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Sechstes Kapitel

Das Waldvieh und seine Feinde – Grenzkrieg – Eine Epopöe von 1809

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Es wurde bereits angedeutet, dass es für Leute unseres Schlages, die es über sich bringen können, einige Tage das gewohnte Fleisch durch Milch zu ersetzen, und deren Haut nicht allzu empfindlich ist für die Stiche kleiner Feinde, über deren Zweck die Verfechter des Schöpfungsutilitätsprinzipes sich bisher in ein verlegenes Schweigen hüllen, am besten ist, das Hauptquartier auf einige Tage im Rachelhause aufzuschlagen und von da an mit Muße Ausflüge in die Wälder zu unternehmen.

Da empfiehlt sich zum Beispiel ein Spaziergang nach dem etwa zwei Stunden weiten Geierruck, einer düsteren Waldwildnis, unterbrochen von filzigen Gründen und weiten, grasreichen Schlägen, wo zur Sommerszeit das Vieh der künischen Bauern aus der Gemeinde Rehberg weidet. Dieses Vieh – Jungvieh, Ochsen und Stiere – bleibt den ganzen Sommer hindurch von Johanni bis Michaeli im Freien; es steht unter der Obhut mehrerer sogenannter Stierhüter und bildet eine Herde von 600 bis 800 Stück, deren Glockengeläute weithin in der lautlosen Stille des Waldes vernehmbar ist. Die Hirten – es sind ihrer in der Regel drei bis vier – erhalten gewöhnlich einen Gulden pro Stück und Saison, weshalb ein solcher Posten, der für die dortigen Begriffe ein kleines Vermögen in Aussicht stellt, Gegenstand lebhafter Konkurrenz zu sein pflegt.

Übermäßig angestrengt sind diese freien Söhne des Waldes in der Regel nicht; sie führen vielmehr zumeist ein traumhaftes Dasein und lassen die Herde ziehen, wie es ihr eben beliebt. Wohl kommt es häufig genug vor, namentlich in der ersten Zeit nach dem Austrieb, dass einzelne Stücke sich von der Herde absondern und brüllend mit nie fehlendem Orientierungsvermögen den gewohnten Ställen zueilen; doch geht das den Hirten nichts an: die Bauern mögen selbst zusehen, wie sie das heimgelaufene Vieh der Herde wieder zuführen. Sie selbst verlassen ihre Herde nicht und haben vor allem die Verpflichtung, im Walde verirrte Tiere, die sich durch das Läuten ihrer Glocken gewöhnlich bald verraten, zur Herde zurückzutreiben.

Einmal in der Woche trägt man ihnen Proviant zu, und die Nächte verbringen sie entweder bei loderndem Feuer im Freien oder in den sogenannten Stierhüterhütten, die den schon früher erwähnten passageren Holzhauerhütten vollständig gleichen.

Zuweilen gibt es aber doch Tage wilder Aufregung und harter Mühsal. Die Herden haben nämlich hauptsächlich zwei Feinde, vor deren tückischen Anschlägen die Hirten immer auf ihrer Hut sein müssen. Der erste Feind ist das Terrain, nämlich die tiefen, felsigen Schluchten, das Wurzelgewirr am Boden und besonders die Sümpfe und die tiefen Wasserlöcher. Manches Stück stürzte hinab in schaurige Klüfte, manches verfing sich wie in Fußangeln zwischen den Wurzeln, aber ungezählt war besonders in früheren Zeiten die Menge derjenigen, deren Gebeine tief unten modern am Grund der schwarzen Wasserlachen mit hohem Ufer und voll halbverfaulter Rauen und im breiigen Schlamm der verräterischen Sümpfe, wo die Tiere langsam, aber unrettbar versinken, wobei jede Anstrengung, sich zu befreien, sie noch tiefer in den zähen, schwarzen Moder hineintreibt. Trockene

Jahre gehören im Gebirge zu den größten Seltenheiten; als ich vor vier Jahren zum letzten Mal am Geierruck war, konnte man selbst den Weitfällenfilz und den großen Zigeuner gefahrlos passieren, die sonst völlig grundlos sind.

Es kommt vor, dass plötzlich, aus unbekannten Ursachen, vermutlich infolge peinigender Insektenstiche, die ganze Herde in unbeschreibliche Aufregung gerät. Die Tiere fangen an, ängstlich zu brüllen, heben die Schwänze fast senkrecht in die Höhe, und fort rast die Herde, dass der Boden unter den Hufen donnert, die jungen Bäumchen knickend, über Stock und Stein, durch dick und dünn, über Rauen und Geröll, unaufhaltsam, wie von dämonischer Angst getrieben. Da ist es nun schon vorgekommen, dass viele der Tiere in den Klüften und Sümpfen zugrunde gegangen sind. Die Hirten sind natürlich solchen Ausbrüchen der Panik gegenüber vollständig wehrlos. Wohl laufen sie der fliehenden Herde nach, doch wenn sie dieselbe erreicht haben, ist ohnehin die Ruhe bereits wiedergekehrt, und sie mögen zusehen, was sie von den Gestürzten, Versprengten, im Sumpf Steckengebliebenen zu retten vermögen.

Dass auch hier der Mensch in seiner Ohnmacht auf die Annahme übernatürlicher Gründe solcher Vorkommnisse geleitet wurde, ist selbstverständlich. Die tückische »Weihritz« (Gespenst), die solches Unheil anrichtet, ist der überaus gefürchtete Viehscheuch, ein Gespenst, über dessen Wesen vage, einander widersprechende Ansichten und Hypothesen im Schwunge sind. Ein alter Hirt versicherte mich, den Unhold bei hellem Tage gesehen und gehört zu haben. Es sei vor seinen Augen ein kleines Männlein, kaum schuhhoch, aus dem Dickicht hervorgesprungen; seine Haare seien gesträubt und hochgelb gewesen, so dass sein Kopf ausgesehen habe wie ein zerfaserter Strohwisch. Das Männlein sei langsam an das weidende Vieh heran gekrochen und habe plötzlich ein leises, singendes Summen, wie etwa tausend Gelsen auf einmal, ertönen lassen. Daraufhin sei das Vieh in der oben beschriebenen Weise »biesend« durchgegangen, worauf das Männlein ein leises, aber durchdringendes Hohngelächter erschallen ließ. Ihn selbst habe ein solches Grauen befallen, dass er wie gebannt stehengeblieben sei, ohne es die längste Zeit hindurch zu wagen, dem entlaufenen Vieh zu folgen. So der eine. Der andere will wieder ein »unterirdisches Peitschenknallen« gehört haben; ein dritter dagegen behauptet, der Viehscheuch sei eigentlich nichts anderes als der König alles stechenden Geschmeißes, der ab und zu den Schoß der Erde öffne und seine Untertanen hervor lasse, worauf er sich in Gestalt eines großen Vogels in die Lüfte erhebe, um aus der Vogelperspektive die Wirkungen seiner Bosheit zu beobachten. – Wer dächte da nicht an Beelzebub, den Fliegenfürsten der Philister und der Kinder Ammons? Dieser ganze Aberglauben erinnert übrigens an die griechische Sage von Pan und an den Schrecken, den dieser Kakodaimon unter den Hirten aussäte.

Der zweite Hauptfeind, der es auf die Herden abgesehen hat und der namentlich in letzter Zeit immer kühner wird und immer häufiger wiederkehrt, sind die Viehdiebe aus Bayern. Seit Fürst Bismarck die Viehschutzzölle durchzuführen gewusst hat, steht zu befürchten, dass diese liebenswürdigen Gäste ihre segensreichen Ausflüge über unsere Grenze noch öfter wiederholen werden, als dies bis nun geschah, was wieder zur Verschärfung des beständigen kleinen Krieges, der an der Grenze ohnehin herrscht, beitragen dürfte. Den Bayern zur Ehre soll hier gesagt sein, dass bemeldete Viehdiebe in der Regel keine geborenen Kinder ihres Landes sind, sondern meist unsere eigenen Landsleute, die sich jenseits der schwarz-gelben Grenzpfähle ansässig gemacht haben. Von der Hehlerei sind jedoch unsere lieben Nachbaren nicht freizusprechen. Einem Bauer aus Rehberg wurde vor etlichen Jahren ein Ochs gestohlen. Auf die ihm zugekommene diesbezügliche Meldung machte er sich auf den Weg, um nach den Tätern zu forschen, die untrügliche Spuren hinterlassen hatten. Diesen Spuren folgend, kam der Mann in ein bayerisches Walddorf, allwo sich auch ein Gendarmerieposten befand. Er machte dem Kommandanten die Anzeige und verfügte sich mit einem Freunde, der ihn begleitete, in ein Wirtshaus. Hier saßen sie eben, ruhig ihr Glas Bier trinkend und ein frugales Mahl verzehrend, als der Wirt eintrat, mit einem langen Messer in der Hand.

»Hörst, Böhm«, redete er seinen Gast an, »di hot da Satan einabroat. Oostecha kunnt i di, wiara Goaskitzl!« (Dich hat der Satan hereingebracht. Abstechen könnte ich dich, wie ein Geißzicklein!)

Ganz betroffen blickte der Bauer den Wirt an, der mir nichts, dir nichts so lockende Anerbietungen machte.

»Schau mi nur on, du Malefiz Hundsböhm«, fuhr dieser fort. »Z'we host mi ofta b'n Schtantaren onzoigt? Bin i leit a Diab? Hin muast sei, du mistig's Oos du.«

Jetzt legte sich der Begleiter des Bedrohten ins Mittel. Er zog einen sechsläufigen Revolver und legte auf den Wirt an. »Stich zu, wennst Courage hast«, rief er, »zuerst aber mach dein Testament.«

Auf diese nicht misszuverstehende Drohung glitt der Wirt brummend aus der Stube; die beiden jedoch machten, dass sie fortkamen, und der Beschädigte ließ lieber seinen Ochsen im Stich, den er auch nie wiedersah. Wie er später erfuhr, hatten die Gendarmen eine Hausdurchsuchung bei dem Wirte vorgenommen, ohne dass seine Gäste etwas davon gemerkt hatten, »weil dieser ein bekannter Hehler war«. Daher auch seine Wut.

Hier war es, wie wir gesehen, bloß zum Austausch von Drohnoten und zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen ohne weitere Folgen gekommen. Mitunter jedoch gehen die Sachen weiter, und zuweilen werden sogar Schüsse und Messerstiche ohne vorhergehenden Notenwechsel eingetauscht. Von Kämpfen mit Wildschützen habe ich schon bei früheren Gelegenheiten gesprochen; hier will ich bloß noch einige Fakta aus jüngst vergangener Zeit erwähnen, die alle das etwa zwei Stunden entfernte Pürstlinger Revier betreffen.

Vor zirka 15 Jahren fand man den Heger W.. im Walde erschossen; die Täter waren offenbar bayerische Wildschützen. Der ermordete ruht am Friedhof zu Rehberg, wo ein einfaches Kreuz mit der entsprechenden Inschrift sein Grab schmückt.

Vor etwa 10 Jahren erschoss der fürstliche Forstadjunkt P. in der Selbstverteidigung einen bayerischen Wilddieb. Als die Nacht anrückte, war plötzlich das Pürstlinger Forsthaus von einem Dutzend drohender Gestalten umstellt. Dem Förster wurde zugerufen, er möge sich zeigen, widrigenfalls man das Haus stürmen und alles massakrieren würde. Der also Begehrte erschien am Fenster, und nun begannen die Unterhandlungen. Man versicherte den Förster, dass man durchaus nicht die Absicht habe, ihm oder seiner Familie ein Leid zuzufügen, den Adjunkten aber müsse er herausgeben, sonst würde man Haussuchung halten; dieser habe Menschenblut vergossen und müsse sterben.

Der Förster beschwor die Männer, ihn in Ruhe zu lassen und nach Hause zu gehen; der Gesuchte sei übrigens entflohen, und die Gerichte würden ihnen ja Satisfaktion verschaffen, falls er schuldig sei.

Das half nichts. Die Herren vom Busch äußerten sich sehr despektierlich über die Gerichte und verlangten schließlich stürmisch Einlass, der ihnen auch bewilligt werden musste. Sie durchstöberten das ganze Haus vom Boden bis zum Keller, warfen sogar das Heu durcheinander, fanden jedoch den Gesuchten nicht. Nach einer Version war derselbe bereits entflohen, da er wohl wusste, was ihm im Falle längeren Verbleibens unvermeidlich drohte; nach einer anderen war er, während seine Feinde das Haus durchsuchten, in einem Krautfass verborgen gewesen und hatte es nur dem übergroßen Eifer seiner Verfolger zu verdanken, dass er nicht entdeckt wurde; erst nachdem seine Feinde sich entfernt hatten, war er aus der Gegend bei Nacht und Nebel entflohen.

Auch der Sommer 1886 brachte ein trauriges Ereignis. Nicht weit vom Pürstlinger Forsthause ziehen sich unmittelbar an der Grenze grasige Flächen hin, deren Heu vom fürstlichen Forstamt an die Bauern – die Fuhre um 50 kr. – verkauft wird. Es ist daher selbstverständlich verboten, dieses Gras zu schneiden, und Zuwiderhandelnde geraten oft mit dem Aufsichtspersonale in Konflikt. Da geschah es denn in den letzten Julitagen, dass sich eine Anzahl Weiber aus dem benachbarten Bayern einfand mit Sicheln und Tragkörben – das Heu wächst ja im Walde –, und commune ist nach der Logik und Grammatik dieser Hinterwäldler nicht, was einen Mann und eine Frau bezeichnen kann, wie wir armselige Bücherwürmer in der Prima gelernt haben, sondern was der gütige Herrgott ohne menschliches Zutun »von selbst« in der Natur entstehen, werden und wachsen lässt, also Hasen, Rehe, Waldbäume und Waldgras. – Der Heger B. aus Pürstling, der dazukam, mochte hierüber anderer Ansicht sein, denn er wollte ohne weiteres zur Pfändung der Körbe und Sicheln schreiten. Sämtliche Weiber ergriffen die Flucht und hatten mit wenigen Schritten die Grenze erreicht, wo die Macht des Hegers ein Ziel fand; nur eine blieb, ein junges Weib von 24 Jahren, Mutter von drei Kindern. Was nun geschah, wird wohl nie jemand ganz genau erfahren; am meisten noch dürfte das k. k. Kreisgericht Pisek darüber wissen, welches sein Urteil in dieser Sache gefällt hat. Nach der Aussage des Hegers drohte diesem das Weib, ihm mit der Sichel den Bauch aufzuschlitzen, und ging auch auf ihn los, worauf er gegen sie einen Schreckschuss abfeuerte. Nichtsdestoweniger soll das Weib nicht nachgegeben, vielmehr das Rohr des Hegers ergriffen und versucht haben, ihm das Gewehr zu entreißen. Bei dieser Balgerei soll der andere Lauf losgegangen sein: der Schuss ging der Unglücklichen durch den Hals; sie wankte einige Schritte rückwärts und stürzte tot zu Boden.

Dieser Darstellung widerspricht jedoch der Umstand, dass man die Leiche bereits jenseits der Grenze fand. Sei dem wie immer, der bayerischen Grenzbevölkerung jener Gegend bemächtigte sich eine ungeheuere Aufregung. Racheschnaubend bewaffneten sich die Männer und eilten an die Grenze. Wer damals in der Gegend war und die Gerüchte hörte, die einander drängten, musste glauben, er befinde sich auf Korsika oder in der Krivošije, wo die Blutrache in vollem Schwung steht.

Noch an demselben Tage wurde der Heger fortgeschafft, seine Familie, sogar sein Vieh wurde gleichfalls fast augenblicklich aus dem Hegerhause delogiert und bis auf weiteres in Mader förmlich interniert, da das ganz bestimmte Gerücht auftauchte, als beabsichtigten die empörten Verwandten der Getöteten, das Hegerhaus niederzubrennen und alles Lebendige niederzumetzeln. Desgleichen wurde der Gendarmerieposten zu Rehberg um zwei Mann verstärkt und die Grenze unablässig scharf invigiliert. Über den Verlauf des Prozesses vermag ich nicht zu berichten, habe bloß vernommen, dass der Heger zu zwei Jahren schweren Kerkers verurteilt worden ist. Die meisten

Leute, die den Mann gekannt, bezeichneten denselben als einen jähzornigen, heftig aufbrausenden Menschen, der bei jeder Gelegenheit mit Totschießen drohte.

Das ist der kleine Krieg, der fast ununterbrochen an der Grenze geführt wird, hier wie weiter nach Norden und Süden hin. Es gab aber eine Zeit, wo sich ein ganz regelrechter Krieg an der Grenze zu entspinnen drohte. Das Hauptquartier der Verteidiger unserer Grenze befand sich allerdings nicht in der Rachelgegend, vielmehr weiter nordwärts, gegen Hurkental zu. Doch da eben vom Grenzkrieg die Rede war, möge hier jener bewegten Epoche gedacht werden.

Vergeblich, lieber Leser, wirst du die Annalen der Geschichte durchblättern: die Namen und Tathandlungen jener kühnen Recken findest du nicht verzeichnet, ihres Führers Namen »meldet kein Lied, kein Heldenbuch«; weil aber keines Sängers Fluch auf ihm lastet, so sei es mir gestattet, ihn hervorzuziehen aus der ewigen Nacht, in der er sonst versinken könnte. Ich habe ihn noch gekannt, den braven Hauptmann, der erst vor wenigen Jahren, an hundert Sommer alt, zur großen Armee eingerückt ist. Er hieß Mathias Prinz von Buchau, war Sohn des Primators von Bergreichenstein, seine Mutter war eine geborene Abele. Seines Zeichens war er, seinem adeligen Blute hohnsprechend, gelernter Braumeister, doch als solcher nur ab und zu in Aktivität.

Als im Jahre 1809 die Franzosen und die mit ihnen vereinigten Truppen des Rheinbundes die Österreicher aus Bayern zurückdrängten, da hieß es plötzlich, der Marschall Davoust werde mit einem Armeekorps in Böhmen einrücken. Mit anerkennenswertem Patriotismus bewaffnete sich die Grenzbevölkerung, und eine Abteilung dieses improvisierten Landsturmes erhielt den erwähnten Mathias Prinz von Buchau zum Hauptmann und Kommandanten. Welche militärische Antezedenzien oder was sonst für Verdienste demselben diese Ehre eintrug, habe ich nie in Erfahrung bringen können, was mir in Anbetracht der Spärlichkeit der Quellen gütigst verziehen werden möge. Die Feinde und Neider des Kommandanten behaupteten, seine Ernennung sei ein trauriges Zeichen des damals herrschenden Protektionssystems, denn der Hauptmann könne nicht einmal schreiben; er selbst dagegen bezeichnete sich als das Opfer von Intrigen, da er mindestens den Oberstentitel verdient habe. Er allein sei es gewesen, der den Landsturm organisiert habe; den Vorwurf aber, er könne nicht schreiben, müsse er als eine niederträchtige Infamie zurückweisen; er mache sich erbötig, vor jedermann seinen Namen niederzuschreiben, nur dürfe man ihn nicht unterbrechen, da er sonst irre würde und von neuem anfangen müsse. Wem soll man nun in Anbetracht so widersprechender Angaben glauben?

Im Feber des Jahres 1809 hatte sich ein hoch-wohllöblicher Kriegsrat entschieden, den Kampf gegen Napoleon von Böhmen aus zu beginnen; damals war es, dass unser Hauptmann mit seiner Heldenschar bis an die Grenze rückte. Er soll dort zahlreiche Ansprachen an seine Leute gerichtet und die Grenze gar scharf beobachtet haben; leider verlautbart gar nichts über die Details dieser Kriegsepoche mitten im Frieden. – Im März änderte die Regierung zu Wien plötzlich ihren ursprünglichen Plan, zog die schon bereitstehenden Truppen aus Böhmen weg und beschloss, den Kriegsschauplatz an die Donau zu verlegen und längs dieses Stromes dem Feinde entgegenzugehen.

Den »Hauptmann« Prinz und seine Untergebenen betraf diese Maßregel nicht; er blieb, wo er war. Mit dem 9. April, dem Tage, wo Erzherzog Carl den Inn überschritt, begann der eigentliche Krieg. Schon am 19. wurden die Österreicher bei Abensberg besiegt, am 22. bei Eckmühl. Die Trümmer des geschlagenen Heeres zogen sich auf das linke Donauufer zurück und von da nach Böhmen. Die Franzosen folgten ihnen nicht dahin, drangen jedoch unaufhaltsam am rechten Ufer des Stromes in Österreich vor; in Böhmen entstand jedoch, namentlich in den Grenzgebieten, eine furchtbare Aufregung, und man erwartete täglich einen allgemeinen Angriff auf die Grenze.

Soviel zur Orientierung. Jetzt beginnt unsere eigentliche Geschichte, die ich natürlich nur bruchstückweise wiedergeben kann.

»Regensburg ist von den Franzosen erstürmt!« wurde dem Hauptmann gemeldet. – »Himmelsakrament!« schrie derselbe erschrocken auf, schnallte seinen Säbel um, bedeckte sein Haupt mit einer Art Bärenmütze und stürmte in den Wald hinaus. Alle Waldwege, alle Orte, die einen Überblick der Gegend gestatteten, wurden besetzt und den Leuten eingeschärft, ja recht wachsam zu sein und alles Verdächtige zu melden, um keinen Preis jedoch ihren Posten zu verlassen. Der Hauptmann war unermüdlich im Postenvisitieren, trotz Sturm, Schnee und Regen; er brachte sogar sein Leben in große Gefahr, denn einer der ausgestellten Posten hielt ihn in seiner Herzensangst und von der beginnenden Dunkelheit getäuscht, für einen nahenden Feind und feuerte sein Gewehr auf ihn ab, worauf er, ohne die weitere Entwicklung der Dinge abzuwarten, sein Gewehr wegwarf und die rascheste Flucht ergriff, seinen Posten und den Zeter und Mordio schreienden Hauptmann aber schnöde ihrem Schicksal überließ.

»Elende Kanaille« brüllte dieser. »Vors Kriegsgericht! Erschießen! Hängen!« Da jedoch der schreibkundige Unteroffizier, den er mit dem Bericht ans Generalkommando zu betrauen gedachte, drei Stunden weit entfernt war, so verschob er die Sache, und die sich nun drängenden Ereignisse brachten sie in Vergessenheit.

Der Hauptmann hatte eben seine Runde beendet und sich in einer Holzhauerhütte, die das Hauptquartier vorstellte und von deren Balkendach eine schwarzgelbe Fahne flatterte, zur Ruhe begeben. Zirka 20 seiner Leute teilten entweder sein Quartier oder lungerten da und dort im Walde herum.

Gegen Mitternacht stürmte plötzlich eine schreckensbleiche Gestalt in die Hütte.

»Himmelsakra, aus ist's! Kommen schon!« schrie der Mann. Alles wurde wach, nur der Kommandant war nicht zu erwecken. »Wenn er Rumsaft«, meinte einer, »is' ollemol a so mit eahm!« – »D' Franzosen kimment, und der Hauptmann is nöt zum Derwecken!« jammerte ein anderer ganz kleinlaut. Erst einige Spritzer kalten Wassers sollen die gewünschte Wirkung hervorgebracht haben, indessen hatte sich jedoch bereits ein Teil der draußen Herumstehenden leise und ohne den Befehl hierzu zu erwarten rückwärts konzentriert.

»Kreuz und Herrgott!« schrie der Hauptmann, jetzt munter werdend, »das ist ja der Schnackl-Toni. Du Esel, du, du ... wie kannst denn du deinen Posten verlassen?«

»Ich tät Eana schön bitten, dass ich melde gehorsamst ...«, begann jener und brachte eine konfuse Erzählung von seinen Erlebnissen vor. Er war am weitesten vorgeschoben gewesen, hart an der Grenze. Da habe er in der Dunkelheit Waffengeklirre und Stimmen gehört – immer näher und näher sei es gekommen. Er aber habe ein Kreuz geschlagen und ein Stoßgebet hergesagt. Die Bewaffneten seien endlich ganz herangekommen, es seien richtig fünf Franzosen gewesen. (In Wahrheit war es eine bayerische Streifpatrouille, doch waren ja die Bayern mit den Franzosen verbündet.)

»Und was hast du getan?« herrschte der Hauptmann.

»Präsentiert hob i; is jo an Offizier dabeigewesen«, sagte mit Taubeneinfalt der Mann.

Eine Flut von Verwünschungen und Schimpfwörtern ergoss sich über das Haupt des schneidigen Kriegers.

»Warum hast du nicht geschossen!« fragte endlich der Hauptmann, noch immer schnaufend vor gerechter Entrüstung.

»Aber i bitt Eana, i gegen fünf!«

»Was geschah weiter?«

»Do ist der Offizier hergangen und hat g'sogt: »Her mit'n G'wihr«, hot er g'sogt, und aussagrissen hot er mer's. Oftan (hernach) hot er g'sogt: »Schau, dast hoamkimmst, und a Ents-Watschen (ents = ungeheuer groß) hot er mer a (auch) nu geb'n.«

Die geflügelten Worte des Helden, seine verstörten Mienen und der deutlich auf seiner Wange stehende Beweis der erlittenen Realinjurie verfehlten nicht, auf die Zuhörer einen tiefen Eindruck zu machen. Einige hatten bereits die Türe hinter sich, die übrigen schickten sich an, ihren Kameraden zu folgen.

»Dableiben, ihr Hunde!« brüllte der Hauptmann.

»A na«, sagte einer, »fürerst müssen wir's den Weibern sagen, damit sie unsere Siebensachen in sicheres Versteck bringen.«

»Du blasest jetzt Alarm!« wandte sich der Hauptmann an den ihn stets begleitenden Hornisten.

»Dös verlongen S' nöt von mir«, bat dieser, »do hörn jo dö grod, wo mir (wir) san.«

Es war nichts zu machen; ein panischer Schrecken hatte die Leute ergriffen. Sie dachten nicht mehr an ihre im Wald zerstreuten Kameraden, die sie ablösen sollten, und eilten stracks heim. Fluchend folgte der Hauptmann, fürchterliche Drohungen von Dezimieren und so weiter ausstoßend.

»Ich hab's immer gesagt«, polterte er, »die Glasmacher taugen nicht zu Soldaten! Das ist das nichtswürdigste Gesindel, das Gott erschaffen hat.«

Stunde auf Stunde verrann indes, und die armen Wachposten im Walde harrten vergebens auf Ablösung. Als ihnen die Geschichte endlich zu lange dauerte, machte sich einer nach dem anderen auf den Weg ins Hauptquartier, und als sie dieses leer fanden, gingen sie nach Hause.

Hier angelangt, fanden sie alles in namenloser Verwirrung; die Weiber schleppten heulend ihre Sachen in den Wald, um sie dort zu verstecken. Die Männer trieben das Vieh fort, die Kinder plärrten – kurz, es war, als rücke der Oxenstiern oder die berüchtigten Kroaten Trenks heran.

Der Hauptmann war dieser meuterischen Panik gegenüber machtlos; er fand keinen Gehorsam, trotzdem er mit dem Säbel wie rasend herumfuchtelte und der Luft schwere Verletzungen beibrachte. Endlich zog er sich wütend ins Abelesche Herrenhaus zu Hurkental zurück und schloss sich in ein Zimmer ein.

Gegen Abend, nachdem er sich mit Hilfe von Bier und Rum neue Tatkraft gesammelt, trieb ihn sein Pflichtgefühl mächtig ins Freie. Er musste doch nachsehen, was aus seinen Leuten geworden. Alles war wie ausgestorben, als er die Wohnungen der Glasmacher umschritt. Ein Tepp (Kretin) war zurückgeblieben, der saß auf der Schwelle einer Hütte und grinste den Gestrengen an.

»Wo sind die Leute?« fragte dieser, musste jedoch die Frage mehrmals wiederholen, ehe der Blödsinnige begriff. Er deutete schließlich mit der Hand nach einer bestimmten Richtung. Der Hauptmann wusste, dass gerade in der bezeichneten Gegend schier undurchdringlicher Urwald den Boden bedeckte; er war nie dort hineingekommen, was hätte er auch dort gesucht? Diesmal jedoch musste es sein. Er nahm noch einen herzhaften Schluck aus seiner Feldflasche, gürtete den Säbel fester, verwahrte den Federbusch, damit die niederhängenden Zweige denselben nicht abstreiften, und schritt fürbass dem Walde zu.

Ich will schweigen von den unsäglichen Mühseligkeiten, die das verwünschte Terrain dem Wackeren bereitete, ich müsste bereits bekannte Schilderungen wiederholen. Der Schluss aber ist grausig.

In der Dunkelheit umhertappend, fand sich unser Held plötzlich wie von Fußangeln gefangen, je mehr er strampelte, desto fester verhaspelten sich seine Füße, so dass er schließlich zu Boden fiel. Er fuhr mit den Händen um sich; da war es ihm, als ob lange, endlose, feste Fäden dieselben umspannten, die langsam, aber mit tückischer Hartnäckigkeit auch Kopf, Gesicht und Hals, ja den ganzen Körper umzogen, bis er endlich, vollkommen gefesselt, kein Glied mehr zu rühren vermochte und ruhig in all dem Wust liegenbleiben musste.

Blendwerk der Hölle! Ränke des bösen Feindes! dachte der Unglückliche und fing an zu brüllen, dass Wald und Fels widerhallten. Umsonst!

»Herrgott im Himmel! In deine Hände empfehle ich meinen Geist! Rette wenigstens meine Seele aus diesen Banden!« jammerte der Gefesselte, in dumpfer Verzweiflung sich einem entsetzlichen Schicksal ergebend.

Lange Stunden mochte er so dagelegen sein, als plötzlich der Klang menschlicher Stimmen an sein Ohr drang. Es waren Weiber, die sich näherten.

»Da muss es sein«, sprach die eine. »Ich glaube, tausend Schritt weiter«, sagte eine andere.

»Hier ist es, hier!« schrie der Bemitleidenswerte. »Helft mir um Gottes willen!«

Als die Weiber diese Stimme hörten, wären sie beinahe entflohen. Nur die eine hatte den Mut zu sagen: »Bist du ein guter Geist, so nenne den Namen Jesus!«

»Jesus Maria!« rief die Stimme. »Ich bin aber gar kein Geist; es hält mich nur etwas fest. Helft!«

Auf diese Rede kamen die Weiber näher.

»Jessas – do san jo die Spinnradeln!« rief triumphierend die eine.

Und so war es auch. Der arme Hauptmann war in die Spinnräder geraten, welche die Glasmacherweiber in einem großen Haufen hier im Walde deponiert hatten, um sie vor den Augen des beutegierigen Feindes zu verbergen. In den Rädern hatten sich seine Füße gefangen, der daran hängende Flachs und das gesponnene Garn hatten bei seinen Befreiungsversuchen immer mehr seine Hände und schließlich auch den übrigen Körper umzogen.

Mit vieler Mühe befreiten ihn die Weiber aus seiner fatalen Lage. Kaum fühlte er sich frei und hatte erkannt, welcher Art das Verhängnis sei, das ihn hier so gefesselt, als er in homerische Wut ausbrach.

»Euch soll der T... holen, ihr vermaledeiten Weibsbilder! Wer hat euch befohlen, hierher die Spinnräder zu tragen? Rädern sollte man euch, ihr Vetteln!«

Dies und noch viel andere Verbindlichkeiten sprach er zu den verblüfften Weibern, die ihm noch gutherzig den Heimweg zeigten, und – ging. Von diesem Augenblicke an hatte er aufgehört, Hauptmann zu sein. Die Schlachten von Aspern und Wagram, die Befreiungskriege, der Einzug der Verbündeten in Frankreich – das alles ließ ihn kalt; nie wieder dachte er daran, eine militärische Rolle zu spielen. Den Titel Hauptmann jedoch behielt er bei und hörte sich gerne noch in späteren Tagen so nennen.

Wie schon früher gesagt, ich lernte ihn als hochbetagten Greis kennen, und er hat mir das alles selbst erzählt und andere auch, welche die Geschichte vom Hörensagen kannten. Ich war bestrebt, objektiv zu sein, wie es einem Historiker geziemt, er aber vergaß gar manches und wurde nicht müde, darüber zu klagen, wie undankbar das Vaterland oft das Verdienst lohne.

»Mir allein verdankt es Böhmen«, pflegte er zu sagen, »dass es in jener schrecklichen Zeit von feindlichen Einfällen verschont blieb. Der Marschall Davoust« (er sprach den Namen aus, wie er geschrieben wird) »hörte, dass an der Grenze ein Prinz kommandiere; er musste also beträchtliche Streitkräfte da vermuten und wagte keinen Angriff. Freilich, wenn er gewusst hätte, was für Kanaillen die Glasmacher sind, da wäre er schon gekommen! Doch wer hätte ihm das sagen können? So feige und undisziplinierbar diese Rotte auch sein mag, Spione, Gott sei Dank, gibt es doch keine unter ihnen.«

Mit neunzig Jahren tanzte der wackere Exhauptmann noch gar fest bei den Kirchweihen mit den jüngsten Mädchen; bei einer solchen Gelegenheit machte er mir auch folgende vertrauliche Mitteilung:

»Sehen Sie; ich bin in meinem Leben nur einmal ein dummer Kerl gewesen. Das war im Jahre 1848; da hätte ich die Emerenz totschlagen sollen.«

Ich blickte ihn fragend an.

»No ja!« bekräftigte er.

»Wer ist denn das, die Emerenz?«

»Ah, die haben Sie nicht gekannt, die Zange! Das war meine Alte; eine miserable Bissgurn das! Im Jahre 1848 hätte ich es tun können, damals war die Freiheit. Ich aber habe die Gelegenheit verpasst, und später wäre die Geschichte mit Schwierigkeiten verbunden gewesen.«

Jahre sind seitdem dahingegangen, und der ehemalige Hauptmann ist heimgegangen zu seinen Vätern. Möge die Erde ihm leicht sein! Selbst das mit seiner Frau war nicht so böse gemeint, er war ja eine brave, ehrliche Haut.


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