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Elftes Kapitel

Donnerwetter, wer hat denn den Vierfüßler da verbrochen?

Hans von Hildebrand war es, der diesen Ausruf tat und seine schreckvolle Frage war an Paul Delaroche gerichtet, der als neubestallter Kunstkritiker an seiner Seite die Säle der Kunstausstellung dienstlich durchstreifte. Sie standen eben vor einem Gemälde, das im Katalog als »Der Wüstenkönig« bezeichnet war; das möglicherweise dem Tierreich angehörige Wesen, das darauf abgebildet war, hatte gelbe, grüne, blaue, rote und violette Flecken, und wo beim Löwen die Mähne zu sitzen pflegt, schien hier ein Ballen von rot und grün gestreifter Baumwolle zu liegen, während sein Schwanz einer verunglückten Riesenschlange ähnlich sah.

Paul gab seinem Gesicht einen Ausdruck, der ungeheuer vielsagend war, und sagte: Lieber Freund, das verstehst du nicht. Das Bild stellt einen Löwen dar. Es ist wunderschön; denn einer unserer modernsten Tiermaler hat es gemalt.

Erlaube mir, einen Löwen mit so geflecktem Fell habe ich in meinem Leben nicht gesehen.

Du bist eben zu lange in Afrika gewesen. Wir haben in Deutschland inzwischen farbig sehen gelernt. Geh dort hinten in den dritten Saal, kneife die Augen fest zusammen und sieh dir das Bild noch einmal durch die drei Türen hindurch an, dann gehen die Farben wundervoll zusammen, das ist nämlich der Kunstausdruck dafür.

Nein, ich danke. Soviel Mühe gebe ich mir nicht darum. Ich weiß ohnedies, wie ein Löwe aussieht. Uebrigens – à propos – da wir einmal von Löwen sprechen. Wie war denn die Geschichte gestern im Zirkus? Warst du drin?

Freilich. In bester Gesellschaft sogar.

Mit deiner Braut natürlich.

Leider nein. Mit der dicken Gattin des schönen Löwenbändigers. Eine gewichtige Dame!

Ich habe sie einmal gesehen. Netto zweihundert Kilo, nicht wahr?

Wohl etwas drüber.

Paul, Paul, wohin ist es mit dir gekommen!

Ja, ich bin eben Journalist geworden.

Und wie war die Sache mit ihm? Ich habe schon davon gelesen. Hat ihn der Löwe tüchtig gepackt?

Nein, es war lange nicht so schlimm, wie es aussah. Der schöne Enrico wird in ein paar Tagen schon wieder auftreten. Bis dahin wird seine Gattin dem Armen das Leben aber nicht sehr angenehm machen.

Warum?

Ach, eine kleine Familienszene. Eine Dame hatte laut aufgeschrien, als der Löwe zusprang, und meine schöne Hulda mag es nicht, wenn ihr Mann auch noch andere schreien macht als sie selbst.

Wer war es? Hast du sie gekannt? War Grund zur Eifersucht?

Du fragst viel auf einmal. Aber wer es war, kann ich dir sagen, dir zeigen sogar. Da drüben steht sie.

Fräulein Bornträger?

Fräulein Bornträger. Du kennst sie?

Bisher nur vom Sehen und vom Hörensagen. Aber du könntest mich ihr vorstellen. Sie interessiert mich nämlich. Sie scheint einen tüchtigen Fonds von aufgespeichertem Temperament zu haben, das gefällt mir.

Temperament stimmt. Für meinen Geschmack nur zu viel. Aber wer sie zu zähmen weiß, hat es vielleicht gut bei ihr.

Aeußerlich ist's jedenfalls eine rassige Person, wenn auch nicht mehr ganz jung. Aber darin bin ich ihr noch über. Komm, stell mich ihr vor.

Gern. Ich bin allerdings in Ungnade, aber dein flotter Schnurrbart wird mein Fürsprecher sein.

Sie steuerten durch die Gruppen der Schauenden auf Marion zu, die sie längst im stillen beobachtet und sich gefragt hatte, wer ihr besser gefiele, Paul oder Hans. Jetzt war ihr Gelegenheit gegeben, die beiden aus nächster Nähe zu vergleichen; das machte sie gnädig gestimmt, wie Paul es erhofft hatte, und sie nahm die Vorstellung seines Freundes huldvoll auf.

Hans machte seine vollendetste Verbeugung und fragte: Sind gnädiges Fräulein befriedigt von der Ausstellung dieses Jahr?

Ach, es gibt ja wieder furchtbar viel Kitsch. Aber diese Säle hier sind famos nach meinem Geschmack. Die das gemalt haben, die wagen doch wenigstens etwas.

Und das ist Ihnen sympathisch?

Kolossal. Wahrscheinlich, weil ich selbst so wenig wagen darf. Sie wissen wohl, mein Bruder ist Polizeichef.

Aha, ich verstehe. Die wandelnden zehn Gebote.

Zehn? Die genügen für meinen Bruder lange nicht. Bei dem sind's mindestens zwanzig. Und das bürgerliche Gesetzbuch noch als Zugabe.

Das muß gemütlich sein.

Sehr gemütlich, das kann ich bezeugen. Haben die Herren – sie richtete die Frage mit einiger Ueberwindung auch an Paul – schon viel von den Bildern gesehen?

Für beide gab Hans die Antwort, während sein Freund nach vorschriftsmäßiger Kritikerart ein paar Notizen in seinen Katalog kritzelte. Nein, wir haben uns erst vor zehn Minuten hier zufällig getroffen. Aber aufrichtig gesagt, ich möchte schon wieder fort. Bei diesen merkwürdig gefärbten, zwei- und vierbeinigen Wesen packt mich eine fabelhafte Lust nach Luft und Sonne.

Ach, das ist schade!

Warum?

Ich sehe, die modernen Bilder gefallen Ihnen nicht, und ich mag sie so gerne.

Vielleicht, wenn gnädiges Fräulein mich ein wenig in die Schule nähmen –

Ach ja, Sie sehen sich gewiß noch hinein. Guten Willen muß man haben, dann geht's.

Ich werde mir die größte Mühe geben. Und wenn mir wirklich eins von den Bildern gefällt, dann bekenne ich reuig meine Bekehrung.

Langsam gingen sie nun alle drei zusammen an den Wänden mit den bunten Schildereien hin und kamen so auch noch einmal zu dem Wüstenkönig, den Hildebrand und Paul zuvor betrachtet hatten. Hier nahm dieser zum ersten Male das Wort.

Gnädiges Fräulein können gleich mit Ihrer Lektion beginnen. Mein Freund behauptet nämlich, das Geschöpf da wäre kein Löwe. Bitte, überzeugen Sie ihn vom Gegenteil. Er hat ja zwar in seinem Leben schon ein paar Löwen totgeschossen, aber ich glaube doch, Sie sind eine noch größere Sachverständige in Löwenangelegenheiten.

Marion wurde verlegen, soweit sie dazu imstande war; jedenfalls wurde sie rot. Sachverständige, wie meinen Sie das?

Nun, ich habe doch gesehen, mit welch intensivem Interesse Sie der Löwennummer im Zirkus ein paarmal beigewohnt haben, und ich habe mit Bedauern bemerkt, welchen Schrecken Sie gestern hatten, als sich der Unfall im Käfig ereignete.

Ach ja, Sie waren auch dort. Ich habe Sie gesehen, ganz flüchtig. Und ich war wirklich furchtbar erschrocken. Ich glaube sogar, ich habe geschrien.

Ziemlich laut, allerdings.

Ja, sollt' ich nicht schreien?

Gewiß, warum nicht? Klärchen im »Egmont« sagt genau wie Sie: »Sollt' ich nicht schreien?«, als sie den Geliebten in Lebensgefahr sieht.

Marion suchte scheinbar vergeblich nach einer Antwort, wobei sie Paul mit ihren unfreundlichsten Augen betrachtete, doch enthob Hildebrand sie der Mühe, indem er lachend sagte: Ach, lassen wir doch den unmöglichen Löwen und seine sonstigen Genossen. Ueber ihn einigen wir uns nun einmal doch nicht. Wenn wir weitergehen, – wahrhaftig, dort ist schon ein Bild, das mir gefällt!

Er hatte sich seitwärts gewandt und zeigte nun auf eine gleichfalls recht farbenfreundliche Leinwand. Eine nackte weibliche Gestalt war darauf zu erblicken, die unter einem reich mit Früchten beladenen Apfelbaum stand und sehnsuchtsvoll die Hände zu seinen Zweigen emporstreckte, die sie nicht erreichen konnte.

Sie müssen mich nicht mißverstehen, gnädiges Fräulein, fuhr Hildebrand fast ohne Unterbrechung fort, und mich nicht für so frivol halten, daß mir dies Bild nur darum gefällt, weil die Dame dort so wenig, so sehr wenig bekleidet ist. Im Gegenteil, ich bin recht erstaunt, aus den Bildern hier zu sehen, daß es für die weiblichen Wesen in Deutschland jetzt offenbar Mode ist, sich die Kleider auszuziehen, wenn sie zu einem Picknick gehen oder Aepfel pflücken wollen. Auch das begeistert mich nicht, daß die Dame violette Haare und eine grüne Nase hat; ich ziehe die ältere Mode vor. Aber das Bild hat in meinen Augen einen kolossalen Vorzug.

Welchen meinen Sie?

Es ist symbolisch. Es verkörpert für mich in der einen weiblichen Gestalt einen großen Teil des ganzen weiblichen Geschlechts. Es ist ja heute schon etwas anders geworden in der Welt, und viele Frauen sind energisch genug, sich selber ihr Schicksal zu deichseln. Aber die große Mehrzahl ist doch immer noch zeitlebens auf Wartegeld gesetzt. Wie diese Dame hier, stehen sie alle unter dem vollbeladenen Apfelbaum und strecken die Hände nach seinen Früchten aus, aber es fällt nur selten etwas hinein von all den schönen Dingen dort oben. Keine Freude, keine Freiheit, kein Mann – verzeihen Sie, wenn ich auch die Männer zu den schönen Dingen rechne. Aber für viele Mädchen gehören sie doch noch immer dazu.

Ganz gewiß! Marion sprach die Worte mit einem Tone wärmster Ueberzeugung, und auch der Blick, mit dem sie Herrn von Hildebrand betrachtete, war nicht kühl. Ihm aber gefiel ihre temperamentvolle Offenheit, und sein Ausdruck wurde herzlicher.

Wirklich, sie tun mir zu leid, alle diese kleinen und großen Mädchen. Immer warten und immer warten! Und dabei verlangen dann ihre Mütter, Tanten, Brüder – dies Wort war von einem bedeutungsvollen Blick auf Marion begleitet – auch noch, sie sollen beständig sittsam die Augen niederschlagen und sollen tun, als wenn es alle die guten Dinge überhaupt nicht gäbe, die sie doch im Grunde ihrer Herzen so furchtbar gern haben möchten. Darben, entbehren, hungern, und dabei noch ein sattes Gesicht machen, nein, ich danke ergebenst!

Herrgott, wie mich das freut! Wie mich das freut, Herr von Hildebrand! Daß ich endlich einmal jemandem begegnet bin, der offen und gerecht genug ist, so zu denken und zu reden. Wahrhaftig, Sie sind mein Mann!

Er lachte. Leider vorläufig noch nicht, mein gnädiges Fräulein.

Sie lachte auch, wurde jedoch zugleich feuerrot, als sie merkte, was sie gesagt hatte. Und er war klug genug, an ihrem Erröten zu sehen, daß ihr freies Wesen nur äußerlich, und daß ihre Seele dabei feinfühlig geblieben war. So half er ihr auch gleich über den gefährlichen Moment hinweg.

Ich bin einmal gerade heraus. Es ist mir immer schleierhaft gewesen, warum die Sprache dazu da sein soll, um die Gedanken zu verbergen. Und ich finde wirklich, daß wir Männer es hundertmal besser haben in der Welt als die meisten Frauen. Herrgott, wenn ich mir denke, daß ich so geduldig tagaus, tagein auf dem Wartturm sitzen sollte, ohne die Hände zu rühren, mein Glück zu fassen! Dem Bilde da fehlt nämlich sein Gegenstück. Ein frischer Kerl, der unter'm Birnbaum steht und zu dem die Birnen freiwillig herunterfallen. Oder die er sich brechen kann, wenn sie nicht von selber kommen, und zu denen er im Notfall hinaufklettern darf.

Marion seufzte. Wir dürfen nicht klettern! Und um Ihnen zu beweisen, wie wahr Sie gesprochen haben, muß ich Ihnen sagen, daß ich schon viel zu lange bei Ihnen gestanden habe und jetzt gehen muß, um eine Tante zu suchen, die mein Bruder neuerdings mit der Oberaufsicht über mich betraut hat, und die hier in einem der Säle auf mich wartet. Aber ich danke Ihnen für Ihre Worte, Herr von Hildebrand, leben Sie wohl.

Sie gab ihm die Hand, Paul Delaroche bekam nur ein kurzes Neigen des Kopfes, das er mit umso tieferer Verbeugung erwiderte. Als Marion gegangen war, sagte Hans: Du, die gefällt mir wahrhaftig nicht so übel.

Freut mich, daß die Geschmäcker verschieden sind.

Doch, sie ist aufrichtig. Und bei mir heißt es: Aufrichtigkeit über alles!

Ich meine, man kann aufrichtig sein und weiblich zugleich.

Unweiblich kann ich sie nicht finden. Mein Gott, bedenke doch, solch ein armes Frauenzimmer! Sie ist ja bald in dem Alter, wo sie zu singen anfangen: »Aus tiefster Not schrei ich zu dir!« Sie hat eben Appetit auf den Mann, den haben sie alle, die meisten wenigstens. Wir können gut absprechen über sie, die wir uns jeden Tag satt essen können – an Birnen von dem bewußten, gastfreien Birnenbaum. Gebt solch einer armen Person nur einmal einen einzigen Apfel, in den sie hineinbeißen kann! So lange sie keinen bekommt, sieht sie sich alle mit begehrlichen Blicken an; das tun wir auch, wenn wir einmal über den Markt gehen. Aber von dieser da bin ich überzeugt: hat sie erst einen, der ihr wirklich gehört, in den Händen und zwischen den Zähnen – sie wird tüchtig beißen, aber sie wird mit dem einen zufrieden sein.

Probier's doch einmal.

Soweit sind wir noch nicht. Aber du bist wirklich voreingenommen gegen sie.

Es mag davon kommen, weil sie auch in mich gern einmal hineingebissen hätte, und das war mir unbequem. Jetzt muß ich aber an die Arbeit. Addio, Freund; wenn ich gründlich sehen will, muß ich allein sein. Vor dem Essen muß ich noch acht bis zehn Maler totschlagen, natürlich nur solche von der älteren Richtung. Auf Wiedersehen.

Auf Wiedersehen.

Paul machte sich auf seine mörderische Wanderschaft, Hans aber blieb noch eine Weile stehen und betrachtete gedankenvoll das nackte Weib unter dem Apfelbaum. – –

Marion fühlte sich merkwürdig froh und gehoben. Sie ertrug die moralisch erziehenden Bemerkungen der leider bald aufgefundenen Tante mit ungewohnter Geduld, wurde nicht unangenehm, wenn diese vor einem Kitschbild »O, wie süß!« rief, und lachte willig über die bescheidensten und gesittetsten Scherze. Die gute Laune begleitete sie dann getreulich noch auf dem ganzen Wege nach Hause; hier aber gab es einen kleinen Dämpfer. Denn im Hausflur begegnete ihr Frau von Hergenrath und begrüßte sie so gnädig, daß Marion zu sich selber sagte: Die hat was angestiftet. In der letzten Zeit war diese Dame ein paarmal ins Haus gekommen, und sie hatte stets eine ungemein feine Nase dafür, wenn Marion ausgegangen war. Offiziell besuchte sie dann Tante Aurelie, obwohl sie sich ebensogut mit der chinesischen Mauer hätte unterhalten können wie mit ihr. Denn wenn sie pro forma das Wort einmal an sie richtete und ihr die bemerkenswerte Mitteilung machte, daß das Wetter schön sei, dann entgegnete die Tante sicher: O, wie mir das leid tut! oder etwas ebenso Unpassendes. Und wenn die Besucherin sich nach Tantens eigenem Befinden erkundigte, gab sie zur Antwort: Der Kaffee wird gleich fertig sein. Dafür war sie die bequemste Gesellschaft, um sich in ihrer Gegenwart die tiefsten Geheimnisse anzuvertrauen, und der Herr Oberregierungsrat hätte vor dieser Zeugin ruhig Frau von Hergenrath seine Liebe gestehen können, wenn er es nicht aus anderen Rücksichten unterlassen hätte. Die Tante würde stets nur gedacht haben, die beiden unterhielten sich über die steigende Teuerung oder andere solide Dinge, und in die Flammen seiner Leidenschaft hinein hätte sie höchstens die Bemerkung gemacht: Und das Petroleum ist auch schon wieder teuerer geworden.

Im Augenblick saß die Tante still und zufrieden auf ihrem Beobachterposten am Fenster, ebenso still, aber scheinbar weniger zufrieden saß der Papagei auf seiner Stange. Unverwandt schauten seine runden Augen auf einen Punkt, und es hatte den Anschein, als wenn er für einen tiefen Gedanken vergeblich nach Worten suchte. Ruhelos und aufgeregt lief dagegen der Oberregierungsrat Bornträger zwischen den beiden Stillen hin und her, abgerissene Worte kamen zuweilen von seinen Lippen, und es klang wie »Skandal – unerhört – eine Blamage!« Marion hatte nicht unrecht gehabt, wenn sie sich beim Anblick der Frau von Hergenrath auf ein Gewitter gefaßt gemacht hatte.

Sobald sie nur ins Zimmer getreten war, brach es los. Mit ungewohnter Geschwindigkeit kam ihr Bruder ihr entgegen, hob die Hände verzweifelnd oder beschwörend in die Höhe und rief: Marion, Marion, was habe ich heute wieder von dir hören müssen!

Aha, die liebe Frau von Hergenrath war hier.

Diese Bemerkung war eben nicht geeignet, ihren Bruder zu beruhigen, und sein Ton wurde noch um einige Grade schärfer, als er sagte: Jawohl, sie war hier. Tante Aurelie hat sich über ihren Besuch sehr gefreut. Dir hat er nicht gegolten.

Wofür ich sehr dankbar bin. Was hat sie denn wieder getratscht?

Frau von Hergenrath tratscht nicht. Sie hat mich nur freundschaftlich darüber unterrichtet, daß man heute in der ganzen Stadt von dir spricht. Jawohl, von dir. Von der Schwester des Polizeichefs, die erhaben sein sollte über jede Lästerung.

Erhabenheit war noch niemals mein Lebensziel.

Ich verlange sie nicht von dir. Aber ich verlange, daß du die Dehors wahrst. Damen aus guter Familie schreien nicht. Sie schreien am wenigsten im Zirkus. Sie schreien am allerwenigsten bei der Verwundung eines Löwenbändigers.

Das also war's. Ja, lieber Bruder, wenn ich mich erschrecke, da kann ich nicht erst überlegen, ob sich's auch schickt, wenn ich schreie.

Soweit muß jeder Mensch sich in der Gewalt haben. Im Zirkus waren ein paar tausend Menschen. Du aber warst die einzige, die sich so weit vergaß.

Ich habe vielleicht mehr Temperament als die übrigen.

Man kann es auch anders deuten. Man kann sich sagen, daß du ein persönliches Interesse für diesen Menschen haben mußt. Frau von Hergenrath –

Aha!

Du brauchst gar nicht »Aha« zu sagen. Frau von Hergenrath ist eine höchst feinfühlige Dame; sie repräsentiert für mich die Gesamtheit aller feinfühligen Damen unserer Stadt. Und wenn ihr solch ein Gedanke kommt, wenn sie sich überwindet, ihn mir gegenüber auszusprechen –

Meinetwegen hätte sie sich nicht zu überwinden brauchen.

O ja, auch deinetwegen hat sie es getan. Sie hofft mit mir, daß du dich noch nicht so weit vergessen hast, solch einem Kerl im Löwenkäfig Avancen zu machen. Mein Gott, wenn ich nur an die Möglichkeit denke, da gerate ich in eine Aufregung, daß mich der Schlag treffen könnte!

Tante Aurelie, die noch keine Ahnung davon hatte, daß Marion ins Zimmer getreten sei, machte mitunter, wenn von der Straße nichts zu melden war, auch kleine, unerwartete Mitteilungen über häusliche Angelegenheiten, besonders über die Küche, die zu ihrem Departement gehörte. Sie tat es auch in diesem Augenblick, als die feierliche Familienszene einem tragischen Gipfel zustrebte, und sagte: Ich werde heute »Arme Ritter« machen lassen.

Es klang, als wollte sie damit einem Schlaganfall bei ihrem Neffen vorbeugen, doch er war undankbar genug, dies Hilfsmittel gänzlich zu ignorieren und in unverändert leidenschaftlichem Tone weiter zu sprechen.

Habe ich mir darum die Stellung hier errungen, um sie durch dich erschüttert zu sehen? Habe ich darum gearbeitet und gestrebt alle die Jahre hindurch, um nun durch dich ruiniert zu werden? Bin ich nur darum stets für Anstand und Sitte eingetreten, um einen Skandal in meinem eigenen Hause zu erleben?

Du bist aufrichtig, Franz. Du sprichst immerfort nur von dir. Auf mich kommt es offenbar nicht an. Aber ich sage dir: ich will nicht mein Lebenlang vergeblich unter dem Apfelbaum stehen!

Er betrachtete sie mit aufrichtigem Schrecken. Ich glaube, du bist verrückt geworden. Ich spreche von einem Löwenbändiger, und du sprichst von einem Apfelbaum.

Trotz ihres Aergers mußte sie lachen. Ach ja, davon weißt du nichts. Ich habe mich heute mit einem sehr netten Herrn über diesen Apfelbaum unterhalten.

Schon wieder einer! Ja, wo kriegst du denn alle die Herren immer her?

Dieser war in der Kunstausstellung. Ein Löwenjäger, aber kein -bändiger, wie ich dir zu deiner Beruhigung mitteilen kann. Ein Herr von Hildebrand, ganz comme il faut. Du selber hättest nichts an ihm auszusetzen gehabt.

Aber du solltest doch mit Tante Riedesel gehen!

Tante Riedesel habe ich hinterher getroffen. Sie läßt grüßen. Vorher habe ich mich mit den Herren unterhalten.

Du sprichst schon wieder im Plural. Vorher war es einer, und jetzt sind es mehrere.

Ja, Herr Delaroche war auch dabei.

Dieser Delaroche auch noch! Marion, Marion, was werden die Leute sagen!

Du lieber Gott, wer sich darum kümmern will!

Aber du sollst und mußt dich darum kümmern. Das ist es ja, was ich von dir verlange. Was ich auf das allerentschiedenste von dir fordern muß. Du bist nicht allein auf der Welt. Du hast Familie. Du hast Rücksicht zu nehmen. Auf mich, auf Tante Aurelie, jawohl, auch auf die gute Tante Aurelie. Wer das Urteil der Welt verachtet, ist verloren. Es gibt nichts Wichtigeres als das. Dein Standpunkt ist ein absolut verwerflicher. Eine Dame der guten Gesellschaft soll bei jeder ihrer Handlungen zuerst und immer wieder nur die eine Frage tun: »Was werden die Leute sagen?«

Das heißt so viel: ich darf mir alles erlauben, nur darf es niemand merken. Nicht wahr?

Es heißt, daß für dich und für uns alle das allgemeine Urteil der Welt ein Gottesurteil ist. Wir haben ein Sprichwort, in dem diese Anschauung von unseren Vätern schon niedergelegt worden ist. Es lautet: » vox populi, vox dei«.

Offenbar sah Bornträger den Augenblick für geeignet an zu einem guten Abgang, wie die Schauspieler sagen. Er schritt – ein wenig hinkend allerdings, weil ein Anfall von Podagra bei ihm im Anzuge war – mit möglichster Würde zur Tür und ging hinaus.

Einen Augenblick herrschte tiefe Stille. Dann unterbrach sie der Papagei. Offenbar war er mit seinem langen Sinnen jetzt zu Ende gekommen und hatte auf dem Grunde seiner Vogelseele ein paar noch niemals hier gesprochene Worte wiedergefunden. Mit freudigem Kreischen und Flügelschlagen rief er vernehmlich: »Also sprach Zarathustra!«


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