Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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In seinem bescheidenen Heime saß Herr Könnecke. Die Abendsuppe war gegessen, die Kartoffeln in der Schale – so recht locker, aufgebrochen, wie er sie liebte – dufteten vorzüglich, das Bier schien auch noch frischer, schäumender als sonst, und es drängte Herrn Könnecke, zu seiner Kusine, die ihm den Haushalt führte, zu sagen: Selma, meinst du wohl, daß reichere Leute glücklicher sind als wir? Aber er vermochte das nicht; es nagte ihm am Herzen, daß er durch ein gutmütig gegebenes halbes Versprechen im Begriff war, diese Häuslichkeit zu zweit zu stören. Aber es mußte heraus. Er sog nachdenklich an seiner Zigarre, und endlich sagte er: Selma, wie wäre es wohl, wenn wir ein Zimmer vermieteten? – Fehlt dir etwas an Bequemlichkeit? fragte sie dagegen; – meinst du, durch ein bißchen Nebenverdienst könntest du sie bekommen? Genügt dir dein Gehalt nicht? Und das, was ich durch meiner Hände Arbeit verdiene? O Wilhelm, ich will mich ja gerne noch mehr abarbeiten als ich tue – das heißt – was tue ich denn eigentlich? Ich lebe ja wie eine Prinzessin! Wie viele Menschen gibt es, die überhaupt nichts haben! Und ich, ich habe doch dich, du Einziger, Geliebter! – Herr Könnecke errötete: Selma, wenn dich jemand so reden hörte, könnte er wirklich auf unreine Gedanken kommen; ich weiß ja, daß du dir nichts Schlimmes dabei denkst, aber du bist manchmal so übertrieben in deinen Ausdrücken! – Sofort schoß die dunkle, von ihm so gefürchtete Röte auf ihre Stirn: Wenn ich dir nahestände – sagte sie leidenschaftlich, und ihre Augen wurden feucht – dann könntest du nicht so reden; jedes warme Wort von mir würde dir wohltun. Auf Liebe habe ich ja verzichtet – du weißt, daß ich verlobt war und daß er starb – aber wenn einen nun noch unsere nächsten Angehörigen verwunden, kaltherzig sind, wenn man um ein ganz klein wenig Wärme bittet – sie preßte ihre Lippen zusammen, und aus ihren Augen liefen Tränen. Er erhob sich und wollte den Arm um ihre Schulter legen, sie wehrte ab: Mitleid will ich nicht! Wenn die Liebe nicht von Herzen kommt, wenn man einander nicht begegnet in demselben Gefühl – sie riß an ihrem Taschentuch und murmelte heftig: Lieber in die Grube fahren, Sargdeckel zu, Erde drauf, fest gestampft, gut, daß sie tot ist, fertig! – Es war nicht das erstemal, daß Fräulein Nippe so redete. Herr Könnecke geriet dann jedesmal in eine hilflose Verlegenheit, da er auch nicht das geringste darauf zu sagen wußte. Es kam bei ihr plötzlich und fast immer dann, wenn er am wenigsten darauf gefaßt war. – Jetzt hustete er leise, tief und unglücklich. – Wenn ich nur wüßte, sagte sie nach einer Weile ruhiger, was ich noch für dich tun kann, um dich glücklich zu machen! Ich würde ja, um andere zu beglücken, mir das Hemd vom Leibe reißen; – direkt vom Leibe reißen, wiederholte sie, indem sie in eine Ecke starrte und sich selbst in dieser Tätigkeit beschäftigt sah, – aber ich frage: Was nützt das alles, wenn man nicht einmal anerkannt wird, wenn man dafür mit Steinen beworfen wird? Und Steine auf den nackten Körper – setzte sie hinzu – schmerzen noch mehr als auf den bekleideten! – Jetzt ergriff Herr Könnecke das Wort: Er gab zu, daß sie engelsgut sei, er hege die tiefste Dankbarkeit gegen sie, aber – und er erhob unglücklich seine Stimme: Ich kann dir das doch nicht Tag für Tag mit Worten wiederholen! Ich bin nun mal nicht so! Habe ich je in meinem Leben etwas Böses zu dir gesagt?

Sie ging auf ihn zu, glitt an ihm nieder und drückte seine Knie, daß er ganz verlegen erst das eine, dann das andere Bein in die Höhe zog. Auf einmal sprang sie auf, setzte sich auf einen Stuhl am Tisch, faltete die Hände und sah ihn strahlend an: Nun sage mir, du Wonniger, wie meinst du das mit der Stube? – Er wollte zunächst das «du Wonniger» beanstanden, unterließ es aber, erzählte dann sein Zusammentreffen mit Elfriede van Loo und fügte hinzu, daß der Herr Sintrup morgen kommen wolle, um sich alles anzusehen. – Und mit dieser einfachen Geschichte hast du so lange gezögert? Komischer Mann! Schweifst ab, anstatt bei der Sache zu bleiben, redest von hundert andern Dingen und quälst mich, und dabei ist doch alles so klar – ich wüßte gar nichts, was klarer sein könnte! Aber die gute Stube bleibt, wie sie ist; er bekommt mein Zimmer, und ich ziehe in die Kammer. Mir schadet das gar nicht. Junge Leute müssen Bequemlichkeit haben; ach, wie ich sie liebe, diese goldene Jugend! – Sie lief auf den Vorplatz und kam gleich darauf zurück, den Kopf mit einem billigen rosa Theaterschal umhüllt: Sitzt er recht? fragte sie und lächelte. – Sie wollte noch heute abend schnell zu einer Tante rennen, in deren Besitz einige ihrer Möbel waren; er versuchte, ihr das auszureden, aber sie sah ihn grimmig von der Seite an. – So blieb er allein zurück, setzte sich in den Lehnstuhl, rückte ihn so, daß er nicht wackelte, seufzte tief und sagte: Ach Gott! – Und dann dachte er: Es ist gut, daß sie noch an die frische Luft kommt, die Arme! Immer plagt sie sich für andere Menschen, und sie hat ganz recht: ich zeige es ihr nicht genug, daß ich sie liebhabe. – Er dachte sich aus, wenn sie nach Hause komme, solle der Kaffeetopf dampfend auf dem Feuer stehen. Zu diesem Behuf erhob er sich, schnitzte Holz zum Herdfeuer, und dann klemmte er die Kaffeemühle zwischen die Knie.

Am nächsten Tage begegneten sich die zwei in demselben Ziele: Jeder wollte auf sein eigenes Zimmer verzichten und in die Kammer übersiedeln, jeder wollte dem andern wohltun. Aber Fräulein Nippe siegte: Sie preßte die Zähne aufeinander und riß die Augen weit auf, indem sie ihn zur Schwelle drängte mit all ihren Kräften. Er mußte in sein eigenes Zimmer, sie verriegelte ihn von außen. – Licht! Luft! Und Liebe! hörte er sie jammern, auf Liebe habe ich ja verzichtet, aber Licht und Luft verliere ich nun auch noch! Dieses elende dunkle Loch! – sie stürzte zum Fenster und riß die Flügel auf – und dann jammerte sie weiter, daß gerade sie vom Schicksal ausersehen sei, alle Marter der Welt zu tragen.

Als Pitt erschien, war das Zimmer fertig eingerichtet, obgleich sie ja nicht einmal wußte, ob sie es nun auch vermieten würde. Herr Könnecke hatte ihr erzählt, Fräulein van Loo habe zu ihm gesagt, der Herr Sintrup müsse es gemütlich und heimisch haben. So sagte sie denn, um es ihm recht warm ums Herz herum zu machen, sogleich: ihr eigenes Lebensgebäude sei ein luftig durchbrochener Bau, in den überall die Sonne hineinscheine; ihre eigene Wärme strahle über auf ihre Umgebung: Wo ich erscheine, verbreite ich Behaglichkeit und Vergnügen. – Vergnügen schon – sagte Pitt ernsthaft. – Nun sehen Sie! Und die Behaglichkeit wird sich auch noch einstellen! – Pitt machte dieses Fräulein Spaß. Herr Könnecke erschien neben ihr wie die menschgewordene epische Breite, und er dachte: Für ein paar Wochen wenigstens kann ich es immerhin versuchen. Er mietete. – Am Nachmittage zog er ein: Fräulein Nippe hatte in aller Eile einen Kuchen gebacken, und das Willkommschild nagelte sie gerade an die Tür, mit viel zu langen Stiften, die klaffend ins Holz fuhren, als er die Treppe heraufkam.

Zu Anfang war es ihm, als befinde er sich in einem Lustspiel; nach und nach erfuhr er ihre ganze Lebensgeschichte, an die sie Sentenzen mit verfehlten Bildern knüpfte, und zu solchen Sentenzen reizte er sie immer wieder. Aber allmählich fing sie an, sich zu wiederholen, und nun begann sie ihn zu langweilen. Sie ihrerseits begriff nicht, warum seine Tür immer verschlossen war, wenn sie zu ihm herein wollte. Alles war doch so gut gegangen, zu Anfang! Ach! immer drängte ihre stürmische Seele vor, die Frucht zu pflücken, ehe noch die Blume voll entfaltet war; die Menschen waren einmal so sonderbar: langsam wollten sie erwärmt werden, anstatt sich direkt ans Herz schließen zu lassen, wie es doch das Natürlichste war. Sie beschloß, still zuzuwarten und es der Zeit zu überlassen, seine rauhe Schale «aufzutauen». Herr Könnecke hielt sich von Anfang an in angemessener Entfernung, nachdem er zuerst gehofft hatte, abends ab und zu mit ihm und seiner Kusine «Schwarzer Peter» zu spielen; er spielte auch eigentlich gern mit ihr allein Schwarzer Peter, aber sie fand es langweilig, da jeder immer wisse, was für Karten der andere habe und gar kein Geheimnis dabei sei. – Pitt hatte in Bälde sich den Tonfall beider angeeignet und erfreute Elfriede zuweilen damit, daß er einen Dialog zwischen ihnen improvisierte, wobei ihm dann blitzartig auch entlegenere Seiten ihrer Charaktere klar wurden, die er vorher noch nicht beachtet hatte. Ich glaube aber, sagte er manchmal, ich ziehe bald wieder aus; es wird mir langweilig, immer dasselbe zu sehen.

Der einzige Platz, wo er sich wirklich wohl fühlte, war das Haus der van Loos, und, von einer inneren Unruhe getrieben, erschien er zu den verschiedensten Tageszeiten dort, redete oft gar nichts, setzte sich in einen Sessel und hörte Elfriede spielen. Zu Anfang hielt sie ihn für ganz unmusikalisch, denn er kannte sehr wenig und verwechselte oft die Namen der größten Meister; dann wieder verglich er Werke, die sie spielte, mit seiner zögernden, sicheren Stimme in so nachdenklicher Weise, daß ihr eigenes Urteil zuweilen unsicher wurde. Anfänglich erschien ihr manches, was er sagte, beinah toll, und sie lachte einfach. Nie ließ er sich dadurch beirren; dann dachte sie darüber nach, und endlich schien es ihr, als könne er recht haben und sie unrecht. Langsam bildete sie sich nach seiner Weise, und oft, wenn sie mit andern redete, ertappte sie sich dabei, daß sie Dinge sagte, die sie zwar nicht von ihm gehört hatte, die aber seiner Art des Wesens entsprangen.

Pitt vergaß die ganze Vergangenheit, und um so mehr erschreckte ihn eines Tages eine Postkarte, worauf sich sein Vater zum Besuch anmeldete. Eine Geschäftsreise führte ihn in die Stadt, und er wollte nicht versäumen, mit seinem Sohne zusammen zu sein. – Pitt verwechselte die Morgenstunde seiner Ankunft mit der Abendstunde und traf seinen Vater erst mittags, zufällig, in seinem eigenen Zimmer.

Vorher aber fand eine längere Begrüßung und Ansprache von seiten Fräulein Nippes statt. Herr Sintrup war in seinem pompösesten «Habitus», ihr Herz war sofort im Sturm erobert. – Darf ich Ihnen vielleicht ein Gläschen Kognak anbieten? Ganz alten, echten! Und ehe Herr Sintrup abwinken konnte, war sie schon hinaus, holte ihn und kredenzte ihm das Gläschen mit einem kleinen Knix. – In der Tat vorzüglich! sagte Herr Sintrup und schnalzte mit der Zunge. – Noch einen? Noch ein ganz kleines Gläschen? Nur so ein ganz kleines Gläschen? Sie lächelte schelmisch, kredenzte abermals, und er nannte sie eine liebenswürdige Hebe. Der Kognak war wirklich hervorragend gut! Er fühlte sich etwas angegriffen von seinen Geschäftsgängen, und nach einem kleinen Zögern langte er mit einem: Ist es erlaubt? – zu einem dritten Gläschen selbst zur Flasche. – Dies war einmal jemand, der gern Gebotenes mit Selbstverständlichkeit annahm! – Ob er wohl Witwer ist? fuhr es ihr durch den Kopf. Und sogleich reihte sich ein anderer Gedanke daran: Könnte ich bei dem nicht Hausdame werden? Diese gutfrisierte, herrlich bartbeschnittene Gestalt! Diese freien, kernigen Augen unter den männlichen, leicht ergrauten Brauen! Hatte er nicht etwas ganz Witwermäßiges an sich, ja geradezu etwas Hahnreihaftes!? – Denn unter einem Hahnrei stellte sich Fräulein Nippe einen älteren, aber innerlich jugendlichen und feurigen Herrn vor, dem ein ganzer Hühnerhof von Frauen zur Auswahl steht. – Pitt hatte niemals von zu Hause einen Brief mit Frauenhandschrift bekommen; Fräulein Nippe wußte dies, denn sie las alles. Wie geht es der Frau Gemahlin? fragte sie aber doch zur Sicherheit und spürte einen kleinen Stich, als sie hörte, daß es ihr gut gehe, daß sie mithin noch existierte. Trotz allem aber – um so selbstloser war dies von ihr – machte sie ihm die schmeichelhaftesten Komplimente, die er etwas gönnerhaft, aber nicht ungern über sich ergehen ließ. Pitt kam nicht. – Er knipste ein paarmal an seiner Uhr – gewiß ein liebes Andenken? Und so kostbar! – und erhob sich. Er begriff nicht, daß sein Sohn nicht kam, nannte ihn rücksichtslos und redete davon, daß er ihm zutraue, womöglich erst zum Abendessen ins Hotel zu kommen. Bei diesen Worten regte sich etwas Liebliches in Fräulein Nippe, aber sie seufzte nur diskret, fragte nach dem Namen des Hotels – es war das allererste, teuerste – und das Liebliche regte sich noch stärker. – Da kommt er! ich höre den Schlüssel in der Korridortür! sagte sie plötzlich, und als Pitt erschien, zog sie sich sogleich taktvoll zurück und horchte während des Folgenden nur an der Zimmertür. Halloh! sagte Pitt unwillkürlich, als er jemand in seinem Zimmer stehen sah.

Nach der ersten Begrüßung machte ihm Herr Sintrup Vorwürfe, daß er niemals schreibe, daß er keine von den Besuchen gemacht habe, zu denen er ihm die Empfehlungen gab, daß er so oft von einer Wohnung in die andere ziehe, und endlich, daß er nicht einmal auf den Bahnhof gekommen sei. – Pitt wußte für all dieses Gründe anzugeben, die Herr Sintrup sämtlich für nicht stichhaltig erklärte. Er nannte ihn einen verlorenen Sohn, an dem seine Eltern keine Freude erlebten, und als er die vielen philosophischen Bücher auf seinem Tische liegen sah, verlangte er, daß da in Zukunft nur juristische zu liegen hätten. Pitt versprach alles, was er wollte, und damit war dies Kapitel, wie Herr Sintrup sich ausdrückte, erledigt. Während sein Vater sprach, wunderte sich Pitt darüber, wo die Kognakflasche herkam, aus der er sich ganz in Zerstreutheit ab und zu ein Gläschen einschenkte, das er auf einen Zug leerte. Donnerwetter! sagte Herr Sintrup, als sie sich endlich erhoben, um zum Mittagessen zu gehen – Fräulein Nippe zog sich bei dem Geräusch sofort zurück – mir ist so schwer in den Gliedern! Herr des Himmels, jetzt habe ich der den halben Kognak ausgetrunken! Alter französischer Kognak, das muß ein Erbstück sein. Ich muß ihn ihr irgendwie ersetzen. Er zog ein Goldstück aus dem Portemonnaie, warf es auf den Tisch und sagte, damit möge ihr Pitt die ganze Flasche abkaufen, es wäre gut bezahlt. – Das geht nicht, sagte Pitt. Herr Sintrup dachte nach: Immerhin war sie eine Dame! Es fiel ihm ein, was sie vorhin für Augen machte, als er vom Abendessen im Hotel redete, und er sagte zu Pitt: Ich könnte mich ja revanchieren, indem ich sie für heute abend ins Hotel lade! Nebenbei wäre es ein gutes Werk, die mal recht vollzufüttern, denn sie sieht höllisch mager aus. Überaus bedeutend ist sie zwar nicht, aber sie hat doch ein ganz nettes Wesen! – Pitt war damit einverstanden; er brauchte dann nicht den ganzen Abend mit seinem Vater allein zu sein. Fräulein Nippe wurde geholt, sie nahm strahlend und dankend an, und Herr Sintrup machte verwunderte Augen, als sie auch im Namen ihres Vetters dankte. – Um so besser, dachte Pitt.


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