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... Über alledem ist die Nacht hereingebrochen. Draußen neben dem Baumriesen stehen die beiden Zelte ... Zwischen ihnen flackert das Lagerfeuer, und an dieser knisternden Glut, vom Flammenschein umspielt, sitzen einsam und schweigsam Tikku und Wumbo. Zuweilen erhebt sich der Lamsi und schreitet lautlos in die Finsternis hinaus und macht die Runde. – Die Chis haben acht Tote gehabt, es mögen ihrer im ganzen fünfzig gewesen sein, sie sind abgezogen, geflüchtet ... Die blutige Lehre kühlte ihre wilden Hirne.

Acht tote Chis und MacLoow Barny haben wir begraben. Jetzt bin ich Herr der Expedition – so hat es Mac bestimmt.

Ich sitze in der Baumwohnung vor Macs Klapptisch vor der brennenden Karbidlampe und schreibe.

Schreibe ...

Neue Menschengeschicke enthüllten sich mir, neues fremdes Leid wurde mir zu neuer Erkenntnis. – Bellegard, Elsie, letzte Sprossen verarmten Adels – er vielleicht haltlos, wankelmütig trotz der prunkenden Stimme; sein Kind – ich weiß nicht, wie ich sie einschätzen soll. Elsie klingt so weich, und ich habe mir zugeschworen für immer: Nie wieder zarteren Gefühlen nachgeben – hart bleiben, steinhart – – wie der da draußen, der Lamsi Tikku, Sohn eines Häuptlings freien Bergvolkes, vom eigenen Vater verjagt, weil der für sein Ansehen fürchtete, weil der Sohn über ihn hinauswuchs ...

Neid, kleinlicher Neid eines fetten Tyrannen – – und vielleicht, vielleicht ein ähnliches Schicksal daher wie das des armen Mac, den auch der eigene Vater von heimischer Scholle jagte.

Menschenschicksale ...

Und eindrucksvoller hier in der Wildnis als in den fernen Steinwüsten der Metropolen, wo Mensch an Mensch achtlos vorübergeht und nur jeder seine eigenen Sorgen kennt.

Taito winselt im Schlaf zu meinen Füßen, bewegt die krummen Pfoten. Ihm steckt noch die Aufregung des Kampfes im Blute.

War es ein Kampf?! Was sind fünfzig Wilde mit Bogen und Pfeilen gegenüber vier Repetierbüchsen?! – Arme dumme Teufel, diese Chis! Daß sie mir Mac erschossen – – Fatum, Bestimmung!! Macs Lebensfaden war eben abgelaufen. Es sollte sein. Nun weiß ich, daß er drüben in Kanada droben bei Fort Chippeway eine Chippeway-Indianerin blutjung zum Weibe nahm, daß sein Prachtmädel eines Tages auf und davon ging mit einem fragwürdigen Burschen, daß Mac vor einem Jahr sein Kind, einziges Kind seines früh verstorbenen Weibes, in weiter Ferne jenseits der Sümpfe wiederzuerkennen glaubte an dem wehenden Schleier kupferroter Lockenpracht ...

Und ich, nüchternen Sinnes, Außenstehender, Unbeteiligter frage mich immer wieder:

Was treiben die Weißen dort inmitten des Morastes des Hochlandes der beiden Bergketten?!

Was?!

Luftschiff, Flugzeug ... – ich muß lächeln. Das klingt wie Jules-Verne-Erinnerungen oder wie Kapitel aus einem Abenteuerroman jener Jahre, als noch der fliegende Mensch für die Welt ein Wunder bedeutete. Das war einmal ...

Was treiben sie dort?! – Edelsteinschürfer?! – Wirklich?!

Nun – wir werden die Frage prüfen, und so wahr ich ein Mensch ohne Verpflichtung anderen gegenüber bin, ein freier Mensch: Mac soll mir nicht umsonst sein Geheimnis anvertraut haben! Ich kenne nun den Weg zu der Stelle, wo ihm die Schlinge über den Kopf fiel, ich werde diesen Weg finden und werde mir den Zutritt in jenes fremde, sumpfumgürtete Land erzwingen! Ich werde sehen, wie es Mita MacBarny geht, ich werde ...

Ja – werde ich es wirklich schaffen?! Hat Mac mich nicht gewarnt mit ersterbendem Flüstern vor dem dornigen Dschungel des undurchdringlichen Sumpfes, vor der Fieberluft, vor den nimmermüden Wachtposten jener Einsamen da, die keinen schonen, der auch nur Miene macht, ihr Land zu betreten?!

... Ich sehe durch die offene Rindentür am Feuer den prächtigen Lamsi ... Wieder erhebt er sich, wieder verschluckt ihn die Finsternis der sternenlosen Nacht. Sein Eifer erscheint mir übertrieben. Ich bin vorhin selbst zweimal am Rande der Lichtung gewesen und in den Wald eingedrungen und hatte Taito bei mir. Ringsum in den Baumkronen, die mit ihren Schlingpflanzen und Schmarotzergewächsen undurchsichtige Ballen bilden, hörte ich Affen schnattern und kreischen – jene großen wilden orangutanähnlichen Macacs, vor denen Leopard und Nebelparder schleunigst auskneifen ... Dort oben haben sie irgendwo ihre Nester – das frische Wasser des Baches hält sie an dieser Stelle, sagt Tikku. Wird wohl so sein.

... Durch die Finsternis draußen schweben in Schwärmen die großen Leuchtkäfer, ballen sich zusammen, lassen sich auf einem Aste nieder, bilden eine glühende längliche Traube. Man könnte an eine matt strahlende elektrische Lampe denken ...

... Durch die Finsternis schießen lautlos wie Tiere der Vorzeit die geschwänzten Flugeichhörnchen dahin, seltsame Geschöpfe – ihr helles Pfeifen stört mich, noch mehr das angstvolle Todesquieken ihrer Beute, junger Vögel, junger Baummäuse ...

Und fern, ganz fern schreit irgendwo ein Leopard. Es klingt unheimlich schrill, fast wie das Plärren eines Säuglings, das zu höchstem Diskant anschwillt.

Nun taucht Tikku abermals auf und tritt in die Rindentür ...

»Tuwan Olaf ...!«

Er heischt Gehör.

»Was gibt es, Tikku?«

»Es ist Zeit, Tuwan ...« sagt er nur. »Ich hörte die Chis schon dreimal mit ihren Bambusflöten die Stille des Waldes zerschneiden, ich kenne ihre Signale, Tuwan, am Morgen würden wir hier eingekreist sein.«

Bambusflöten – eine sehr zahme Bezeichnung!

Die Trompeten von Jericho dürften kaum vier Meter lang gewesen sein, und ob ihr Ton so trommelfellerschütternd gewirkt hat wie diese »zarten Flöten«, möchte ich füglich bezweifeln.

Mich beunruhigte diese Mitteilung. Ich hatte nichts von Signalen vernommen, kannte diese Bambustuben auch bisher nur vom Hörensagen. Ich wußte jedoch, daß ihr Schall außerordentlich weit dringt und daß er sich nur in der gewünschten Richtung fortpflanzt.

Tikku erklärte mit überlegenem Ernst: »Tuwan, du wirst die Töne für das Schreien von Leoparden gehalten haben. Bitte befiehl, daß wir aufbrechen. Inzwischen werde ich die beiden Späher, die von den Chis hier zurückgelassen wurden, stumm machen.«

»Späher – – hier?!«

Er nickte nur. »In den Bäumen, Tuwan ... Sie schnattern und grunzen wie die Affen, aber mein Ohr unterscheidet die Kehle des Macac von der eines giftigen Chi.«

»Ich komme mit«, entschied ich sofort. »Ich kann mir nicht denken, daß du ...«

Vor seinem hochmütig-sicheren Blick verstummte ich ...

Schleunigst packte ich mein Tagebuch in den Blechkasten und griff nach der Winchester, während Freund Tikku seinen mannsgroßen Bogen bereitmachte und vier Pfeile in den Lederköcher schob.

Taito schlich lautlos hinter uns drein. Die Dunkelheit umfing uns, und erst außerhalb der Krone des Kampfergiganten merkte ich, daß es sacht regnete. Es war nur ein lauer, feiner Sprühregen – Tikku glitt vor mir her wie ein Schatten, und der Hund Taito bildete die Nachhut. So näherten wir uns im Bogen der Südecke der Lichtung, wo es nur hohes Gestrüpp, buschartige, duftende Bäumchen voller heller Blüten und zwei vereinzelte Nadelbäume gab, eine Art von Koniferen, dreißig Meter hoch, aber ebenfalls durchsetzt von Lianen und Schmarotzern.

Tikku blieb stehen. Seine Hand hob sich – aber ich sah kaum, was er tat.

»Nicht schießen!« raunte ich ihm hastig zu.

Sollten noch zwei Chis hier ihr Leben lassen?! War das nötig?!

Plötzlich duckte er sich, ich vernahm ein eigentümliches Pfeifen, für eine Sekunde schoß eine blendende Lichtflut über uns hinweg, ich mußte die Augen schließen, ich glaubte an einen jähen Blitz – dann prallte mir irgend etwas gegen den Hinterkopf und gegen den Rücken – diesmal dachte ich an einen mich anspringenden Leopard, ich rollte in das Gestrüpp hinein ...

Und um mich her und in mir war die Finsternis der schwülen Tropennacht und die tiefe, wohlige Schlaffheit halber Bewußtlosigkeit. Mein Körper schien über alle Erdenschwere hinausgewachsen zu sein, ich glaubte zu schweben – hoch in den Äther hinein, und lag doch im nassen Grase mitten zwischen scheußlichen Dornen mit fingerlangen Stacheln. Undeutlich hörte ich wie aus endloser Ferne ein paar Schüsse, einen Schrei – – noch einen ...

Dann war ich wieder bei Sinnen, war imstande, mich aufrecht zu setzen, fühlte nun die Stiche der scharfen Nadeln, regte mich nicht mehr, starrte dorthin, wo nochmals spukhaft der weiße Lichtstreifen über die Waldblöße schoß und mir nur noch das flackernde Feuer neben dem Kampferriesen zeigte.

Nur das ...?!

War es trügerische Vision?!

Wo waren die beiden Zelte geblieben?!

Wo waren die Gefährten?!

Rufen? – Nein, das wäre Selbstmord gewesen, denn hier über mir in den beiden Nadelbäumen steckten die beiden Späher, und von Giftpfeilen halte ich nicht viel ... oder zu viel. Macs rasches Ende hatte mich gewarnt.

Eine dunkle unklare Ahnung kam mir, daß dieser Überfall – nur darum konnte es sich handeln – nicht von den Wilden ausgegangen war, sondern von Leuten höherer Intelligenz, die über besondere Machtmittel verfügten.

Die blonden Fremden?! – War dieser Gedanke so ganz abzuweisen?! Konnten diese Leute nicht MacBarny dauernd im Auge behalten haben, konnten sie nicht durch ihre heimlichen Vertrauten an der Küste dafür gesorgt haben, daß Mac nicht etwa mit einer Expedition, wie es nun geschehen, aufs neue versuchte, in ihr entlegenes Reich einzudringen?!

... Die stechenden Dornen, die mein Gesicht, meine Hände, mein Genick immer wieder peinigten, peitschten auch mein Hirn zu erhöhter Arbeitsleistung an. Die phantastischsten Möglichkeiten, geboren aus Ungewißheit und sich nur auf die eine einzige Tatsache stützend, daß die Zelte verschwunden, zauberten mir Bilder von wildester Romantik vor. Macs vorsichtiger Hinweis auf ein Luftschiff, von dem aus das Seil mit dem blonden Henker, der den Smaragd in der Tasche trug, pendelnd hinabgehangen sein müßte, genügte mir in diesen Minuten chaotischen Denkens für die Annahme, daß eine kleine Kolonie europäischer Ingenieure dort inmitten der Sümpfe irgendein Wunderwerk der Technik herstelle und daß dieselben Männer nun hier uns angegriffen und aufgegriffen hätten. Woher sonst die blendende Lichtbahn eines überstarken Scheinwerfers?! Es konnte ja nur ein solcher gewesen sein! – War denn diese Unterstellung in der Tat so widersinnig, so außerhalb des Bereichs des Möglichen liegend?! Hatte ich nicht selbst einst eine Insel besessen, die nur ein Gebilde aus Stahltonnen und riesigen Bimssteinblöcken war?! Hatte ich nicht mit dieser schwimmenden, tauchenden Insel den halben Pazifik durchquert?! Gab es denn heute für die Technik überhaupt noch die unübersteigbare Grenze des Nicht-Zuverwirklichenden?! Ahnte ich, was in den vier Jahren, die ich nun Weltentramp spielte, meine Kollegen vom Ingenieurfach und von verwandten Berufszweigen inzwischen Neues ersonnen?! Wann und wo hatte ich denn neueste Fachschriften oder Zeitungen gelesen?! Nirgends!! Seit Jahren stand ich gleichsam außerhalb der Zivilisation. Hatte ich da nicht ein gutes Recht, alles zu vermuten und alles für wahr zu nehmen, was den Umständen nach wahr sein mußte?! Ich wußte doch am besten, daß ein Scheinwerfer von solcher Kerzenstärke sich nicht als Tornister auf dem Rücken eines Mannes montieren läßt! Und – konnte nicht der Stoß, der mich in die Büsche schleuderte, der Anprall des gewölbten Bugs eines Luftfahrzeuges irgendeiner Art gewesen sein?!

Müßige Hatz der Gedanken das ...

Müßige Bemühungen, Fragen zu lösen, die vorläufig unlösbar bleiben mußten!

... Und die Erkenntnis und eiserne Energie, Herr des eigenen Hirns zu werden, bremsten die Sturmflut zweckloser Phantasien ...

Anderes noch: denn nun belebte sich der enge helle Umkreis urplötzlich mit hastenden, halbnackten Gestalten ...

Chis!!

... Mit den Hyänen des Schlachtfeldes, mit dem gierigen Raubgesindel der Wildnis, für die schon die leere Konservenbüchse Besitz bedeutet! – Die Chis waren da ... Nicht zu fünfzig – zu hundert, schätzte ich, und trotzdem glitten sie lautlos hin und her, suchten, bückten sich, rannten durcheinander, warfen Holz in das Feuer, daß es hell aufloderte, verschwanden in der Baumwohnung, kehrten ins Freie zurück – ein ruheloser, verängstigter Haufe ohne Ziel und Führung, scheu wie in steter Furcht vor etwas Unbegreiflichem, vor einem Unheil, das jeden Augenblick über sie hereinbrechen könnte – so benahmen sie sich ...

Bis ein spitzer, greller Schrei die ganze Bande reglos am Platze bannte ...

Ein Schrei, der irgendwoher kam, ebenso jäh erstarb – dem blitzschnell genau neun Schüsse folgten ...

Neun dünne blecherne Knalle – so unverkennbar Schüsse aus einer Repetierpistole, daß schon der erste mir die Waffe verriet, die dort ihre drohende Sprache redete – – irgendwo, dennoch in der Wirkung brutal klar und deutlich ...

Neun der Chis schnellten in die Höhe, sackten zusammen.

Und wildeste Panik ergriff da die übrigen ... Sie stürmten gen Westen, waren wie weggefegt, und in Sekunden hatte der helle Platz am Kampferriesen beinahe das frühere Aussehen angenommen.

Nicht ganz.

Neun Tote dort, stille Schläfer der Ewigkeit, und ... und ein Etwas, das sich da in den Lichtbereich des Flackerscheins des Feuers hineinschob – Unding von einem Hund, riesiger Tekkel mit sturrem gelbem Pelz und Boxerschnauze und fegender buschiger Rute:

Taito!

Er lebte also! Er war noch da! Ich hätte seinen Namen brüllen mögen – unsinnige Freude erfüllte mich ...

Taito lebte!! Taito, Gefährte meiner Einsamkeit als Schatzhüter auf der Insel im Biba-Schoni-See!

Er trug noch den Verband um den dicken Kopf, den Lord Mansfield Bellegard ihm mitleidig angelegt hatte – ein Charakterzug Seiner Lordschaft, der ganz dick auf der Plusseite für ihn gebucht war.

Taito machte fünf Schritt vor der Baumtür halt und ließ sich gemächlich auf die Hinterschenkel nieder, reckte den Kopf nach allen Seiten und schien zu winden ...

Wenn Taito sich derart benahm, war keine Gefahr mehr vorhanden. Die Chis würden nicht mehr zurückkehren, und ich durfte es wagen, die Dornenranken ringsum behutsam wegzuschneiden ...

Behutsam – wollte ich.

Und da – – wieder derselbe wilde schrille tolle Schrei ...

Diesmal langgereckt wie das geheimnisvolle Quietschen einer sich klemmenden Pforte, die ein Luftzug langsam, langsam öffnet und schließt – – öffnet und schließt ...

Diesmal für mich nichts Unheimliches, Unerklärliches mehr ...

Das war Elsie – – Elsie Bellegard ...

Das war Todesangst, Seelennot, Kampf mit irgend etwas Gräßlichem ...

Und ich deckte den Arm vor das Gesicht, brach gewaltsam durch die Dornen ins Freie, stolperte über meine Büchse, griff danach, stolperte abermals über einen menschlichen Körper, rannte weiter ...

Taito war verschwunden. Aber sein grimmes Kläffen ertönte in der Baumbehausung – schon war ich zur Stelle, ein Blick nach oben ...

Elsie Bellegard rang dort oben auf des armen Mac praktischem Hängeboden mit irgendeinem Manne, von dem ich bei der schlechten Beleuchtung zunächst sehr wenig sah. Das Mädchen hatte sich offenbar dorthin geflüchtet, als die unbekannten Angreifer ihren Plan so überraschend schnell ausführten. Wie Elsie noch die Zeit und Gelegenheit gefunden, sich in dem hohlen Baum in Sicherheit zu bringen, war eine andere Frage.

Ich kannte die in den Innenstamm eingekerbten Stiegen, die das Erklettern dieses Oberstocks erleichterten – ich machte mir freilich zunächst eine vollkommen falsche Vorstellung von den Absichten des brutalen Wichtes, den selbst das klägliche Kreischen des Mädchens nicht störte ...

Im Moment war ich droben – und helle Wut ließ den Kolben der Pistole wie einen Schmiedehammer auf die mützenartige Kopfbedeckung des elenden Wichtes herniedersausen. Mit einem dumpfen Aufstöhnen rollte er beiseite, fiel dann über die äußere Bretterkante hinweg in den unteren Raum und schlug dort schwer auf die Tischplatte auf und blieb zusammengekrümmt in einer Ecke liegen.

Elsie Bellegard zu beruhigen und nach unten zu schaffen, war nicht ganz leicht. Ihre Nerven versagten vollständig, sie hielt mich so fest umklammert, daß ich mich kaum bewegen konnte, ihre Tränen flossen unaufhörlich, und aus ihrem wirren Gestammel war zunächst nur das eine zu entnehmen, daß mehrere fremde Männer sowohl den Lord als auch Jazinto und Wumbo verschleppt hatten.

Endlich hatte ich das in Tränen aufgelöste Mädel vor die Rindentür auf eine Matte gebettet. Das Lagerfeuer beleuchtete ihr verstörtes Gesichtchen, ihre zerfetzte Jacke ... Taito hatte sich sofort neben sie gesetzt und leckte ihr die Hände ...

Sonderbar: Was meine Worte nicht vermocht hatten, das erreichte Taito durch seine stummen Zärtlichkeiten. Elsie richtete sich etwas auf, strich sich das Blondhaar aus dem Gesicht und sagte mit halb beschämtem Lächeln: »Ich glaube, ich habe mich sehr töricht benommen!«

Nun war es an mir, ehrlich erstaunt zu fragen:

»Töricht – Sie?! Der Bursche hätte eigentlich sofort eine Kugel durch den Schädel verdient!«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein – nein – er war es ja, der die Chis niederschoß, Mr. Abelsen ...! Er ...!! Verstehen Sie doch – er wollte mich offenbar beschützen, aber in meiner tollen Angst mißverstand ich ihn und ... schrie ... schrie wie ein albernes kleines Mädel ... Gewiß, er wollte mir dann wohl den Mund zuhalten, er sprach auch zu mir, aber ich verstand ihn nicht – er ist weder Engländer noch Franzose, auch nicht Italiener oder Spanier, denn die vier Sprachen sowie das Holländische beherrsche ich ganz gut ...«

Ich hatte mich an den Rand des großen Steines, des Wasserbeckens, gelehnt.

Jetzt wurde mir's etwas wirr im Hirn. – Also kein brutaler Schuft?! Und ich – – ich hatte den Mann vielleicht erschlagen, der zweifellos nur die besten Absichten gehabt hatte.

Elsie flüsterte scheu: »Gehen Sie bitte zu ihm. Vielleicht ... lebt er noch ... Gehen Sie!«

Frauen bleiben allzeit Rätsel. Diese blonde Elsie leistete in dieser Beziehung noch mehr als andere. Erst das wilde, unsinnige Kreischen, erst diese hysterische Angst – – jetzt ...: »Bitte – gehen Sie zu ihm!«

Das blieb mir erspart.

Ich hatte mich halb der offenen Rindentür zugewandt, als in dieser Tür der schlanke Tikku auftauchte – mit dem Fremden in den Armen.

»Du bist entkommen, Tikku?! – aber er antwortete nicht, glitt lautlos um den Baum und kehrte sofort wieder ohne den Bewußtlosen zurück – – Bewußtlosen, hoffte ich.

Elsie hatte Tikku gar nicht zu Gesicht bekommen.

»Wie, der Lamsi ist auch noch hier?« fragte sie ziemlich gleichgültig und wandte nur ein wenig den Kopf. Ihr Blick begegnete den dunklen harten Augen Tikkus. »Weshalb stierst du mich so ... so an!« rief sie halb angstvoll, halb gereizt. »Kümmere dich um den Fremden, du – und ...«

Es war eine unerquickliche Szene, es war für mich sogar eine harte Nervenprobe, denn Tikku hatte mir ein verstohlenes Zeichen gegeben, das nur so zu deuten war: der Mann ist tot!

Tikku, Sohn des Häuptlings der Lamsihoan von den westlichen Bergabhängen, sagte ohne Scheu und mit berechtigtem Vorwurf:

»Miß Bellegard, diese Nacht steht unter einem dunklen Stern. Vieles geschah, was nicht hätte zu geschehen brauchen, vieles von dem begreife ich nicht. – Der Fremde lebt nicht mehr. Es ist nicht Tuwan Abelsens Schuld.«

Elsie war hellhörig genug, Tikkus vorsichtige Anspielungen auf ihr wenig tapferes Verhalten zu verstehen. – Der Erfolg?! – Sie weinte leise, sie wühlte ihr Gesicht in Taitos rauhes gelbes Fell ganz fest ein und bedeutete uns beiden durch eine schroffe Handbewegung, sie allein zu lassen.

Als wir den Kampferriesen umschritten hatten, erlebten wir abermals etwas so niederschmetternd Ungeahntes, daß uns jetzt erst unsere Hilflosigkeit gegenüber den geheimnisvollen Angreifern klar wurde: der Mann war verschwunden!

Tikku hatte ihn, wie er mir hastig erklärte, zwischen zwei Leistenwurzeln niedergelegt.

Die Stelle war leer.

Wir blickten scheu ringsum ... Wir horchten. Nur wenige Minuten hatte der Tote hier gelegen. Und doch – er war weggeholt worden.

Auch hier lastete die Dunkelheit der schwülen Regennacht mit undurchdringlichen Schleiern über der Waldblöße.

Hierher drang der Schein des Feuers nicht.

Wir horchten ...

Tikku neigte sich vor und flüsterte:

»Tuwan, es sind dies Leute, die zaubern können. Sie können mehr als wir. Kehren wir in den Baum zurück ... Der Urwald birgt heute mehr Gefahren, als wir beide ahnen.«

Ein jäher Verdacht ließ mich mit wenigen Sprüngen zur Vorderseite der Baumhütte zurückeilen ...

Aber meine Furcht war unbegründet gewesen. Elsie Bellegard und Taito fand ich noch in derselben Stellung vor – das Mädchen schluchzte nur noch ganz leise, und ohne Widerspruch ließ sie sich dann in die Baumhöhle bringen und erkletterte eigenhändig den Hängeboden, wo sie vorläufig am sichersten geborgen war. Nur Taito mußte ich ihr emporreichen, und als sie dann noch einen Schluck Tee mit Reisschnaps zu sich genommen hatte, trat auch bei ihr die wohltuende Reaktion nach der Nervenpein dieser letzten Stunde ein – – sie schlief – – mit Taito im Arm, Taito neben sich ...

Unten aber in dem sorgfältig versperrten Baumgemach hockten Tikku und ich neben dem kleinen Lehmherd, auf dem ein winziges Feuer knisterte, und tauschten unsere Ansichten über die unbegreiflichen Vorfälle aus.

Freund Tikku hatte nicht erst durch MacBarny die englische Sprache erlernt und nicht erst von ihm Kenntnis von europäischen Umgangsformen erhalten. Er war, bevor Mac ihn wieder mit in die heimischen Bergwälder nahm, ein Jahr lang in Schanghai Stauer, Steward und Diener gewesen. Seine Intelligenz hatte ihm vieles spielend vermittelt, was andere erst mühselig sich aneignen müssen. Ich konnte es schon begreifen, daß sein fettgewordener tyrannischer Erzeuger das geistige Übergewicht seines Ältesten fürchtete.

Jedenfalls: bei unserer Aussprache über den Angriff der ›Fremden‹ kam nicht viel heraus. Tikku war es genau so ergangen wie mir. Irgend etwas hatte ihn niedergeworfen, er hatte eine Weile betäubt dagelegen, war dann, als er mich mit Elsie sprechen hörte, durch das Fenster eingestiegen und hatte sich das bedauernswerte Bündel von Mensch, das ich so kräftig auf den Tisch hinabbefördert hatte, genauer angesehen und festgestellt, daß der blonde junge Mann in braunem Khaki tot sein müßte.

»... Tuwan, er war jung«, sagte der Lamsi bedächtig. »Und er hatte Haare wie du ... Er trug zwei Pistolen bei sich, außerdem fand ich dies in seiner Tasche ... außen, Tuwan, in der rechten Tasche ...«

Er hielt mir seine flache Hand hin, und auf dieser Hand lag ein großer prächtiger Smaragd, ähnlich dem, den ich nun von MacBarny geerbt hatte.

Ich nahm das ungeschliffene, rohe Kleinod, das zum Teil noch in Urgestein gebettet war, zwischen die Fingerspitzen, und als ich so die Kälte des grünen Smaragds spürte, durchrieselte es mich wie ein Schauer.

Ich starrte Tikku eine Weile an.

»Weißt du, Tikku, was ich nun vermute?«

Des Lamsi hochmütig-verschlossene Züge überflog ein Zucken.

»Ich weiß es, Tuwan ... Du glaubst, daß diese grünen Steine für die Fremden ein Erkennungszeichen sind.«

»Stimmt, Tikku – man könnte sagen: ein Klubabzeichen. – Kennst du einen Klub?«

Der Häuptlingssohn, der nach dem Tode seines aufgemästeten Vaters die Herrschaft über rund fünfzigtausend verstreut lebende Wilde zufallen mußte, erwiderte nur: »Ich war ja in Schanghai, Tuwan. – Es ist ›ihr‹ Abzeichen, und ›sie‹ haben MacBarny nur deshalb dieses ganze Jahr nicht aus den Augen gelassen, um den Edelstein zurückzugewinnen.«

Ich gab ihm wortlos den Smaragd zurück.

Wortlos ...

Denn alledem gegenüber wären Worte eitle Verschwendung gewesen.

Aber eins spürte ich deutlich: auch in Tikkus Seele ging dasselbe vor sich wie in der meinen – auch er empfand eine ungewisse Furcht, die sich bei ihm, dem halben Wilden, vielleicht bis zu abergläubischem Grauen gesteigert hatte. Ich merkte das an der erhöhten Unrast seiner Augen, an einem gewissen flackernden Schimmer im Blick. Gewiß, er hatte sich in der Gewalt, ich hatte ihn nicht unterschätzt, dieser prächtige farbige Bursche, reinblütiger Nachkomme verwegener Piraten, die einst Formosa völlig beherrscht hatten, war ein ganzer Kerl in allem. Daß er hier, wo das Unheimliche, Unerklärliche in sein Leben eingriff mit dunklen, drohenden Ereignissen, fürs erste ein wenig versagte – ich trug's ihm nicht nach.

Versagte – ja, insofern, als er nunmehr, als ich mich anschickte, einmal draußen mich umzutun, er es war, der mich fast mit Gewalt zurückhielt. »Tuwan, bleibe ...!« Seine nervige Hand lag wie eine eiserne Klammer auf meinem Unterarm. »Diese Nacht steht unter einem schwarzen Stern, und der Geistervogel der Berge schwebt über den Wäldern. Bleibe im Schutze des Baumes, hier sind wir sicher, nur hier ...« Er senkte den Blick und fügte widerwillig hinzu: »Mac hat mich immer ausgelacht, wenn ich von dem Geisteradler sprach ... Und doch, Tuwan: ich sah ihn mit eigenen Augen ... dreimal ...«

»Wann?« fragte ich hastig, denn dieser »Adler« hätte, falls er existierte, vieles erklärt.

»In den letzten Monaten war es, nachdem Mac damals den blonden Fremden erschossen und den Smaragd erbeutet hatte ... Mac kehrte damals zur Küste zurück, er sandte mir Botschaft, die erbeuteten Felle dorthin zu bringen ... Ich tat es, packte die Ballen auf die Rücken unserer Reitochsen und ...«

»Reitochsen?!«

»Ja, gewiß, Tuwan ... Wir haben zwei hier in der Nähe in einem Gehege auf einer anderen Lichtung ... Du wirst sie sehen ... Es sind zierliche, kräftige Tiere, und ...«

»Weiter! – Du marschiertest also zur Küste.«

»Ich brachte die eingesalzenen Felle dorthin. Am Tage vor meinem Aufbruch sah ich am späten Abend den Geisteradler zum ersten Male. Es war eine klare Nacht, und der Riesenvogel schwebte mit seinen glühenden Augen so dicht über den Baumkronen hinweg, daß ich das bunte Gefieder seiner Schwingen deutlich erkannte. Er flog sehr langsam, Tuwan, und ... der Schreck jagte mich hier in den Baum zurück, wo ich eine Stunde wartete ... Dann erst trat ich ins Freie ... Und – wieder nahte der Riesenvogel, diesmal von Süden, seine Flügel bewegten sich kraftvoll und gleichmäßig, obwohl ein heftiger Wind über die Wipfel strich. – Als ich dann nach sechs Wochen hier wieder anlangte, erblickte ich den Adler genau acht Tage später – und abermals schwebte er so niedrig, daß ich ihm einen Pfeil in den Leib hätte jagen können. Doch – wer würde auf einen Vogel schießen, dessen Schwingen wie das Großsegel eines 200-Tonnen-Schoners sind?!«

Seine Augen ruhten starr und prüfend auf meinem sehr nachdenklich gewordenen Gesicht. »Glaubst du mir, Tuwan?«

Seine unsichere Frage weckte mich aus diesen – so war es – rein technischen Erwägungen.

»Wie groß schätzt du den Vogel, Freund Tikku?« antwortete ich mit einer Gegenfrage.

Er dachte nach. Seine braunen Hände wurden unruhig, seine Lider schlossen sich halb.

Seltsam genug: die Größenangaben lieferte mir jemand anders. – Von oben her kam Elsies Stimme – Elsie mußte den letzten Teil unseres Gesprächs mit angehört haben, sie war wach:

»Mr. Abelsen – jetzt ist mein Kopf klarer als vorhin ... Mein Gedächtnis arbeitet wieder. Ich besinne mich nun ganz genau auf das Geschehene ... Ich erblickte – ich hatte gerade das Zelt für kurze Zeit verlassen – trotz der Dunkelheit gegen den Regenhimmel über den Bäumen einen riesengroßen schwebenden Schatten. Ich dachte zunächst an eine Wolke, Tikku hat recht, und er senkte sich herab, und mit einem Male waren fünf Männer in Khakianzügen neben den Zelten, da lief ich in den Baum und verbarg mich hier oben ... Es war mir genau so ergangen wie Tikku – das Grauen packte mich beim Anblick des Ungeheuers – es war sicherlich zwanzig Meter lang, und seine Schwingen mögen fast ebenso lang gewesen sein ...«

Der Lamsi nickte eifrig. »Miß hat richtig geschätzt, Tuwan ... Ich hätte dir dieselben Maße genannt.«

Ich blieb eine Weile still. Dann fragte ich Freund Tikku nochmals: »Der Riesenvogel bewegte bestimmt die Schwingen?«

»Ja. Genau wie ein Adler, Tuwan. Im übrigen dürfte man ihn nicht als Adler bezeichnen, denn sein Gefieder ist eigentümlich bunt, hellbunt, Tuwan ...«

Ich hatte nichts mehr zu fragen. Für mich war ein geringer Teil der Geheimnisse der Fremden gelöst. – Ein Teil nur ...! Sobald es Tag wurde, wollte ich etwas anderes feststellen: wer und was Tikku und mich in die Büsche geschleudert hatte!

»Schlafen wir!« sagte ich ... »Auch Sie, Elsie! Und laßt bitte die förmliche Anrede weg, ich bin für euch einfach Olaf, und ihr für mich Elsie und Tikku. Es ist Unfug, hier in der Wildnis sich mit Salonmanieren abzuquälen.«

»Bravo!« rief das Mädel vergnügt. »Nur eins noch, Olaf, dann will ich ganz brav sein ... eine einzige kleine Frage: Der Geisteradler Tikkus ist natürlich eine Flugmaschine, ein Eindecker?«

Und ich darauf: »Sahen Sie je ein Flugzeug ohne Propeller, Elsie?!«

»Gute Nacht ...« kam es von oben ...

Und es wurde still im Kampferbaum.

 

* * *

 


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