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Wer ist schuldig?

Aus den Erinnerungen eines alten Kriminalbeamten.

(Nachdruck verboten.)

1

In der Frühe eines Januarmorgens des Jahres 1862 wurde ich durch einen Aktuar unseres Gerichts geweckt, der mir mittheilte, daß in dem ungefähr zwei Meilen von der Kreisstadt entfernten Orte Zellerndorf in der Nacht ein bis dahin dort unerhörtes Verbrechen begangen worden sei. Nichts weiter als diese Nachricht, zu der jegliche Details fehlten, war in den frühesten Morgenstunden bei dem Gerichte durch einen Boten eingegangen, und der Wagen, welcher mich als untersuchenden Kriminalrichter und den Aktuar als Protokollführer nach Zellerndorf bringen sollte, stand bereits vor der Thür. Ich zog mich in aller Geschwindigkeit an, stürzte eine Tasse Kaffee hinunter, und noch graute der Morgen nicht, als wir bereits zur Stadt hinaus fuhren.

Der Weg, der bis Zellerndorf zurückzulegen war, gehörte keineswegs zu den angenehmen, denn es war ein Feldweg schlimmster Art und voller Löcher.

Es hatte in der Nacht geschneit, und der Tag versprach ein recht kalter zu werden, besonders nahm der Frost zu, als die Sonne aufging, und wir uns schon in der Nähe von Zellerndorf befanden.

Als wir uns den ersten Häusern des Dorfes näherten, bemerkte ich einen Bauernposten, bestehend aus zwei Mann, von denen der Eine mit einer Sense, der Andere mit einem Gewehr bewaffnet war. Die Burschen erzählten mir, daß sie von ihrem Ortsschulzen hier aufgestellt seien, und daß dieser umsichtige Dorfbeamte den ganzen Ort habe mit Posten umstellen lassen, weil man vermuthete, der Thäter befände sich noch innerhalb des Ortes. Auch sie wußten übrigens nichts weiter, als daß es sich um einen Doppelmord handle.

Als unser Wagen aber erst einige Schritte in's Dorf hinein gefahren war, begegnete mir der Ortsschulze, ein ebenso intelligenter, als pflichteifriger Beamter, in Begleitung eines Gendarmen, der ebenfalls auf die erste Nachricht von dem Verbrechen nach Zellerndorf geeilt war. In kurzen Worten theilte mir der Ortsschulze mit, daß in der Nacht einer der reichsten Bauern des Ortes, Namens Stegnitz, nebst seiner Frau ermordet worden sei, daß sich um einen Raubmord handeln müsse, denn es fehlte Geld, von dem man genau wußte, daß es die Ermordeten in einer Kommode aufbewahrt hatten. Das Dorf war in frühester Morgenstunde durch die Hilferufe der Angehörigen der Ermordeten alarmirt worden, und der Ortsschulze hatte, wie bereits gesagt, den ganzen Ort umstellen lassen, um die Flucht der Thäter zu verhindern.

Dieselben konnten noch nicht das Dorf verlassen haben, denn sonst hätten ihre Fußspuren sich auf der frischen Schneedecke abdrücken müssen. Eine genaue Untersuchung des ganzen Dorfumkreises aber ergab den gänzlichen Mangel aller derartigen Spuren. Der Ortsschulze hatte darauf die Gerichtsschöppen zusammengerufen und unter deren Leitung eine Durchsuchung sämmtlicher Häuser des Ortes veranstaltet. Diese Untersuchung dauerte noch fort und hatte bis jetzt das Vorhandensein einer verdächtigen Person in keiner Weise ergeben.

Ich konnte die Maßregeln des Dorfschulzen nur billigen und ersuchte ihn, mich an den Ort der That zu geleiten, um von diesem aus die Untersuchung zu beginnen.

Der Hof des Stegnitz lag zwar nicht außerhalb des Dorfes, aber doch ein Stück abseits von der Straße auf einer kleinen Bodenerhöhung. Er war umgeben von einer steinernen Mauer von mehr als sechs Fuß Höhe. Die Gebäulichkeiten zeugten von Wohlhabenheit des Besitzers und bestanden aus einem sehr großen Quergebäude gegenüber dem Hofthor, welches mit Stroh gedeckt war und unter dessen Dach sich nach der Bauart jener Gegend die Wohnräume, Stallungen und die Scheune zugleich befanden.

In dieses Gebäude führte ein großes Thor, welches gleichzeitig die Einfahrt zur Tenne bildete. Links und rechts befanden sich die Getreideböden, dann schloß sich rechts an diese der Raum an, in dem das Rindvieh und die Schafe untergebracht waren, und wo sich auch die Schlaf- und Wohnräume für die Knechte befanden. Dann folgte, durch einen Gang getrennt, ein Raum, der zur Speisekammeer diente und auf der anderen Seite den Backofen enthielt, dann kamen die Wohnräume des Hausherrn und seiner Frau, und hinter diesen in einer Ecke des Gebäudes die Vorrathsräume für Wäsche, Leinwand, Kleidungsstücke, Hausrath, zugleich auch die Mägdekammern.

Außer dem großen Einfahrtsthor befanden sich noch zwei kleine Thüren in der langen Hausfront, von denen die eine zum Stall unter den Knechtekammern, die andere zu den Wohnräumen führte. Von den Mägdekammern aus ging im Giebel des Hauses noch eine besondere Thür auf den Hof hinaus. Auf diesem befand sich, wie üblich, auch noch der Dunghaufen, ein Taubenschlag, ein besonderer kleiner Stall, in welchem die Schweine untergebracht waren, dann ein Schuppen, in dem Brennholz aufgestapelt war und in dem eine Schnitzbank stand. Auch ein großer Heuschober stand in einer Ecke in der Nähe der Mauer.

Von Wichtigkeit war es, sofort, nachdem ich die allgemeine Situation des Grundstückes mir eingeprägt hatte, die Zugänge zu demselben genau zu untersuchen.

Wie bereits bemerkt, war das Gehöft von einer mehr als sechs Fuß hohen Mauer umgeben, und in dieser Mauer befand sich nur ein einziges Hofthor gegenüber der Hauptfront des Hauses, neben diesem Hofthor noch eine kleinere Eingangsthür, die für die aus und ein Gehenden bestimmt war, während das Thor zum Passieren der Wagen diente.

Das Thor war inwendig durch einen starken Querbalken und eiserne Krampen verschlossen, die kleine Eingangspforte dagegen war nicht so gut verwahrt, denn ein einfacher Holzriegel, welcher in eine eiserne Krampe eingeschoben werden konnte, stellte den Verschluß her. Befand sich der Riegel in der Krampe, so konnte die Thür von der Dorfstraße aus allerdings nicht geöffnet werden, es war dies dann nur vom Innern des Gehöftes aus möglich.

Als ich mir diesen einfachen Riegel besah, bemerkte ich auf der inneren Seite der Thür unterhalb desselben einige schwache Blutflecken, welche kaum erkennbar waren Ich machte den Ortsschulzen auf dieselben aufmerksam, und dieser erklärte, noch nicht darauf geachtet zu haben, mußte aber zugeben, daß sie nur von Blut herrühren konnten.

Unwillkürlich drängte sich dem Kriminalisten die Anschauung auf, daß der Mörder das Gehöft durch diese Thür verlassen habe, und daß er nach der That nicht einmal Zeit gefunden hatte, seine Hände vom Blute zu reinigen.

Durch diese Eingangsthür führte über den Hof eine ganze Unzahl von Fußspuren, weil natürlich die Nachbarn und Freunde der Ermordeten sich Alle in das Gehöft hineingedrängt hatten, als die Hilferufe auf der Straße laut wurden. Der Ortsschulze aber hatte auch bei dieser Gelegenheit wieder seine Umsicht bewiesen, indem er dafür sorgte, daß wenigstens in das Zimmer, in dem die Ermordeten lagen, Niemand eindrang, und daß dort Alles unberührt und in dem Zustande blieb, wie es der Mörder verlassen hatte.

Zur Vorsicht hatte der Schulze einen schmalen Papierstreifen über die Spalte zwischen dem Thürstock und der Thür gelegt und diesen Papierstreifen durch den Abdruck des Gemeindesiegels befestigt.

Als ich durch die Thüre, welche zu den Wohnräumen führte, hindurch ging, bemerkte ich, daß der obere Theil ausgehoben und im Hausflur an die Wand gelehnt war. Die Thüren in den Dörfern jener Gegend bestehen nämlich nach altem Brauch noch aus einer oberen und einer unteren Hälfte, d. h. die Thür ist wagerecht in zwei Flügel getheilt. Den Tag über pflegt nur der untere Theil geschlossen zu sein, damit das im Hofe herumlaufende Vieh nicht ohne Weiteres den Eingang in die Wohnräume findet, erst am Abend wird auch der obere Flügel zugemacht.

Dieser war also ausgehoben und an die Wand gesetzt. Ich fragte den Ortsschulzen, weshalb dieses geschehen sei, derselbe versetzte, der Flügel sei bereits ausgehoben gewesen, als er das Gehöft betreten habe.

Gleich rechts vom Hausflur ging es in das Schlafzimmer der Eheleute Stegnitz. Der Ortsschulze löste den angesiegelten Papierstreifen von der Thür, und wir betraten das Zimmer.

Ein grauenhafter Anblick bot sich uns. Am Boden lag inmitten einer großen Blutlache die Frau, welche wohl im Todeskampf aus dem Bett gestürzt sein mochte, denn ihre Füße ruhten noch auf dem Bett, während auf dem Boden der vollkommen mit Blut bedeckte Oberkörper lag. In einem Bette, das mehr nach der Ecke zu stand, lag die Leiche des Mannes, ebenfalls in ihrem oberen Theile vollständig mit geronnenem Blut überdeckt.

Der Anblick war ein so fürchterlicher, daß es lange dauerte, bis ich mich überwinden konnte, an die Leichen heranzutreten, um mich zu überzeugen, daß dieselben ihren Tod durch Schläge mit einem stumpfen Instrument empfangen hatten.

Augenscheinlich war der Mann zuerst getödtet worden, die Frau wollte ihm vielleicht zu Hilfe eilen und war dann ebenfalls niedergeschlagen worden. Kopf und Brust der beiden Opfer waren fast vollständig zerschmettert, der Mörder mußte wie rasend gewüthet haben, er hatte wahrscheinlich so lange auf seine Opfer losgeschlagen, als seine Kräfte reichten, oder so lange die Armen noch zuckten. Jedes derselben hatte mindestens dreißig Hiebe, von denen jeder einzelne tödtlich gewesen wäre.

In dem Zimmer stand noch eine Kommode; diese war erbrochen und durchwühlt, auf der Erde lagen einige Stücke alten Zeitungspapiers umher, wie sie wohl zum Einwickeln von allerlei Gegenständen, die man aufbewahren will, verwendet werden. Von dem Thäter selbst war nirgends eine Spur zu entdecken, aber über dem Bette des Mannes fand ich an der Verschalung der Holzdecke Spuren von Hieben, welche ganz frisch waren, denn die aus der Decke geschlagenen Splitter waren theils auf das Bett, in welchem der Mann lag, theils auf den Fußboden gefallen und noch vorhanden. Der Mord war also jedenfalls mit einer Axt ausgeführt worden, und zwar hatte der Verbrecher mit dem stumpfen Rückentheil, dem Kopf der Axt, losgehauen, und bei den wuchtigen Hieben, die er führte, einige Male mit der Schneide oben in die Decke getroffen.

Ich schätzte die Höhe des Zimmers, die wie in Bauernhäusern gewöhnlich keine bedeutende war, kaum auf mehr als sechs Fuß. Wenn ich bei Ausmessung dieser Höhe nun die bei der Leiche des Mannes gefundenen Spuren der Axthiebe in Betracht zog, so mußte ich mir sagen, daß der Mord nur von einer kleinen, untersetzten Person verübt sein konnte, denn eine große Person hätte in dem niedrigen Raume die Hiebe mit einer Axt, die doch gewöhnlich an einem langen Stiel sitzt, nicht mit solcher Wucht führen können, daß sie so furchtbare Wirkungen hervorgebracht hätten, wie an den Leichen sichtbar waren.

Der Protokollführer, der gleich mir in der Aufnahme des sogenannten Thatbestandes geübt war, untersuchte gleichfalls den Raum nach irgend einer verdächtigen Spur, es war jedoch nichts aufzufinden. Eine genauere Revision der Kommode ergab nur, daß sich in ihr eine blecherne Büchse befand, in der vielleicht früher Geld verwahrt worden war; sie war aufgebrochen und ihres Inhalts beraubt.

»Wer hat die Leichen zuerst entdeckt«?« fragte ich jetzt.

»Der Pflegesohn der Ermordeten.«

»Haben dieselben keine Kinder?«

»O ja!« entgegnete der Ortsschultze, »eine einzige Tochter.«

»Und wo ist diese?«

»Sie liegt in ihrer Kammer, vollkommen niedergeschlagen und halb wahnsinnig von dem fürchterlichen Unglück. Als sie die Leichen ihrer Eltern zuerst sah, verfiel sie in eine Ohnmacht, aus der sie erst nach Stunden erwachte.«

»Und wo ist der Pflegesohn?« »Der Pflegesohn befindet sich ebenfalls in seiner Kammer. Diese liegt in dem Raume zwischen den Gelassen der Knechte und dem Hausflur, der zu den Wohnräumen führt.«

»Wo befindet sich,«fragte ich weiter, »die Schlafstätte der Tochter?«

»Die Tochter schläft, wie auf dem Lande üblich, in einer besonderen Abtheilung in demselben Raum, in dem die Mägde ihre Schlafkammern haben.«

»Haben Sie bereits die Knechte und Mägde vernommen?«

»Jawohl! Sie wissen Alle übereinstimmend von nichts Anderem, als daß gegen ein Uhr Nachts Jemand im Hofe ›Hilfe, Räuber, Mörder! Hilfe!‹ geschrien habe. Als sich die entsetzten Menschen aufrafften und in's Freie stürzten, sahen sie den Pflegesohn der Ermordeten im Hofe stehen und wie rasend um Hilfe rufen. Es eilten darauf auch aus der Nachbarschaft Leute herbei, und diesen erst theilte er mit, daß er seine Pflegeeltern ermordet gefunden habe. »Der junge Mann,« setzte der Ortsschulze hinzu, »kam erst um jene Zeit aus dem Dorfkruge vom Tanzboden nach Hause, da ja gestern Sonntag war. Er vernahm ein Stöhnen, das ihm verdächtig schien, und als er bei seinen Eltern eintrat, sah er Beide in dem gegenwärtigen Zustande daliegen. Er stürmte hinaus auf den Hof und rief um Hilfe, von den Mördern hat er nichts mehr gesehen.«

»Wer ist denn dieser Pflegesohn eigentlich?«

»Er heißt Karl Vogt und ist ein Findlingskind. Seine Mutter gehörte zu den Dorfarmen und war eine verlassene Frau. Als sie starb, sollte das Kind in's Waisenhaus, aber die Stegnitz'schen Eheleute nahmen sich seiner an, und da sie selbst keinen Sohn hatten, so ließen sie ihn auf ihrem Hofe erziehen und behandelten ihn, wenn auch nicht ganz wie ihren Sohn und Erben, doch besser als einen Knecht. Er hat seine Militärzeit vor einigen Monaten abgedient und ist dann wieder hierher auf den Hof zurückgekehrt, wo er als Großknecht beschäftigt ist.«

»Die Stegnitz'schen Eheleute scheinen also recht wohlthätige Menschen gewesen zu sein?«

»Das waren sie; sie thaten den Armen viel Gutes und fast mehr, als in ihren Kräften stand.«

»Sie hatten also wohl auch keine Feinde?«

»Nein! Ich wüßte nicht, daß diesen Leuten irgend Jemand feindlich gesinnt gewesen wäre.«

»Was ist denn dieser Pflegesohn, der Karl Vogt, für ein Mensch?«

»Ich kenne ihn,« entgegnete der Ortsschulze, »seit seiner frühesten Jugend, und ich kann ihn das Zeugniß geben, daß er ein sehr nüchterner, fleißiger und verständiger Mensch ist. Wenn etwas an ihm auffallen könnte, so wäre es seine merkwürdige Verschlossenheit und Schweigsamkeit. Er kann Stunden lang mit anderen Leuten im Dorfkruge zusammen sitzen, ohne etwas zu sprechen. Macht er aber einmal eine Bemerkung, so ersieht man wohl aus dieser, daß er sorgfältig nachgedacht hat. Er ist deshalb auch bei den jungen Burschen und Mädchen nicht allzu sehr beliebt!«

»Rufen Sie den Karl Vogt hierher!« sagte ich zu dem Ortsschulzen.

Dieser entfernte sich und kehrte bald darauf mit einen: Menschen zurück, an dem mir sofort die untersetzte Figur auffiel. Ein Gedanke schoß mir durch den Kopf, der mich selbst im ersten Augenblicke mit Schrecken erfüllte.

So mußte der Mörder nach meiner Idee aussehen, wie der junge Mann, der jetzt im Zimmer stand, so gedrungen und klein, und doch so muskulös und kräftig.

Er hatte ein nicht unangenehmes Gesicht, in dem nur ein finsterer Zug um die Augen und einige senkrechte Falten auf der Stirn auffielen, die man sonst auf Grübeln und Nachdenken deutet. Seinen Blick konnte ich nicht beobachten, denn er hielt die Augen zu Boden gesenkt. Die Hände aber, die schlaff an den Seiten herunterhingen, ließen das Zucken der einzelnen Finger sehen, obgleich der junge Mann anscheinend mit aller Gewalt die Hände zu schließen und zu ballen suchte. Er trug einen gewöhnlichen Anzug und nicht den Sonntagsstaat.

Ich hatte mich so postirt, daß er im ersten Augenblick mich nicht erkennen konnte, ich wollte sehen, welchen Eindruck die beiden Leichen auf ihn machten, und ich entdeckte in der That, daß er es ängstlich vermied, nach dem Winkel hinzusehen, wo die armen Opfer lagen.

»Sie sind Karl Vogt?« fragte ich ihn.

Der Angeredete zuckte zusammen und richtete fragend seine Augen auf mich. Diese Augen waren grau und ihr Blick keineswegs unangenehm. Jetzt aber lag in ihnen Schreck und eine gespannte Erwartung.

»Sie sind der Pflegesohn der Ermordeten dort?«

»Ja!« entgegnete der junge Mann, dann schlug er die Hände vor das Gesicht und brach in leidenschaftliches Schluchzen aus. »Sie haben mich gehalten, wie ihr eigenes Kind, Alles, was ich bin, verdanke ich ihnen, und nun muß ich sie so vor mir sehen!«

Diese unter Schluchzen hervorgestoßenen Worte deuteten auf ein tiefes Mitgefühl bei dem jungen Manne hin. Dabei vermied er es aber immer noch, irgend wo anders hin, als auf die Erde zu sehen. Selbst als er davon sprach, wie schrecklich es ihm sei, seine Pflegeeltern so vor sich zu sehen, erhoben sich seine Augen nicht vom Boden.

Ich ließ ihm einige Zeit, damit er sich von seiner Aufregung erhole, dann fragte ich weiter: »Ich bin der Kriminalrichter und ersuche Sie jetzt, mir mitzutheilen, wie Sie die beiden Leichen gefunden haben. Sie sollen ja der Erste gewesen sein, der von dem Morde Kenntniß erhielt. Vergessen Sie nicht, auch den geringsten Umstand zu erzählen, der Ihnen vielleicht aufgefallen ist; wer weiß, ob er nicht wichtig genug ist, um auf die Spur des Thäters zu führen. Sie waren gestern Abend auf dem Tanzboden?«

»Ja!«

»Wie lange waren Sie dort?«

»Bis der Tanz zu Ende war, bis gegen ein Uhr Nachts.«

»Pflegen Sie oft den Tanzboden zu besuchen und so lange dort zu bleiben?«

»Nein! Es war gestern ausnahmsweise lange.«

»Sie begaben sich aus dem Dorfkrug direkt hierher und nach Ihrer Schlafkammer?«

»Nein! Ich begab mich nicht nach der Schlafkammer, denn ich trat durch die Hausthür herein, die in diesen Flur führt. Ich wollte die Knechte nicht stören, wenn ich durch die andere Thür, die zum Stalle führt, meinen Eingang in's Haus nahm.«

»Ist dies Ihr gewöhnlicher Eingang zu Ihrer Schlafkammer?«

»Je nachdem! Ich konnte durch die Kammern der Knechte hindurch zu ihr gelangen, aber auch von diesem Korridor aus.«

»Fanden Sie die Thür, die hier vom Hof in den Hausflur der Wohnräume führt, geschlossen?«

»Nein! Der obere Theil war ausgehoben und an die Wand gestellt, dort, wo er noch steht.«

»Fiel Ihnen das nicht auf?«

»Gewiß! Ich war ganz bestürzt, als ich das sah. In demselben Augenblicke aber hörte ich auch schon das Stöhnen aus der Stube, in welcher die Pflegeeltern schliefen.«

»Was thaten Sie darauf? Gingen Sie sofort in das Schlafzimmer hinein?«

»Nein! Ich ging erst in meine Schlafkammer, machte dort Licht und eilte dann hierher.«

»Hier fanden Sie die Ermordeten in demselben Zustande und in derselben Stellung, in der sie sich jetzt befinden? Sehen Sie doch einmal hin!« forderte ich jetzt scharf den jungen Mann auf.

Man sah es deutlich, welche Gewalt und welche Anstrengung es ihm verursachte, nach den Leichen der Ermordeten zu sehen.

Er warf blos einen Blick hinüber, dann durchflog ein Schauder seinen Körper, und gesenkten Augen entgegnete er: »Nein, so lagen sie nicht! Die Pflegemutter lag auf der Erde, ich hob sie auf und legte sie in's Bett, weil sie noch stöhnte, und ich glaubte, es könne ihr noch geholfen werden. Dann ging ich hinaus und schrie um Hilfe.«

»Sie hoben also den Körper Ihrer noch lebenden Pflegemutter auf und legten ihn auf's Bett. Sie müssen sich dabei doch sehr mit Blut befleckt haben, hatten Sie denn diesen Anzug an, den Sie jetzt tragen?«

»Nein!« entgegnete nach einigem Zögern der Gefragte. »Ich hatte meinen Sonntagsanzug an.«

»Und wann haben Sie die Kleidung gewechselt?«

»Bevor ich hinausging und Hilfe herbeirief.«

Stockend und verlegen hatte der Gefragte diese Worte herausgebracht. Mich trafen sie wie ein Donnerschlag! Wer war dieser Mensch da vor mir, der die entsetzliche Kaltblütigkeit besaß, bevor er um Hilfe rief, seine schmutzige, blutbefleckte Kleidung mit einer anderen zu vertauschen, obgleich er sich sagen mußte, daß jeder Augenblick des Zögerns den mit dem Tode Ringenden verhängnißvoll werden müßte?

Ich stellte, nachdem ich mich einigermaßen gesammelt hatte, eine darauf bezügliche Frage an den leichenblassen Menschen, und dieser entgegnete:

»Ich sagte mir dann doch, daß der Mutter nicht mehr zu helfen sei, ich weiß auch nicht recht mehr, was ich gethan habe. Ich war so erschrocken, daß ich glaubte, ich müßte wahnsinnig werden.«

»Und wo befindet sich denn diese Sonntagskleidung mit den Blutflecken? Haben Sie dieselbe in Ihrer Kammer?«

»Nein!« entgegnete, wie es schien, sehr verlegen der Gefragte.

»Wo haben Sie dieselbe denn hingethan?«

»Ich habe den Rock und die Weste draußen in dem Heuschober versteckt.«

»In dem Heuschober?«

»Ja, damit ich mir nicht auch meine anderen Sachen in der Kammer mit Blut beflecke. Dieses Blut der Pflegemutter, die mir so viel Gutes erwiesen, war mir zu schrecklich, es brannte an mir wie Feuer!«

Ich schickte den Gendarm hinaus, und dieser kehrte unmittelbar darauf zurück und brachte aus dem Heuschober nicht nur einen Bauernrock und -weste, welche naß und anscheinend auch mit Blut befleckt waren, sondern auch eine blutige Holzaxt, dasselbe Instrument, mit welchem augenscheinlich die fürchterliche That verübt worden war.

Selbst der Gendarm schien erschrocken zu sein über diesen neuen Schuldbeweis, den er da in dem Mordinstrumente herbeigebracht.

Ich zeigte die Axt dem jungen Mann; dieser warf einen Blick darauf und fuhr mit der Hand über die Stirn, als wolle er dort einige Gedanken wegwischen oder etwas verscheuchen, was ihn bedrückte. Dann warf er plötzlich seine Arme in die Luft und sank lautlos zusammen.

Als ich meinen Protokollschreiber und den Ortsschulzen anblickte, las ich in ihren Gesichtern die Bestätigung meiner eigenen, vollen Ueberzeugung. In diesem Unglücklichen da, der soeben überwältigt beim Anblick der Mordwaffe zusammengebrochen war, hatten wir den Schuldigen vor uns.

»Schaffen Sie den Menschen nach seiner Kammer und bewachen Sie ihn dort auf's Sorgfältigste!« befahl ich dem Gendarmen, dann wendete ich mich zu dem Dorfschulzen und ging mit diesem einen Augenblick hinaus in's Freie, weil mir selbst eine kleine Erholung noth that. Wir besichtigten hier den Heuschober, in dem sich die Gegenstände befunden hatten und fanden in ihm noch etwas Auffälliges, nämlich ein Paar alte, zerrissene Lederschuhe, welche am Tage vorher noch in Gebrauch gewesen sein mußten, denn sie waren vom Schnee naß.

Diese Schuhe nahmen wir an uns, da auch ihr Vorhandensein an jenem Orte ein ziemlich auffälliges war.

»Führen Sie mich jetzt,« befahl ich dem Dorfschulzen, »zu der Tochter!«

Wir fanden in einer mangelhaft beleuchteten Schlafkammer, auf dem Bette angekleidet sitzend, ein Mädchen von ungefähr neunzehn Jahren, dessen Gesicht trotz der Spuren, die Angst, Schreck und Schmerz darauf zurückgelassen hatten, große Schönheit zeigte. Sie versuchte, sich bei unserem Eintritt zu erheben, fiel aber entkräftet auf das Bett zurück und begann erneut zu schluchzen und zu weinen.

»Es thut mir leid, mein Kind,« sagte ich, »Sie in Ihrem furchtbaren Schmerz stören und Ihnen diese erneute Aufregung verursachen zu müssen, aber es ist meine Pflicht, und auch Sie haben eine Pflicht zu erfüllen, nämlich die, Ihr Möglichstes dazu beizutragen, daß der Mörder Ihrer Eltern zur Verantwortung gezogen werde. – Wann hörten Sie das Erste von dem Morde? Ihre Kammer liegt von den Mägdekammern ja am nächsten der Stube, in welcher die schreckliche That verübt wurde.«

»Ich erwachte in der Nacht von einem eigenthümlichen Geräusch, wie von Schlägen herrührend. Ich horchte, aber dieses Geräusch verstummte bald. Dann hörte ich eine Thür gehen und hörte auch, wie Jemand die Thür öffnete, die zu der Kammer führt, in welcher Karl schläft; ich weiß, daß diese Thür ganz eigenthümlich knarrt. Dann hörte ich noch die Thür bei meinen Eltern gehen, dann wieder die Karl's. Es war ein Hin- und Hergehen, und ich glaubte, es sei schon Zeit zum Aufstehen, weil meine Eltern und Karl bereits munter seien. Ich stieg aus dem Bett und kleidete mich langsam an. Bald darauf hörte ich Karl auf dem Hofe um Hilfe schreien, ich stürzte mit den Mädchen hinaus, und dann sah ich das Schreckliche und wurde ohnmächtig.«

Das Mädchen brach abermals in Thränen aus; ich ließ ihr wiederum einige Zeit, bis sie sich erholt hatte, dann fragte ich weiter.

»Sie hörten also jene eigenthümlichen Schläge, durch welche Sie erwachten, und welche höchstwahrscheinlich die furchtbaren Streiche waren, mit denen der Mörder Ihre Eltern tödtete, und bald darauf hörten Sie die Thür gehen und dann Karl's Thür? Sagten Sie nicht so?«

»Ja! Es war mir sogar so, als ob mehrere Menschen hin und her gingen.«

»Ihre Aussage,« fuhr ich fort, »deckt sich so ziemlich mit der Aussage Ihres Pflegebruders. Wenn Sie aber, wie Sie erklären, unmittelbar nach jenen Streichen die Thür Ihres Pflegebruders gehen hörten, so hätte das um die Zeit sein müssen, als Jener zurückkehrte. Unter allen Umständen hätte er dann dem oder den Mördern begegnen müssen; ja, es ist sogar anzunehmen, daß er dann um den Mord selbst weiß.«

Das Mädchen schrie laut auf und verbarg ihren Kopf in den Kissen des Bettes, ihr jugendlicher Körper zuckte, und ich dachte schon, ein neuer Ohnmachtsanfall würde die Vernehmung unterbrechen. Nach einiger Zeit hob sie aber ihr Gesicht wieder empor, dessen Augen jetzt thränenlos, dessen Farbe aschgrau war.

»Fragen Sie mich nicht, ich bitte Sie!« rief sie flehentlich. »Ich weiß von nichts. O, es ist fürchterlich! Es ist entsetzlich! Warum hat Gott es zugelassen?«

Dieses eigenthümliche Betragen des Mädchens, welches weit verschieden von dem ersten Ausdruck des Schmerzes war, den wir bemerkt, als wir in die Kammer traten, war für mich ein neues Verdachtsmoment, und mehr und mehr befestigte sich in mir eine Ueberzeugung, für welche ich mir Beweise verschaffen wollte.

»Es thut mir leid,« entgegnete ich ruhig, aber doch streng, »Sie in Ihrem Zustande noch mit weiteren Fragen quälen zu müssen, aber die Verhältnisse erlauben keine Verzögerung. Haben Sie sich stets gut mit Ihrem Pflegebruder vertragen?«

Ueber das Gesicht des Mädchens flog eine jähe Röthe, dann sagte sie verlegen und leise: »Ja!«

»Ist er Ihnen,« fragte ich jetzt dringend, »vielleicht mehr als ein Bruder?«

Das Mädchen erröthete noch mehr und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

»Ich beschwöre Sie,« sagte ich ihr, »bei dem allmächtigen Gott, der in Ihr Herz sieht, nichts zu verschweigen, was dazu beitragen könnte, Aufklärungen zu geben, die zur Entdeckung des Thäters nothwendig sind. Was auch in Ihrem Herzen vorgehen mag, Gott sieht es und wird Sie zur Rechenschaft ziehen, wenn Sie etwas verschweigen, oder wenn Sie gar lügen.«

Diese eindringlich gesprochenen Worte wirkten auf das Mädchen so ein, daß sie während derselben unwillkürlich von der Bettstatt sich erhob, trotzdem sie sich mit der linken Hand am Bettpfosten festhalten mußte. Mit zu Boden geschlagenen Augen und anscheinend sehr verlegen, begann sie jetzt mit leiser Stimme: »Ich habe mit meinem Pflegebruder immer gut zusammen gelebt, wie Bruder und Schwester, bis er zum Militär ging. Als er fort war, und ich ihn nicht mehr um mich sah, da merkte ich, daß er mir mehr sei als ein Bruder. Als er zum ersten Mal auf Urlaub kam, konnten wir Beide unsere Gefühle nicht mehr verbergen, wir verlobten uns heimlich und hielten einander die Treue. Als er dann wieder ganz zurückkehrte, setzten wir unser Verhältniß fort, aber es ist nie etwas zwischen uns geschehen, dessen wir uns zu schämen brauchten!«

Das Mädchen hob bei diesen Worten ihre thränenverschleierten Augen auf und blickte uns voll an.

»Wußten Ihre Eltern denn nichts von diesem Verhältniß?«

Das Mädchen zögerte eine Weile und antwortete dann stockend: »Sie wußten bis gestern nichts davon. Gestern Nachmittag überraschte uns mein Vater, als mich Karl in der Küche küßte. Es gab einen furchtbaren Zank, meine Mutter schlug mich, und der Vater schlug Karl und nannte ihn einen Betteljungen und mich eine ungerathene Dirne. Ich habe meinen Vater nie so erregt und außer sich gesehen, wie an jenem Tage. Er befahl Karl, sofort das Haus zu verlassen, und zuletzt gestattete er ihm nur, bis zum heutigen Morgen zu bleiben. Ich warf mich meinem Vater zu Füßen und bat ihn, unsere Liebe nicht zu stören. Er antwortete mir mit Schlägen und erklärte, daß er niemals, so lange er lebe, seine Einwilligung zu unserer Verheirathung geben würde. Auch die Mutter sagte das Gleiche.«

Als das Mädchen diese Worte gesprochen hatte, herrschte eine fürchterliche Stille in der Kammer, in der sich außer ihr und mir nur noch der Protokollführer und der Ortsschulze befanden. Selbst erschüttert, rief ich ihr zu: »Heute Morgen also sollte Ihr Geliebter das Haus verlassen, in das er nach Ihrer eigenen Aussage niemals als Ihr Gatte einziehen konnte, so lange Ihre Eltern lebten, und in der Nacht griff der von Rache, von Wahnsinn, Zorn und Liebe Verblendete zur Holzaxt und tödtete seine Pflegeeltern – Ihre Eltern, Mädchen; wahrscheinlich mit Ihrer Einwilligung!«

Das Mädchen blieb wie erstarrt stehen und bewegte sich nicht. Sie schrie nicht auf, als ich ihr die fürchterliche Anklage in's Gesicht schleuderte, sie weinte nicht, sie wurde nicht ohnmächtig, sondern sie blieb starr, wie vom Blitz getroffen stehen.

*

Als ich gegen Abend wieder mit meinem Protokollführer Zellerndorf verließ, fuhr uns vorauf ein Wagen, den der Ortsschulze und ein Gendarm bewachten, und auf welchem als verdächtig des Mordes und der Mitwissenschaft am elterlichen Doppelmord Karl Vogt und Anna Stegnitz als Gefangene saßen.

2.

Die erste Nacht im Gefängnisse pflegt, besonders für diejenigen Menschen, welche zum ersten Male sich eines schweren Verbrechens schuldig gemacht haben, nie ohne bedeutenden Einfluß vorüberzugehen. Die unheimliche Stille und die Finsterniß, welche den Gefangenen umgeben, wecken seine Phantasie, und, angestachelt von dem mahnenden Gewissen, führt ihm diese in furchtbaren Bildern die einzelnen Scenen seines Vergehens vor Augen.

Der Gefangene sieht sich selbst, er sieht seine Opfer, er sieht das geraubte Gut; das Blut, das nach seinem Kopfe drängt und in seinen Schläfen hämmert, das in seinen Ohren saust und Töne wie von Glockengeläute erzeugt, scheint ihm zuzuschreien: »Verbrecher! Verbrecher!« Das Bewußtsein, verhaftet und in Untersuchung zu sein, gegen welche sein Leugnen nur wenig helfen dürfte, lähmt den Muth des Gefangenen, und oft habe ich es als Kriminalbeamter beobachtet, daß die hartnäckigsten, verstocktesten Subjekte am Morgen nach der ersten Gefängnißnacht zu demüthigen, verzweifelten, hilflosen Jammergestalten geworden waren.

Wenn man auf das Gemüth eines Verbrechers einwirken will, wenn man die Absicht hat, seinen Seelenzustand auszunutzen für die Erlangung eines Geständnisses, so gibt es nichts Besseres, als am Morgen nach jener ersten Gefängnißnacht sich ihn wieder vorführen zu lassen.

So fand auch ich mich in dem Gefängnisse des Ortes, wo ich meinen Amtssitz hatte, schon in frühester Morgenstunde ein und ersuchte den Direktor, mir vor Allem die Anna Stegnitz vorführen zu lassen. Ich hoffte, daß auf das Mädchen, welches ja noch ziemlich jung war, die Nacht so günstig in kriminalistischem Sinne eingewirkt haben müsse, daß sie vielleicht nicht mit einem Geständnisse zurückhielt, durch welches die Schuld des Karl Vogt als unumstößlich feststehend betrachtet werden konnte. Daß dieser sich auf ein Geständniß einlassen würde, glaubte ich nicht, trotzdem die gegen ihn vorliegenden Beweise so erdrückende waren, daß es als vollkommene Thorheit erscheinen mußte, wenn er noch weiter zu leugnen gedachte. Es sprach Alles gegen ihn, und er selbst hatte ja schon durch sein halbes Geständniß sich eigentlich so schwer belastet, daß eine Verurtheilung erfolgen mußte. Er hatte mit seinen Pflegeeltern Streit gehabt, bei dem es sich sowohl um seine Zukunft, als auch um seine Liebe, ja selbst um seine Ehre handelte. Er war Soldat und war stets ein Mensch gewesen, der etwas auf sich hielt, und er hatte sich schlagen lassen müssen, weil er es gewagt hatte, seine Augen zu der einzigen Tochter seiner Beschützer und Gönner zu erheben. Mit Schimpf und Schande wollte man ihn vom Hofe treiben, einer ungewissen Zukunft mußte er entgegengehen, und sein Ehrgefühl mußte über die Art und Weise, wie er aus dem Hause seiner Pflegeeltern verstoßen wurde, ebenso verletzt werden, wie durch den Vorwurf, den man ihm gemacht hatte, daß er als Betteljunge und aufgelesenes Kind um die Tochter des reichen Bauern freien wolle. Wohl war Karl Vogt sonst nach Aussage aller Leute, die ihn kannten, ein nüchterner, fleißiger und achtbarer Mensch, aber gab es nicht Motive genug für ihn, um Rachegefühle gegen seine Pflegeeltern zu hegen; brachte ihm nicht ihr plötzlicher Tod Vortheile?

Wie oft hatte ich es als Kriminalist erfahren, daß durchaus achtbare, ja gutmüthige Menschen zu Mördern, zu schweren Verbrechern wurden, weil die Leidenschaft sie übermannte!

Ich suchte mich in die Seele dieses Karl Vogt zu versetzen unmittelbar nach der Scene, die ihm sein Pflegevater bereitet hatte; Zorn, Scham, und nicht zum Mindesten der Gram um die Geliebte, die vielleicht in kürzester Zeit durch den Willen ihres Vaters an einen Anderen verheirathet wurde, mußten in ihm wüthen. Wer weiß, welch' furchtbare und finstere Gedanken in seinem Inneren entstanden! Ja, wenn die beiden Alten, die ihm im Wege standen, todt waren, dann gab es kein Hinderniß mehr, dann fiel alle Sorge und aller Kummer fort! Vielleicht hatte er mit Abscheu, mit Grauen und Schrecken den ersten Keim des furchtbaren Mordgedankens in sich aufgehen sehen, schon nach einer Stunde aber hatte der Gedanke an die entsetzliche That vielleicht nicht mehr so viel Schreckliches gehabt, wie im ersten Augenblicke. Er ging voll Leidenschaft nach dem Kruge, um dort sich mit Getränken zu betäuben, vielleicht um sich Muth Zu der fürchterlichen That zu trinken; dann kehrte er zurück und verübte das Verbrechen. Mit einem gewissen Raffinement dachte er unmittelbar nach der That daran, die Spuren derselben zu verwischen, ja den Verdacht auf Andere zu lenken. Er entledigte sich seiner blutbefleckten Kleidung, versteckte die Axt, mit der er die That vollbracht, dann hob er die Thür aus, die zum Hofe hinaus führte, wahrscheinlich in dem thörichten Glauben, daß nun angenommen werden müsse, der Verbrecher sei von außerhalb gekommen und in das Haus durch die ausgehobene Thür eingedrungen. Nachdem er diese Vorsichtsmaßregeln getroffen, eilte er hinaus auf die Straße, rief um Hilfe und that, als wäre er zufällig unmittelbar nach der That nach Hause gekommen.

Welche Mitschuld an dem Verbrechen aber hatte die Anna Stegnitz, seine Geliebte? Es war wohl nicht so ohne Weiteres anzunehmen, daß sie Mithilfe bei der That geleistet habe, vielleicht hatte ihr auch der aufgeregte junge Mann von seinem Plane gar nichts mitgetheilt, um so weniger, als vielleicht der feste Entschluß, die furchtbare That zu verüben, ihm erst im letzten Momente gekommen sein mochte. Jedenfalls aber mußte sie ahnen, vielleicht sogar wissen, daß Karl Vogt der Verbrecher war. –

Anna Stegnitz wurde vorgeführt, und auch bei ihr hatte sich der alte Satz bewährt, daß die erste Gefängnißnacht einen fürchterlichen Eindruck macht. Das Mädchen zeigte einen geradezu schrecklichen Gesichtsausdruck und schien innerlich vollständig gebrochen zu sein. Es that mir aufrichtig leid um das arme Kind, aber meine Pflicht als untersuchender Beamter untersagte mir, mich von meinem Gefühl leiten zu lassen. Ich merkte wohl, daß es darauf ankommen würde, das Herz des verzweifelten Mädchens mit den richtigen Worten zu treffen, und deshalb sagte ich zu ihr: »Sie haben die erste schreckliche Nacht allein im Gefängnisse verbracht, und gewiß haben Sie weder Ruhe für Ihr Herz, noch für Ihren Körper gefunden. Gewiß haben Sie an nichts gedacht, als an das furchtbare Verbrechen, dem Ihre Eltern, welchen Sie so viel Gutes verdanken, zum Opfer fielen, und vielleicht ist auch Ihnen der Gedanke gekommen, daß Sie das furchtbare Bild Ihrer ermordeten Eltern während Ihres ganzen Lebens nicht mehr los werden, wenn Sie nicht alles Mögliche thun, um den Verbrecher zur Strafe zu bringen. Wer er auch sei, möge er Ihrem Herzen noch so nahe stehen, er muß die Strafe für seine schreckliche That empfangen. Sie aber machen sich gewissermaßen zur Mitschuldigen seines Verbrechens, wenn Sie Ihre Aussage verweigern oder so einrichten, daß er durch dieselbe entschuldigt wird. Daher gehen Sie in sich und geben Sie der Wahrheit die Ehre.«

Anna Stegnitz rang schluchzend die Hände; endlich stieß sie mühsam hervor: »Was soll ich denn sagen? Ich habe ja nichts gesehen!«

»Sie haben zwar nichts gesehen, aber Sie haben wohl etwas gehört. Das sagten Sie ja bereits gestern aus. Sie hörten die Schläge, durch welche Ihren unglücklichen Eltern das Leben genommen wurde. Ich gebe zu, daß Sie vielleicht damals nicht wußten, was diese Schläge bedeuteten, aber ich frage Sie jetzt auf Ihr Gewissen: Als Sie Kenntniß von der fürchterlichen That erhielten, als Sie selbst an den Zusammenhang dachten zwischen dem Hin- und Hergehen im Hause, das Sie hörten, und der furchtbaren That, stieg da in Ihnen nicht ein bestimmter Verdacht auf gegen irgend einen Menschen, der wohl der Mörder sein könnte?«

Das Mädchen schwieg und ihr Schluchzen vermehrte sich.

»Sie antworten nicht,« fuhr ich fort, »und das macht Ihr Verhalten immer verdächtiger. Wissen Sie auch, daß ich nun auf den Gedanken kommen muß, daß Sie von dem furchtbaren Plane wußten, der gegen Ihre Eltern vorbereitet wurde, daß ich Sie geradezu für mitschuldig halten muß an der That, die Sie vielleicht hätten verhindern können und doch nicht verhinderten?«

Das Mädchen sah mich wie irrsinnig an, als könne sie das Furchtbare nicht fassen, was ich soeben gesagt hatte.

»Ich mitschuldig am Tode meiner Eltern?« rief sie. »Ich sollte gewußt haben, daß man ihnen ihr Leben nehmen wollte? O Gott! O Gott! Das werden Sie doch nicht von mir glauben! Das kann kein Mensch von mir glauben, daß ich ruhig still gelegen haben sollte in dem Augenblick, als man die Eltern abschlachtete, während ich sie durch einen einzigen Schrei hätte retten können!«

»Der Gedanke mag Ihnen schrecklich sein,« sagte ich ihr, »daß so etwas von Ihnen geglaubt wird, aber dieser Gedanke drängt sich Einem unwillkürlich auf, ebenso wie sich Ihnen der Glaube mit aller Gewalt aufgedrängt haben mag, daß der Thäter kein Anderer, als Ihr Geliebter und Pflegebruder Karl Vogt gewesen ist. Antworten Sie mir, ist dieser Gedanke nicht aufgestiegen in Ihnen, vielleicht mehr als einmal, seitdem Sie um jene That wußten?«

Das Mädchen rang die Hände und ihr Schluchzen war herzzerreißend. Sie hob die Arme zu mir empor und rief: »Es ist nicht möglich! Es ist nicht möglich! Es kann nicht möglich sein! Ich werde wahnsinnig, wenn ich daran denke.«

»Beruhigen Sie sich,« erklärte ich ihr, »und sagen Sie die Wahrheit.«

»Ich kann nichts sagen,« schrie sie, »und ich habe nichts zu sagen! Wie sollte ich einen solch' furchtbaren Verdacht aussprechen.«

»Dann antworten Sie auf eine andere Frage: halten Sie Ihren Geliebten für nichtschuldig?«

Ich wiederholte dreimal diese Frage und erhielt keine Antwort. Dieses Schweigen des verzweifelten Mädchens war eine viel schwerere Anklage, als es eine Antwort hätte sein können. Ich ließ die Weinende abführen, befahl aber, sie in der Nähe zu halten, und ließ mir Karl Vogt kommen.

Ich hatte mich getäuscht, wenn ich glaubte, heute einen Menschen vor mir zu haben, dem die erste Gefängnißnacht seine moralische Kraft gebrochen hätte. Im Gegentheil, der junge Mann zeigte eine Ruhe und Entschlossenheit, die mir geradezu imponirte. Auch an ihn wendete ich mich zuerst mit freundlichen Worten und bat ihn, in seinem eigenen Interesse sein Gewissen zu erleichtern durch ein offenes Bekenntniß seiner Schuld. Statt dessen aber erklärte er: »Ich habe die ganze Nacht über das nachgedacht, was in den letzten sechsunddreißig Stunden geschehen ist. Ich gebe zu, daß Sie und vielleicht auch alle anderen Menschen glauben müssen, daß ich die schreckliche That begangen habe. Aber ich schwöre es, ich bin unschuldig an der That! Nie ist in mir der Gedanke aufgestiegen, den Leuten etwas zuzufügen, denen ich so viel verdankte, die ebenso wie Eltern an mir gehandelt haben. Nein! Nein!« setzte er dann leidenschaftlich hinzu, »noch besser als Eltern sonst an ihren Kindern zu handeln pflegen! Ich gebe zu, Sie müssen glauben, daß ich der Mörder bin; aber ich bin es nicht! Mein Gewissen ist rein, und wenn ich wegen des Mordes verurtheilt werde, und wenn ich meinen Kopf auf das Schaffot legen muß, so will ich es ruhig thun, denn ich kann mit reinem Gewissen vor Gottes Thron treten!«

»Sagen Sie einmal,« erklärte ich ihm nach dieser mit ziemlicher Leidenschaftlichkeit vorgetragenen Rede, »wenn Sie nicht der Mörder gewesen sein wollen, wer soll es denn dann gewesen sein?«

Vogt zuckte die Achseln und sah zu Boden.

»Sie wissen selbst,« begann ich wieder, »daß Ihre ermordeten Pflegeeltern keinen Feind hatten, dem eine solche That zuzutrauen wäre. Auch Einbrecher können nicht gut in das Haus hineingekommen sein, denn dann hätte man Spuren des Einbruchs bemerken müssen. Es muß also Jemand die That begangen haben, der Zutritt in das Haus hatte, der den Schlüssel besaß, um die Hausthür zu öffnen, der außerdem das Recht hatte, sich im Hause aufzuhalten, sei auch dieses Recht für ihn zum letzten Male in jener Nacht vorhanden gewesen.«

Ich beobachtete bei letzteren Worten scharf das Gesicht des Gefangenen, aber nichts bewegte sich in demselben.

»Der Mörder kann ja,« versetzte er dann nach einer Pause, »in dem Hause eingeschlossen gewesen und nach der That entflohen sein. Die Thür, durch die er geflohen ist, war ja ausgehoben und an die Wand gestellt. Diese Thür konnte nur von innen geöffnet werden, von außen konnte Niemand hinein.«

»Sehr richtig!« entgegnete ich. »Deshalb war Derjenige, der die Thür aushob, um dadurch die Spur von sich abzulenken, sehr thöricht. Wenn nämlich der Verbrecher, wie Sie sagen, entfliehen wollte, so brauchte er ja die Thür nur zu öffnen; warum hob er sie dann aus? Das gab ja auf der Flucht nur unnützen Zeitverlust. – Nein, nein, Vogt! Versuchen Sie nicht mit dieser thörichten Maßregel, die Sie wahrscheinlich selbst getroffen haben, sich herauszureden. Sehen Sie, dieses gänzlich überflüssige Ausheben der Thür spricht ganz entschieden gegen die Annahme, daß ein Fremder der Thäter gewesen ist.«

»Ich weiß es nicht,« entgegnete Vogt, »warum der Thäter das gethan hat. Als ich nach Hause kam, fand ich die Thür ausgehoben und sofort kam mir der schreckliche Gedanke, daß ein Verbrechen geschehen sei. Allerdings glaubte ich noch nicht an ein so furchtbares.«

Ich betrachtete den Gefangenen prüfend und lange, und sagte endlich: »Was Sie da soeben sagten, bringt ein neues und wichtiges Moment in die Untersuchung. Sie erklärten soeben, schon als Sie die Thür angeblich ausgehoben fanden, ahnten Sie, daß ein Verbrechen geschehen sei; warum ahnten Sie denn das? Wußten Sie vielleicht, daß Jemand im Hause versteckt war? Fast könnte man das annehmen, wenn man Ihre soeben gesprochenen Worte in Betracht zieht.«

Ueber das Gesicht Vogt's huschte eine glühende Röthe, er stotterte verwirrt einige Worte und sagte dann nach einer längeren Pause, die er gebrauchte, um sich zu fassen: »Ich weiß von nichts! Aber ich bin der Thäter nicht gewesen!«

»Dann war es Jemand, den Sie kannten,« sagte ich, um den jungen Mann zu verblüffen. Ich hatte diese Worte wirklich nur auf's Gerathewohl gesagt und erstaunte daher über die Wirkung, die sie bei Vogt hervorriefen. Seine Ruhe schien plötzlich dahin zu sein. Der Röthe in seinem Gesichte folgte jetzt eine jähe Blässe, und ohne die Augen aufzuschlagen, sagte er:

»Ich weiß von nichts, aber ich war der Mörder nicht! Ich bin wirklich erst dazu gekommen, als die schreckliche That schon geschehen war.«

Ich befand mich in einer Aufregung, die ich nur mühsam beherrschte. Aus den wenigen Andeutungen und aus dem Betragen Vogt's konnte man auf ein neues Moment, das da in die Untersuchung hinein kam, schließen. Ich mußte fast annehmen, daß Vogt einen Mitschuldigen hatte. Er schien aber wenig geneigt, diesen anzugeben, und deshalb versuchte ich durch ein etwas gewaltsames Mittel auf ihn einzuwirken.

Ich flüsterte dem Gerichtsschreiber etwas zu, dieser ging hinaus, kehrte bald darauf zurück und ihm folgte auf dem Fuße Anna Stegnitz.

Mit gespanntester Aufmerksamkeit beobachtete ich das Gesicht Vogt's, als seine Geliebte eintrat. Ich erwartete, er würde Ueberraschung zeigen, aber er warf nur einen langen, traurigen Blick auf das Gesicht des Mädchens, das mit niedergeschlagenen Augen an den Tisch herantrat und es nicht wagte, dem Blicke ihres Geliebten zu begegnen.

»Karl Vogt,« sagte ich jetzt, »hier steht das Mädchen, das Ihrem Herzen so theuer war, daß Sie um dieser Liebe willen gegen göttliches und menschliches Gebot sich vergangen haben. Auch sie, auch dieses Kind der Ermordeten muß glauben, daß Sie der Schuldige sind.«

Diese Worte machten einen fürchterlichen Eindruck auf Vogt. Er wich entsetzt einige Schritte zurück und sagte: »Du glaubst es, daß ich der Mörder bin? Du glaubst es, daß ich Deine Eltern getödtet habe? Sage nein, sage, daß Du es nicht glaubst, oder ich komme um den Verstand!«

Anna Stegnitz sah zu Boden und antwortete nicht. Eine fürchterliche Pause trat ein, und eine Stille herrschte in dem Zimmer, daß man deutlich das Keuchen der Brust Vogt's hörte.

»Du schweigst?« sagte er endlich, »Du findest kein Wort für mich? Du glaubst also auch an meine Schuld? Nun, so machen Sie mit mir, was Sie wollen! Lassen Sie mich meinetwegen mit Pferden zerreißen, Sie sollen aus mir kein Wort weiter herausbringen! Jetzt bin ich mit dem Leben fertig, schicken Sie mich auf das Schaffot! Sie erweisen mir einen Gefallen damit, denn der Tod ist mir jetzt das Liebste! – Gott im Himmel weiß es, daß ich keine Schuld auf mir habe, aber die Menschen verlassen mich, alle Menschen, alle! Was soll ich noch länger unter ihnen?«

Anna Stegnitz wankte und war einer Ohnmacht nahe. Ich ließ sie hinausführen und auch Vogt nach seiner Zelle zurückbringen, da in dem Zustande, in welchem er sich augenblicklich befand, wohl kaum an ein weiteres Verhör mit ihm zu denken war.

*

Wenige Stunden nach diesem Verhör befand ich mich bereits wieder auf dem Wege nach Zellerndorf. Ich wollte noch einmal an Ort und Stelle eine gründliche Untersuchung der Lokalitäten, außerdem aber auch noch eine zweite, weitergehende Vernehmung aller dortigen Zeugen vornehmen.

Ich fand das Grundstück, in welchem die Stegnitz'schen Eheleute lagen, dicht umstellt von Menschengruppen, denn dort drinnen in den Wohnräumen walteten die Gerichtsärzte ihres Amtes und secirten die Leichen der Ermordeten, um die Art der Verwundungen und die Anzahl der Wunden festzustellen. Ich wollte die Herren nicht weiter stören, freute mich aber, daß das Gutachten des Kreisphysikus sich vollkommen mit meinen Beobachtungen deckte, daß nur ein kleiner Mann von außerordentlich großer Körperkraft das Verbrechen begangen haben könne.

Ich war aber vor Allem hinausgefahren, um nähere Erkundigungen über einen sehr geringfügigen Umstand anzustellen, nämlich bezüglich jenes Paars alter Schuhe, das zugleich mit der blutigen Axt und den blutbefleckten Kleidern des Karl Vogt in dem Heuschober im Hofe gefunden worden war. In dem Augenblicke nämlich, als durch das Verhör des Vogt in mir der Gedanke aufgestiegen war, daß derselbe doch vielleicht einen Mitschuldigen haben könnte, vielleicht sogar einen Mitschuldigen, der die That verübte, während Vogt ihm nur Hilfe dazu geleistet hatte, erinnerte ich mich jener alten Schuhe, und deshalb ließ ich dieselben auch aus dem Gewahrsam des Ortsvorstehers, wo dieselben zugleich mit den anderen aufzubewahrenden Sachen unter Siegel sich befanden, herbeiholen.

Die Schuhe erwiesen sich als ein Paar sogenannter Schlorren, das heißt, es waren von einem früheren Paar Stiefel die Schäfte abgeschnitten worden, und so eine Art ziemlich weiter Schuhe entstanden. Wie bereits erwähnt; war das Paar sehr defekt und sogar jetzt noch feucht, so daß man sehr wohl sehen konnte, die Schuhe waren im Schnee getragen worden, wahrscheinlich kurze Zeit, bevor der Mord verübt wurde.

Ich ließ sämmtliche Knechte und Mägde des Stegnitz der Reihe nach vor mich kommen, zeigte ihnen die Schuhe und fragte sie, ob ihnen dieselben nach ihrer Form oder überhaupt irgendwie bekannt seien, ob sie diese Schuhe im Hause oder überhaupt an den Füßen irgend eines Hausbewohners, selbst die beiden Ermordeten nicht ausgeschlossen, gesehen hätten.

Uebereinstimmend lauteten die Aussagen dahin, daß Schuhe dieser Art von den Zeugen niemals im Hause oder an den Füßen irgend eines Hausbewohners gesehen worden wären. Niemand konnte sich erinnern, daß überhaupt im Hause jemals solche Schuhe vorhanden gewesen seien.

Wie kamen nun aber diese eigenthümlichen Schuhe, die Niemand kennen wollte, in den Heuschober, und zwar zu den blutbefleckten Sachen Vogt's und dem Mordinstrument?

Der Gendarm, der in Veranlassung der Obduktion der Leichen wieder anwesend war, erklärte, daß die Sachen in der Weise in dem Heuschober versteckt gewesen seien, daß am tiefsten darin, also am meisten nach der Mitte zu, die blutbefleckten Sachen lagen, dann kamen die Schuhe und am weitesten nach außen zu lag die blutige Axt. Wie sich nebenbei ergab, stammte die Axt aus dem offenen Holzschuppen im Hofe der Stegnitz'schen Besitzung. In diesem Holzschuppen befanden sich – wie bereits angeführt – einige Bretter, eine Schnitzbank, und dort hatte auch sonst im Winkel, hinter Brettern verborgen, die Axt gelegen. Sämmtliche Knechte und Mägde vermochten dieselbe auf's Genaueste zu rekognosziren. Wer also die Axt dort aus dem Schuppen herausgenommen hatte, der mußte wissen, daß er sie dort überhaupt finden würde; es mußte ein mit der Lokalität vollkommen Vertrauter sein. Wie kamen aber diese Schuhe in den Heuschober?

Ich ließ als Sachverständigen den einzigen Schuhmacher von Zellerndorf vorladen und der Meister erschien sehr rasch. Er betrachtete sorgfältig die ihm vorgelegten Schuhe; endlich erklärte er: »Mir ist es nicht bekannt, daß irgend Jemand im Dorfe jemals solche Schuhe getragen hätte. Ich zum Wenigsten habe sie nicht angefertigt. Ich kann aber sehr wohl, selbst unter Eid, aussagen, daß die Schuhe überhaupt nicht aus unserer Gegend stammen, nicht einmal aus unserer Provinz. Ich bin ziemlich weit herumgewandert und kenne die Art der Anfertigung von Schuhen in dieser ganzen Provinz genau. Wir pflegen die Schuhe zu nageln, oder mit sogenanntem Pechdraht das Oberleder an der Sohle festzunähen; diese Schuhe sind aber mit Drahtklammern genäht, die sich nur mit großen, besonderen Maschinen einschlagen lassen. So viel mir aber bekannt, gibt es solche Maschinen in unserer ganzen Provinz nicht. Die Schuhe müssen auch einmal sehr werthvoll gewesen sein, denn das Leder ist heute noch ziemlich gut. Sie sind auch in der Sohle so geschweift, wie das bei uns gar nicht üblich ist. Ich möchte fast behaupten, es sind englische Schuhe, mit voller Sicherheit aber kann ich nur erklären, daß aus hiesiger Gegend diese Schuhe nicht stammen.«

Gegen Abend fuhr ich wieder nach meinem Amtssitz zurück, nachdem ich noch ein genaues Verhör mit allen Nachbarn des Stegnitz'schen Gehöftes, ja fast mit der größeren Zahl der erwachsenen Dorfbewohner angestellt hatte, dahin gehend, ob sie am Tage vor dem Morde oder in der Nacht irgend eine fremde Person auf dem Stegnitz'schen Hofe oder im Dorfe überhaupt gesehen hätten. Das Resultat dieses außerordentlich umfangreichen und anstrengenden Verhörs war ein durchaus negatives; Niemand hatte eine fremde oder irgendwie auffällige Person bemerkt.

Ich ließ noch am Abend mir Karl Vogt nochmals vorführen und sagte ihm offen: »Die Sache wird immer verwickelter, und Sie sind der einzige Mensch, der Auskunft geben kann. Wie sind diese Schuhe in den Heuschober gekommen? Haben Sie dieselben hineingesteckt?«

»Machen Sie mit mir, was Sie wollen,« sagte trotzig der Gefangene, »Sie erfahren von mir nichts mehr! Lassen Sie mich hinrichten! Das ist das Einzige, was ich haben will.«

Es war aus Karl Vogt nichts herauszubringen, auch in den nächsten Tagen nicht. Der Mann war wie verwandelt; er mußte Tag und Nacht in seiner Zelle auf das Sorgfältigste beobachtet werden, weil ich befürchtete, er könne einen Selbstmordversuch machen. Auf alle Fragen antwortete er mit Achselzucken oder mit einem kurzen: »Ich weiß nicht,« oder mit dem trotzigen: »Machen Sie mit mir, was Sie wollen.«

Vorläufig mußte also für längere Zeit auf jedes Verhör mit dem aus Rand und Band gerathenen Menschen verzichtet werden.

Was aber sollte nun mit Anna Stegnitz geschehen? Nach Lage der Sache und der Untersuchung mußte sie eigentlich entlassen werden, denn weitere Verdachtsmomente waren gegen sie nicht aufgetaucht. Es war auch nothwendig, sie wenigstens zum Begräbniß ihrer Eltern zu beurlauben, und die Staatsanwaltschaft, mit welcher ich mich in's Einvernehmen setzte, gab ihre Genehmigung dazu, das Mädchen am Tage vor der Beerdigung ihrer Eltern zu entlassen. Ich redete ihr nun energisch in's Gewissen, ehe sie fortging, und forderte sie auf, sich, während sie am Grabe ihrer ermordeten Eltern stünde, darauf zu besinnen, was ihre Pflicht sei. Auch fragte ich sie, ob sie sich an ein Paar Schuhe der oben erwähnten Art erinnere, aber auch sie erklärte, von solchen nichts zu wissen.

Es wurde daher eine Zeichnung jener Schuhe angefertigt und in den benachbarten Städten vertheilt, auch in den Zeitungen durch Inserate veröffentlicht. Handelte es sich doch darum, einen Mitschuldigen an dem furchtbaren Doppelmorde, wenn nicht den eigentlichen Thäter selbst, zu entdecken. Bei mir wenigstens hatte sich die feste Ueberzeugung ausgebildet, daß doch Karl Vogt trotz aller gegen ihn sprechenden Verdachtsmomente vielleicht nicht der wirkliche Thäter sei. Was hatte er aber dann für einen Grund, so hartnäckig zu schweigen, wenn er sich durch die einfache Erzählung des Thatbestandes, wenn auch nicht schuldlos, so doch minder schuldig machen konnte? Ich wußte es nicht, und die Untersuchung stockte nach allen Richtungen hin, weil der trotzige Mensch, wie bereits vorher erwähnt, nicht dazu zu bewegen war, irgend welche Erklärungen oder Geständnisse zu machen.

3.

Fünf Tage waren vergangen, als sich zu meinem Erstaunen Anna Stegnitz wieder bei mir einfand, um mir mitzutheilen, daß sie jetzt Aussagen zu machen habe, die vielleicht nicht ohne Belang seien. Trotzdem das Begräbniß ihrer Eltern sehr erschütternd auf sie eingewirkt haben mochte, fand ich das Mädchen gefaßter, und ihr Gesicht zeigte nicht mehr den Zug der Verzweiflung und des Leidens, der unmittelbar nach ihrer Verhaftung auf demselben erschienen war. Eine gewisse Energie drückte sich vielmehr in ihren fest geschlossenen Lippen, in den fest zusammengezogenen Augenbrauen aus, sie war bleich, aber entschlossen, und wenn sie auch ihre Erregung nur mühsam unterdrücken konnte, so war sie doch thränenlos, als sie begann:

»Ich komme zu Ihnen, um Sie zu bitten, von einigen Sachen, die ich entdeckt habe, Notiz zu nehmen, und um Ihnen gleichzeitig noch einige Sachen mitzutheilen, die ich entweder früher vergessen hatte, oder die ich nicht sagen wollte. Sie haben mir gesagt, ich solle mich am Grabe meiner Eltern erinnern, was meine Pflicht sei; ich habe das gethan und komme heute zu Ihnen, weil ich die feste Absicht habe, den Mörder meiner unglücklichen Eltern zu entdecken. Ich hätte mich gegen diese Entdeckung auch früher nicht gesträubt, aber wenn ich es auch nicht ausgesprochen habe, so wissen Sie ja, Herr Kriminalrath, trotzdem sich mein Herz auch noch so sehr sträuben wollte, daß ich glauben mußte, mein unglücklicher Bräutigam sei der Thäter gewesen. Ich konnte sogar, als Sie mich ihm gegenüber stellten, es nicht einmal über mich gewinnen, zu lügen und ihm zu sagen, daß ich an seine Unschuld glaube, und Sie haben ja selbst gesehen, welchen furchtbaren Eindruck auf den armen guten Karl mein Schweigen gemacht hat. Ich habe Tag und Nacht zu Gott gebetet, mich aus diesem Zwiespalt zwischen meinem Kopf und meinem Herzen heraus kommen zu lassen, und ich glaube, der Himmel hat mich erhört. Es ist Ruhe in meine Brust eingezogen, und ich habe jetzt die feste Ueberzeugung, daß der Mann, den ich über Alles liebe, die fürchterliche That nicht begangen hat. Von dem Augenblicke an, in dem Sie mich entließen, habe ich mir Mühe gegeben, etwas Neues zu entdecken. Nachdem meine Eltern begraben worden waren, habe ich unser ganzes Haus durchsucht, um irgend Etwas zu finden, und nun bringe ich Ihnen das Resultat.

Erstens, aus Karl's Kammer und aus seiner Kiste fehlen fast sämmtliche Kleidungsstücke, ein großer Theil seiner Wäsche, und auch ein Paar neue Stiefel. Ich habe mit der Mutter zusammen die Wäsche und die Sachen meines Pflegebruders in Ordnung gehalten und weiß daher genau, was er besaß. Der Diebstahl ist aber nicht etwa nach dem Morde begangen worden, denn die Thür zu Karl's Kammer war durch den Ortsrichter versiegelt worden, und erst für mich hat er sie wieder geöffnet. Dann aber ist gestern zu mir ein kleiner Knabe gekommen, der bei dem eingetretenen Thauwetter sich hinter unserem Gehöfte herumgetrieben und dort eine rothtuchene Weste gefunden hat, die ich als Karl's Eigenthum erkannte. Dieses Kleidungsstück hat etwa hundert Schritt von unserer Gehöftmauer entfernt unter dem Schnee gelegen und ist erst zum Vorschein gekommen, als der Schnee gestern schmolz. In dieser Weste nun befindet sich Geld, wie Sie sehen, in ein kleines seidenes Tuch eingebunden. Dieses Tuch habe ich einmal Karl geschenkt, und ich kann wohl annehmen, daß das Geld hier von ihm erspart wurde, und daß er es in der Weste aufbewahrt hatte. Wie kommt nun diese Weste dorthin, so weit entfernt von unserem Hofe? Wer hat sie dorthin getragen? Denn daß sie etwa über die Mauer geworfen wurde, ist nicht anzunehmen. – Drittens aber habe ich noch etwas mitzutheilen, was mir aufgefallen ist, als ich den Nachlaß meiner Eltern zusammen mit dem Ortsrichter durchsuchte. Sie haben selbst damals in dem Zimmer, in dem die Ermordeten lagen, eine blecherne Büchse gesehen, in der sonst meine Eltern ihr Geld aufbewahrten, und die erbrochen und ihres Inhalts beraubt worden war. Ich weiß aber genau, daß meine Eltern nicht nur baares Geld, sondern auch Papiere, auch eine Anzahl von Quittungen und Schuldscheinen in der Kommode verwahrten. Von allen diesen Sachen findet sich auch nicht die geringste Spur. Welchen Grund hätte nun der Mörder haben können, die für ihn ganz werthlosen Quittungen und Schuldscheine mit sich zu nehmen? Und warum hätte mein unglücklicher Pflegebruder, der so sehr verdächtig scheint, sich die Zeit nehmen sollen, auch diese Papiere bei Seite zu schaffen?«

Anna Stegnitz schwieg jetzt; aber man merkte es ihr wohl an, mit welchem Eifer sie mir ihre Sache vorgetragen hatte. Leider mußte ich alle die Neuigkeiten, die sie mir meldete, von einem ganz anderen Standpunkte aus betrachten, als das unglückliche Mädchen, dem nur daran lag, den Geliebten zu entlasten. Ja, ich war sogar gezwungen, die Momente, die sie vortrug, belastend für Karl Vogt zu finden. Es fehlten Kleidungsstücke und Stiefel von ihm, seine Weste mit dem Spargeld war weit entfernt von dem Gehöft unterm Schnee gefunden worden: das bewies mir als Kriminalisten, daß eben noch eine zweite Person im Spiel gewesen war, daß meine längst gehegte Vermuthung, Vogt habe einen Mitschuldigen, richtig sei. Als Kriminalist kam ich aber unwillkürlich zu der Annahme, daß sowohl die Kleidungsstücke, als auch die sammt dem Gelde verlorene Weste vielleicht von Vogt an seinen Mitschuldigen als Belohnung für die Theilnahme an der schrecklichen That gegeben worden seien. Wer hätte denn wohl sonst Veranlassung gehabt, bei dem Morde auch noch diese kleinen Diebstähle in der Kammer des jungen Mannes zu verüben? Wer wußte überhaupt, wo derselbe seine besten Sachen verwahrt hatte?

Für mich brachten in der That die Neuigkeiten des Mädchens, die ja durchaus nicht zu unterschätzen waren, keine Klarheit, sondern neue Verwirrung in die Sache. Zwar konnte auch ich kein Motiv finden, das Karl Vogt, wenn er der Mörder war, veranlaßt haben konnte, die Schuldscheine und Quittungen zu entwenden, aber es hatte auch eigentlich kein anderer Mensch irgend welches Interesse an der Fortnahme dieser Papiere, wenn man eben nicht annehmen wollte, daß geradezu einer derjenigen Leute, welche dem verstorbenen Stegnitz einen Schuldschein gegeben hatten, der Thäter sei. Ich fragte deshalb Anna sofort, ob sie die Leute ungefähr kenne, welche von ihrem Vater Geld geliehen hatten, sie mußte aber zugestehen, daß ihr keine einzige derselben bekannt sei, daß sie nur öfter von ihrer Mutter gehört habe, daß ihr Vater im letzten Jahre unvorsichtig im Ausleihen von Geld gewesen sei. Die Angaben des jungen Mädchens hatten also etwas Greifbares eigentlich nicht ergeben, dagegen hoffte ich viel davon, wenn ich sie mit dem Geliebten, wenn auch nur auf kurze Zeit, zusammenbrächte. Eine Schädigung der Untersuchung konnte ich von dieser Zusammenkunft wohl kaum befürchten, außerdem gedachte ich derselben unbemerkt beizuwohnen. Ich fragte das Mädchen, ob sie auf ein solches Wiedersehen, bei dem ich den Zuhörer machen wollte, einginge, und sie erklärte sich sofort dazu bereit, lag doch auch ihr daran, daß Vogt endlich mit einem offenen Geständnisse herausrückte, durch welches er höchst wahrscheinlich entlastet werden mußte.

Wenige Minuten darauf öffnete sich die Zellenthür, hinter welcher Vogt, wie immer, dumpf brütend auf dem einzigen Stuhl neben dem kleinen Tisch saß, und Anna trat ein. Durch die Beobachtungsklappe in der Thür, welche dem in der Zelle Befindlichen nicht gestattet, den draußen Stehenden zu sehen, wurde ich Zeuge einer ergreifenden Scene.

Anna wollte sich mit ausgebreiteten Armen an die Brust des Geliebten werfen, dieser aber war bei ihrem Anblick erschrocken aufgestanden und hielt ihr abwehrend beide Arme entgegen.

»Bleibe von mir!« rief er mit unsicherer Stimme.

»Zwischen uns ist Alles aus! Zwischen uns muß eine Welt liegen, wir dürfen nie wieder zusammenkommen!«

»Karl!« schrie das Mädchen außer sich. »Kannst Du mir nicht verzeihen? Ich habe ja nie behauptet, daß Du schuldig seiest, und ich glaube auch nicht an Deine Schuld; beim allmächtigen Gott, ich glaube nicht daran!«

»Ich zürne Dir nicht,« sagte matt der Gefangene, »daß Du an meine Schuld glaubtest. Du mußtest ja daran glauben! Alles sprach gegen mich, und doch habe ich meine Hand nicht mit dem Blute Deiner Eltern befleckt!«

»Karl!« rief Anna mit gerungenen Händen. »Wenn Du mich je geliebt hast, wenn alle die Worte wahr sind, die Du mir zugeschworen hast, so brich das furchtbare Schweigen und gestehe Alles! Was auch geschehen sein mag, meine Liebe zu Dir wird sich nicht verändern!«

»Sprich nicht von dieser Liebe!« rief erregt Vogt. »Sie ist ein Verbrechen, ohne daß Du es ahnst! Sie ist ein Verbrechen, an dem wir Beide unschuldig sind. Nein, nein: ich doch nicht ganz! Ich habe vielleicht die Veranlassung gegeben zum Tode Deiner Eltern, ohne es zu ahnen, ohne es zu wollen! Frage nicht weiter, denn ich kann und werde Dir weiter nichts sagen! Aber zwischen mir und Dir stehen Deine ermordeten Eltern, und für mich gibt es auf dieser Welt keine einzige andere Hoffnung, als die auf den Tod! Ich will ihn leiden unschuldig, und nur eine Bitte habe ich an Dich, geh' von mir und vergiß mich! Habe Erbarmen mit mir und Peinige mich nicht durch Deine Anwesenheit und Deine Fragen!«

Mehr und mehr tonlos hatte der Gefangene die letzten Worte gesprochen. Noch einmal hielt ihm Anna die gerungenen Hände entgegen, aber er winkte ihr ab, und das Mädchen verließ weinend die Zelle, in der ihre Anwesenheit durchaus keinen Erfolg gehabt hatte.

Es war mir unangenehm, dem unglücklichen Mädchen diese Qual bereitet zu haben, denn ich hatte einen anderen Erfolg erwartet.

*

Die Ueberraschungen schienen überhaupt in der eigenartigen Untersuchung an der Tagesordnung zu sein, denn ungefähr zwei Tage nach dem soeben geschilderten Wiedersehen zwischen Vogt und seiner Geliebten erhielt ich einen sonderbaren Brief, in welchem in der denkbar schlechtesten Handschrift und in fürchterlicher Orthographie Folgendes stand:

»Der Karl Vogt ist nicht der Mörder, auch der nicht, dem die Schuhe gehören. Sucht nur den Mörder im Dorf, ganz in der Nähe, wo der Mord geschehen ist. Er hat weiße Haare und hinkt.

Der, dem die Schuhe gehören.«

Offenbar war dieser Brief infolge der in den Zeitungen geschehenen Veröffentlichung geschrieben. Ich sah nach dem Poststempel und entdeckte, daß der Brief aus einem süddeutschen Orte kam, der von meinem Amtssitz mindestens sechzig bis siebenzig Meilen in gerader Linie entfernt lag.

Offen gesagt, solche Briefe sind in einer Untersuchung nichts Seltenes. Gar oft gehen solche Schreiben, durch welche bestimmte Persönlichkeiten bezichtigt werden, ein; Schreiben, welche abgesendet sind von den Angehörigen der wirklich Schuldigen, die mit diesen Briefen beabsichtigen, die untersuchende Behörde auf eine falsche Fährte zu leiten.

Aber wer hatte dann in diesem Falle den Brief geschrieben? Entweder der Mitschuldige des Karl Vogt oder Anna Stegnitz. Ein anderer Mensch hätte kaum Veranlassung gehabt, diesen Brief abzusenden.

Von Anna konnte ich nicht glauben, daß sie eine derartige thörichte Verschleierung und Verdunkelung der Untersuchung beabsichtigte; aber der Mitschuldige hatte vielleicht den Brief abgesendet. Ihm mußte ja daran liegen, Karl Vogt nach Möglichkeit zu entlasten. –

Der zweitnächste Morgen brachte abermals eine Ueberraschung. Ich erhielt durch einen expressen Boten einen Brief von Anna Stegnitz, in welchem diese mich flehentlich bat, nach Zellerndorf hinauszukommen, da sie mir etwas an Ort und Stelle mitzutheilen habe. Ich hatte ein nicht geringes Interesse für das Mädchen gefaßt, und da ich auch nicht das Mindeste versäumen wollte, was zur Entdeckung der wirklichen Thäter und zur Aufhellung des Thatbestandes führen konnte, so eilte ich schon am Mittag, diesmal ohne Protokollführer, nach Zellerndorf hinaus.

Als ich vor dem Stegnitz'schen Hofe vorfuhr, begrüßte mich bereits Anna und dankte mir mit einem Händedruck dafür, daß ich gekommen sei. Der Hof selbst war außerordentlich gegen damals verwandelt, als ich ihn zum ersten Male gesehen, um den Thatbestand des Verbrechens aufzunehmen. Ueberall herrschte eine Sauberkeit und Ordnung, zu der ja vielleicht der trockene, kalte Frost ziemlich viel beigetragen haben mochte, aber auch, als ich das Haus selbst betrat, sah ich, daß es einen umsichtigen Herrn auf dem Hofe gab. Zu meiner Freude und aufrichtigen Bewunderung vernahm ich, daß Anna mit einer Energie, die selbst von den Dienstboten bewundert wurde, die Wirthschaft aufgenommen habe; und wenn ich dieses Mädchen näher betrachtete, so konnte ich nicht umhin, ihr meine Hochachtung zu zollen.

Aus diesem kindlichen Geschöpf, wie es mir zuerst entgegengetreten, und das so fürchterliche Schicksalsschläge, wie die Ermordung ihrer Eltern, die Verhaftung ihres Geliebten und ihre eigene, hatte ertragen müssen, war ein thatkräftiges Weib geworden, und das Alles nur durch die Macht der Liebe, die aus diesem einfachen Bauernmädchen fast eine Heldin, wenigstens in gewissem Sinne, gemacht hatte.

Ich betrat mit Anna Stegnitz zusammen das Zimmer, in dem die That verübt worden war; dasselbe war ebenfalls zu seinem Vortheil verändert. Die Spuren der schrecklichen That waren vollständig beseitigt, die Möbel standen in bester Ordnung umher, selbst an den Fenstern hingen kleine, frische, weiße Vorhänge, und man erkannte jetzt dieses trauliche Stübchen nicht wieder, wenn man es vorher als Stätte des traurigen Verbrechens gesehen hatte.

Ich lehnte die Erfrischung ab, welche mir Anna anbot; dann setzte sich das Mädchen mir gegenüber an den Tisch und sagte:

»Ich danke Ihnen noch einmal, Herr Kriminalrath, daß Sie meiner Bitte Folge leisteten und hergekommen sind. Ich habe Ihnen etwas mitzutheilen, was von hoher Wichtigkeit ist und was ich doch einem Briefe nicht anzuvertrauen wagte, weil der Verdacht, den ich aussprechen muß, schrecklich genug ist. Auch handelt es sich vielleicht darum, eine Person hier an Ort und Stelle zu vernehmen.«

»Sie haben also weitere Nachforschungen angestellt?«

»Ja,« entgegnete sie, »ja, Herr Kriminalrath, ich habe weiter nachgeforscht und werde nicht eher ruhen und rasten, als bis ich sicheren Aufschluß und Klarheit errungen habe, sollte ich auch darüber zu Grunde gehen.«

»Nun, so erzählen Sie,« sagte ich etwas ungläubig, in der Annahme, irgend eine leere Vermuthung zu hören.

Anna sah sich im Zimmer scheu um, als fürchte sie, belauscht zu werden, und begann dann mit gedämpfter Stimme:

»Ich habe vor Allem in der Nachbarschaft herum gefragt, ob Niemand etwas in jener Nacht gehört oder gesehen hätte. Und da ist nun etwas Wichtiges zu Tage gekommen. Dort drüben, Herr Kriminalrath, an der Straße, steht, wie Sie von diesem Fenster aus sehen können, ein kleines Häuschen, in dem eine Auszüglerin wohnt, eine alte achtzigjährige Frau, mit der sich etwas schwer verkehren läßt, erstens, weil sie nicht gut hört, dann aber auch, weil sie doch schon etwas gedächtnißschwach ist. Ich führe das selbst im Voraus an, Herr Kriminalrath. Trotzdem ist aber die Aussage der alten Frau doch so sicher, daß ich Sie bitten möchte, dieselbe zu vernehmen, und zwar, da sich die Wittwe Banz nicht aus ihrer Stube bewegen kann, in ihrer Wohnung. Sie konnte in jener Nacht nicht schlafen, wie das ja bei so alten Leuten zumeist der Fall ist, sie zog sich daher an und trat an das Fenster. Sie wissen, Herr Kriminalrath, es lag damals Schnee, ja es fiel sogar noch Schnee in der Nacht, und dieser verbreitete eine gewisse Helle. Die Wittwe Banz erzählte mir nun Folgendes: Sie habe kurz nach Mitternacht eine Person aus unserem Gehöft herauskommen sehen, welche in die Dorfstraße eingebogen sei; sie habe dann nach ungefähr zehn Minuten zu ihrem Erstaunen eine zweite Person bemerkt, die ebenfalls aus unserem Hause herauskam, aber nicht durch das vordere Hofthor sich entfernte, sondern vielmehr sich in der Nähe des Heuschobers über die Mauer schwang und dann davonlief. Kurze Zeit darauf kam vom Dorfe her eine Person, in der sie Karl Vogt erkannt haben will. Ungefähr eine Viertelstunde später hörte die Wittwe Banz dann den Hilferuf. Die alte Frau wurde dadurch so erschreckt, daß sie, wie sie mir sagte, sich ein paar Tage gar nicht erholen konnte. Sie hat dann auch von dem Morde erfahren und auch, daß wir Beide, Karl und ich, verhaftet worden sind, sie hat aber nicht weiter darüber nachgedacht, und hat sich vor Allem nicht mit ihrer Aussage gemeldet, weil sie in ihrem Alter mit dem Gerichte nichts mehr zu thun haben wolle. Erst als ich sie besuchte, wurde sie gesprächig, weil sie entschieden wegen meiner Verhaftung Mitleid mit mir hatte.«

»Sehr gut!« entgegnete ich. »Wenn die Frau diese Aussagen wiederholt, so sind wir allerdings um ein großes Stück weiter. Wenn nun aber die alte Frau sich irrt, oder wenn sie von den Aerzten für nicht ganz zurechnungsfähig erklärt wird? – Aber noch etwas Wichtigeres! Die erste Person, die aus dem Gehöfte Ihrer Eltern herauskam, ging nach dem Dorfe zu; hat denn die alte Frau gesehen, wohin diese Persönlichkeit ging?«

»Nein!« entgegnete Anna Stegnitz. »Ich habe auch bereits darnach gefragt. Von ihrem Fenster aus konnte Frau Banz die Person nicht weiter mit den Augen verfolgen, als bis dieselbe in die Dorfstraße eingebogen war. Darf ich nun aber jetzt, Herr Kriminalrath, zu der alten Frau hinübergehen und sie darauf vorbereiten, daß Sie vielleicht ein Verhör mit ihr anstellen werden? Es ist nothwendig, daß ich erst zu ihr hingehe, denn vor dem Gericht und den Personen des Gerichts hat die alte Frau eine ganz außerordentliche Angst, und wenn sie unvorbereitet zu ihr gehen, so möchte sie vielleicht aus Besorgniß vor Unannehmlichkeiten jede Aussage verweigern.«

»Thun Sie das,« sagte ich. »Wenn aber die Frau Aussagen macht, die von Belang sind, so ist es nothwendig, daß dies vor Zeugen geschieht. Ich werde daher selbst den Ortsschulzen aufsuchen und diesen zur Verhandlung mitnehmen. Es wird sich auch schon deshalb empfehlen, den Mann bei dem Verhöre zugegen sein zu lassen, weil die Wittwe Banz ihn kennt und wohl als Respektsperson betrachten muß.«

Ich verließ mit Anna Stegnitz zusammen das Gehöft und suchte den Ortsschulzen auf, den ich auch glücklich zu Hause traf. Als ich mit ihm nach einiger Zeit zurückkehrte, erwartete uns Anna Stegnitz bereits auf der Straße, um uns zu der alten Frau zu geleiten.

Bekanntlich pflegen nach einem eigenthümlichen Herkommen des Bauernthums ältere Leute, insbesondere Wittwen, die einen Hof mit einem Grundstück besitzen, sich im Alter gewissermaßen von ihren Kindern pensioniren zu lassen. Sie übergeben dem Sohn oder Schwiegersohn den Hof und dessen Bewirthschaftung, und gehen in den sogenannten Auszug oder Ausgedinge, das heißt, sie wechseln die Wohnung, indem sie aus dem Hauptgebäude gewöhnlich in ein kleineres Häuschen oder auch nur Stübchen ziehen und dort für sich und leider sehr oft in Feindschaft mit ihren eigenen Angehörigen leben, die kontraktlich verpflichtet sind, den Auszüglern jährlich so und so viel in Baar oder in Naturalien zu liefern.

In einem kleinen Zimmerchen, in dem eine entsetzlich dumpfe Luft herrschte, weil die Frau, wie alle Bauern, eine grundsätzliche Feindin des Lüftens war, fand ich ein altes Mütterchen, das mich mit einem gewissen Entsetzen anstarrte, denn trotzdem sie von Anna Stegnitz vorbereitet worden war, schien ihr doch das Zusammenkommen mit einer Gerichtsperson schrecklich genug zu sein.

Ich sprach zuerst einige gleichgiltige und möglichst begütigende Worte zu ihr, um ihr zu zeigen, daß ich auch ein Mensch sei und nichts Böses gegen sie im Schilde führe. Dies schien beruhigend auf sie zu wirken, denn sie erzählte nun ziemlich willig, wenn auch manchmal stockend und hin und wieder sich etwas besinnend, den Sachverhalt so, wie ihn mir die Anna Stegnitz bereits mitgetheilt hatte.

Ich wollte indeß natürlich mehr erfahren, und fragte deshalb die alte Frau: »Sie haben also diesen Mann in die Dorfstraße einbiegen sehen; konnten Sie ihn erkennen?«

»Nein! Erkennen konnte ich ihn nicht, und ich will auch keinen Menschen beschuldigen. Gott soll mich davor behüten, daß ich das thue! Noch dazu in einer so schwierigen Sache! Ich will überhaupt nichts damit zu thun haben, und hätte ich gewußt, daß die Anna gleich zu Gericht geht und Alles erzählt, so hätte ich mir lieber die Zunge abgebissen, als so etwas gesagt. Ich will keinen Menschen unglücklich machen, und erkennen kann ich keinen Menschen bei Nacht, das geht überhaupt nicht.«

In dieser weitschweifigen Art pflegte die Frau auch weiter zu antworten, aber ich bekam doch endlich so viel aus ihr heraus, daß sie der Kleidung nach jenen Mann, der in die Dorfstraße einbog, nicht für einen Fremden, sondern eher für einen Einheimischen gehalten habe, ja, die Frau besann sich auch schließlich darauf, daß dieser Mann den rechten Fuß etwas nachgeschleppt habe, als schmerze ihn dieser. Allerdings war sie dann gleich wieder der Ansicht, es sei eigentlich der linke Fuß gewesen, kurzum, ihre Aussage war nicht genau genug, trotzdem aber protokollirte ich in aller Geschwindigkeit die Hauptpunkte ihrer Aussage und forderte die alte Frau auf, dieselbe zu unterschreiben, oder, da sie nicht schreiben konnte, mit drei Kreuzen an Stelle der Unterschrift zu unterzeichnen.

Da kam ich aber schlecht an! Auf etwas Schriftliches wollte sich die Frau, wie das ja bei Bauern zumeist der Fall zu sein pflegt, auf keinen Fall einlassen. Sie glaubte, daß sie, wenn sie diese drei Kreuze unter das Papier setzte, ihren Kopf riskire, und es bedurfte erst unendlicher Ueberredungskünste, um sie zu bewegen, daß sie endlich zitternd die Feder nahm und drei ungeschickte Kreuze unter das Protokoll machte. Des Ortsschulzen Zureden war dabei von der besten Wirkung, den Ausschlag aber gaben die Thränen Anna's, denn als diese zu weinen anfing, wurde die alte Frau gerührt und ließ sich zu der gefährlichen »Unterkreuzung« herbei.

Der Schulze und Anna Stegnitz unterschrieben ebenfalls diese schriftliche Aussage, dann ging ich mit dem Ersteren von der alten Frau fort, bei der Anna noch blieb, um sie zu beruhigen.

4.

So fiel denn das erste Licht in diese dunkle Sache; die erste Kombination war möglich. Erklärt war die sonderbare Angabe des anonymen Briefes, den ich aus Süddeutschland erhalten hatte. Der Thäter schien aus dem Dorfe zu sein, er schien keinen normalen Gang gehabt zu haben, und somit waren die Angaben des Briefes gewissermaßen erhärtet.

Natürlich war dieses erste Licht nichts als ein kleiner Schimmer. Gar nicht herauszufinden war vorläufig, wer den Brief geschrieben hatte und wer also auch Kenntniß von der Sache besaß. Ganz und gar nicht aufgeklärt war der Zusammenhang, in dem die beiden Personen, welche unmittelbar nach der That aus dem Hause herausgekommen waren, mit einander standen. Eine dieser Personen trat aus dem kleinen Pförtchen neben dem großen Hofthor und begab sich auf die Dorfstraße, die andere kletterte über die Mauer und lief querfeldein. Waren diese beiden Personen Genossen? War eine von diesen Personen der Besitzer der herrenlosen sonderbaren Schuhe? Hatte vielleicht nur Einer von ihnen gemordet und der Andere gestohlen? Hatten sie gemeinsam die That verübt und geplant, oder waren sie nur zufällig zusammengetroffen? Wußte Karl Vogt um ihre Anwesenheit, oder kam er nur zufällig erst nach Hause, nachdem die That schon verübt worden war? Mußte er nicht vielmehr eine oder vielleicht auch beide dieser geheimnißvollen Persönlichkeiten kennen? Gewiß! Warum hätte er denn sonst so hartnäckig seine Aussage verweigert, während er doch, wie sich jetzt mehr und mehr ergab, gar nicht mehr direkt betheiligt an der That zu sein schien?

Es ergaben sich jetzt für die weitere Untersuchung so viele Wege, die mit allen Nebenpfaden und Verästelungen verfolgt werden mußten, so viele Fragen, die erörtert werden konnten und mußten, daß ich fürchten mußte, die Untersuchung werde sich mehr und mehr zersplittern und das Festhalten eines einheitlichen Planes unmöglich machen.

Mir war aus meiner Praxis die Gefahr einer solchen Zersplitterung zu wohl bekannt, ich beschloß daher, vorläufig nur eine Spur, und zwar die nächstliegende, aufzunehmen, und das war selbstverständlich diejenige, die den Thäter in einem Dorfbewohner vermuthen ließ. Ich ging daher mit nach der Wohnung des Dorfschulzen, und diesem recht verständigen Mann entwickelte ich meine Ansichten und fragte ihn schließlich, ob er nicht selbst schon daran gedacht habe, daß irgend einer Person im Dorfe wohl die That zugetraut werden könnte?

Achselzuckend erklärte darauf der Ortsschulze: »Man könne die That Vielen zutrauen, aber verdächtigende Umstände haben sich eigentlich gegen Niemanden hier ergeben. Vielleicht wäre man auch früher auf eine andere Spur verfallen, wenn man nicht geglaubt hätte, unter allen Umständen den Thäter in Karl Vogt ergriffen zu haben. Jetzt sind die Spuren verwischt; es sind beinahe vierzehn Tage seit dem Morde verflossen, und die wirklichen Thäter haben unterdeß sehr viel thun können, um die Spur von sich abzulenken und sich in Sicherheit zu bringen.«

Der Mann hatte Recht. Diese erste Verhaftung des Karl Vogt und seiner Geliebten hatte der Sache viel geschadet. So lange man noch Niemanden als den wirklichen Thäter bezeichnen konnte, war gewissermaßen die ganze Bewohnerschaft des Dorfes von dem glühenden Wunsche beseelt, etwas zur Ergreifung des Thäters beitragen zu können. Von dem Augenblicke an aber, wo die Dorfbewohnerschaft die nächsten Verwandten der Ermordeten als Gefangene abführen sah, erlosch dieses Interesse, weil man eben jede weitere freiwillige kriminalistische Thätigkeit für unnütz hielt. Ein Kennzeichen war ja allerdings angegeben worden, sowohl durch den merkwürdigen Brief, der an das Gericht adressirt war, als auch durch die Aussage der Wittwe Banz; der Thäter hatte keinen normalen Gang, er hinkte vielleicht. Aber geschah dies infolge eines Gebrechens oder einer Verwundung? War es nicht sehr leicht möglich, daß sich der Thäter während des Mordes selbst verletzt hatte?

Dieser Gedanke schoß mir durch den Kopf, und ich gab ihm auch dem Ortsschulzen gegenüber Ausdruck. Ich betrachtete den Ortsschulzen und sah, daß dieser grübelnd vor sich nieder blickte, dann sah er mich an, als ob er etwas sagen wolle, sich aber scheue, seinen Gedanken auszusprechen.

»Sie scheinen etwas zu wissen, Herr Schulze,« sagte ich. »Sprechen Sie nur den Gedanken aus, den Sie da eben haben. Die geringste Kleinigkeit kann höchst wichtig sein.«

»Wie ist mir doch?« sagte der Schulze. »Ich erinnere mich jetzt an einen Vorfall, der mir sehr unbedeutend schien, der es aber doch vielleicht nicht ist. Sie wissen, Herr Kriminalrath, daß wir gleich nach der Mordthat das Dorf absuchten, weil wir glaubten, der Thäter könne sich in demselben noch verborgen halten. Fußspuren waren ja nirgends zurückgeblieben, weil es unmittelbar nach der That stark geschneit hatte. Wir begannen deshalb vom oberen und unteren Ende des Dorfes her alle Höfe und Häuser zu durchsuchen; wir glaubten nicht, daß einer von unseren Mitbewohnern der Thäter sein könne, sondern wir nahmen an, daß ein Fremder die That verübt habe und sich noch irgendwo verborgen halte, bis er unauffällig das Dorf verlassen könnte. Wir kamen da auch in ein Haus, das dem Büdner Martens gehört, und durchsuchten dieses. Wir fanden den Martens im Bett liegend; er zeigte mir eine Verwundung am rechten Fuß neben dem Schienbein, einen Axthieb, und erzählte mir auch, er habe am Tage vorher, am Sonnabend, für seinen Hausbedarf Holz gehackt und dabei sei ihm die Axt abgesprungen und in den Fuß gefahren. Herr Kriminalrath, aber um Gottes willen, glauben Sie ja nicht, daß ich den Mann verdächtigen will. Es handelt sich hier nicht nur um Ehre und Gut, sondern auch um Tod und Leben!«

»Beruhigen Sie sich nur,« unterbrach ich den Schulzen, »Sie sprechen ja keinen Verdacht aus; aber solche ein sonderbarer Umstand muß immerhin mit in Berechnung gezogen werden. Was ist denn dieser Martens für ein Mann?«

»Es ist ein kleiner Mann im besten Alter,« sagte der Schulze, »der in kinderloser Ehe mit seiner Frau lebt.«

»Ein kleiner Mann?« fragte ich. »Wohl sehr kräftig?«

»O ja!« entgegnete der Schulze. »Kräftig ist er schon.«

»Und welches sind denn seine Verhältnisse?« forschte ich weiter.

»Das kann man eigentlich bei dem Mann gar nicht sagen. Ich weiß nicht, ob er irgend Jemandes Hilfe einmal in Anspruch genommen hat, oder ob es ihm schlecht geht. Zum Mindesten freilich geht es ihm nicht gut, denn wenn man einmal mit ihm zusammenkommt, so pflegt er immer über die schlechten Zeiten und die niedrigen Getreidepreise zu klagen, durch welche sich der Ackerbau gar nicht mehr lohne.«

»Und stand dieser Martens in näherer Verbindung oder im Verkehr mit Stegnitz?«

»O ja, ich glaube wohl, sie kamen sehr oft zusammen. Ihre Felder stießen aneinander, und so viel ich weiß, hat Stegnitz ihm auch bei der Bestellung und bei der Ernte mit seinen Leuten manche Hilfe geleistet, wenn ein Wetter drohte, oder wenn es sich um recht eilige Arbeiten handelte.«

»Wissen Sie vielleicht, ob sich dieser Martens jemals von Stegnitz Geld geborgt hat?«

»Das weiß ich nicht, denn weder er noch Stegnitz pflegten über solche Sachen zu sprechen. Aber wenn er einmal nöthig gehabt haben sollte, irgendwo Geldhilfe zu suchen, so ist er höchst wahrscheinlich zu allererst zu Stegnitz und zu keinem Anderen gegangen.«

Ich hatte diese Frage an den Schulzen nur gestellt, weil ich jetzt noch einen anderen Umstand in die Kombination mit hineinziehen wollte, nämlich den, daß aus der Kommode der Stegnitz'schen Eheleute nicht nur das baare Geld, sondern auch alle Quittungen und Schuldscheine entwendet worden waren. Etwas Sicheres natürlich wußte ich jetzt noch nicht, ich durfte nicht einmal wagen, auch nur den geringsten Schritt gegen den bisher unbescholtenen Martens zu unternehmen, wenn nicht der Mann selbst und die Untersuchung sehr schwer geschädigt werden sollten.

Ich begab mich mit dem Schulzen zurück nach dem Gehöft der Anna Stegnitz und nahm dort von ihr jetzt gern eine kleine Erfrischung an, weil ich ja schon Stunden lang von Hause entfernt war. Ich sprach ihr gegenüber den neuen Verdacht, der in dem Schulzen und mir aufgestiegen war, natürlich nicht aus, aber ich sagte zu ihr: »Machen Sie mir doch die Besucher namhaft, die in letzter Zeit häufiger zu Ihren Eltern kamen.«

Anna Stegnitz besann sich und nannte mir verschiedene Namen, unter anderen auch den des Martens.

»Sie sagten mir bereits einmal,« bemerkte ich darauf, »daß Sie nicht wüßten, wer denn eigentlich von Ihren Eltern Geld geliehen hätte, trotzdem Ihnen bekannt war, daß Schuldscheine von Ortsansässigen bei Ihren Eltern lägen. Können Sie sich nun doch nicht zufälliger Weise erinnern, ob Martens von Ihren Eltern Geld geliehen hatte?«

»Nein!« sagte Anna Stegnitz, begann aber plötzlich zu zittern und rief: »Aber um Gottes willen, was sagen Sie da? Was fällt mir denn ein? Martens war ja an jenem Sonntage Abends bei meinen Eltern zum Besuch!«

»So?« sagte ich überrascht. »Er war bei Ihren Eltern zum Besuch? Und wann ging er denn fort?«

»Das weiß ich nicht,« sagte Anna Stegnitz. »Sie wissen ja, Herr Kriminalrath, meine Eltern waren hinter das Verhältniß zwischen mir und Karl gekommen, und ich wagte mich daher nicht in ihre Nähe. Ich blieb auf meiner Kammer und ging sehr zeitig schlafen. Müde vom Weinen schlief ich auch bald ein, bis ich eben durch das schreckliche Geräusch erwachte. Bevor ich mich aber niederlegte, kam eins der Mädchen zu mir, um mich zu fragen, ob ich nicht etwas zum Abendbrod essen wollte, und dieses theilte mir auch mit, daß Martens bei meinen Eltern zum Besuch sei.«

»Weiß keines der Mädchen, wie lange Martens bei Ihren Eltern gewesen ist?«

»Das könnte man wohl erfahren,« sagte Anna. »Ich will die Mädchen rufen!«

»Nein, lassen Sie das,« entgegnete ich. »Das könnte uns sehr schädlich werden, und eine einzige unbedachte Frage kann Alles verrathen. Gehen Sie hinaus und suchen Sie die Mädchen ganz zufällig in ein gleichgiltiges Gespräch zu verwickeln. So können Sie vielleicht erfahren, wie lange Martens bei Ihren Eltern gewesen ist, ohne daß die Mädchen einen Argwohn schöpfen. Wenn ich selbst frage, so hat das gleich ein ganz anderes Ansehen und eine ganz andere Bedeutung.«

»Herr Kriminalrath,« fragte Anna zitternd, »haben Sie einen Verdacht? Ist dieser Martens –«

»Nichts, nichts, mein Kind! Es handelt sich hier um gar keinen Verdacht. Seien Sie aber nur recht vorsichtig beim Ausforschen der Mädchen!«

Anna Stegnitz ging hinaus und wir harrten mit Ungeduld auf ihre Rückkunft. Wir ahnten, daß wir auf einer Spur waren, die immer verdächtiger wurde. Nach einer Viertelstunde etwa kehrte Anna Stegnitz zurück und sagte: »Unsere Katharina erinnert sich genau, daß Martens gegen zehn Uhr Abends meinen Eltern gute Nacht sagte und hinausging.«

Diese Nachricht war ziemlich enttäuschend. Wenn Martens um zehn Uhr das Haus verlassen hatte, so war wohl kaum anzunehmen, daß er noch einmal zurückgekehrt sei und die That begangen habe. Ich empfahl mich bald darauf von Anna Stegnitz, um nach der Stadt zurückzufahren; draußen aber sagte ich zu dem mich hinausbegleitenden Ortsschulzen: »Der Verdacht scheint sich nicht zu bestätigen, aber ganz entkräftet ist er doch noch nicht. Beobachten Sie den Martens auf's Sorgfältigste, ohne daß er es merkt, und suchen Sie von seinen Bekannten etwas Näheres über sein Verhältniß zu dem ermordeten Stegnitz zu erfahren. Vielleicht kommen wir doch noch zu irgend einem Resultat. Seien Sie aber vorsichtig. Sie können sich selbst denken, was davon abhängt. Gute Nacht!«

Wenige Minuten später fuhr ich aus dem Dorfe hinaus und nach Hause zurück, unterwegs ununterbrochen über die neuen Erfahrungen nachdenkend, die ich in der Mordangelegenheit heute gemacht hatte. Noch in später Abendstunde nach meiner Rückkehr erfuhr ich etwas, was für die Untersuchung recht bedeutungsvoll schien. Karl Vogt hatte am Nachmittag nach dem Anstaltsgeistlichen verlangt, dieser war lange bei ihm in der Zelle gewesen und hatte mit ihm eine mehr als einstündige Unterredung gehabt. Dieser Umstand schien mir ein günstiges Zeichen zu sein. Offenbar war der krankhafte Trotz des jungen Mannes gebrochen. Vielleicht hatte ihn die Reue überwältigt und er hatte Hilfe und Schutz bei dem Priester gesucht, der es gewiß an Ermahnungen nicht hatte fehlen lassen.

Der Stationsaufseher der Abtheilung, in der die Zelle Karl Vogt's lag, theilte mir auch mit, daß der Gefangene nach der Unterredung mit dem Geistlichen ruhiger geworden sei, und daß er diesen dringend gebeten habe, ihn am nächsten Morgen wieder zu besuchen.

Nach meinen kriminalistischen Erfahrungen konnte ich mit Sicherheit darauf rechnen, daß der nächste Morgen wahrscheinlich ein umfassendes und ehrliches Geständniß des Verhafteten bringen würde.

In der That ließ mich denn auch Vogt am nächsten Morgen um eine Unterredung bitten, da er etwas zu Protokoll zu geben habe; er bat aber um die Erlaubniß, in der Begleitung des Anstaltsgeistlichen vor mir erscheinen zu dürfen. Ich ertheilte diese Erlaubniß, und bald erschien Karl Vogt, gebrochen an Leib und Seele, und sich auf den Arm des alten würdigen Mannes stützend, der Tausenden von verbrecherischen Herzen durch seine Menschenfreundlichkeit und Frömmigkeit wohlgethan hatte.

Der Prediger ergriff zuerst das Wort und sagte zu mir: »Herr Kriminalrath, ich bringe Ihnen hier einen jungen Menschen, dem Gott das Herz geöffnet hat und der Ihnen ein umfassendes Geständniß ablegen will. Er verdient aufrichtiges Mitleid, denn sein Herz ist zerrissen worden von den widersprechendsten Gefühlen. Und Sie, Karl Vogt,« wendete sich der Anstaltsgeistliche an den jungen Mann, »denken Sie daran, daß Gottes Wort höher steht, als alles Andere, daß sich ihm die Menschen in Demuth unterordnen müssen, selbst wenn sie glauben vergehen zu müssen; daß Gottes Wort verlangt, daß schon die irdische Gerechtigkeit den Mörder strafe. Nennen Sie ihn jetzt, wenn sich auch Ihre ganze Natur dagegen aufzulehnen scheint.«

»Ich bin bereit, Alles zu gestehen,« sagte Karl Vogt.

Ich ließ ihm einen Stuhl geben, weil er sehr erschöpft schien. Eine fast krankhafte Mattigkeit war bei ihm eingetreten, nachdem die geistige Anspannung nachgelassen hatte, in die er durch seinen Trotz hineingekommen war. Ich ließ ihm Zeit, sich zu sammeln, und endlich erzählte er, wenn auch stockend und hier und da eine Pause machend, Folgendes:

»Ich habe den Mord nicht begangen, aber ich bin ein Mitschuldiger, wenn auch gegen meinen Willen. Ich habe Jemandem ein heimliches Nachtquartier in meiner eigenen Kammer gewährt, und dieser Unglückselige hat die That begangen. Ich war ein armes Kind, und meine Mutter war eine verlassene Frau, die in Noth und Dürftigkeit starb. Ihr Mann war von ihr gegangen, als ich kaum geboren war. Ich habe von meinem Vater nie etwas gewußt, aber als ich Soldat war, kam eines Tages zu mir ein zerlumpter, elender Mensch direkt aus dem Zuchthause und sagte mir, daß er mein Vater sei.«

Karl Vogt bedeckte sein Gesicht mit den Händen und sein Körper schauderte, wohl in der Erinnerung an das erste Wiedersehen, das zwischen dem Sohne und dem Vater stattgefunden hatte. Nach einer Pause fuhr er fort:

»Ich mußte ihn als solchen anerkennen, wenn ich mich auch seiner schämte und wenn ich auch daran dachte, wie unrecht er an meiner Mutter und an mir selbst gehandelt hatte. Er war doch nun einmal mein Vater! Er verlangte Geld von mir, und ich gab ihm eine kleine Summe. Ich konnte es ja, denn ich wurde von meinen Pflegeeltern während meiner Dienstzeit reichlich unterstützt. Ich gab ihm fortan stets, wenn er nach der Kaserne kam, nur damit er wieder von mir ging, und als ich vom Militär entlassen wurde, schenkte ich ihm meine ganzen Ersparnisse und bat ihn dringend, mich nicht mehr aufzusuchen, besonders aber nicht auf dem Hofe des Stegnitz in Zellerndorf. Ich wollte nicht die Schande über mich bringen vor meinen Pflegeeltern und den ganzen Dorfbewohnern. Mein Vater versprach es mir auch und sagte mir, er ginge auf die Walze, das heißt, er wollte vagabundiren und sich nach Norden wenden.

Wirklich hörte ich auch Monate lang nichts mehr von ihm; da, an jenem Abend, als meine Pflegeeltern mein Verhältniß zu Anna entdeckten, traf ich vor dem Hofthor, gerade als ich das Haus verlassen wollte, um nach dem Krug zu gehen, meinen Vater. Er sah entsetzlich verkommen aus und fror und hungerte. Er hatte kein ganzes Kleidungsstück und keine ganzen Schuhe mehr auf dem Leibe, und bat mich flehentlich, ihm Obdach zu gewähren. Ich machte ihm erst Vorwürfe, daß er wieder gekommen sei, aber ich dachte auch daran, daß ich ja selbst am nächsten Tage von Zellerndorf fort mußte, daß auch ich ja ein Ausgestoßener und Heimathloser sei. Ich nahm den Vater auf und that das, was ich unter anderen Umständen vielleicht nicht gethan hätte, ich brachte ihn heimlich in meiner Kammer unter. Mein Vater erzählte nur seine Vagabondenfahrten, und auch ich mußte ihm mittheilen, wie es mir gegangen war. Als ich ihm erzählte, daß ich am nächsten Tage den Hof verlassen müsse, verlachte er mich und fragte mich, ob ich denn davon gehen wollte, ohne mich zu rächen, ob ich nicht die prächtige Gelegenheit ergreifen wollte, den Mann, der mich geschlagen, geschimpft und aus dem Hause gewiesen, um etwas Geld zu erleichtern.

Ich verwies meinem Vater diese schlechten Reden, und er kam mir so entsetzlich vor, daß ich mich weit fort von ihm wünschte und ihn verließ, um nach dem Dorfkruge zu gehen. Gott weiß es, daß ich nicht daran dachte, er könne den schrecklichen Plan, den er mir empfohlen, zur Ausführung bringen. Ich blieb länger als gewöhnlich im Krug, weil es mir das Herz brechen wollte, wenn ich daran dachte, daß dieser elende und verkommene Mann, der da heimlich in meiner Kammer schlief, mein Vater sei. Ich kehrte erst gegen ein Uhr nach dem Hofe zurück.«

Hier machte Karl Vogt eine Pause und mußte sich erst sammeln.

»Ich fand,« erzählte er dann bald stockend, bald sehr schnell weiter, »zu meinem Erstaunen die Oberthür im Hause ausgehoben. Mit Zittern und Zagen öffnete ich die Unterthür und eilte nach meiner Kammer, von schlimmen Befürchtungen getrieben. Dort machte ich Licht und sah, daß mein Vater nicht mehr anwesend sei. Ich fand Alles durcheinander geworfen, meine Kästen durchwühlt, und in dem Augenblicke kam mir der fürchterlich schmerzliche Gedanke, daß mein eigener Vater mich bestohlen habe. Aber da hörte ich plötzlich Stöhnen drunten in der Schlafstube meiner Pflegeeltern. Ich eilte erschreckt über den Hausflur, öffnete die Thür, die nur angelehnt war, und sah das Entsetzliche –. In demselben Augenblicke wußte ich, daß mein Vater die That begangen hatte, und ich glaubte, ich müsse wahnsinnig werden bei dem Gedanken. Ich habe wohl Minuten lang mit dem Licht in der Hand dagestanden, ohne mich bewegen zu können, dann trat ich an meine Pflegemutter heran und hob sie auf, um sie in das Bett zu legen. Sie athmete noch schwach. Dann weiß ich nicht mehr recht, was ich gethan habe. Ich wußte wohl, daß ich die Entdeckung verhindern müsse, daß mein Vater der Mörder gewesen sei, und ich handelte mechanisch in diesem Sinne. Ich fand die blutige Axt, mit welcher der Mord verübt worden war, ich fand in meiner Kammer die Schuhe stehen, die mein Vater zurückgelassen hatte, und als ich nach meiner Brust griff, fühlte ich dort das Blut meiner unglücklichen Pflegemutter, das mich wie Feuer brannte. Ich habe dann meine Kleidungsstücke, die Mordaxt und die Schuhe meines Vaters genommen und dieselben im Heuschober verborgen. Dann ging ich wieder zu den Leichen zurück, fand meine Pflegemutter aus dem Bette hängend, aber keine Spur von Leben war mehr in ihr. Dann bin ich wohl hinausgegangen in den Hof und habe geschrien wie ein Wahnsinniger, bis die Menschen kamen. Das ist Alles, was ich zu sagen habe.«

Nach einer kleinen Weile aber begann Karl Vogt nochmals:

»Ich wollte meinen Vater nicht auf das Schaffot bringen; ich habe gekämpft und gerungen mit meinem Herzen, bis der geistliche Herr auf meine Bitte zu mir kam und mir sagte, daß ich verpflichtet sei nach göttlichem und menschlichem Gesetze, den Mörder anzugeben, selbst wenn es mein eigener Vater sei. Ich habe es gethan, und Gott möge mir und ihm gnädig sein.«

Die Kraft des jungen Mannes schien erschöpft, er saß in sich zusammengesunken auf dem Stuhle, und ein langes Schweigen herrschte in dem Raume, während dessen man nur die eilige Feder des Protokollführers über das Papier hinkritzeln hörte. Ich blätterte in den Akten und fand den Brief, der aus Süddeutschland angekommen war; ich zog ihn heraus und sagte: »Kennen Sie die Handschrift Ihres Vaters?«

»Ich kenne sie wohl,« entgegnete Karl Vogt. »Er hat mir oft nach der Kaserne seine Brandbriefe geschrieben, in denen er Geld von mir verlangte.«

»Kennen Sie diese Handschrift?« fragte ich Karl Vogt und zeigte ihm den Brief.

»Es ist die meines Vaters,« entgegnete der junge Mann.

Ich ließ denselben abführen, nachdem das Protokoll verlesen worden, und er dasselbe unterschrieben hatte.

Als er hinaus war, begann ich zu überlegen. Sein Geständniß schien vollkommen Glauben zu verdienen. Er war demnach schuldlos, denn die indirekte Beihilfe, welche er dem Mörder durch die heimliche Aufnahme und die Gewährung des Nachtquartiers geleistet hatte, war ja keine beabsichtigte gewesen. Die ganze verwickelte Angelegenheit war aber damit noch gar nicht aufgeklärt. Es war ja bei dem Morde noch eine zweite Persönlichkeit betheiligt gewesen, das ergab sich klar aus allen Umständen und Aussagen.

Vogt's Vater war augenscheinlich der Mann, der über die Mauer geklettert war und das Gehöft auf diesem Wege verlassen hatte. Das bewies ja das Auffinden der Weste des Sohnes, die der Alte mit sich genommen und auf der Flucht verloren hatte. Wer aber war die andere Persönlichkeit, die nach der Aussage der Wittwe Banz durch die Thür neben dem Hofthor auf die Dorfstraße getreten war? Diese Person war anscheinend Vogt's Vater wohl bekannt. Er hatte sie ja in dem Schreiben, das, wie es nunmehr klar feststand, von seiner Hand herrührte, genau bezeichnet.

Ich wollte dem unglücklichen Karl Vogt nur etwas Zeit lassen, aber am Nachmittage ließ ich ihn mir wieder vorführen und verlangte von ihm, daß er mir das genaue Signalement seines Vaters angebe.

Er zögerte, und es schien ihm unendlich schmerzlich zu sein, die Gerechtigkeit selbst auf die Spur seines Vaters zu bringen, aber schließlich that er es doch und schilderte mir das Aussehen und die besonderen Kennzeichen seines Vaters. Zu den letzteren gehörten insbesondere die gestohlenen Sachen, mit denen er höchst wahrscheinlich bekleidet war.

Am Abend noch arbeitete der telegraphische Draht nach allen Richtungen hin, um allen Centralbehörden, insbesondere aber allen Behörden in Süddeutschland, das Signalement des alten Vogt mitzutheilen, damit seine Verhaftung bewirkt werde.

5.

Wie stand es nun aber mit Martens? War es jene geheimnißvolle Persönlichkeit, die außer dem alten Vogt während des Mordes im Gehöft gewesen war, und welchen Antheil hatte er an dem Morde?

Auch dieses Geheimniß sollte sich aufklären, weit früher, als ich es selbst dachte, und ebenfalls in einer außerordentlich überraschenden Weise. Während ich nämlich noch überlegte, ob nicht Karl Vogt nach seinem Geständniß aus dem Gefängniß zu entlassen sei, kam ein reitender Bote aus Zellerndorf, der einen Brief des Ortsvorstehers brachte.

Als ich das Schreiben erbrach, ahnte ich, daß es Wichtiges enthielt. Sein Inhalt war kurz, aber bedeutungsvoll und lautete:

»Martens ist geständig, den Mord begangen zu haben. Er ist lebensgefährlich krank. Blutvergiftung. Kann nicht transportirt werden. Was soll geschehen?«

Man hat als Kriminalist ja auch das Recht, hin und wieder einmal Mensch zu sein. Ich begab mich mit diesem Briefe zu Karl Vogt in die Zelle, um ihm mitzutheilen, daß er nach wenigen Stunden frei gelassen werde, daß sein Vater nicht der Mörder, und daß Martens geständig sei.

Die Nachricht wirkte auf den jungen Mann so furchtbar, daß er ebenso lautlos in Ohnmacht fiel wie in jenem Augenblick, in welchem ihm durch den Gendarm in Gegenwart der Leichen seiner Pflegeeltern die blutige Axt gezeigt worden war. Ich empfahl die Sorge für ihn dem Stationsaufseher und einem Gefangenenwärter und fertigte in aller Eile noch den Schein aus, durch welchen Karl Vogt in Freiheit zu setzen war; dann fuhr ich, begleitet von einem Protokollführer, wieder einmal nach Zellerndorf hinaus.

Anna Stegnitz trat mir entgegen mit Thränen in den Augen.

»Gott hat uns nicht zu Schanden werden lassen!« sagte sie. »Er hat unsere Bitten erhört!«

»Das hat er gethan,« sagte ich, »und schon heute Abend wird Karl Vogt bei Ihnen eintreffen; und wenn er vielleicht nicht auf Ihrem Hofe Aufnahme finden kann, damit nicht unnützes Gerede unter den Leuten entsteht, so wird er wohl vorläufig Unterkunft bei dem Ortsschulzen finden, den ich veranlassen werde, ihn aufzunehmen.«

»Ich danke Ihnen herzlich,« sagte gerührt Anna Stegnitz. »Welche ein Wiedersehen wird das geben! Aber glauben Sie mir, ich bin tief ergriffen von Mitleid und Schmerz über den unglücklichen Martens. Sie werden ja von ihm erfahren, wie er dazu gekommen ist, die schreckliche That zu begehen. Er ist der Mörder meiner Eltern, aber im Innersten meines Herzens thut er mir dennoch leid.«

»Und wie ist er zu dem Geständnisse gebracht worden?« fragte ich.

»Das war ziemlich einfach,« entgegnete Anna Stegnitz. »Ich ging gestern zu ihm. Als er mich erblickte, veränderte sich sein Gesicht plötzlich, und als ich mich nach seinem Befinden erkundigte, begann er zu schluchzen und zu weinen. Er klagte über heftige Schmerzen im Fuße, und ich ließ daher sofort den Arzt holen. Der Arzt erklärte, es sei durch die Wunde und durch etwas, was in die Wunde hinein gekommen sei, eine Blutvergiftung eingetreten und Martens sei nicht mehr zu retten. Darauf ließ mich Martens wieder rufen und gestand mir, von Reue und Gewissensangst gequält, Alles. Er will Ihnen ja wohl jetzt sein Geständniß wiederholen.«

Eine Viertelstunde später saß ich an dem Krankenbett des Martens, der durch körperliche Schmerzen und furchtbare moralische und geistige Qualen gepeinigt wurde. Hier das Geständniß des unglücklichen Mannes, wie er es zu Protokoll gegeben hat:

»In der letzten Zeit ging es mir schlecht, und ich mußte Gelder aufnehmen. Ich war Wucherern in die Hände gefallen, und Stegnitz borgte mir dreihundert Thaler gegen Schuldschein, mit denen ich mich von den Halsabschneidern los zu machen gedachte. Es ging mir dann auch wieder eine Zeit lang besser, aber schließlich drängte Stegnitz auf Rückzahlung und sagte mir, er beabsichtige nächstens seine Tochter zu verheirathen und müsse baares Geld haben, um die Mitgift zahlen zu können. Bei mir war aber gar nicht an die Möglichkeit einer Rückzahlung zu denken, und das merkte wohl Stegnitz auch, denn er wurde immer dringender und dringender und drohte mir zuletzt mit der Subhastation. Ich dachte mit Schrecken daran, daß ich auf meine alten Tage mit meiner Frau von Haus und Hof gejagt werden sollte! Ich hatte zwar auch noch andere Schulden, Stegnitz aber war mir der unangenehmste Gläubiger, weil er mir geradezu sagte, ich hätte ihn betrogen, als ich von ihm die Summe nahm, die ich jetzt nicht zurückzahlen könnte. Er setzte mir endlich einen Termin, bis zu dem ich wenigstens einen Theil des Geldes zurückzahlen sollte; alle meine Anstrengungen aber, mir die Summe zu beschaffen, waren vergeblich. Am Montag sollte die erste Rate gezahlt werden, und ich kam am Sonntag Abend noch zu den Stegnitz'schen Eheleuten und bat sie flehentlich, mir doch noch Frist zu geben. Stegnitz aber konnte recht eigensinnig sein, er ahnte wohl auch, daß er nicht mehr auf gütlichem Wege zu seinem Gelde gelangen würde, und er schlug es mir daher rund ab, mir noch eine weitere Frist zu gewähren. All' mein Bitten half nichts, und verzweifelt verließ ich Stegnitz endlich, nachdem ich ihm noch einige harte Worte gesagt hatte.

Gott weiß es, daß ich damals noch nicht an den Mord dachte, daß aber mein Herz voll Zorn gegen Stegnitz war! Der Gedanke, daß mein kleines Grundstück meistbietend verkauft werden, daß ich die Schande erleben sollte, auf meine alten Tage noch zum Bettler zu werden, ging mir nicht aus dem Kopf. In jenem Augenblick hätte ich Stegnitz alles Mögliche anthun können, wenn ich auch nicht an einen Mord dachte. Bei Gott, vor dem ich bald stehen werde, kann ich es beschwören, daß ich ihn nicht zu tödten gedachte!

Ich verließ seinen Hof und irrte zwecklos auf der Dorfstraße herum, denn ich traute mich nicht nach Hause zu meiner Frau, die mit Angst wartete, ob mir Stegnitz den erbetenen Ausstand gewähren würde. Ich achtete nicht auf die Kälte, und als ich zu frieren begann, dachte ich nur daran, daß ich bald vielleicht noch mehr Kälte zu ertragen haben würde, wenn ich erst als Bettler auf der Straße läge. Da faßte mich ein Zorn, ein furchtbarer Zorn gegen Stegnitz, und der Gedanke kam mir, mich dadurch an diesem Manne zu rächen, daß ich ihm sein Haus anzündete. Ich will es offen gestehen, daß ich die Absicht hatte, ihm sein Haus anzustecken. Wenn ich das meinige verlor, sollte er das seinige auch verlieren, und dann hoffte ich wohl auch, daß durch das Feuer der Schuldschein, durch den ich unglücklich gemacht werden sollte, mit verbrennen könnte.

Ich schlich mich nach dem Gehöft hin und stieg über den Bretterzaun, da ich die kleine Thür nicht zu öffnen vermochte. Dazu gehörte ein Haken, der von außen nach innen eingeschoben und mit dem der Riegel in die Höhe gehoben werden konnte; diesen Haken aber besaßen nur die Bewohner des Gehöftes. Ich schlich mich auf den Hof und zögerte hier doch noch, die That zu begehen, denn ich dachte daran, daß nicht nur der Schuldschein, sondern auch Menschen verbrennen könnten. Das ließ mich noch einen Augenblick überlegen, aber schließlich dachte ich an das Unglück, das mir bevorstand, und nachdem ich wohl eine halbe Stunde lang in dem Bretterschuppen gewartet hatte, schlich ich mich endlich auf das Haus zu, um das Strohschoberdach an der Ecke anzuzünden, wo sich die Wohnung der Stegnitz'schen Eheleute befand.

Bevor ich aber nach jener Ecke kam, hörte ich ein knarrendes Geräusch, und als ich mich umsah, entdeckte ich zu meinem Erstaunen, daß die Oberthür nicht geschlossen, sondern weit geöffnet war und im Winde sich knarrend in ihren Angeln drehte. Die Thür war geöffnet, von wem wußte ich nicht, aber in demselben Augenblicke kam mir ein Gedanke, der mich unwillkürlich zu der schrecklichen That brachte, nämlich der Gedanke, mich in das Haus einzuschleichen und den Schuldschein zu stehlen. Ich wußte ja genau, wo er lag, ich wußte, daß man bei uns die Stubenthüren nicht zu verschließen pflegt, ich wußte ferner auch, wie fest alle Leute im Dorf schlafen, wenn sie im sogenannten ersten Schlaf sind. Dieses Offenstehen der Thür schien mir wie ein Wink des Schicksals, ich fürchtete aber, ihr Knarren könnte Jemand aufwecken, deshalb hob ich sie auf und lehnte sie an die Wand. Auch wollte ich mir durch dieses Ausheben der Thür, wozu viel Kraft gehörte, den Rückweg sichern, wenn mir der Diebstahl gelungen wäre, und ich dachte auch daran, daß man mir vielleicht Hindernisse bei der Flucht bereiten könnte. Ich wollte deshalb nicht ohne Waffe den Diebstahl begehen, an einen Mord aber dachte ich immer noch nicht. Ich wußte, wo im Holzschuppen hinter den Brettern die Axt stand, denn ich war ja in dem Stegnitz'schen Hause so vertraut und bekannt, wie in meinem eigenen Gehöft. Ich holte die Holzaxt und stieg über die Unterthür hinweg in den Hausflur ein.

Eine Zeit lang horchte ich erst, dann tastete ich mich leise bis an die Stubenthür, hinter welcher die Stegnitz'schen Eheleute schliefen. Ich hörte durch die Thür hindurch die ruhigen Athemzüge der Schlafenden, drückte auf die Klinke der Thür, und diese öffnete sich geräuschlos. So befand ich mich im Schlafzimmer. Ich tastete mich weiter nach der Kommode hin und zog die Schublade auf. Aber ich fand die Papiere nicht sofort, und die Büchse, in welcher das Geld war, fiel um. Ich erschrak heftig und wagte nicht, mich zu bewegen. Erst nach einiger Zeit suchte ich im Finstern weiter, und bald knisterten auch in meiner Hand die Papiere.

In demselben Augenblick aber sah ich einen Lichtschein im Zimmer, und als ich mich entsetzt umwandte, erblickte ich die Ehefrau Stegnitz, die soeben ein Licht anzündete. Sie war wohl erwacht, hatte eines der Streichhölzer, die sie neben ihrem Bette gehabt, angesteckt und Licht angezündet. Sie sah mich erst ziemlich spät, und einen Augenblick lang starrten wir uns lautlos an. Ich sah den Schrecken auf ihrem Gesicht, sah, wie sie den Mund öffnete, um einen Schrei auszustoßen, ich weiß nicht mehr, wie es geschah, eine unsichtbare, unbekannte Macht hob die Holzaxt, die ich in der Hand hatte, und im nächsten Augenblicke lag die Frau Stegnitz, von einem Hieb über den Kopf betäubt, auf der Erde. Das Licht war ihr entfallen, aber es brannte auf dem Boden noch weiter. Ich sah im Schimmer dieses Lichtes, wie auch Stegnitz sich im Bette bewegte, und hatte nur noch das Bewußtsein, daß ich verloren sei, und Schreck, Angst und eine wahnsinnige Wuth befiel mich. Ich schlug auf Stegnitz los, zehnmal, zwanzigmal ohne Besinnen. Noch immer brannte das Licht an der Erde fort; ich nahm dasselbe auf und sah, daß die Frau sich bewegte. Sie blutete stark aus einer Kopfwunde, aber sie fing an, sich aufzurichten; ich stürzte auf sie los und schlug von Neuem auf sie ein. Aber bei dem letzten Schlage glitt ich in dem Blute der Frau aus und traf mich selbst in das Bein.

In meinen Träumen habe ich mir die schrecklichen Augenblicke so oft wiederholt, daß mir fast nichts davon in Vergessenheit gerathen ist, und doch weiß ich das Alles nur, als wäre es ein schrecklicher Traum gewesen. Ich ließ die Holzaxt neben den Leichen liegen, aber ich vergaß nicht, die Papiere, welche auf der Kommode lagen, zu mir zu stecken. Ich sah die Büchse, die, wie ich wußte, das Geld der Stegnitz'schen Eheleute enthielt, erbrach dieselbe und steckte das Geld zu mir. Dann verließ ich auf demselben Wege, auf dem ich gekommen war, das Haus und begab mich nach meiner Wohnung. Das Licht hatte ich sofort verlöscht, nachdem ich die Blechbüchse erbrochen hatte, weil ich fürchtete, sein Schein könnte mich verrathen.

Ich habe vom ersten Augenblick an geglaubt, daß der Verdacht auf mich fallen könnte, als aber die ersten Tage vorüber gingen, ohne daß man sich um mich kümmerte, da glaubte ich doch, ich würde davon kommen. Aber Gott hat es nicht gewollt! Seine Hand und sein Zorn haben mich getroffen, und vielleicht wird er mir die Gnade gewähren, daß ich nicht auf dem Schaffot, sondern an dieser Krankheit sterbe.« –

Das hier kurz skizzirte Geständniß hatte mit den Querfragen mehrere Stunden gedauert. Martens war vollständig erschöpft, unterschrieb aber noch bei klarem Bewußtsein das Protokoll. Es handelte sich nun darum, zu erfahren, ob seine Frau etwas von der That gewußt habe. Er schwor uns aber zu, sie habe keine Ahnung von derselben gehabt, er habe auch das Geld und sogar die sämmtlichen Schuldscheine und Quittungen, die er gestohlen, ohne Wissen seiner Frau auf dem Boden verborgen. Sie habe geschlafen, als er heimgekehrt sei, und so sei es ihm gelungen, sich seiner blutbefleckten Kleidungsstücke zu entledigen. Nach seinen Angaben befanden sich dieselben im Backofen versteckt, wo wir sie auch richtig fanden. Ich hatte keinen Grund anzunehmen, daß die Frau mitschuldig sei oder um die That gewußt habe, und ich verzichtete daher auf ihre Verhaftung. Natürlich wurden aber vor der Thür des Krankenzimmers und auch unter den Fenstern desselben Posten von zuverlässigen Leuten aus dem Dorfe aufgestellt, und ich begab mich, nachdem dies Alles angeordnet, zum Ortsschulzen.

Hier fand ich Karl Vogt bereits vor. Er hatte sich nach seiner Entlassung sofort einen Wagen genommen und war nach Zellerndorf gefahren. Zwischen ihm und Anna hatte eine rührende Scene des Wiedersehens stattgefunden, dann war er nach dem Hause des Ortsschulzen gegangen.

So war denn die ganze Angelegenheit so ziemlich aufgeklärt, bis auf einen Umstand; und auch über diesen sollte es bald Klarheit geben. Aus Aschaffenburg kam nämlich ein Telegramm an, welches meldete, daß dort der Vagabund Vogt aufgegriffen worden sei. Man fragte an, ob er zu uns transportirt werden solle. Die schriftliche Antwort lautete, den Transport zu unterlassen und Vogt in Aschaffenburg zu verhören.

Vogt gestand in dem alsbald vorgenommenen Verhöre zu, seinen Sohn bestohlen zu haben. Er hatte dessen Abwesenheit benutzt, um ihm den Koffer auszuräumen; mit der gemachten Beute wollte er eben seine Flucht bewerkstelligen, indem er den vorgesteckten Eisenpflock herauszog, welcher die Oberthür festhielt, da sah er, wie eine Gestalt über das Hofthor kletterte. Es war dies Martens, der Vagabund aber dachte, es sei der heimkehrende Sohn. Er zog sich daher schleunigst wieder in dessen Kammer zurück, um dort die Sachen schnell in den Koffer zu werfen. Er harte längere Zeit, lautlos auf das Eintreten Karl's, statt dessen aber hörte er ein leises Geräusch im Hausflur, hörte auch eine Thür gehen und lauschte nun angestrengt. Bald darauf hörte er im Zimmer der Stegnitz'schen Eheleute einen dumpfen Schlag und Fall. Aengstlich schlich er sich jetzt über den Flur dorthin und sah nun durch eine Spalte der Thür Martens und die blutüberströmten Leichen. Er wagte es nicht, sich zu bewegen oder zu schreien, weil er fürchtete, von dem Mörder ebenfalls getödtet zu werden. Dann lag es ja aber auch gar nicht in seiner Absicht, zu alarmiren; war er doch selbst auf unehrlichem Wege und im Begriff gewesen, mit dem gestohlenen Gut davon zu schleichen. Er behauptete, er habe vor Schreck an allen Gliedern gezittert, denn wenn er auch ein Vagabund sei, und wenn er auch ab und zu einmal gestohlen habe, so sei seine Hand doch nie mit Menschenblut befleckt worden. Er zog sich ängstlich in seines Sohnes Kammer zurück und sah bald darauf den Mörder das Haus verlassen, wobei er bemerkte, daß dieser den einen Fuß nachschleppte.

Zitternd überlegte der Vagabund in der Kammer seines Sohnes, was er jetzt thun solle. Da kam ihm der Gedanke, daß man ihn vielleicht selbst für den Thäter halten könne, vielleicht war aber noch mehr ausschlaggebend der Gedanke, daß jetzt die Gelegenheit zu einem Diebstahl um so günstiger sei, als man annehmen mußte, der Räuber habe auch diesen Diebstahl begangen. Er raffte daher das Bündel mit den Kleidungsstücken des Sohnes, das er bereits in den Koffer zurückgeworfen hatte, wieder auf und flüchtete aus dem Gehöft, indem er über die Mauer stieg. Seine Füße hatte er mit den Stiefeln seines Sohnes bekleidet und dafür seine ›Schlorren‹ zurückgelassen. Trotzdem er einen Theil des gestohlenen Geldes mit der rothen Weste verloren hatte, so hatte er doch noch so viel aus dem Koffer des Sohnes mitgenommen, daß er die Eisenbahn eine Strecke weit benutzen konnte. Dann hatte er sich fechtend und vagabundirend in Süddeutschland herumgetrieben und zufällig in einer Kneipe eine Zeitung gefunden, in der über den Mord berichtet wurde. Er erfuhr, daß sein Sohn des Mordes verdächtig sei, und deshalb schrieb er jenen anonymen Brief.

So hatte sich denn das sonderbare Zusammentreffen so verschiedener Umstände vollständig aufgeklärt. Das Aschaffenburger Gericht erhielt den Auftrag, den Vagabunden laufen zu lassen, da sein Sohn gegen ihn keinen Strafantrag wegen des Diebstahls zu stellen gedächte; Anna Stegnitz aber sandte ihm eine größere Summe Geld und forderte ihn auf, nach Amerika zu gehen. Der alte Vogt bedankte sich für die Sendung und versprach, Europa zu verlassen. Er scheint es auch gethan zu haben, denn man hörte von ihm nichts wieder.

Daß nach Ablauf des Trauerjahres Anna Stegnitz und Karl Vogt sich für's Leben verbanden, brauche ich kaum besonders zu erwähnen. Die Hochzeit war ein Freudenfest für das ganze Dorf, und die Bezeugungen von Theilnahme, Achtung und Liebe, die ihnen alle Bekannten und Freunde darbrachten, waren ihnen ein Beweis dafür, wie sehr alle Welt an ihnen gut zu machen suchte, was sie durch die fürchterliche That und ihre Folgen gelitten hatten.

Martens, der Thäter, starb wenige Tage nach seinem Geständniß an Blutvergiftung. –

Ich habe in meiner langjährigen Praxis als Kriminalist manchen verwickelten Fall zu führen gehabt, so viele Ueberraschungen aber, wie der Stegnitz'sche, hat mir keiner gebracht, und ich benutze daher, nachdem ich in den Ruhestand getreten, meine Muße zunächst dazu, ihn aufzuzeichnen. Möge er vor Allem meinen jungen Kollegen beweisen, daß selbst der dringendste Verdacht ein falscher, der belastetste Untersuchungsgefangene unschuldig sein kann.


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