Isolde Kurz
Die Stunde des Unsichtbaren
Isolde Kurz

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Das Bildnis der Unbekannten

Als Frau Juliane von Weehrt zum erstenmal die Räume des Pitti durchschritt, stellte sich ihr in einem der Hauptsäle gleich beim Eingang ein von der Schmalwand losgedrehtes tiefdunkles Männerbildnis unvermittelt in den Weg. So jählings stand es vor ihr, daß sie wie vor einem Lebenden zurückfuhr und dann gebannt in die schönen aber unbegreiflich unheimlichen Züge staunte. Es war ein jüngerer Mann in Schwarz auf dunklem Hintergrund, ein schmales, hochmütiges Gesicht mit feiner gesenkter Nase, dünne Lippen unter einem schwachen helleren Bartanflug, blaßblaue Augen länglich schmal aber weitgeöffnet, der Blick aus engen Pupillen seltsam starr und basiliskenhaft. Er hielt den ihrigen mit magischem Zwange fest.

Wer ist dieser Mensch? Woher kenne ich ihn? fuhr es ihr durch den Kopf. Aber sie mußte gleich selber lächeln. Das Werk trug den Namen Tizians und darunter stand: ›Bildnis eines Unbekannten‹. Das dunkle Gewand im Schnitte der Zeit, nur durch eine matte Goldkette leise aufgehellt, deutete ihr auf einen venetianischen Nobile. Man dachte bei seinem Anblick an gedeckte Gondeln, Maskenfeste, Bleidächer und die finsteren Geheimnisse der Seufzerbrücke.

Habe ich schon irgendwo eine Kopie des Bildes gesehen? fragte sich Juliane. Oder kenne ich einen, der ihm 144 ähnlich sieht? Aber das sind keine Züge, die man vergißt. Habe ich vielleicht einmal von ihm geträumt? Oder – oder – ist es ein Wiedererkennen aus fernen Geburten her?

Das Bild sah sie herrisch aus weit offenen saugenden Augen an. Augen, die nicht lieben können, aber um so tyrannischer begehren, dachte sie.

Zwischen Reiz und Grauen blieb sie stehen und betrachtete den Unbekannten wie ein schönes gefährliches Raubtier hinter sicherem Gitter. Aus der Leinwand kann er ja nicht heraus. – Aber da war doch etwas wie eine Bewegung in den Mienen, die harten Nüstern schwellten sich leise, die dünnen Lippen lächelten grausam. Das Gesicht lebte!

Der Custode trat herbei, der durch Vordrehen des Bildes die plötzliche Begegnung verursacht hatte, und knüpfte ein Gespräch an.

Ein schönes Gemälde, begann er die Unterhaltung. Es ist einer unserer besten Tizians.

Weiß man nicht, wen es vorstellt? fragte die Besucherin.

Seit fünfzehn Jahren, die ich im Amte bin, nennt man ihn nur den Unbekannten des Tizian. Mit diesem Namen steht er auch im Katalog. Das Bild ist bei Kennern hochgeschätzt, der Platz davor wird nie von Kopisten leer. Zur Zeit sitzt hier eine Engländerin – Juliane 145 bemerkte jetzt erst die leere Staffelei, neben der sie stand –,die gar nicht fertig werden kann. Sie malt und ändert und hat schon die dritte Leinwand angefangen. Aber wenn sie damit zustande kommt, so wird es die schönste Kopie, die je von dem Unbekannten gemacht wurde, und vom Urbild nicht zu unterscheiden.

Der redselige Custode wurde weggerufen und auch Juliane wollte weitergehen, aber nach einem halben Schritte zog es ihr den Kopf noch einmal zurück, als hätte sie etwas dagelassen, das sie wieder an sich nehmen müsse.

Die grausamen Lippen lächelten stärker.

Bist du ein böser Geist, der mir aufgelauert hat? Was willst du von mir? fragten ihre Gedanken.

In das grausame Lächeln mischte sich ein wollüstiger Zug:

Deine Seele beherrschen, da ich deinen Leib nicht mehr beherrschen kann.

Du hast viele Frauen beherrscht und keine geliebt.

Weil du noch nicht geboren warst, Schöne.

Laß mich. Ich habe nichts mit dir zu schaffen.

Die Basiliskenaugen antworteten: Bist du dessen gewiß? Besinne dich besser.

Eine hinzutretende Besucherin weckte die junge Frau aus ihrer halben Entrückung und machte dem sonderbaren, stummen Zwiegespräch ein Ende.

146 Juliane durchwanderte die andern Säle, betrachtete mit Gründlichkeit die schmerzlich lächelnde Madonna des Botticelli und stand ernst und lange vor Giorgiones unvergänglichem Konzert. Aber beim Aufbruch mußte sie den ersten Saal noch einmal durchqueren.

Inzwischen hatte sich der Raum stärker gefüllt, eine dichte Schar von Besuchern, zum größten Teil weiblichen Geschlechts, umstand das Bildnis des Unbekannten.

Das ist der richtige Herrenmensch des Cinquecento. Die blonde Bestie Nietzsches, hörte sie eine Männerstimme in deutscher Sprache sagen.

A - oh! kam es gequetscht aus einer amerikanischen Frauenkehle. Mol - to, mol - to interessante!

Mama, komm weg, ich kann ihn nicht ansehen, rief eine junge Mädchenstimme dazwischen. Ich fürchte mich vor ihm – er ist der Tod!

Frau Juliane empfand diese Ansammlung als eine Art von Zudringlichkeit. Was suchen sie nur alle bei ihm? dachte sie. Er kann doch nicht zu jeder sprechen.

Es war nicht mehr möglich an das Bild heranzukommen, und ein wenig ärgerlich, als wäre ihr eine letzte Frage verwehrt worden, verließ sie die Galerie.

 

Frau Juliane wartete seit einer Reihe von Tagen in ihrem Hotel am Lungarno mit Ungeduld auf ihren 147 Gatten, einen jungen Gelehrten, der an der Zoologischen Station von Neapel mit Untersuchungen über die Augen des Tintenfischs beschäftigt war. Heute hoffte sie mit Bestimmtheit bei ihrer Heimkehr das Telegramm zu finden, das seine bevorstehende Ankunft melden sollte. Statt dessen war ein Brief gekommen, der sie auf einen weiteren Verzug vorbereitete. Er schrieb:

›Meine geliebte Seele in meinem fernen Leib! Ich fühle, daß du mir zürnst, in deinen Augen bin ich schuldig, und jeder Tag, den du allein in Florenz verbringst, macht mich noch schuldiger vor dir. Aber möchtest du einen Mann, der fahnenflüchtig aus dem Felde kommt? Hier im Zoologischen Institut ist mein Feld, wo ich als Mann unter Männern bestehen muß. Wenn du doch das Glück des Forschers nachfühlen könntest, dem ein köstlicher, einziger Fund zu guter Letzt noch unverhofft in die Hände geraten ist. Ich schrieb dir ja schon, daß die Fischer der Station einen seltenen Tintenfisch lebend erbeutet haben. Er heißt Pyrrhotenthis, Leuchtfisch oder Perlenträger nach den wunderbar glühenden Leuchtorganen, die ihm wie rote und grüne Perlen reihenweise über die Haut verteilt sind. Da begreifst du, daß die Frage brennend ist: wozu trägt das Tier diese leuchtenden Farben? Kann er sie selber wahrnehmen, das heißt, sind sie sein Hochzeitsschmuck, um dem Weibchen 148 zu gefallen? Oder ist er, wie andere meinen, farbenblind? Wir haben auch das Weibchen, das macht die Beobachtung doppelt reizvoll. Aber ich brauche immer noch einige Tage, bis ich meine Untersuchungen als sicheren Besitz in die Wissenschaft einbauen kann. Ich rufe dich nicht zu mir, du würdest dich hier verloren fühlen. Die bella Napoli ist ein übelriechendes Häusermeer voll Menschenmassen, wüstem Lärm und Getümmel. Auch hab' ich nur ein dürftiges Junggesellenzimmer hart beim Aquarium und kann den ganzen Tag nicht von meinen Beobachtungen weg. Bleib du im lachenden Arnotal, fahre mit den Geschwistern über die Colli und hinaus nach den Castelli, deren Blumenpracht jetzt überwältigend sein muß. Sei dem Pärchen hilfreich, wenn es mit der Sprache nicht fortkommt. Bald hole ich euch ab und werde dann in Venedig ein um so treuerer Führer sein.

Schlaf wohl, meine Göttin, mein Nachtpfauenauge. Ich küsse den Vorhang deiner Wimpern, bis er stilleliegt, daß ich mich hindurchstehlen kann in das stille Kämmerlein deiner Träume. Ich muß aufhören, sonst werde ich poetisch, und du würdest mich auslachen, weil mir das nicht liegt.

Dein Hasso.‹

Danach hatte der Schreiber offenbar den Umschlag noch einmal geöffnet und hinzugesetzt: 149

›Du Geliebte, ich lebe in Sehnsucht, und wer bei dem Verzug verliert, bin ich.‹

Der dieses schrieb, war der liebenswürdige Sprößling eines alten Adelsgeschlechts und Naturforscher mit Leib und Seele. Juliane, die verwöhnte Tochter eines Industriekönigs, hatte sich ihn beim ersten Blick zum Gatten gewünscht und gewählt. Diese Trennung war die erste längere in einer schon mehrjährigen Ehe und sollte der jungen Frau durch das Zusammentreffen in Florenz, wo auch Hassos Schwester Helga mit dem neuvermählten Gatten von Spanien her erwartet wurde, und durch einen längeren gemeinsamen Aufenthalt in Venedig vergütet werden. In jubelnder Vorfreude war sie dem Wiedersehen entgegengefahren, mitten in den leuchtenden florentinischen Frühling hinein. Aber statt des Liebsten nahm sie bei der Einfahrt in Florenz ein Hoteldiener in Empfang, weil der Herr noch nicht eingetroffen sei, und auf ihrem Zimmer fand sie zwar ein herrliches, von ihm bestelltes Blumengebinde, aber zugleich die Nachricht von dem glückhaften Fischzug, dessen Ertrag den jungen Forscher vorerst nicht abkommen ließ. Juliane hatte begriffen und verziehen, und da das Hochzeitspaar, für das schon die Zimmer bestellt waren, gleichfalls ausblieb, war sie mehrere Tage lang allein oder in Gesellschaft ihrer Jungfer durch Kirchen und 150 Galerien gepilgert. Aber sich ein zweites Mal in Geduld zu fassen, war dem verwöhnten jungen Weibe nicht gegeben. Was lag ihr an dem Pyrrhotenthis und seiner ganzen Herrlichkeit! Sie fühlte in Hassos Liebesworten nicht die herzliche Sehnsucht durch, sondern bloß das Bestreben, sie ferne zu halten, und der Hinweis auf die Enge der Wohnung und den Lärm der Stadt erschien ihr als ein Vorwand. Auch aus der zärtlichen Nachschrift las sie nur das schlechte Gewissen heraus. Sie weinte vor zorniger Empfindlichkeit, riß den Brief in Fetzen und bereute es gleich darauf, weil die liebkosenden Worte ihr nachträglich ins Ohr klangen. Aber was halfen ihr seine Ratschläge? Die Schlösser mit den kunstvollen Parkanlagen lockten sie nicht. Ohne Hasso wußte sie nicht, was mit sich anfangen. Sie war nicht wie schon die meisten ihrer Altersgenossinnen zur Selbständigkeit erzogen, immer hatte man sie gehätschelt und geleitet. Nicht, daß ihr die Einsamkeit zur Last gewesen wäre. Ganz im Gegenteil. Auf ihrem Zimmer allein zu sein, wenn Hasso arbeitete, in einem Buche zu blättern, vor sich hin zu phantasieren, das war ihr, was die Pfeife dem Opiumraucher. Aber für Wanderungen und Fahrten bedurfte sie eines mit genießenden Vertrauten. Da dieser fehlte, streckte sie sich nach der Mahlzeit unlustig auf das Kanapee, riß lässig mit dem Zeigefinger 151 die unaufgeschnittenen Seiten eines Romans auf, eine Untugend, wegen deren ihr Hasso schon mehrmals Vorstellungen gemacht hatte; jetzt tat sie es aus Trotz gerade deshalb. Aber schon nach wenigen Seiten entfiel ihr das Buch, die Sonne belästigte sie, daß sie die Läden schließen ließ, und sie verspann sich in nebelhafte Halbgedanken. Das Bildnis des Unbekannten besuchte sie durch die geschlossenen Lidern und sie gab sich, halb um den Abwesenden zu strafen, halb aus Romantik, dem lockenden Schauder hin. Woher kenne ich dieses Gesicht? fragte sie sich auf neue. Eine Ähnlichkeit wollte in ihrer Erinnerung aufsteigen, kein Gesicht, nur ein Mienenspiel, ein Lächeln ohne den dazugehörenden Mund. Wo hatte sie das gesehen? Es war nicht zu fassen, versank.

Morgen muß ich erfahren, was dieses Angesicht von mir will, war das Ergebnis ihres Besinnens.

Juliane von Weehrt liebte ihren Gatten und kannte keinen auf Erden, den sie ihm vorgezogen hätte. Allein sie gehörte zu jener Gattung von Frauen, deren bedrängende Unrast auch durch das schönste Eheglück nicht gestillt werden kann. Vielleicht hatte die Gottheit diese Frau zur Dichterin machen wollen und dann vergessen, ihr die Lippen zu lösen. Aus unbekannten Gründen stieg da oft etwas Fremdes in ihr empor, das in keine 152 Form zu fassen war, und schob sich zwischen sie und die Lebenden. Mitten im Glück raunten Stimmen in ihr Ohr, die sie wegzurufen schienen, Hände streckten sich aus weiter Ferne nach ihr aus und wollten sie fort ins Unbekannte ziehen. Es war ein Punkt in ihrem Innern, wohin Hassos Liebe nicht drang, weil er ein Tagesgeschöpf war und nur sah, was in Klarheit vor sich ging. Seine ›Spökenkiekerin‹ nannte er sie scherzend, wenn er einmal einen zufälligen Blick in die dunkle Werkstatt dieser formlosen Nebelbilder tat.

Im ersten Jahr ihrer Ehe war es einmal geschehen, daß sie mit einem wilden Schrei aus dem Schlafe fuhr und sich entsetzt an ihren Gatten klammerte. Es war ein Traum, der sie schon in den Entwicklungsjahren wiederholt in der gleichen Form geängstigt hatte. Sie wurde über Treppen und Gänge nach einer großen Halle hinabgeleitet, ein Kreuz schwebte voran, von Priestern getragen. In der Halle war ein breites Gerüst errichtet und mit schwarzem Tuch bedeckt, darauf ein Block und ein Beil. Sie stand oben, das Kleid wurde ihr von den Schultern genommen, ihr Bewußtsein verging in einem Sturzbach des Entsetzens, etwas Kaltes, Furchtbares berührte ihren Hals und sie erwachte. Später meinte sie in einem Bilde, das den Hinrichtungsweg der Maria Stuart darstellte, den Vorgang wiederzuerkennen und 153 begann sich mit einer die Erzieherinnen beunruhigenden Eindringlichkeit in die Schicksale der unglücklichen Königin zu vertiefen. Der Arzt, an den sich die Umgebung mit ihrer Besorgnis wandte, sagte nur lächelnd, das Fräulein müsse so früh wie möglich heiraten. Diesen Rat befolgte sie aber nicht, denn sie war wählerisch im Bewußtsein ihrer großen Schönheit und einer Hochzüchtung, die ein heimlicher Rasseinstinkt ihr noch höher zu treiben gebot. Erst in Hasso von Weehrt erkannte sie den ebenbürtigen Genossen an, aber sie war ihm gleichalterig, er konnte sie nicht mehr nach sich formen. Und nun war trotz der Liebeserfüllung der Angsttraum wiedergekehrt. Hasso wollte ihr tröstend die Stelle heilküssen, wo das böse Beil sie getroffen hatte, und zeigte ihr ein zufällig in das Bett verirrtes Scherchen, das ihren Nacken kalt gestreift, als Anlaß des Traums. Aber er hatte gut reden: die früheren Male war kein Scherchen dagewesen. Daraufhin hatte sich des andern Tages zwischen dem jungen Paar ein Gespräch entsponnen, wobei der Mann der Naturwissenschaft große Zugeständnisse an die Welt des Unterbewußten machen mußte. Es könnte vielleicht sein, gab er zu, daß es so etwas wie eine unsichtbare photographische Platte gebe, die ein einmal gewesenes schreckensvolles Ereignis aufbewahre und gelegentlich in einem besonders dafür 154 angelegten Hirn einen Abdruck erzeuge. Es war eine Nachgiebigkeit, zu der er sich herbeiließ, um den gefährlicheren Wahn, als wäre sie selbst in einem früheren Leben Maria Stuart gewesen, abzuschneiden. Später wurmte es ihn jedoch, seine Überzeugung verleugnet zu haben, statt die Phantastereien gleich mit Stumpf und Stiel auszurotten. Er wurde trockener und herber im Abweisen, und da sie fortan ihre dunklen Heimsuchungen vor ihm verbarg, glaubte er sie davon geheilt zu haben. Seit ihr nun vor Jahresfrist ein Kind geschenkt und gleich wieder genommen worden war, raunten die dunklen Stimmen vernehmlicher und die unsichtbaren Hände zogen stärker. In diese heimlichste Kammer, aus der sich Hasso ausgeschlossen hatte, schlich jetzt das Bildnis des Unbekannten ein, spukhaft und lockend. Die Basiliskenaugen und das rätselhafte Lächeln beschäftigten sie bis zum Einschlafen.

Am nächsten Morgen stand sie schon zu früher Stunde wieder im Pitti. Diesmal fand sie das Gemälde mitten im Saale aufgestellt und eine zweite Staffelei daneben, vor der eine Malerin auf ihrem Schemel saß und pinselte. Die Vorzüglichkeit der weit vorgeschrittenen Kopie zeugte von langer ausdauernder Arbeit. Besonders trat das Sphinxenhafte des Gesichtsausdrucks auf der Kopie fast noch stärker hervor als auf dem nachgedunkelten 155 Tizianschen Werke. Betroffen blickte die Besucherin von einem zum andern. Hier war also noch eine Seele, der dieses Gesicht etwas Tieferes, Eigenes zu sagen hatte.

Is'nt he beautiful? fragte die Malerin mit der Selbstverständlichkeit der Töchter Albions, die unter jedem Himmelsstrich zu jedermann ihre eigene Sprache sprechen.

Ja, schön wie der gefallene Engel, antwortete Juliane.

Und bestrickend wie alles Böse, entgegnete die Malerin.

O nein, ich hasse dieses Gesicht, sagte Juliane.

Und ich – ich liebe es, entgegnete die Malerin. Ich liebe den grausamen Blick und den harten verächtlichen Mund und die schmale nervige Hand, die trocken ist wie der Kopf eines edlen Pferdes. Sie hält nur lose einen Handschuh, aber man sieht ihr an, daß sie nicht mehr freigibt, was sie einmal ernstlich gefaßt hat.

Nehmen Sie sich in acht, daß er nicht nach Ihnen faßt, scherzte die schöne Frau, die nicht zeigen wollte, wie stark sie selbst gefesselt war.

Eben darum male ich ihn, war die Antwort. Die Arbeit, die ich mit ihm vornehme, gibt ihn in meine Gewalt. Indem ich mich ihm gegenüber schaffend verhalte, was er nicht mehr kann, bleibe ich die Stärkere.

Juliane, die schöne, gefeierte Frau, hatte bisher noch nie gedacht, daß ein Weib auch auf andere Weise Macht 156 auszuüben fähig sei als durch körperliche Reize. Die Art, wie dieses starkknochige, keineswegs schöne, aber höchst eigentümliche Mädchen sprach, erregte ihre starke Neugier und Teilnahme, so daß sie nicht mehr wußte, ob sie des Bildes oder der Malerin wegen stehenblieb.

Diese hatte eine photographische Aufnahme des Originalbildes neben sich liegen, die sie zuweilen prüfend betrachtete. Auf Befragen erklärte sie der Besucherin, daß die Photographie beim Kopieren alter Bilder sehr gute Dienste tue, weil sie manches zutage bringe, das auf dem Gemälde ursprünglich vorhanden gewesen, aber jetzt durch die Länge der Zeit nicht mehr recht erkennbar sei.

Sie hielt das Blättchen gegen das Licht und machte die andere auf einige überraschende Einzelheiten, besonders am Gewande, aufmerksam, die beim Original in ununterscheidbare Schatten zusammenflossen. Juliane erlaubte sich gleichfalls das Blatt zur Hand zu nehmen und betrachtete es mit einer Aufmerksamkeit, als ob hier die Lösung des Geheimnisses zu finden wäre.

Die Malerin schien sich über diesen tiefgehenden Anteil nicht zu wundern und malte ruhig weiter. Juliane, die ihr zusah, fand selber ihr Verweilen zudringlich, konnte sich aber doch nicht entschließen wegzugehen. Wie zur Entschuldigung sagte sie mit einiger Verlegenheit:

157 Ich fühle mich durch diesen Kopf an eine lebende Persönlichkeit erinnert und besinne mich vergeblich, wer es sein könnte.

So geht es allen, die ihn zum ersten Male sehen, war die ruhige Antwort. Es ist die große Kunst des Malers, die diese Täuschung veranlaßt.

Sie scheinen anzunehmen, daß es solche Gesichter heutzutage nicht mehr gibt?

Es kann sie nicht geben, weil es keine solchen Charaktere gibt. Sehen Sie sich die tragische Einsamkeit dieses Gesichtes an. Wer hat heute so gefährliche Geheimnisse zu hüten und so halsbrecherische Verantwortungen zu tragen?

Vielleicht gerade heute, wo alles wieder gelockert ist wie in der Zeit, wo dieser Mann lebte, sagte Juliane halb abwesend vor sich hin und machte dabei eine gewaltsame Willensanstrengung, um einen ganz verwehten Eindruck noch einmal hervorzuholen, der sich einen Augenblick neu bilden zu wollen schien, aber nur so wie ein schon vergessener Traum der Nacht am Tage noch einmal schnell und unfaßbar vorüberstreicht, und dann schnell verblassend in noch tiefere Tiefen versinkt.

Die Malerin schüttelte den Kopf:

Ein solches Gesicht legt man sich nicht von einem Tag zum andern zu. Daran haben Geschlechter 158 gearbeitet, die ganz hoch oben standen auf der gesellschaftlichen Leiter und immer auf einen jähen Sturz gefaßt sein mußten.

Wie fein gefühlt von dem Künstler, bemerkte die Beschauerin, um noch länger verweilen zu können, daß er die schwarze Gestalt auf dunklem Hintergrund treten läßt und auch die goldene Kette so zurückgetönt hat, daß nur Gesicht und Hände in falber Helligkeit scheinen.

Das alles hat seine technischen Gründe, sagte die Malerin. Aber wenn das Genie schafft, so verbindet es mit der künstlerischen Notwendigkeit immer ganz von selbst die innere Bedeutung.

Juliane zögerte noch ein wenig, dann sagte sie bescheiden:

Ich habe in wenigen Minuten viel von Ihnen gelernt. Ich danke Ihnen. Aber jetzt darf ich Sie durch mein Stehenbleiben nicht weiter stören.

Sie stören mich nicht. Im Gegenteil. Es ist mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu plaudern nach all den Plattheiten, die Tag für Tag in sämtlichen Kultursprachen an dieser Stelle in meine Ohren dringen. Halten Sie sich längere Zeit in Florenz auf?

Vermutlich nur einige Tage. Ich warte auf meinen Gatten, um weiterzureisen.

Unterdessen werden Sie jeden Tag wiederkommen.

159 O nein, das denke ich nicht. Es gibt soviel anderes hier zu sehen.

Sie werden dennoch kommen. Ich kenne das. Er wird Sie nicht loslassen, solange Sie in der Nähe sind.

Glauben Sie, daß er dazu die Macht und den Willen hat?

Die Macht gewiß und den Willen wohl auch. Geister wie dieser steigen schwer zu den reineren Sphären auf. Es gehen von ihm noch Fäden auf die Erde. Ich spüre diese Fäden. Auch Sie sind ihm von einer früheren Geburt her verknüpft. Ich sehe es Ihnen an, ich verstehe mich auf Gesichter.

Waren das nicht Julianes eigene Gedanken, die da aus dem Munde der Malerin kamen? Gedanken, die sie nicht im Ernst, nur gleichsam versuchsweise, als ein reizendes Spiel mit sich selber dachte? Scherzte dieses überlegene Mädchen oder stand sie im Bann einer fixen Idee? Hatte das dämonische Bild, mit dem sie den zähen Kampf um die Übergewalt führte, am Ende ihre Vernunft umnebelt? Oder wußte sie wirklich um Dinge, wozu anderen der Zugang fehlte? Ihr Gesicht hatte wie die meisten englischen Gesichter fast gar kein Mienenspiel. Aber im Reden ging zuweilen ein Ausdruck hindurch, von dem man nicht wußte, ob es Ironie oder mystisches Ahnen war. Juliane fühlte, daß es ihr besser wäre, den Umgang mit dem Bild und mit der Malerin 160 zu meiden, aber die Anziehung, die beide auf sie ausübten, war so stark, daß sie antwortete:

Ich glaube, Sie haben recht. Ich werde wiederkommen, aber nicht allein um des Bildes willen, sondern um unser Gespräch fortzusetzen.

Die beiden verabschiedeten sich mit einem Händedruck.

Auf morgen, sagte die Malerin hinter ihr her.

Juliane hob zweifelnd die Achseln und ging.

Sie verbrachte eine unbehagliche Nacht. War's die Frühlingsluft, die ihr in den Gliedern lag, hatte der Basilisk, wie sie den ›Unbekannten‹ bei sich selber nannte, ihr heimlich ein Leides getan? Sie konnte nicht schlafen, sah beständig Schatten huschen und klingelte wiederholt nach der Jungfer, die im Nebenzimmer lag, um sich die Kissen umwenden zu lassen. Am Morgen zeigte sie eine so übernächtige Miene, daß das Mädchen erschrak und fragte, ob sie den Arzt rufen solle. Juliane schüttelte ärgerlich den Kopf. Ob sie den Herrn benachrichtigen dürfe? Das wurde ihr streng verboten. Von diesem kamen jetzt täglich ein paar Tröstungszeilen, aus denen die flammende Freude an den Ergebnissen seiner Betrachtungen jubelte.

›Er sieht! Bei Gott, er sieht! Die Leuchtfarben an seinem Leibe sind Liebesbriefe an seine Traute, die von ihr gelesen werden ‹, schrieb er.

161 Schon auf seinen vorangehenden Brief hatte Juliane ungesäumt geantwortet, er möge getrost an Ort und Stelle bleiben, solange die schönen Augen ihn fesselten. Ihr werde unterdessen die Weile auch nicht lang, denn sie habe ihm gleichfalls einen Nebenbuhler gegeben, dessen Augen vielleicht doch noch etwas mehr ausdrückten als die des Pyrrhotenthis. Darauf hatte Hasso sich beeilt, ihrem ›angesponnenen kleinen Roman‹ seine Zustimmung zu erteilen und ihr höfliche Empfehlungen an den unbekannten Nebenbuhler aufgetragen, den die männliche Eitelkeit, obgleich er ihn für einen Lebenden halten mußte, nicht ernst nahm. Dennoch überlegte sie, ob sie nicht am besten täte, geradeswegs nach Neapel zu fahren und sich mit ihm für die Augen des Pyrrhotenthis zu begeistern. Aber wenn er doch keine Zeit für sie hatte –? Und ihm Unbequemlichkeiten verursachen – um keinen Preis! Denn sie wollte die Gesuchte sein.

Was nun in der glühenden Stadt anfangen, wo sie mit niemand ein Wort wechseln konnte, wo das Hupen der Autos und das Schrillen der Straßenbahnen am Tag eine Höllenmusik verführten und auch die Nacht um ihre Rechte brachten? Wenn nur wenigstens die Geschwister kämen und Erfrischung ausströmten! Aber die hatten in Barcelona den Abgang des Schiffes verfehlt und 162 warteten. Allein mit der Jungfer in die Campagna fahren? Das war doch zu öde. Friederike nahm die Stellung einer Vertrauten ein, denn sie stammte aus gutem Hause und besaß Schulbildung, aber gerade der letztere Umstand, den sie ins Licht zu stellen liebte, war Juliane in ihrer Verstimmung lästig. Sie nahm ein Auto, fuhr nach den bisher vernachlässigten Uffizien, und dort konnte sie es nicht lassen: sie mußte durch den langen Verbindungsgang nach dem Pitti hinüber.

Die Engländerin saß an ihrer Staffelei und schien sie erwartet zu haben. Sie begrüßten sich nach der kurzen Bekanntschaft beinahe freundschaftlich, wie Menschen, die eine gemeinsame Beziehung verbindet. Die offensichtliche Bewunderung der Künstlerin für Julianens verträumte seltsame Schönheit schmeichelte dieser, sosehr sie an Bewunderung gewöhnt war. Sie ihrerseits verfolgte mit verstehendem Anteil den Fortschritt der Arbeit und forschte behutsam, ob das Bild auf Bestellung gemalt werde oder vielleicht noch käuflich sei, begriff aber gleich aus der vorbeugenden Haltung der Künstlerin, daß diese nicht die Absicht habe, sich von ihrem Werke zu trennen. Sie sprachen von Malerei, vom Kopieren alter Meister und Verwandtem, Juliane bemühte sich das Gespräch im Gange zu halten, die Malerin redete über ihre Arbeit weg nur knapp und zur 163 Sache. Ihre Bestimmtheit und Sachlichkeit auf allen Gebieten des Wirklichen gab ihren Worten Gewicht, auch wo sie ins Übersinnliche hinüberschweiften, denn immer schien ihnen ein persönliches Wissen und Erleben zugrunde zu liegen. Wenn sie von dem Unbekannten sprachen, so nannten sie ihn mit der italienischen Bezeichnung, die er trug, den ›Ignoto‹. Julianens schweifende Einbildungskraft hatte schon eine ganze Jagd nebelhafter Vorstellungen von politischen Ränken, Verschwörungen, Staatsstreichen, die sich um die Gestalt des Ignoto schlangen und in die auch schöne Frauen verwickelt waren, vielleicht sogar sie selber, geboren. Der Schauplatz dieser Geisterspiele war Venedig.

Als ihr eine Andeutung in diesem Sinne entfuhr, sagte die Malerin trocken:

Der Ignoto ist kein Venetianer.

Nicht? Was ist er denn? fragte Juliane.

Ein Engländer, war die Antwort.

Danach senkte Miß Gordon – so hatte sie sich schon beim ersten Gespräch vorgestellt – die Augen wieder aus ihre Arbeit, und es war unmöglich, ihr ein weiteres Wort über den Gegenstand zu entreißen.

 

Die Hitze in der Stadt nahm täglich zu.

Heute sollten aber die gnädige Frau zu Hause bleiben, 164 meinte eines Morgens die Zofe. Das viele Herumgehen und Bildersehen wird Sie noch krank machen.

Julianen selber war die Lust dazu vergangen. Sie hatte abermals schlecht geschlafen und fürchtete, daß ihr alter Feind, das Heufieber, im Anzug sei. Friederike schlug vor, einen kühleren Apenninenort aufzusuchen, falls sich die Ankunft des Herrn noch länger verzögere. Aber Juliane war entschlußlos. Sie mochte sich nicht einmal ankleiden lassen, sondern schlüpfte nach dem Bade in ihr Morgengewand zurück, um sich auf dem Kanapee auszustrecken. Heute war ihr alles zuwider: Kirchen und Galerien, die Leib und Seele abmatteten, der stolze Tizian, von dem sie sich wie vergiftet fühlte, die Malerin, die ihr noch gestern so anziehend gewesen, die Sonne, die so lästig durchs Fenster schien, daß sie die Läden schließen lassen mußte, und am meisten sie sich selbst in ihrer Unrast. Bisher hatte Hasso täglich geschrieben, heute war der zweite Tag, daß die Briefe ausblieben. Das vermehrte ihre Unzufriedenheit.

Sie setzte sich an den Schreibtisch, nahm ihr mit goldenem Schlüsselchen verschlossenes Tagebuch vor, in dem sie einen kleinen Reisenachtrag einkritzelte. Dann blätterte sie zurück zu den Eintragungen ihrer ersten Ehemonde, in denen eine überschwengliche Erfüllung nach Worten suchte. Das Büchlein hatte alle Schwankungen 165 ihres Seelenlebens aufbewahrt, es verzeichnete den jeweiligen Barometerstand ihres Glücks. Da standen auch Worte, die Hasso mit hineingeschoben hatte in der Brautzeit und in den ersten Monden ihres Ehestands, ohne Zusammenhang, entzücktes, halbverrücktes Gestammel. Einmal verdichtete sich's zu einem Preisgesang des Mannes auf das Weib:

›Du bist mein neuer Kontinent, mein Wunderland. Ich bin dein Entdecker, dein Forschungsreisender. O ewig unergründliches Neuland der Frauenseele, wo jeder Fußbreit Überraschung ist. Wie gütig war die Gottheit, daß sie Mann und Weib erschuf!‹

Aber bald hörte seine Teilnahme an dem Tagebuch, das sie eine Zeitlang zusammen führten, wieder auf. Er bedurfte dieser Art des Ausströmens nicht mehr: sie war sein, er hielt sie in den Armen, berauschte sich an ihrer Schönheit und hüllte sie in seine Glut, mehr brauchte er nicht. Sie aber fühlte sich in ihrem innersten Selbst allein gelassen. Das schriftliche Zwiegespräch wurde wieder zum einsamen Selbstgespräch ihrer Mädchentage. Sie nahm zuweilen einen Anlauf, die Stimmen, die in ihr tönten, rhythmisch zu bannen, aber sie fühlte bald, daß ihre Versuche unzulänglich waren, und begann sie vor Hassos Augen zu verbergen. Damals ließ sie das goldene Schlüsselchen machen, das sie Tag und Nacht 166 am Halse trug. Nun konnte sie sich vorstellen, daß es einen Schatz verwahre. Aber ihr Wünschen und Sehnen, das kein Ziel hatte, blieb ungestillt.

Heute schrieb sie nur den kurzen Vermerk von Hassos Ausbleiben ein und setzte darunter im Unmut die Worte des Predigers: ›Herzen, Fernen von Herzen, hat seine Zeit.‹ Als sie das Buch wieder in das Schubfach legen wollte, glitt es ihr aus der Hand – warum war sie nur heute so ungeschickt? – und fiel aufgeblättert zu Boden. Sie las auf der geöffneten Seite eine Einzeichnung, die nun auch schon weit zurücklag:

›Heute jährt es sich zum zweitenmal, daß wir über den Genfer See fuhren. Es war im ersten Monat unserer Ehe. Mein Ich war hinabgeschlungen in einen Wirbel freiwilligen Liebestods und war wieder heraufgestiegen, nicht als Ich, sondern als Du, als ein Stück des Geliebten. In meinem Busen schlug nicht mehr mein Herz, sondern das seinige. Ich meinte nicht mehr stehen zu können, wenn ich mich nicht an ihn lehnte. In jenen Stunden war es in mir, das Unbegreifliche, das Mysterium der Liebe. Hätt' ich es halten können. Vielleicht kann das niemand. Wie sollen jemals Zwei zu Einem werden? – Gerade damals bekam ich es zum erstenmal zu spüren.‹ – – Dann kamen Gedankenstriche, die nichts weiter verrieten. Die letzten Worte hatte sie 167 bereuend später wieder ausgestrichen. Heute in ihrem selbstquälerischen Unmut nahm sie den Gedankengang wieder auf und rief sich den Vorfall zurück, der den ersten, noch schwachen Mißton in ihre Ehe brachte. Um was hatten sie damals gestritten? Um ein Stück Holz, wie es den Anschein hatte, in Wahrheit um ein Stück Weltanschauung. Wie war es nur gewesen? Der See war stark bewegt jenes Tages, besonders in der Nähe der Rhonemündung, an der sie vorüberfuhren. Da fiel ihr in der Entfernung ein treibender Gegenstand auf, der dem Schiffe nachzustreben schien; es war, wie sie bald entdeckte, ein Baumast, aber es erregte die Vorstellung eines rudernden Arms, der weiter und weiter zurückblieb. Und plötzlich mitten im Glück befiel sie eine Bangigkeit, eine Traurigkeit, die aus unbekannten Reichen zu ihr kam. War's die Herbststimmung in der Natur, war's die graue aufgestürmte Wassermasse, die so unsäglich trüb und glückverschlingend aussah? Sie mußte an Schiffbruch und Untergang und an all die dunklen Tragödien des Meeres denken, die ohne Zeugen sich abspielen und deren Jammer in solchen Stunden wieder aufsteigt und schattenhaft über die Wasser irrt. Wie dämmernde Erinnerung kam es über sie: solchen rudernden Arm, solch ein entgleitendes Schiff mußte sie einmal in Wirklichkeit erlebt haben. In einer Zeit, 168 wo sie selber andere Form und anderen Namen trug. Oder war's Vorgefühl eines Unglücks, das ihrer noch harrte? Immer hatte sie sich vor einer Meerfahrt gescheut, ja, sie hatte in jüngeren Jahren überhaupt das Wasser gefürchtet. Erschüttert mußte sie sich an Hasso lehnen. Er glaubte, sie fühle sich seekrank von der starken Bewegung des Schiffes, und wollte sie in die Kajüte führen. Aber sie schüttelte den Kopf und konnte nur sagen: Ach sieh doch, sieh! – Das ist ein Stück Holz, Liebste, sagte er beschwichtigend. Ich weiß, gab sie zur Antwort, aber es macht mich so traurig. Tränen stürzten ihr aus den Augen. Er verstand sie nicht, sie suchte sich zu erklären. Er verstand sie immer weniger. Ach, hätte sie doch geschwiegen, dachte sie jetzt, so wie sie später schweigen lernte, wenn aus dem Unbewußten die Rufe zu ihr drangen. Hasso, dessen klarem Tagesverstand alles Dämmernde gegen die Natur ging, nannte diesen Zustand Wehseligkeit und schnitt ihr durch seine Trockenheit jede weitere Erklärung ab. Es war der erste Streit in ihrer Ehe, und er hatte in der leicht verletzten Seele der Frau eine Spur zurückgelassen.

Wie hieß doch der Jugendfreund Hassos, der sich zufällig mit an Bord befand? Ein häßliches, aber bedeutendes Gesicht mit besonderen, seltsam wissenden Augen, und überhaupt eine auffallende Erscheinung, schon weil 169 er sich unter all den grauen oder sandfarbenen Reisegestalten völlig schwarz trug. Juliane besann sich vergeblich auf den Namen. Hasso nannte ihn gelegentlich den ›Inder‹, weil er von einem englischen Vater und einer deutschen Mutter in Singapore geboren war. Er stand als Ingenieur in englischem Dienst und war all die Jahre her weit weg im Osten beschäftigt gewesen. Hasso freute sich aufrichtig des unerwarteten Wiedersehens auf dem Schiffe, aber der andere hielt sich aus Feingefühl die meiste Zeit im Hintergrund. Doch als die kleine Verstimmung aufkam, befand er sich zufällig gerade in der Nähe.

Hasso rief ihn heran:

Hilf mir meine Frau vollends beruhigen, daß es nur ein Stück Holz ist, was uns da aus der Entfernung nachschwimmt. Ich gehe schnell einen Kognak trinken. Das Geschaukel bekommt mir nicht.

Er war bleich geworden, die aufsteigende Übelkeit mochte seine schlechte Laune veranlaßt haben. Die beiden blieben allein an die Reling gelehnt, und es entspann sich zwischen der jungen Frau und dem Fremden, der ihr auf einmal seltsam nah und längst bekannt erschien, ein Gespräch, das ihr wie Blitze in dunkle Landschaften der Seele fiel.

Ich weiß nicht, wie es vor mir selbst erklären, sagte sie, 170 daß der Anblick dieses Holzes, das einen Ertrinkenden äfft, mir für Minuten einen schrecklicheren Eindruck machte als ein wirklicher Fall von Ertrinken, den ich einmal in Bordighera hilflos mit ansah.

Der ›Inder‹ sagte:

Vielleicht kann ich Ihnen diesen Widerspruch lösen. Die Brutalität des wirklichen Vorgangs vernichtet die Vorstellung. Als jener Unglückliche vor Ihren Augen von der Welle weggerissen wurde, da blieb für Fürchten und Hoffen kein Raum. Es hieß sich mit dem Geschehenen abfinden. Aber Nicht-Geschehenes, das jeden Augenblick geschehen könnte, plötzlich vor die Seele gestellt, das regt die Phantasie auf und wirkt gespenstisch. Dieses Stück Holz, dessen Beschaffenheit Sie gar nicht verkannt haben, wurde Ihnen zum Symbol für Schiffbruch und Untergang, und Symbole sind mächtiger als die Wirklichkeit; sie haben Hunderte von Wirklichkeiten in sich.

Die dunkle unmodulierte Stimme des Sprechers, die fast nur ein Raunen war, und daß er von jenem Vorgang, den sie ihm nicht näher geschildert hatte, wie ein Augenzeuge sprach, gab ihm etwas Seherisches. Es tat ihr wohl, nach dem Mißverstehen des Geliebten sich nicht mehr albern und gedemütigt fühlen zu müssen, sondern vor sich selbst erklärt und geistig geborgen zu sein. Darum 171 grub sich ihr jedes seiner Worte mit einer tiefen Gedächtnisspur in die Seele.

Das Ungeformte, sagte er noch, das ist das Bedrängende. Form erlöst, indem sie die Vorstellung bindet. Bindend und lösend tötet sie zugleich.

Später mußte sie an seinen Worten noch oft in der Erinnerung herumdeuten. Damals war Hasso nach einer Viertelstunde wieder zu ihnen getreten und hatte, als er sie in so eingehenden Gesprächen fand, wohlgelaunt gerufen:

Dachte ich mir's doch! Ihr seid die richtigen Spökenkieker alle beide.

Was war nur aus jenem Menschen geworden? Sie wußte bloß, daß er bald danach in Königsberg unter Hassos Verwandten aufgetaucht war, vielen einen starken Eindruck gemacht, dann aber sich wie ein Rauch verflüchtigt hatte. Wie schade! Sie hätte ihn gern einmal wiedergesehen. Und jetzt fiel ihr nicht einmal mehr der Name ein.

Im Augenblick, wo sie dieses dachte, kam die Jungfer und brachte ihr die Karte eines Herrn, der seine Aufwartung zu machen wünsche.

Walter Savage Bennett, las sie auf der Karte und stieß einen Laut der Verwunderung aus. Bennett! Bennett! So hieß er ja! das kann nur er selber sein!

Er war es. Von Kopf zu Fuß in Schwarz gekleidet trotz 172 der Hitze, mit dem häßlichen Gesicht, den sprechenden Augen und der leisen Stimme. Der Eintretende entschuldigte seinen Überfall mit dem Hinweis auf die frühere Begegnung: er habe entdeckt, daß die gnädige Frau im gleichen Hause wohne und möchte ihr über die Abwesenheit ihres Gatten seine Zeit zur Verfügung stellen. Er wurde lebhafter begrüßt, als er hatte erwarten können, und erfuhr gleich, daß Juliane sich gerade in diesem Augenblick mit ihm beschäftigt hatte.

Da Sie tiefer in die Dinge blicken, so bitte ich Sie, mir dieses merkwürdige Zusammentreffen zu erklären.

Es geht wohl jedem Ereignis, selbst einem so unbedeutenden, wie mein Erscheinen für Sie sein muß, eine ansagende Welle voran. Es fragt sich nur, ob eine Empfangsstelle dafür bereit ist, antwortete er.

Damit dürften Sie freilich bei Hasso keinen Anklang finden.

Hassos Kopf ist der stärkste, den ich kenne, erwiderte der Besucher. Er sieht mehr von der Tagesseite der Dinge als die meisten andern. Aber in der Dämmerung geht auch manches vor, was sich nicht unter das Mikroskop nehmen läßt.

Das ist es, was ich ihm so oft vorhalte.

Die abgespannte Frau wurde auf einmal lebendig und bat den Besucher, wenn er nichts Besseres plane, auf 173 den Nachmittag um seine Gesellschaft zu einer Spazierfahrt, weil sie den Fuß noch nicht in die Umgegend von Florenz gesetzt habe.

Ich weiß es, war seine Antwort.

Wie, das wissen Sie auch?

Er lächelte: Seien Sie ruhig, es geht alles mit rechten Dingen zu. Ich weiß es von Ihrer Gesellschafterin, die sich um Sie sorgt. Ich würde mir sonst nicht erlaubt haben, so zudringlich zu sein. Vielleicht läßt sich auch das Zusammentreffen, das Sie befremdet hat, auf ganz natürliche Weise erklären. Ich habe Sie nämlich gestern schon gesehen und Sie mich wahrscheinlich gleichfalls, wenn auch nicht bewußt. Sie standen im Gespräch mit Miß Gordon, der Malerin, und waren beide in den ›Unbekannten‹ des Tizian vertieft. So hatten Sie kein Auge für den Beobachter, der in der Nähe stand und Sie auf den ersten Blick erkannte. Aber in einen Bruchteil Ihrer Wahrnehmung war er doch wohl eingedrungen, so daß sich später von da aus sein Bild in Ihnen gestalten und Sie auf sein Erscheinen vorbereiten konnte.

Welch ein verwickelter Vorgang, lächelte Juliane.

Gnädige Frau, es gibt keine einfachen Dinge auf der Welt.

Am Nachmittag stiegen sie in ein Auto und fuhren 174 zusammen ins Freie. Die frischgrünen Waldbestände des Monte Incontro nahmen sie labend auf. Juliane verlangte nach keinem der berühmten Aussichtspunkte, die das Auge beschäftigen, nur nach Kühle und Schatten. Der starke Zugwind der Bewegung fächelte sie wohlig wie Bergluft.

Wohltuend, wohltuend, sagte sie einmal ums andere. Bei solcher Hitze müßte man nur fahren, immer fahren.

Die bildermüden Augen wurden wacker. Nun ging es jäh abschüssig ins Tal hinunter mit fast ungemäßigter Schnelle, der Fahrer war verwegen und gewandt. Darüber freute sich Juliane wie ein Kind, wenn es auch für einen Augenblick den Atem nahm.

Dann auf der Fähre im Wagen über den hochgehenden Arno, aus dessen grünen Wogen feuchte Kühle aufstieg. Und jetzt umfing sie das weite Gebreite der sprossenden Weizenfelder, der Wiesen in der ersten Mahd, der goldbraunen, sonnetrinkenden Scholle. Ortschaften mit grauen Kirchtürmen und Klöstern, deren Namen sie nicht kannte, wurden durchflogen, andere erschienen in der Ferne und verschwanden, da und dort blitzte das Band des Flusses wieder auf, und immer ging das frische Wehen mit.

Ihr Nebensitzer verzog bei all dem Bilderwechsel keine Miene. Er setzte die zwischen ihnen angeregten 175 Gedankengänge fort. Es schien unmöglich, mit diesem Manne etwas Alltägliches zu reden; wie die Magnetnadel nach ihrem Pol, so strebte sein Gespräch immer von selbst nach dem letzten Grund der Dinge. Er war darin das Gegenteil von Hasso, der sich niemals auf Metaphysisches einließ, weil das Ganze zu erfassen dem Menschen nicht gegeben sei und sich darum ein jeder mit dem ihm zukommenden Ausschnitt begnügen müsse, den zwar der menschliche Geist auch nicht bewältigen könne, mit dem er aber wenigstens etwas anzufangen wisse. Bennett schien mit dem Buddhismus in nähere Berührung gekommen zu sein, er sprach vom ›Rade der Geburten‹, doch war aus seinen Reden nicht zu erkennen, wie weit er innerlich mitging, denn alles Persönliche blieb aus seiner Unterhaltung ausgeschaltet, selbst das Betonen der eigenen Meinung. Zu einer leisen Anspielung Julianens auf seine Weltmüdigkeit in jungen Jahren, antwortete er:

Was wollen Sie? Nicht jeder verjüngt sich durch den Tod. Es kommt vor, daß man bei der Geburt schon dreihundert Jahre alt ist.

Es fiel ihr ein, daß Hasso von ihm gesagt hatte: Das ist der paradoxeste Mensch von der Welt. Wenn er nur andere verblüffen kann, kommt es ihm auf keinen Widersinn an.

176 Warum spielt er nur mit mir? dachte sie. Verdiene ich nicht, daß man über Ernsthaftes ernsthaft mit mir redet?

Er war eigentlich doch sehr häßlich. Ja, zum Erschrecken häßlich, wie er da neben ihr saß. Was hatte er nur an sich, das sie trotzdem, und nicht nur geistig, zu ihm hinzog? Sein Gesicht glich beinahe einem Totenkopf. Ob man sich wohl in ein solches Gesicht, das dreihundert Jahre alt war, verlieben konnte? Frauenhaft forschend glitt ihr Blick nach seinem Ringfinger. Der war leer.

Aber Bennett hatte den Blick aufgefangen.

Ich habe nie gewagt, ein anderes Leben an das meine zu knüpfen, meine Bahn ist abweichend. Ich bin nur als Freund zu gebrauchen, und auch da mit Vorsicht. Ich bringe Schicksal mit, gegen das nur die Allerglücklichsten gefeit sind.

Es war das einzige Mal, daß er von sich selber sprach.

Unheimlich, wie er die Gedanken liest, dachte sie und wünschte doch ihn sich zum Freunde zu gewinnen wie einen Wert, der ihr bisher gefehlt hatte.

Als sie mit sinkendem Abend wieder ihr Zimmer aufsuchte, fand sie sich von Hassos Armen umschlossen, die sie fast erdrücken wollten.

Schon angekommen? entfuhr es ihr. Sie konnte sich in den schnellen Übergang nicht finden. Ihre Gedanken 177 schwebten noch um den Begleiter, der sie soeben verlassen hatte.

Schon, du Böse? Soll das meine Strafe sein? Und wieder erstickte er sie mit der Gewalt seiner Liebkosungen.

Ich kam natürlich so früh ich konnte, das mußt du mir doch glauben. Hätte ich aber gewußt, daß Bennett der Nebenbuhler ist, den du mir ausgesucht hast, so hätte ich vielleicht doch alles im Stich gelassen, denn er ist der einzige, von dem ich annehme, daß er meiner Frau besser gefallen könnte als ich. Wo hat ihn nur der Teufel plötzlich hergeführt?

Du irrst. Von Bennett war nicht die Rede. Er ist erst heute erschienen, antwortete sie, sich seiner Übermacht entziehend. Der Nebenbuhler, den ich dir ausgewählt habe, sieht ganz anders aus, du sollst ihn morgen im Pitti kennenlernen.

Das erleichtert mich, sagte Hasso. Einem gemalten Mann fühl ich mich noch gewachsen.

Sei nicht zu sicher, warnte sie. Wenn dieser hereinträte, wer weiß, ob ich nicht mit ihm gehen müßte, wohin er wollte!

Ich werde morgen ein Wörtlein mit ihm reden. Aber warum hat mein Lieb so bleiche Lippen? Ist es, weil dein Ungetreuer sie so lange nicht rot geküßt hat?

178 Die Jungfer hatte ihn schon vorbereitet, daß er die gnädige Frau etwas angegriffen finden werde, aber sein glückliches Temperament legte sich wie immer alles zum Guten aus.

Am selben Abend trafen, gleichfalls ungemeldet, von Genua her die Geschwister ein, und die Vereinten saßen zu vieren beim Abendbrot. Beim Einzug waren die Ankömmlinge zuerst auf Bennett gestoßen, wie er eben das Haus verließ, und so drehte sich das Gespräch zunächst um diesen. ›Urhäßlich‹, nannte ihn Professor Rust, der neue Ehemann. Hassos schöne Schwester Helga, schon sein zweites Eheglück, blickte zweifelnd in sein allzu rundes und allzu rotes Gesicht und schwieg. Es hieß von ihr, aber nur im engsten Kreise, daß sie ehedem Bennett, der überhaupt trotz seiner Häßlichkeit die Frauen anzog, nicht ungern gesehen habe und daß sie jenem nur ihr Jawort gegeben, weil der andere plötzlich wieder verschwunden war.

Warum warnt er denn vor sich, er bringe Schicksal? forschte Juliane.

Hasso lachte: Es liegt in der menschlichen Natur, sich gern als auserwähltes Werkzeug zu fühlen. Wenn nicht des Heils, dann des Unheils. Wir wollen uns dadurch den Genuß seiner Gegenwart nicht trüben lassen; sein Charakter ist untadelig.

179 Er hat Schweres erlebt, mit dem er nicht fertig werden kann, und fürchtet es zu übertragen, bemerkte Helga, die mehr zu wissen schien als die andern. An sein Erscheinen knüpfe sich leicht ein Glückswechsel, bildet er sich ein.

Des nächsten Morgens wanderten die beiden Paare zusammen in den Pitti. Wo Hasso und Juliane vorübergingen, folgten ihnen alle Augen. Ein ungleicheres und doch vollkommeneres Paar konnte man schwerlich finden. Hassos Haupt, das er bloß trug, leuchtete wie ein Ährenfeld im Monat August. Nicht umsonst nannten ihn seine Freunde den blonden Asen. Neben ihm Juliane wie eine südliche Mondnacht über dunklen Wassern. Auf der Piazza della Signoria begegnete ihnen Bennett, der sich dem zweiten Paare anschloß.

Im Pitti saß wie gewöhnlich Miß Gordon und malte. Juliane stellte ihre Angehörigen vor, jene neigte flüchtig das Haupt und malte weiter. Die Arbeit schien ihr auf den Nägeln zu brennen. Als Juliane auf den ›Unbekannten‹ deutete und sagte: Dieser ist es – blickte Hasso erst das Bild, dann sie mit Befremden an: Dieser? Er schüttelte bedenklich den Kopf. Sonderbar, wie man sich selber überschätzt! Niemals hätte ich geahnt, daß ein solches Verbrechergesicht mich bei meiner Frau in den Schatten stellen könnte.

180 Aber ich bitte dich, Hasso, sagte seine Schwester herantretend. Siehst du denn nicht, daß dies ein ganz wunderbarer Kopf ist? Sieh dir nur die Augen an, wie sie sich festhaken, daß man die seinen nicht abwenden kann.

Hm, entgegnete der Bruder trocken, ich bin hier offenbar nicht zuständig. Ich verstehe mich nur auf die Augen des Tintenfischs, darum lasse ich lieber der Anthropologie das Wort. Sag' es uns, du, Reinhold, wohin diese Spielart des homo sapiens gehört.

Reinhold Rust war Anthropologe, Professor an der Universität von Königsberg, echter Gelehrtenschlag mit beginnender Glatze und Brille. Durch diese betrachtete er aufmerksam den ›Unbekannten‹. Dann begann er im Ton eines Mannes, der gewohnt ist vom Katheder herab zu sprechen:

Hier sehen wir einen ausgesuchten Vertreter der blonden, langschädeligen Herrenrasse vor uns, die ehedem erobernd von Norden aus nach allen Weltgegenden vordrang und überall der unterworfenen Urbevölkerung ein Herrscherhaus und eine Adelskaste aus ihrem Blute aufzwang, bis zuletzt ihre Auslese in den endlosen Kriegen, die sie gegeneinander führten, und der Rest durch Vermischung nahezu unterging. Heute findet man diese Form fast nur noch in England reingezüchtet. Im Mittelalter mag die aristokratische Republik von 181 Venedig ihrer Erhaltung besonders günstig gewesen sein. Hier wie dort der insulare Hochmut, der eisige Egoismus, die Gier nach Besitz und Macht –

Helga unterbrach schnell den unbedachten Strom der Rede: Er wäre also Venetianer und stünde im Goldenen Buch der Serenissima?

Ich wüßte nicht, was sonst aus ihm machen. So sieht man nur aus, wenn man sich als Mitglied einer grausamen, unterirdisch arbeitenden Staatsmaschine fühlt.

Es ist ganz gut, daß man nicht weiß, wer er ist. Das Geheimnis gibt ihm seinen größten Reiz, bemerkte Helga.

Man weiß es, sagte die Malerin ohne aufzusehen.

Eine Pause der Erwartung entstand, aber sie sagte nichts weiter.

Dürfen wir es nicht erfahren? bat Helga.

Fragen Sie Herrn Bennett, war die Antwort.

Sie überschätzen mich, sagte dieser, als sich alle Augen auf ihn richteten. Ich weiß gar nichts, als daß er ehemals für den Herzog von Norfolk galt. Weshalb ihm diese Bezeichnung gegeben und weshalb sie ihm wieder abgenommen wurde, ist mir gänzlich unbekannt.

Also kein Venetianer? Wie schade! rief Helga.

Norfolk? Norfolk? sagte Juliane vor sich hin. Was sollte denn das für ein Norfolk sein?

182 Aber Hasso hatte schon die Geduld verloren und strebte weiterzukommen.

Wir haben dem Künstler unsere schuldige Verehrung dargebracht, aber uns mit diesem Kavalier persönlich noch länger zu befassen, dafür ist die Zeit zu kostbar, sagte er, Juliane unterfassend, um sie in den nächsten Saal zu führen, wo er seine Lieblinge wußte.

Ihr Männer seid gleich eifersüchtig, wenn uns ein anderer Mann gefällt, und wär' es ein gemalter, warf seine Schwester ein, indem sie mit ihrem Gatten nachfolgte, nicht ohne noch einen Blick auf das Bild des Unbekannten zurückzuwerfen, neben dem nur Bennett bei der Malerin stehenblieb und ihr künstlerische Ratschläge zu geben schien.

Und euch Frauen gefällt nur, was böse und grausam ist, war Hassos Antwort. Was mich betrifft, so möchte ich mich nicht mit diesem Herrn an eine Tafel setzen, er sieht aus, als verstünde er sich darauf, venetianische Süpplein zu bereiten, ob er nun Venetianer sei oder nicht. Etwas Anziehendes vermag ich nicht an ihm zu entdecken, ihr müßt meine Aufrichtigkeit entschuldigen.

Es klang in seinen Worten eine Schroffheit durch, womit er die Schwester reizte, ihren Geschmack zu verteidigen, besonders als auch ihr Gatte auf die Seite des Widersachers trat. Der Streit verschärfte sich, Juliane 183 fühlte den Angriff als gegen sie gerichtet und schwieg empfindlich.

Als man gemeinsam in einer kleinen Trattorie, die bei ortskundigen Fremden besonders beliebt war, speiste, fiel es Hasso auf, wie bleich Juliane aussah und daß ihr das Essen widerstand. Nun fühlte er sich bedrückt, daß er nach seinem langen Ausbleiben gleich wieder in Meinungsverschiedenheit mit ihr geraten war, statt ihr ihre Neigungen zu lassen. Hatte ihm da nicht der Mißmut über ihre Gleichgültigkeit gegen seine Entdeckerwonnen einen Streich gespielt? Das wußte er doch seit ihren Brauttagen, daß die Forschungsbelange der exakten Wissenschaft ihr so wenig bedeuteten wie ihm ihre nebelhaften Grübeleien.

Da sie zugab müde zu sein, brachte er sie im Wagen nach Hause, während das andere Paar versöhnt und glücklich weiterstreunte.

Ich fürchte, ich habe dich verletzt mit meinen Bemerkungen über das Bild, das dir so wohlgefällt, sagte er.

Nicht verletzt, Hasso. Ihr Männer seht eben mit anderen Augen.

Aber doch wehe getan durch das Anderssehen, beharrte er.

Du mußt nachsichtig sein, antwortete sie mühsam, wenn ich dir vielleicht wehleidig scheine. Es ist wahr, ich bin 184 empfindlicher als sonst. Die Luft von Florenz bekommt mir nicht, ich will froh sein, wenn wir erst die feuchte Kühle von Venedig atmen.

O weh, rief er, nun hab' ich es schon wieder verfehlt, da ich Rusts versprach, noch ein paar Tage zu bleiben, weil sie sich mit ihrem schlechten Italienisch ohne uns nicht zu helfen wissen.

Sie haben ja Bennett, meinte Juliane.

Bennett ist ein Gestirn, das außerhalb unsres Sonnensystems kreist. Man hat ihn, solange er neben einem geht, aber man weiß nie, wann und wo man ihm wieder begegnet.

Schade. Dann müssen wir freilich bleiben. Die paar Tage werden auch noch zu überstehen sein.

Liebste, ich möchte so gerne gutmachen, daß ich heute so widerborstig gewesen bin, bat er, indem er sie auf dem Kanapee bettete. Hilf mir und besinne dich, womit ich dir eine ganz große Freude machen könnte. Möchtest du die Kopie des Tizian besitzen, an der die Engländerin malt, sie scheint mir sehr gelungen. Und ich verspreche dir, mit dem venetianischen oder englischen Herrn in Frieden und Freundschaft zu leben.

Freilich ist die Kopie vortrefflich, und ich besäße sie gerne, aber sie ist nicht zu haben. Miß Gordon malt das Bild für sich selber.

185 Hasso nahm sich sogleich vor, das Bild um jeden Preis zu erwerben und damit seine verschiedenen Sünden, die begangenen und die noch zu begehenden, gutzumachen.

Mit der Wohnungsangabe, die er im Pitti empfing, begab er sich noch desselben Abends zu Miß Gordon, in deren vollgestopfter Werkstatt der ›Unbekannte‹ in schwerem, dem Originalrahmen nachgebildetem Goldrahmen wundervoll beleuchtet auf einer Staffelei stand, und bat um die Kopie, mit der er seiner Frau ein Geburtstagsgeschenk zu machen wünsche. Sie lehnte kurz ab: das Bild sei nicht käuflich. Er drang in sie, nannte einen verhältnismäßig hohen Preis, den er bezahlen wolle, und steigerte noch, als sie bei ihrer Weigerung blieb. Sie könne ja gleich eine neue Kopie für sich selber anfangen, meinte er freundlich dringend, die ihr gewiß nicht minder gut gelingen werde. Sie schüttelte stumm das Haupt. Als er zuletzt wenigstens die neue Kopie für Juliane bestellen wollte, öffnete sie mit Widerstreben den Mund und sagte:

Nicht um alles Gold der Erde male ich das Gesicht zum zweitenmal.

Mehrere Tage später jedoch, als er sich den Wunsch bereits aus dem Kopf geschlagen hatte, ließ ihn die Malerin in den Salon des Hotels herunterbitten und stellte ihm das Bild nachträglich doch zur Verfügung. 186 Er war zunächst geneigt von seinem Antrag zurückzutreten, da Juliane ihre Grille für den Unbekannten vergessen zu haben schien. Aber seine Gutherzigkeit gab ihm ein, daß die Malerin das Geld nötig haben müsse, um sich von einer so wertgehaltenen, nur für den eigenen Genuß bestimmten Arbeit trennen zu wollen. Als diese ihn zögern sah, bekannte sie ihm aufrichtig, das Bild sei ihr ausnehmend wert gewesen, solange sie daran malte, aber jetzt, da es fertig und nichts mehr daran zu tun sei, wirke in ihren engen Räumen der Kopf beklemmend, und sie habe Eile, ihn sich vom Halse zu schaffen. Wenn ihn aber sein Antrag reue, so werde sie heute noch mit einem anderen Bewerber abschließen, sie habe ihm nur den Vorkauf lassen wollen, weil er von dem Geburtstag seiner Frau gesprochen habe, die den Wert des Bildes besonders zu schätzen wisse.

Nun fand es Hasso doch zu schade, eine so einzige Gelegenheit zu verlieren, er schloß den Kauf ab und sandte sogleich die Packer, um das Bild nach Venedig vorauszuschicken, wo sie Julianens Geburtstag feiern wollten. Dorthin ging des andern Tages auch Friederike ab, um den schönen alten Palazzo am Canal Grande, den Juliane von einem in Venedig eingesessenen Verwandten geerbt, aber noch nie bewohnt hatte, für das junge Paar behaglich einzurichten.

187 Über Juliane lag eine bleierne Müdigkeit. Sie entzog sich allen gemeinsamen Unternehmungen und verbrachte den Tag am liebsten allein im verdunkelten Zimmer, denn Menschenstimmen verursachten ihr Kopfschmerz. Auch die Hassos. Seine Fröhlichkeit, seine Sicherheit, seine ganze tagwache Art ging ihr auf einmal auf die Nerven, sie wich seinen Liebkosungen aus und mußte sich mit Schrecken bekennen, daß ihr wohler war in seiner Abwesenheit. Bennett ließ sich nicht mehr blicken. Dafür kehrte das Bild des Unbekannten immer wieder in ihre Vorstellung zurück. In ihr Tagebuch kritzelte sie liegend mühsam ein paar Zeilen ein:

›Bruchstücke anderer Daseinsformen tauchen auf, ich weiß, daß sie zu mir gehören, aber ich bringe nichts zusammen. Nur die Augen des ›Ignoto‹ sind immer vor mir. Schaue ich rückwärts? Schaue ich vorwärts? Hat dieser Mann mich geliebt? Hat er mich gehaßt? Hat er mich getötet? Oder wird dies alles erst in Zukunft sein? Wird er mich künftig töten? Denn so oft ich war, ist er gewesen, und so oft ich sein werde, wird er sein. Wir sind umgewirbelt vom Rade der Geburten. – – Und jetzt, das fühle ich, ist er wieder in der Welt.‹

Sie legte das Buch unter ihr Kissen um ein wenig zu schlummern, weil sie eine schlechte Nacht hinter sich hatte. Aber sie verfiel gleich in ein wirres Traumwesen, 188 worin die Züge Hassos in die Bennetts und diese wiederum in die des Unbekannten übergingen.

Am letzten Vormittag besuchte sie noch die funkelnden Goldschmiedeläden auf dem Ponte Vecchio, um für die Daheimgebliebenen Geschenke auszuwählen. Da ging es ihr durch den Kopf, schnell noch einmal die Stufen des Pitti hinaufzuhuschen, um Miß Gordon die Hand zum Abschied zu drücken, denn sie wußte nicht, daß diese mit ihrer Arbeit fertig war. Sie fand den Raum leer und das Bildnis des Unbekannten wieder an der Wand befestigt. Aber was war das? Der Ausdruck der Züge hatte sich gewandelt. Unter dem Gefährlichen und abgründig Bösen, mit dem sie bisher gekämpft hatte, blickte sie jetzt eine tiefe, schreckensvolle Tragik an und flößte ihr so etwas wie eine bange Teilnahme ein. Diese Augen, die so still und tödlich blickten, mußten Furchtbares gesehen haben.

Warum zürnst du diesem armen Rest eines Mannes, der zu früh von der schönen Sonne hinweg mußte und dessen Ehrgeiz nichts mehr hat als ein Stück Leinwand, um darin zu wohnen? schien das Bild zu fragen.

Wahrlich, dachte sie, dieses Haupt ist nicht friedlich in den Kissen entschlummert.

Da machte der stolze Kopf eine leise Bewegung wie um vom Rumpfe zu fallen. Sie fuhr zurück, das Zimmer 189 drehte sich mit ihr, daß alle Bilder zu schwanken begannen und sie sich schwindelnd an der Wand festhalten mußte. Ein Fremder sprang herzu und führte sie am Arm die Treppe hinunter zu einem Auto.

Daheim verschwieg sie den Vorfall, fehlte aber wegen Kopfschmerzen bei Tische.

Juliane will mir nicht gefallen, bemerkte Helga gegen ihren Bruder. Fällt dir denn nicht auf, wie sie sich in der kurzen Zeit verändert hat – und nicht nur äußerlich?

Freilich fällt es mir auf, antwortete dieser. Auch Friederike hat sich Gedanken gemacht. Aber du wirst sehen, daß sich alles aufs erfreulichste lösen wird. So war sie auch, als sie einer frohen Hoffnung entgegenging.

 

Unterdessen war in Venedig geschehen, was Geld und guter Wille vermögen, um einem verwöhnten jungen Paare sein Nest aufs wohnlichste zu bereiten. Es war auf einen mehrwöchentlichen Aufenthalt abgesehen, weil Hasso in der Stille des alten Palazzo seine Habilitationsschrift über die Augen des Tintenfischs abzufassen gedachte.

Als Juliane die alten Räume durchwanderte, die ihr aus ihrer Kindheit her in düsterer Erinnerung waren, fand sie alles von Licht durchflutet und von Blumen durchduftet. An einer verschlossenen Tür hielt die 190 Jungfer sie auf: Dieses Zimmer darf die gnädige Frau erst morgen betreten, der Herr hat es mir dringend eingeschärft. Es ist das Geburtstagszimmer.

Geburtstag? Schon morgen? sagte Juliane, die immer ohne Kalender lebte. Ach ja, man wird alt! Ich darf also nicht hinein?

Bis morgen muß sich mein Lieb gedulden, wenn sie mir nicht die Freude der Überraschung verderben will, sagte der hinzutretende Hasso.

Sie lächelte, die kühleren Lüfte vom Canal her hatten sie erfrischt. Nun werde ich mir vorkommen wie das Kind im Märchen, das den zwölften Schlüssel nicht umdrehen darf. Wenn mich nur die Versuchung nicht heute nacht aus dem Bette treibt.

Ich werde mich wie ein Riegel davorlegen. Aber jetzt komm zum Abendbrot.

In einer offenen Loggia, die der Canal Grande bespülte, war der Tisch gedeckt. Das Ehepaar stand noch lange an der hohen Steinbrüstung, sah dem rhythmischen Streichen der Gondeln zu und den Motorbooten, die mit gewalttätigem Pfiff und flitzender Schnelle den Traum der Vergangenheit unterbrachen. Juliane erzählte, wie sie sich als Kind vor Venedig und vor diesem Hause ihres Verwandten gefürchtet hatte wegen eines Angsttraums, den sie einmal gehabt, von einem 191 unheimlichen schwarzen Gondolier, der sie mit Gewalt in seine Gondel ziehen wollte. Und statt dessen wie angenehm fand sie es heute. Wie wohl tat das leise Glucksen des Wassers gegen die Mauern nach dem Gerassel und Getute des staubigen pflasterhallenden Lungarno.

Hasso war wie immer frühe aus den Kissen, während seine Frau weit in den Tag hineindämmerte. Bevor sie aus den Händen der Jungfer kam, hatte er schon zwei Stunden lang die engen Calli, die eben vom Häuserkehricht gereinigt wurden, durchstreift, sich häufig verirrend und mit seinem guten Spürsinn sich von selbst zurechtfindend. Er liebte es, die italienischen Städte bei ihrer Morgentoilette zu überraschen, es roch da so erquicklich nach allerlei Grünzeug, das früh zu Markt gebracht wurde oder noch vom Abend her in den Gossen welkte. Er war beglückt über Julianens vermeintlich genossene Nachtruhe, denn sein fester Schlaf hatte ihren unruhigen nicht bemerkt. Und er freute sich auf ihre Freude über das Gemälde. So hatte er zuletzt doch die Richte ganz verloren, und da er es eigensinnig vermied, sich zurechtzufragen, kam er erst nach Hause, als Juliane das festliche Zimmer schon betreten hatte.

Mit einem entsetzten Schrei war sie zurückgefahren, denn von der Wand blickte ihr der Unbekannte entgegen, gerade wie bei ihrem ersten Besuch im Pitti.

192 Friederike! Friederike! Wo kommt denn das fürchterliche Bild her? Es war doch früher nicht im Hause.

Aber gnädige Frau, besinnen Sie sich doch. Es ist ja das Bild, das Ihnen in Florenz so wohl gefiel. Sie wünschten ja so sehr, es zu besitzen. Und was hat der Herr sich für Mühe gegeben, Sie damit zu überraschen!

Lassen Sie sich sagen, es muß aus dem Hause, gleich, wenn ich nicht wahnsinnig werden soll!

Aus dem Hause? Dieses Bild? Aber, gnädige Frau,– sagte Friederike entgeistert.

Ach ja, Sie haben recht, es ist mein Geburtstag heut, und er hat mir eine Freude machen wollen! Was fang ich nur an? Es ist klar, daß Er es selber ist, der mich verfolgt und sich an mich hängt. Sehen Sie nur, wie er lächelt, daß er mich endlich fest hat.

Jetzt wurde es dem Mädchen unheimlich, und sie begann sich gleichfalls vor dem Bilde zu fürchten.

Wie fangen wir es an, daß er fortkommt? Ich will den Herrn ja nicht kränken – und er soll mich auch nicht für wetterwendisch halten. Raten Sie mir, helfen Sie mir, Friederike.

Gnädige Frau, den heutigen Tag muß es schon hier bleiben. Es täte dem Herrn zu weh. Aber morgen sagen Sie, daß das Zimmer zu klein sei für das große Bild, dann schaffen wir ihn anderswohin.

193 Und so nah an meinem Schlafzimmer soll ich ihn heute nacht haben? Ich werde immer denken: er kommt herein.

Aber der gnädige Herr ist ja bei Ihnen. Wo der ist, dahin kommen keine Gespenster. Eher fange ich mich jetzt zu fürchten an.

Ach Friederike, er will nichts von Ihnen.

Das weiß ich, gnädige Frau, ich bin ihm nicht hübsch genug.

Fast mußte Juliane lächeln, aber ein Blick auf das unheimliche Gesicht, für das in der Tat der Raum zu eng war, machte sie schaudern. Es war, als hörte er alles, was über ihn gesprochen wurde, denn er lächelte immer tödlicher.

Wer ist er denn? fragte das Mädchen, neugierig geworden.

Man weiß es nicht. Das ist es eben. Er heißt in der ganzen Welt der Unbekannte. Ein vornehmer Venetianer muß er gewesen sein und wahrscheinlich in eine Verschwörung zum Sturz der Regierung verwickelt. Jedenfalls ist er nicht friedlich in seinem Bette gestorben.

Nun, hab' ich's recht gemacht? rief Hassos Stimme, der leise ins Haus geschlichen war und die beiden im Gespräch überrascht hatte. Hast du dich unterdessen satt 194 an ihm gesehen? Es ist in der Tat ein herrliches Bild und ich bitte ihm alles ab, was ich gegen ihn gesagt habe.

O mehr als satt, antwortete sie, sich fest an seine Brust drückend. Ihm fiel ihr gepreßter Ton nicht auf.

So laß uns jetzt frühstücken. Ich hab' einen Wolfshunger mitgebracht. Was, und die vielen Briefe noch nicht gelesen? Und die andern schönen Dinge noch nicht angesehen? Nun, stärken wir uns unterdessen, das hat Zeit bis später.

Sie saßen an der blumengeschmückten Frühstückstafel. Er reichte ihr Sahne und Kuchen, denn heute wollte er sie selbst bedienen.

Ach, Hasso, schilt mich. Ich bin deiner großen Güte nicht wert.

Ich dich schelten, Sonne meines Lebens? Und wofür denn?

Mitternachtssonne, mußt du sagen, erwiderte sie und legte ihren Kopf wie abbittend an seine Schulter.

Nun wohl, ich weiß keine, die schöner ist. Wir wollen sie zusammen bewundern, wenn Tag und Nacht ohne Übergang ineinanderfließen. Dann siehst du die toten Wikingerhelden auf Nordlichtstrahlen noch einmal auf die Erde reiten. Dort wird die Phantasie auch über mich nüchternen Menschen kommen. So schön es hier ist, mir scheint, diese südliche Pracht ist für uns Nordländer doch 195 nicht auf die Dauer das rechte. – Aber daß ich's nicht vergesse: ich habe noch eine zweite Überraschung. Die Künstlerschaft gibt ein Gewandfest auf dem Bucintoro: Vermählung des Dogen von Venedig mit dem Meere. Es soll sehr großartig werden. Bennett will uns Karten besorgen, er hat gute Beziehungen.

Bennett? Ist er denn hier? Er hat sich in Florenz ohne Abschied empfohlen.

Hasso schlug sich leicht auf den Mund. Da hab' ich mich zu früh verraten. Er war die dritte Überraschung, die ich für dich bereithielt, weil er so hoch in deiner Gunst steht. Aber sie ist erst um die Tischzeit fällig. Ja, er ist hier. Sich verabschieden, kommt bei ihm nicht in Betracht, aber er hatte mich vorbereitet, daß wir ihn in Venedig wiederfinden würden, und das ist pünktlich eingetroffen. So hab' ich ihn gleich zu Tische gebeten.

Inzwischen wurden im Vorraum Stimmen laut, hereingestürmt kam Helga mit einem herrlichen Blumengebinde und fiel der Schwägerin um den Hals. Ihr folgte gemächlicheren Schrittes Reinhold, der eine köstliche irisierende Schale von Murano, mit seltenen Früchten gefüllt, vor ihr niedersetzte. Das neue Ehepaar hatte aus Zartgefühl Julianes Gastfreundschaft nicht angenommen, sondern sich am Lido niedergelassen, von dessen Salzhauch und Wellenschlag sie sich himmlische 196 Wochen versprachen. Die quecksilbrige Helga hatte keine Ruhe, sie mußte gleich ins Nebenzimmer, Julianens Gabentisch besichtigen. Da stieß auch sie einen Schrei aus, aber der Bewunderung:

Der Unbekannte des Tizian! Und der ist auch noch dein! Juliane, Juliane, was bist du für ein glückverwöhntes Geschöpf! Wenn nicht du es wärst, der ich alles gönne, würde ich sagen: Das noch obendrein zu allem andern ist für einen Menschen zuviel. Was hast du aber auch für einen Gatten, der dir so die stillen Wünsche aus der Seele liest und sie erfüllt, auch wenn er sie gar nicht begreifen kann. Siehst du, Reinhold, das ist ein Ehemann, der allen als Muster voranleuchtet.

Reinhold murmelte etwas Unverständliches. Er mochte denken, daß es dem Gatten Julianens nicht schwer falle, großartig zu sein, aber er stimmte ein in die Bewunderung.

Juliane dachte die ganze Zeit nur, wie sie sich unauffällig des Gemäldes entledigen könne, auf das sie keinen Blick mehr richtete. Sie hat es für sich gemalt und wollte sich nicht davon trennen, sagte sie zu sich selber. Wenn sie sich doch davon getrennt hat, so war's, weil sie anfing, sich vor ihm zu fürchten. Solange sie ihn malte, hatte sie Gewalt über ihn, aber als sie den Pinsel niederlegte, wurde er der Stärkere. – Es fiel ihr wieder ein, 197 wie die Malerin gesagt hatte: Geister wie dieser steigen nicht so leicht in die höheren Sphären auf, es reichen noch Fäden von ihm auf die Erde, – und trotz der Sonnenglut fühlte sie sich am Rücken kalt werden.

Und weiter grübelten ihre Gedanken: Nicht Hasso, der ihn unleidlich findet, hat den Gedanken gehabt, ihn hierher zu bringen. Er selber wollte das, und hat sich Hassos nur als seines Werkzeugs bedient. Er muß fort – oh er muß fort. Wär' es nur schon morgen, daß ich ihn wegschaffen lassen könnte.

Bennett erschien in seinem feierlichen Schwarz und wurde gleich von Helga vor das Gemälde geführt, das er höchlich lobte; so schlang sich das Wortgeranke aufs neue um den Unbekannten.

Sie blieben uns neulich die Antwort schuldig, was das für ein Norfolk sein sollte, für den er gehalten wird.

Juliane griff nach der Stuhllehne, sie fühlte wieder einen Schwindel herannahen. Sie hätte mögen der Schwägerin den Mund zuhalten. Schon immer war ihr gewesen, als müßte Bennett, der Allesdurchschauende, auch über die Persönlichkeit des Unbekannten im klaren sein, aber sie hatte sich gescheut zu fragen, und hier unmittelbar neben der unheimlichen Gestalt, die von ihrem Wohnraum Besitz genommen hatte und schon ausschließlich darin herrschte, wollte sie nichts über ihn hören.

198 Bennett antwortete: Es soll Thomas Howard sein, Sohn des hingerichteten Grafen Surrey, der vierte Herzog von Norfolk, der bei der Königin Elisabeth in hohen Ehren stand. Er ließ sich in eine Verschwörung zugunsten der gefangenen Maria Stuart ein, die ihm ihre Hand versprochen hatte, wurde entdeckt und starb als Hochverräter unter dem Beil.

Unter dem Beil? Und wer war ich zu jener Zeit? dachte Juliane, in der die Gedanken seltsam zu kreisen begannen.

Sein Haupt wurde schmachvoll auf der Themsebrücke aufgesteckt, vollendete Bennett.

Dieses, dieses Haupt! rief die Neuvermählte in mitleidvollem Entsetzen.

Ja, dieses Haupt, antwortete Bennett mit seiner dunklen Stimme.

In diesem Augenblick hatte Juliane eine schreckliche Erscheinung: die Züge Bennetts verwandelten sich in die des Unbekannten, sie konnte nur noch stammeln: Er ist es selber! und fiel ohnmächtig in die Arme ihres herzugesprungenen Gatten.

Es war der Ausbruch der Krankheit, die seit Wochen in ihr gelauert hatte.

 

Juliane lag in wilden Fieberträumen, worin ihre 199 vorangegangenen Wahnvorstellungen sich fortsetzten. Hasso saß in schwerer Sorge neben ihr, er machte sich Vorwürfe, nicht auf die Warnung Friederikes gehört und schon in Florenz den Arzt gerufen zu haben. Sowenig er die Vorzeichen der Krankheit verstanden hatte, einen so trefflichen Pfleger gab er jetzt ab. Nur in ihren Reden konnte er sich nicht zurechtfinden, er hörte bloß so viel heraus, daß sie sich verfolgt glaubte, und zwar wie ihm schien von Bennett. Er nahm an, dieser habe durch seine paradoxen Gespräche ihren Geist beunruhigt und verwirrt.

Ich muß es dir sagen, du mußt es mir glauben: einmal vor Jahrhunderten habe ich ihm Gewalt über mich gegeben. Ich versprach, ihm zu gehören. Er hat es teuer bezahlt. Und seitdem sucht er mich und sucht mich durch alle Zeit. Das Rad der Geburten schwingt uns um. Und jetzt – jetzt ist er wieder in der Welt.

Er ist abgereist, Liebste, du wirst ihn nicht mehr sehen.

Was heißt für ihn ›abgereist!‹ sagte sie. Er ist immer da. Er kann heute Engländer sein und morgen Venetianer.

Sie verstanden sich nicht, denn er sprach von Bennett und sie von dem Bilde.

Nein, nein, ich liebe nur dich allein, rief sie ein andermal aus dem Wirrsal heraus und klammerte sich an 200 ihn. Dann fuhr sie wieder zurück und stieß ihn von sich:

Du bist nicht du, du bist er, ich weiß es.

Oder sie sah ihn ängstlich an und fragte: Bist du es diesmal wirklich? – und wenn er darauf tröstend zur Antwort gab: Freilich bin ich's, dein, dein Hasso! – dann konnte sie erwidern: So sagtest du vorher auch, und dann warst du doch – der andere. Ich traue niemand mehr.

Denke nicht daran, tröstete er, dann ist es nicht gewesen.

Ja, siehst du, Hasso, das Ungeformte, das ist das Bedrängende.

Durch Friederike erfuhr er endlich, daß es das Bild war, vor dem sie sich fürchtete. Er hätte es am liebsten in den Kanal versenkt zusamt dem schweren Goldrahmen, ans Kummer und Reue über sein gutgemeintes Ungeschick. Aber Helga bat und bat, da schnitt er das Bild aus dem Rahmen und gab es zusammengerollt der Schwester im Koffer mit. Als es draußen war, atmete er tief auf. Und als die Kranke wieder einmal fragte: Wo ist er denn hingegangen? – antwortete er: Weit, weit fort. Er kommt nicht wieder. Da lallte sie seufzend: Wie schade. Er verstand mich so gut. Denn diesmal hatte sie Bennett gemeint, und jetzt wußte Hasso vollends nicht mehr, was er daraus machen sollte.

201 Aber er hätte sich nicht verwandeln dürfen, fügte sie nach einiger Zeit hinzu. Ihr verwandelt euch alle, auch du. Nur einer nicht, der ist der beste.

Sie meinte den Arzt, der sie täglich mit großer Umsicht wickelte und badete. Bei ihm fühlte sie sich geborgen. Auch war da eine weiße Haube, die zuweilen vor ihren umflorten Augen schwankte, dieser traute sie gleichfalls nichts Ungutes zu.

Einmal kam doch ein Tag, wo sie mit helleren Augen um sich schaute. Sie hatte geschlafen, dann eine Kraftbrühe zu sich genommen und kannte ihre ganze Umgebung. In diesem Augenblick trat der Doktor herein und beglückwünschte sie.

Sie haben uns viele Sorgen gemacht, liebe, schöne Frau. Aber jetzt, glaube ich, sind wir über den Berg.

O, sagte sie mit den fieberharten Lippen, die sich nur schwer zum Sprechen bewegten. Dann will ich morgen auf dem Bucintoro tanzen. Ist mir das erlaubt?

Gewiß, lächelte der Arzt, wenn Sie morgen noch so denken.

Und Hasso wird nicht nein sagen?

Ich? Ich bin dein Sklave.

Sie schloß die Augen und sank von neuem in Schlaf.

 

Der Bucintoro schwankte leise, der bewegte 202 Widerschein seines Lichtmeers umgab ihn im Wasser wie eine lohende Flammenburg. An Bord wogte flirrendes, glitzerndes Gedränge, als Juliane sich mit Hasso hindurchschob. Eine fremdartige Musik, dergleichen sie nie gehört, schmetterte unsichtbar in der Luft und zwang die Menschen, sich in ihrem fiebernden Zeitmaß zu drehen. Goldgewänder leuchteten auf, silberne Schleier stoben vorüber, Agraffen blitzten von seltsam geschmückten Männerstirnen, in dem Geflirre von Metall und Farben war fast nichts Einzelnes zu unterscheiden. Aber siehe, da gehen Catarina Cornaro und die Bella des Tizian schwesterlich Hand in Hand. Ganz leicht und schwebend kommen sie heran und scheinen die Last ihrer Samte und Brokate in dieser Glutnacht nicht zu spüren. Haben die Maler damals nur im Winter gemalt? Wie Luftgeister schwinden sie im Gewühl, Juliane aber meint zu ersticken in den Krausen und Schnebben ihres Stuartgewandes. Da war eine hohe Agraffe, die ihr durch das Gewühl folgte und immer wieder über ihr auftauchte. Zwei gewalttätige Augen blitzten darunter. Was wollten sie nur? Die Agraffen, ach ja, die gehörten der levantinischen Huldigungsgesandtschaft an, die zum Feste der Serenissima gekommen war. Plötzlich verstummte die rasende Musik, ein Zug Masken schritt über das Deck, vor dem die Menge zu beiden Seiten 203 auseinanderwich und sich an den Schiffswänden staute. Ein schlanker, schwarzgekleideter Mann, vom dunklen Samtmantel umflutet, ging an der Spitze, er hielt einen goldenen Ring zwischen zwei Fingern in die Höhe und näherte sich der Stelle am Vorderteil des Schiffs, wo Juliane mit Hasso stand. ›Der Doge von Venedig bringt seinen Ring dem Meere‹, hieß es neben ihnen, aber gleichzeitig saß schon der Ring an Julianens eigenem Finger. Der Schwarzgekleidete nahm die Larve ab: es war der Unbekannte des Tizian; sie hatte es nicht anders erwartet. Er neigte sich tief, dann wandte er sich zurück und rief mit dunkler Stimme: Lang lebe Maria Stuart, die Königin der vereinigten Reiche von Schottland und England! Darauf kniete er nieder und griff mit beiden Händen an sein Haupt, wie um es abzunehmen und zu ihren Füßen niederzulegen. So unheimlich das aussah, diesmal erschrak sie nicht, denn sie hatte Bennetts Stimme erkannt, der in den Kleidern des Ignoto steckte.

Laß gut sein, Bennett, sagte Hasso, wir wissen schon, daß du dich verwandeln kannst.

Form erlöst, indem sie die Vorstellung bindet, sagte Bennett, aber er selber war schon nicht mehr zugegen, nur seine Stimme schwebte noch im Raum. Auch Hasso war nicht mehr vorhanden, er hatte sich in den heiligen 204 Georg des Carpaccio verwandelt, der sich mit seinem Drachen über das Verdeck spielte. An seiner Stelle stand die blitzende Agraffe mit den gewalttätigen Augen. War es ein türkischer Pascha? Ein indischer Maharadscha? Was wollte er von ihr?

Hasso! Hasso! Wo bist du? schrie sie aus aller Kraft, aber der Ton verwehte wesenlos.

Bei dir! Immer bei dir! antwortete Hassos Stimme aus weiter weiter Ferne. Da erscholl ein durchdringendes Schiffszeichen, dem ein wahnsinniges Angstgetümmel auf Deck folgte. Neben dem Lichterschiff war ein anderes, dunkles aufgetaucht mit gebogenem Schnabel, hohen Wänden und grell bemalten Segeln, und gleich darauf lagen die Schiffe Bord an Bord, eine Brücke wurde herübergeschwungen, wilde Gestalten überschwemmten das Deck, während eine ohrenzerreißende Janitscharenmusik losbrach. Über Julianens Gesicht blitzte die Agraffe, gewaltige Arme erfaßten sie und schleppten sie über die Brücke, ihre Angstrufe aus kraftloser Kehle gingen in dem wütenden Lärm ringsumher unter. Ein enger Raum wie eine Kajüte umfing sie, an dem Rollen des Bodens fühlte sie, daß das Schiff fuhr. Durch die Luke sah sie schon nichts mehr als Wasser und Himmel. Doch siehe, da tauchte etwas auf, ein Kopf, ein Arm – ein Schwimmer, der dem Schiff folgte. 205 Hasso! Hasso! Er war es. An dem Hochwerfen der Arme und dem weiten Voranschnellen des Körpers erkannte sie ihn. Er kam näher. Hasso! Hasso! Das war kein Laut, nur ein heiseres Ächzen. Sie schob sich weit hinaus, um zu ihm hinabzuspringen, da war es nicht Hasso mehr, sondern ein Stück Holz, das willenlos im Kielwasser trieb. Sie wurde weggezogen und sanft, aber unabwehrbar, auf ein Lager niedergedrückt. Aus einem fernen Jenseits hörte sie noch Hasso ihren Namen rufen, aber zu ihm gelangen, rufen, antworten, alles war gleich unmöglich. Sie lag regungslos, wie es ihr stummer Wächter wollte, um nichts Schlimmeres zu befahren. Denn ein Wächter war neben ihr, ob ein Sklave, ein altes Weib oder ein Hund, das wußte sie nicht, aber sie hörte deutlich neben sich atmen. Die Hitze war furchtbar, als ginge es den Tropen zu. Unsichtbare Hände brachten ihr einen Labetrunk. Dann stellte sie sich aus List schlafend und entschlief darüber wirklich, denn als sie sich wieder halb besann, war alles verändert. Das Schwanken des Bodens hatte aufgehört, sie fand sich in einem großen kostbaren Bett, matter Schein aus opalenem Deckenlicht erhellte einen Raum mit edlem altem Hausgerät. Die blitzende Agraffe war nicht mehr, sie hatte nicht für sich selbst gehandelt. Ein Madonnenbild an der Wand, ein schwach beschienenes, das sie zu kennen 206 meinte, gab ihr ein, daß sie sich in einem christlichen Lande befand. Ihrem Gefühl nach war sie auf einer der jonischen Inseln, die unter venetianischer Oberhoheit standen. Hatte sie nicht beim Einfahren den geflügelten Löwen wahrgenommen? Dies war wohl der Palast des Gouverneurs, und hier sollte sie Hasso wiederfinden, wenn er noch lebte. Vielleicht war er vorausgeeilt und befand sich schon in ihrer Nähe. Vielleicht war er es, dessen Atem sie kurz zuvor an ihrer Wange gefühlt hatte.

Da öffnete sich leise die Tür des Nebenzimmers, sie spürte es an dem Luftzug, der sie anwehte. Eine Gestalt, die dunkler war als die Umgebung, trat herein. Das war nicht Hasso. Gott im Himmel, wer war das? In wessen Gewalt befand sie sich? Fahles Licht ging von Gesicht und Händen aus, es war der Ignoto. Ja, diesmal war er es wirklich, zu ihm, dem Inselherrn, hatte man sie gebracht, als der Bucintoro erstürmt wurde und die Verschwörung ausbrach. Sein Werk war alles. Seine Augen bohrten sich durch die Dämmerung und suchten sie. Juliane schloß die ihren zwischen Furcht und Grausen und dem Schauder verbotener Lust. Aber mit geschlossenen Lidern sah sie ihn ebenso deutlich wie mit offenen. Seine Lippen lächelten in unaussprechlicher Weise, sie sagten in der Geistersprache, die keine Worte 207 hat: Rufe ihn nicht. Ihr Frauen liebt nur, was grausam und gefährlich ist.

Er stand am Lager. Unmöglich, dem magischen Zug zu widerstehen, der von der schmalen nervigen Hand ausging. Warum kam Hasso nicht? Sie mußte dem andern folgen, wohin er sie führte, das war so geordnet von Jahrhunderten her. Warum hatte Hasso ihm die Macht über sie gelassen? Sie mußte sich erheben, vom Bette gleiten. Da nickte die weiße Haube in ihrem Stuhl. Gib acht, daß du sie nicht aufweckst, befahl er ohne zu sprechen. Leise wie ein Nachthauch glitt die schwarze Gestalt an der schlafenden Wärterin vorüber, leise wie ein Nachthauch folgte die Kranke. Sie strichen durch einen Gang, von dessen Ende es hell hereinschimmerte, er führte zur Wassertreppe, deren Tür offen stand. Verführerisch gleißte die Flut im Mondschein, vor der Treppe lag seine Gondel, die der Gondolier hart an die Wasserstufe zwängte. Der Unbekannte stieg zuerst an Bord und reichte der Frau seine Hand herüber. Aber sie faßte in Luft, – wie ein Schattenspiel war die Gondel mit Herrn und Fährmann entglitten. Juliane, die sich schon zum Einsteigen vorbewegt hatte, konnte nicht mehr zurück, sie trat ins Leere und versank mit einem gellenden Aufschrei.

Hasso hatte sich nach des Arztes tröstlicher 208 Versicherung, daß der Höhepunkt der Krankheit überschritten sei, zum erstenmal seit zwanzig an Julianens Bett verwachten Nächten wieder Schlaf gegönnt. Im Laufe der Nacht hatte er noch einmal nachgeschaut und sie schlummernd gefunden. Da hatte er sich auf ein Ruhebett ausgestreckt, und die Natur hatte sich ihr Recht genommen. Auch die Nachtschwester, die abends die gutgeschulte und sorgsame Friederike ablösen kam, war eingenickt. Plötzlich wurde der feinhörige Hasso durch den Schrei vom Canal her geweckt. Sein Hereinstürzen weckte auch die Wärterin, er sah das Bett leer, sah die offene Wassertür und wußte durch augenblickliche Erleuchtung, was geschehen war. Die Rettungswache wurde mit Lichtern und Stangen aufgeboten, Hasso selber tauchte wieder und wieder an der Unglücksstelle. Umsonst. Erst am hellen Morgen wurde die Leiche aufgefischt, schon weit von den trägen Wellen des Canals meerwärts getrieben. Niemand wußte, welch ein Gespenst es gewesen, das die arme schöne Juliane hämisch aus Glück und Leben weggelockt hatte in das schaurige Wassergrab.

 


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