaque die Rede ist, von dem Manne sagt, dem seine Zeit Bewunderung zollte, man eilt kalt bey seinem Denkmahle vorbey, denn sein Werk ging mit ihm ins Grab. Was ist uns von Baron übrig geblieben, der alle Herzen an sich zog, und wie sein Publikum (und er selbst) sagte, alle Gaben der Natur in sich vereinigte! Was von der gepriesenen Champmelé, die von dem zärtlichen Racine selbst ihre Bildung empfing, und von der sie sagten, in Aulis seyen nicht so viele Thränen um die 187 wahre Iphigenia geflossen, als sie in dem Trauerspiele dieses Nahmens den Zuschauern zu entlocken gewußt habe! Jetzt weint kein Auge mehr um sie. – So geht und ging es allen. Selbst Garrik seufzet,Prologue to the clandestine marriage. daß der Ruhm eines Schauspielers kaum ein halbes Menschenalter daure, und diesem dürfen getrost alle andern nachseufzen, denn auch Er gilt jetzt schon nicht mehr, was er im Leben galt, weil seine superiore Gegenwart nicht mehr alle Kritik entwaffnet, und keine Beschreibung den Mangel bleibender Kunst ersetzen kann.

Unterdessen ist der Beyfall, den große Schauspieler unmittelbar einernten, ein Ersatz für den Ruhm, der andere Künstler öfters erst nach ihrem Tode erreicht, wenn sie sich dessen nicht mehr freuen können. Verzeihlicher als bey allen andern ist daher auch die Eitelkeit bey diesen Menschen, die nie anders als unterm Lärm der Bewunderung vor dem Publikum auftreten, und um deren Umgang sich die Großen beneiden, von deren Reisen die Zeitungen sprechen, oder die sich wohl gar wie Ifland die hohe Gnade ausbitten dürfen, Fürsten vertraulich die Hand zu biethen. Verzeihlich auch, wenn sie mit eigenen Lebensbeschreibungen der Unsterblichkeit entgegen gehen wollen, die ihnen ihre bessere Kunst nur halb gewährt.


188 Mlle. Volnais, ein noch sehr junges zartes Mädchen, spielte die Andromache, und Mlle. Raucourt, eine ältliche junonische Gestalt, die Hermione. Diese mit aller Zuversicht auf gewohnten Beyfall und mit der Sicherheit vollendeter Kunst, jene mit liebenswürdigem Mißtrauen in ihre noch ungeübten Kräfte, aber mit feinem Gefühl und richtigem Sinn. Sie durfte in jugendlicher Bescheidenheit es noch nicht wagen, sich zu dem Heldenschritte, den (allerdings zierlichen) antiken Stellungen und dem plötzlichen Contrast der Töne zu erheben, worin ihre Nebenbuhlerin auch da, wo es ihre stürmische Rolle nicht erforderte, ihre Kunst zeigte, sondern blieb durchgehends in den natürlichen Schranken edler sanfter Weiblichkeit, und gewann dadurch die Herzen der Zuhörer. Sie wird aber dabey nicht bleiben, sondern hingerissen werden, gleich den andern, zu den hochtrabenden Theatermanieren, welche die Gewohnheit der Nation erfordert, von deren Uebertriebenheit aber, mehr noch als der Tadel der Ausländer, gerade der vorzügliche Beyfall zeuget, den die Zuschauer selbst dem ungeschminkten Spiele dieses feinen Mädchens zu geben sich gedrungen fühlten.

Wenn ich nur die Kraft des Erkenntnißvermögens besäße, welche die Gesetzgeber der menschlichen Vernunft fordern, nicht nur im Denken, sondern sogar im Empfinden alle Vorstellungen abzuhalten, die nicht in den Kram dienen, so hätte ich mit dieser kleinen Andromache ganz zufrieden seyn können, aber so 189 wollte mir die zum Sprüchwort gewordene Größe der Griechin nicht aus dem Sinne; omnibus Andromache visa est spatiosior aequo, sagten die Alten; und da hätte sich wohl in jeder Rücksicht die Raucourt besser zu dieser Rolle bewährt gefunden. In. übrigen mag diese in ihrer Jugend vortrefflich gewesen seyn, aber jetzt scheint es ihr zu gehen, wie vielen alternden Poeten und Künstlern, daß der Geist zu Manier wird.

Am Ende wurden noch Orest und Andromache aufgerufen, sich sehen zu lassen, und als dieses nicht sogleich geschah, heulten und schrien und stampften die Zuschauer auf eine Art, die eben nicht von schönem Enthusiasmus zeugte, bis endlich Talma und Volnais Hand in Hand auf die Hälfte des Theaters kamen, sich tief bückten, und dann der Vorhang unter heftigem Geklatsche fiel.


Nun begriff ich auch, warum den Franzosen Stellen aus ihren Dichtern, besonders aus dem Racine, so geläufig sind, wie uns heilige Sprüche oder alte Sentenzen. Bey der unbegrenzten Bewunderung, die sie für ihre Nationalschaubühne haben, müssen ihnen diese für ihre Ohren so harmonischen Verse, und dieser classische, für ihren Geschmack so poetische, Styl als das Höchste seiner Art erscheinen, und ihnen durch die ausgebildete, die Sprache in ihrer Vollkommenheit 190 darstellende Declamation ihrer Schauspieler, denen kein verfehlter Laut nachgesehen wird, leicht ins Gedächtniß geprägt werden. Dazu kommt noch, daß hier Griechen und Römer, Juden und Türken alle aus französischem Herzen sprechen, und dadurch so manchem schönen Verse eine leichte Accomodation auf die öffentliche und geheime Geschichte des Volkes gewähren. Wir Deutsche hingegen, die wohl schon manches classische Buch, aber noch keine eigne classische Litteratur haben, müssen uns in Demuth mit ausländischen Quotationen und Citationen, oder mit alten heiligen und profanen Stellen behelfen, die zwar einigen Schatten auf unser vaterländisches Selbstgefühl werfen, jedoch an Schönheit und praktischem Nutzen gewöhnlich jenen nicht nachstehen.


Ein Bekannter führte mich noch in das Caffé des mille colonnes, um auf den weichen Lehnstühlen von den harten und gepreßten Sitzen des Parterres auszuruhen. Es hat seinen prächtigen Nahmen von den vielen niedlichen Säulen, womit die Wände ringsum verziert sind, die sich in den großen Wandspiegeln in unendlicher Zahl verlieren. Ein neuer lockender Aufenthalt für die, welche alle Tage herrlich und in Freuden leben wollen; nur kam es mir bedenklich vor, daß an jeder Treppe aller dieser Wohnplätze des sinnlichen Genusses ein armer Lazarus liegt, der Euch um 191 die Brosamen euers Ueberflusses anspricht. Zwar scheint dieß niemand groß zu achten, Ihr könnt auch diesen unangenehmen Anblick leicht beym Eintritt in das glänzende Gemach vergessen, ob Ihr aber in Zukunft nicht wieder einmahl daran erinnert werdet, das weiß ich nicht. –


Deinde eo dormitum, non sollicitus mihi quod cras
Surgendum sit mane - Victurus suavius, ac si
Consul avus, pater atque meus, patruusque fuisset.

                                          Horat.

 


 


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