Joseph von Lauff
Sankt Anne
Joseph von Lauff

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V

Inzwischen stampfte und polterte der Ostender Expreßzug durch die vlämische Ebene. Ab und zu ein gellendes Pfeifen, wenn er irgendwo an einem vergessenen Nest vorbeiglitt und mit seinen rasselnden Gliedmaßen durch die offene Landschaft fauchte . . . Auf- und niedertanzende Telegraphendrähte, Windmühlen, Landhäuser – alles eilte rückwärts und bewegte sich am Horizont wie auf der Peripherie eines Kreises. So war das schon über eine Stunde gegangen. Dann ein Langsamerwerden, ein Rucken und Halten. Mit tiefem Atemholen stieß die Lokomotive ihren heißen Brodem aus den eisernen Lungen, dabei das bunte Stimmgewirr betäubend, das unter einer weitausgelegten und rußigen Glashalle dahinlief. Damen in den gewagtesten Hüten hasteten den Bahnsteig entlang. Das eigentümliche Frou-Frou ihrer Kleider raschelte hinter ihnen her. Der Duft nach Heliotrop und Puder ließ sekundenlang die brenzlige Ausdünstung der Maschine vergessen. Schwadronieren und Lachen . . .! – Geistliche in langen Soutanen, impertinente belgische Flaneurs, die Zigarette in einer Mundecke wippend, Seelenverkäuferinnen in frechen Kostümen, halb fine champagne, halb Fusel ausströmend, Professions- und Systemspieler, kurz eine ganze Serie von fragwürdigen und auch soliden Existenzen schnüffelte in die Abteile hinein, nahm schließlich Platz, machte sich's bequem, um heftig gestikulierend und schwatzend das Zeichen der Abfahrt zu erwarten. Der Expreß hatte den letzten Zudrang erhalten. Alles strebte dem Meere zu – aber nur wenige suchten es auf, wo es in seiner großen und ruhigen Majestät unter dem Himmel lag, vor sich die jungfräulichen Dünen und hinter sich den Pulsschlag der Ewigkeit, des Unendlichen. Was galt den übrigen seine gigantische Schönheit, seine Ruhe, sein Zürnen und Aufbäumen? Sie wollten es haben, wo es Patschuli ausströmte, Menschenwerk und niedere Leidenschaften seinen Strand besteckten – wo es entheiligt war. Sie hatten nichts mit ihm und seiner Reinheit zu schaffen – nichts . . .

Die Türen schlossen sich wieder. Langsam arbeitete sich die Maschine aus der hochgegürteten Halle. Nochmals tat sich die unendliche Ebene auf.

Gent war passiert.

Hans Behrend sah, wie seine Türme sich duckten, kleiner wurden, wie sie, auf einer Goldfolie ruhend, ganz allmählich zerflossen. Nur der Belfried ragte noch in seiner einsamen Größe gen Himmel. Auch er schrumpfte zusammen.

Hans Behrend beugte sich in seinem Abteil vor, um ihn noch einmal vor Augen zu haben. Dann lehnte er sich in die Polster zurück.

Also das war der Belfried von Gent! – wo der Roland hing – die Sturmglocke – die Stimme von Flandern – der Notschrei des Volkes – die Ruferin einer längstvergangenen Zeit, die eigentümlich, unglücklich und groß war.

»Roland, Roland, wenn ich klippe . . .

Unwillkürlich traten ihm diese Worte in den Sinn, von denen er wußte, daß sie als Spruchband um den Kelch der gewaltigen Glocke lagen. Er schloß die Lider und hörte ein fernes Summeln. Das war der Turmgeist, der den weiten Schlagring umspielte. Es war ein verlorenes Tönen, aber immer noch stark genug, sich nicht von dem einförmigen Gerassel des Zuges überbieten zu lassen. Während dieses Gefummels legte ihm die Geschichte sanft die Hand auf die Schulter. Er sah Jakob van Artevelde, Margarete von York, die dritte Gemahlin Karls des Kühnen . . . Die alte vlämische Luft wehte ihn an. Er sah, wie die Demokraten von Brügge und Gent die blutige Faust streckten. Er sah die Katastrophe am burgundischen Hof, welcher die Räte d'Himbercourt und Hugonet zum Opfer fielen; er sah die schöne Burgunderin selber. Maria . . .! – Und der Roland läutete feierlich und mit freudiger Stimme – und das war, als der jugendliche Erzherzog in Gent einritt und mit der Burgunderin Beilager hielt. Und dann tönte die Glocke mißfarbig und traurig. Die dumpfen Klänge waren mit Flor umkleidet, aber sie hallten weithin bis nach Ypern und Brügge; sie hallten bis in das Herz von Deutschland hinein. Und Lodewyk van Gruithuisen, auf dessen Falkenbeize das Unglück passiert war, drückte dem jungen Herzog die Hand und verhüllte das Gesicht. Die schöne Maria war tot. – Später läutete die Glocke Sturm:

»Myn naem is Roland,
Als ick klippe, dan is´t brandt;
Als ick luyde, dan is´t storm in Vlaenderland.«

Der Aufruhr ging durch die Provinzen – die Burgunderin aber ruhte in der Liebfrauenkirche zu Brügge. Alljährlich um die Zeit des Unglücks standen sieben brennende Kerzen zu ihren Häupten und sieben zu ihren Füße, und alljährlich kam eine weiße Taube geflogen und setzte sich auf den Sarkophag, den Peter van Beckere aus Brüssel geschaffen hatte. Eines Tages kam sie nicht wieder, aber die Liebe hielt von nun an die Wacht am Grabmal der schönen Maria. Ein großes Schweigen war um sie. Und jetzt noch, nach Jahrhunderten, wenn die Menschen kommen, um in das ruhige, beseelte Antlitz zu schauen, dämpfen sie unwillkürlich die Stimme, sprechen sie ganz leise und geheimnisvoll, als scheuten sie sich, den Frieden und die Seelenruhe der schönen Maria zu stören. –

Noch immer hielt Hans Behrend die Augen geschlossen. Hinter ihm lag das Leid, da lag so vieles, das ihn niedergebeugt hatte – und vor ihm das Unbekannte, von dem er nicht wußte, ob es ihm Trost oder Hoffnungslosigkeit bringen würde, und dennoch: er fuhr einer großen Sehnsucht und einem merkwürdigen Geheimnis entgegen; denn sie, die er geliebt und verloren hatte, die am blauen Meer von Capri ruhte – ihr Ebenbild schlief in der Liebfrauenkirche zu Brügge, in dem mystischen Dunkel der Seitenkapelle, die das Geräusch des Tages nur berührte, wie etwa der scheue Flügel einer Möwe über ein verlorenes Eiland hinstreicht. Hier konnte er sich ihre Züge wieder vergegenwärtigen, die Tote liebkosen, sie anlächeln . . . hier durfte er seine Lippen auf den kalten Mund drücken, der früher so blühend und heiß gewesen . . . hier bestand keine Trennung; nichts hinderte ihn, sich dem Wahn einer schönen Täuschung hinzugeben. Hier pochte das Leben an die Pforte des Todes, und der Tod erwachte. In der Seitenkapelle der Liebfrauenkirche hatten sich Tod und Leben gefunden.

In feinen Nebelbildern geisterte es an seiner Seele vorüber. Er zog sie an sich und faßte sie zu einem Großen und Ganzen zusammen. Heitere Reflexe fielen darauf. Da kam es ihm vor, als wenn sein Denken und Fühlen in ein ruhigeres Fahrwasser glitte. Wie aus einem Traum erwachend hob er die Lider.

Der Expreß nahm wieder volle Fahrt auf. Er raste wie ein scheugewordenes Tier und überlief Dörfer und Flecken. Er witterte Seeluft. Und der Seewind blies ihn an und drückte mit starker Hand die Rauch- und Schwadensäule unbarmherzig in die satten Roggenfelder hinein, die unabsehbar ins Land gingen und sich erst im tiefen Westen bei den Dünen verloren, über diese Felder waren die fürchterlichen Maitage von 1302 gekommen, als das Paßwort ›Schild en Vriend‹ ertönte, und alle Ortschaften die blutige ›Mette‹ anschlugen. Jetzt war alles in reines, flüssiges Sonnenfeuer getaucht. Die weite Niederung hatte weder Anfang noch Ende.

Endlich stiegen sie auf, und da standen sie – die vergoldeten Türme von Brügge tief in der Ebene, wie brennende, riesige Kerzen auf einem leuchtenden Teppich. So erheben sich ernste Kandelaber um das Sterbelager einer Märchenprinzessin, die eine Bettlerin wurde, und bei deren Tode die Großen des Landes erst wieder zur Besinnung kommen und zu spät erkennen, daß die Verstorbene eine wirkliche Fürstin gewesen. Ob der vlämischen Stadt brannten die Totenlampen gleich feurigen Zungen.

Die Maschine arbeitete tiefer und schwerer. Die Fahrt verlangsamte sich; dann ein langgezogenes Pfeifen – und mit einem dumpfen Geräusch keuchte der Zug in die Bahnhofshalle von Brügge.

»Bruges, dix minutes!«

Nur vereinzelte Köpfe schoben sich vor. Der Zug wurde geteilt, um auf einem Strange nach Blankenberghe und Heyst, auf dem andern nach Ostende zu laufen. Nur wenige Menschen stiegen aus. Die meisten passierten die Stadt, wie man eben einen Kirchhof passiert. Warum auch nicht? Ernste Betrachtungen haben bleierne Füße; sie ziehen zu Boden. Man wird nicht gerne an Lebensbäume und Friedhofsrosen erinnert.

Hans Behrend hatte nicht lange zu suchen.

Da stand er und hielt die Arme gebreitet.

»Mensch . . .

»Herzensjunge, wie geht's dir?!«

»Wie du siehst,« sagte Hans Behrend, »nicht gerade, um vor Freude Bäume auszureißen, aber man lebt doch so weiter,« und da ruhten die beiden Brust an Brust und fanden, daß sie die alten geblieben waren.

»Na, da hätten wir dich,« meinte schließlich Heinrich vom Hövel und schob seinen Arm in den des Freundes. »Im übrigen: allerhand Achtung. Bei dir scheinen die Jahre schlechte Geschäfte zu machen. Keine Spur davon. Du bist eben ihr enfant gâté; nur so 'n bißchen um die Schläfen 'rum . . .«

»Modesache – die bringt das so mit sich.«

»Auch Arbeit?«

»Auch die.«

»Na, denn . . .« meinte Heinrich vom Hövel, »wo die ist . . . Und dein neustes Opus . . .

»So ziemlich abgeschlossen. Und du . . .

»Wie immer: ich male. Bilde mich zum civis battavus heraus, spiele den Fremdenführer und habe daneben noch Zeit und Muße, allerhand krausen Menschenkindern eine vernünftige und ankernde Lebensweise beizubringen, was nicht sagen will, daß du gerade damit gemeint wärest. Ich ziele vielmehr auf meinen Freund Moritz. Nebenbei gesagt: ein Original, ein Mensch aus Paradoxen zusammengewürfelt, halb Quasimodo halb Mausefallenhändler, aber mit einem Können und einem Herzen unter der Weste, als wäre er direkt aus dem Himmel gefallen.«

Sie hatten den Ausgang des Bahnhofs erreicht.

»Und jetzt: auf nach Valencia! – um nicht Sankt Anne ter Muiden zu sagen.«

Hans Behrend blieb stehn.

»Ich möchte vorher noch . . .« sagte er gepreßt.

Sie erschien ihm plötzlich wieder – die schöne Maria, unerwartet, in greifbarer Nähe, um dann ebenso schnell im stillen Licht des Abends von ihm zu gehen.

»Nun?« fragte vom Hövel.

»Zu ihr – zur Stätte, wo sie ruht.«

»Na, so was! – Du bist doch eigentlich hier, um deine Langeweile spazieren zu führen, die Dünen abzuklappern und dir den Seewind um die Nase blasen zu lassen, gelinde gesagt, um endlich mal wieder ganz vernünftig zu werden und in dich zu gehen. Und nun willst du, wo die Hühner bereits schlafen wollen . . . Aber mal ehrlich gesprochen: warum noch heute?«

»Weil ich's mir vorgenommen habe, weil es ein Herzensbedürfnis für mich ist.«

»Und worin ist der Konnex zwischen dir und der schönen Erbin von Burgund zu finden?«

»In dem, was ich dir früher schon sagte: ihre Ähnlichkeit . . . Du weißt doch: das Bild auf der Löpkerschen Bude . . . Wenn ich sie gesehen habe, wird es wohl still in mir werden.«

Seine Augen leuchteten auf, und seine Stimme nahm einen erregten Ton an.

»Ich will endlich Ruhe haben,« sagte er heftig.

»Na, denn,« entgegnete vom Hövel, »ändern wir also unseren Plan. Dein Gepäck nimmt den vorgesehenen Tramweg über Dudzeele und Westkapelle, während wir nach unserer romantischen Exkursion, wenn wir wieder realen Boden unter den Füßen haben, uns in eine Droschke werfen und unter sanftem Mondschein nach Sankt Anne gondeln. Ist es so gut gemacht – dann schlag ein, alter Junge.«

Lachend hielt er ihm die Hand hin. Ja, Heinrich vom Hövel lachte aus vollem Halse, aber wer genauer zuhörte, der wußte auch bald, daß das kein gewöhnliches Lachen war, daß sich Tränen dahinter verbargen und nur geschah, um ein tiefes Weh und eine große Sorge herunterzuschlucken. Er, Heinrich vom Hövel, war ein viel zu großer und gewiegter Menschenkenner, um nicht zu merken, was in der Brust seines Freundes vorging. Da arbeitete noch immer die tiefe Wunde von früher, das arme, wehe Herz mit dem Dornenkranz, an dem Blutstropfen hingen. Aber er lachte, und das Lachen ging allmählich in ein heiteres Plaudern über, und dann verstummte er plötzlich. Bewegt drückte er die Hand seines Freundes.

»Also einverstanden?« fragte er leise.

»Ja – es ist gut so,« sagte Hans Behrend. Er horchte auf, er glaubte ferne Stimmen zu hören. In ihnen ging das Gegenwärtige unter, aber die Zukunft wurde unter diesen Stimmen lebendig; sie kam und deutete in das feierliche Licht des Westens.

Es war ungefähr um die Zeit, wo Anna van Dornick am Fenster stand, und die alten Baumkronen jenseit des Johannishospitals unter dem rosigen Kuß des Abends erschauerten.

»Komm,« mahnte Heinrich vom Hövel.

Nachdem sie das Gepäck besorgt und einen Wagen an das Westportal der Liebfrauenkirche bestellt hatten, gingen sie der inneren Stadt zu. Behrend ließ sich willenlos führen. Sein Gesicht war bleich und abgespannt; keine Fiber zuckte darin. Seine Blicke suchten nichts, und seine Ohren wollten nichts aufnehmen. Wortlos schritten die beiden geraume Zeit nebeneinander. Zuerst verloren sie sich in einem Gewirr von niedrigen Häusern, eins so monoton wie das andere. Frauen mit stillen Gesichtern saßen vor den Türen und klöppelten, sahen aber nicht auf, als die beiden vorübergingen. Das Pflaster war grün überlaufen. Nur selten berührte ein Fuß die üppigen Grasspitzen, und keine Hand jätete sie, Auch hier die leidenschaftslose Ruhe und die Ahnung des Todes. Eine Glocke schlug an. Der dumpfe Laut schien aus dem Turm der Erlöserkirche zu kommen. Vielleicht war in ihrem Bannkreis jemand gestorben. Der schwere Fittich der einsamen Glocke ruderte langsam über die Stadt hin. Die Straße verbreiterte sich; die Giebel streckten sich mehr in die Höhe. Bald darauf kamen sie an tiefe Grachten, in denen die Wasser wie trostlose Gedanken fortschlichen. Alte Trauerweiden hingen darüber und ließen die Enden ihres grünen Haares auf der dunklen Fläche treiben – auf der dunklen, rätselhaften Tiefe, die wie geschliffene Lava aussah. Weiterhin zeichneten sich die großen Linien der Liebfrauenkirche scharfumrissen gegen den Abendhimmel ab. Sie wuchs ruhig aus den Schatten ihrer Umgebung; die höchste Turmspitze aber war mit rosigem Schaum überflogen. Hans Behrend sah es.

»Herrgott, wie schön!« brach es plötzlich aus ihm heraus, und er deutete auf die schwarzen Wasser, auf das dunkle Grün der Weiden und die zarte Aureole, die zwischen Himmel und Erde zu schweben schien. »Hier müßten wir die Riemen lösen, denn die Stätte, auf der wir stehen, ist heilig. Fühlst du nicht, wie hier in stiller Feier die Poesie durch die Straße geht, wie sie neben uns schreitet und unsere Stirne berührt? – Man sieht sie nicht körperlich – aber man fühlt sie. Das läßt sich nicht wiedergeben, weder durch Worte, noch durch Farben. Das kann nur die Seele begreifen und ist wie eine schöne Frau, die man gewinnen möchte und doch nicht gewinnen kann – an der man zugrunde geht.«

Fest richtete er seine Blicke auf Heinrich vom Hövel.

»Ja, du, – an der man zugrunde geht.«

»So ist es,« sagte dieser und versuchte, einen heiteren Ton anzuschlagen.

Fünf Minuten später kamen sie an Ort und Stelle. Das westliche Portal stand trotz der vorgerückten Stunde noch immer geöffnet. Die Kirche selber war leer; nur vor der Predella eines Seitenaltars machte sich der Glöckner zu schaffen und steckte frische Wachskerzen für den anderen Tag auf. Der Mann selber ähnelte einem brennenden Kirchenlicht. Ebenso feierlich und engbrüstig wie dieses, trug er auf den Schultern ein gutmütiges, glattrasiertes Komödiantengesicht, in dem zwei matte Augen standen, die unwillkürlich die Erinnerung an schwindsüchtige Kerzenflämmchen wachriefen. Er duftete nach Weihrauch und Buchsbaum. Heinrich vom Hövel kannte ihn, ließ mit spitzen Fingern ein Geldstück in seine Hand gleiten und ersuchte ihn, die Seitenkapelle zu öffnen. Mit geberischer Würde und dem Bewußtsein, ohne Mittelsperson direkt mit dem lieben Herrgott in Verbindung zu stehn, nickte er etliche Male und forderte die beiden auf, ihm zu folgen. Lautlos glitt er durch die geräumigen Hallen, ab und zu die Hand hebend, als wolle er andeuten, daß er sich eins mit der großen Stille fühle, die sein Reich und das Reich Gottes bewohnte. Das unheimliche Schweigen hielt an. Kein Atemzug wurde hörbar. Es war wirklich so still, daß man den Holzwurm vernahm, der im alten Getäfel sein Wesen trieb. Bereits streckte die Dämmerung die Finger aus. Unter ihrem Einfluß löste sich das Gegenständliche auf und ging sanft in das Wesenlose über. Es war ein Zustand zwischen Wachen und Träumen. Die Epitaphien, die an den Pfeilerbündeln hingen, verschwanden. Die ferner gelegenen Teile der Kirche verdüsterten sich. Nur die hohen Fenster standen wie vergoldete Lichtschäfte in der grauen Umgebung. Am Ende des Hauptschiffes schwebte ein rötlicher Schein ungefähr in Mannshöhe über dem Boden. Es war die ewige Lampe, die mit kränklichem Licht auf dem hohen Chor hin und her pendelte.

Wiederum machte der Mann mit dem gutmütigen Komödiantengesicht eine feierliche Handbewegung.

Jetzt blieb er stehen.

»Hier,« sagte er mit gedämpfter Stimme, öffnete eine Gittertür, die sich geräuschlos in ihren Angeln bewegte, ließ die beiden eintreten, während er selber vor der Seitenkapelle blieb und dort mit leisen Sohlen auf und ab ging.

Er kannte das alles. Er sah das tagtäglich, er sah das dreihundertfünfundsechzigmal im Verlauf eines Jahres, und mehr als dreißig Jahre hatte er bereits die Glöcknerstelle hier in der Kirche, also an ein und derselben Stätte, verwaltet. Es war ihm nichts Neues.

Gesenkten Hauptes war Hans Behrend näher getreten.

Da lag sie . . .

Er stieß einen verhaltenen Schrei aus. Heinrich vom Hövel hatte sich dicht an seine Seite begeben.

Durch das seitwärts gelegene Fenster fiel der letzte Gruß des sterbenden Abends und verbreitete noch eine genügende Helle.

Ja – da lag sie mit gefalteten Händen, den Kopf auf ein Kissen gebettet, mit gestreckten Beinen und einem Spiel um die Lippen, das nicht von dieser Welt war.

Er sah lange in das friedliche Antlitz. Wie von einem Zwange geleitet, tat auch er die Hände zusammen. So mußte auch sie am Strande des Meeres gelegen haben, dicht am Fußpfad zur Punta Tragara, gerade wie diese, so still und selig und nun bar allen Leides – vom Unglück wie diese gefaßt und jetzt eine Heilige. Und auf den Wassern war eine Stimme, eine sonore Männerstimme, die immer inniger, mächtiger anschwoll: »O dolce Napoli . . .«

Er fuhr sich still über die Schläfen. Der Hauch der Erinnerung lag über dem Grabmal.

»Heinrich,« sagte er mit tränenerstickter Stimme, »wenn es dir recht ist . . .«

Und da ging Heinrich vom Hövel ernst hinaus – aber auch er hatte gesehen. Er hatte das bestimmte Gefühl von einer Ähnlichkeit, die ihn nicht mehr loslassen wollte. Aber nicht das allein bewegte ihn seltsam. Da war noch was anderes. Geheimnisvolle Saiten klangen ihm zu. Er erschrak ordentlich vor dieser Wahrnehmung, und dennoch erfüllte sie ihn mit jenem sensitiven Bangen, das die Mitte hält zwischen freudiger Wallung und schweren Bedenken. Das war es ja eben: unbewußt hatte er jene Saiten ins Schwingen gebracht, die erst sanft anklingen, dann stärker werden, um schließlich in gegenseitiger Wechselbeziehung die geheimsten Regungen zweier Seelen auszulösen.

Der Mann mit dem glattrasierten Gesicht sah ihn merkwürdig an.

»Was hat der Herr nur da drinnen?« fragte er mit dem gedämpften Flüstern von eben.

Als er keine Antwort erhielt, nahm er seinen Gang wieder auf.

»So was kommt vor,« sagte er im Weitergehen und ließ die Schlüssel, die er in den wächsernen Fingern hielt, kaum hörbar gegeneinanderklingen.

In der Kapelle stand Hans Behrend noch immer. Er war dicht an die schwarze Marmorlade getreten, auf der sie ruhte. Er vermochte es nicht, sich von den geliebten Zügen zu trennen. Das Abendlicht, das immer matter und unbestimmter wurde, ließ sie wie lebend erscheinen. Und wieder rauschte das Meer auf. Hinter Anacapri lag eine silberne Helle. Der Mond war im Aufstieg begriffen. Und dann wieder die sonore Männerstimme über den Wassern: »O dolce Napoli . . .«

Vergebens kämpfte er dagegen an. Der alte Traum wollte nicht schwinden.

Er glitt sacht über ihr Haar, über die Schläfen; er tastete über die Schultern, er berührte die Stirne und ergriff die gefalteten Hände.

Sie waren kalt, eisig, frostig.

»Maria!« stöhnte er plötzlich auf, schlang den Arm um sie her und preßte seinen Mund auf die Lippen, die kein Empfinden, kein Leben mehr hatten.

»Jetzt darf ich dich küssen,« sagte er schluchzend, »aber auf Capri, damals auf dem Wege zur Punta Tragara – damals ist das Sünde gewesen, aber jetzt darf ich dich küssen.«

Langsam sank er in die Knie. Eine Vorahnung von dem, was man Ewigkeit nennt, die weder Anfang noch Ende hat, nahm von seinem Herzen Besitz. Als er sich aufhob, hatte er vieles niedergezwungen. Sein Blick hellte auf, und sein Nacken straffte sich wieder. Noch einmal sah er auf das liebliche Bildnis, noch einmal beugte er sich über das friedliche Antlitz, sichtlich durch den Ausdruck des Leides und der Freude verklärt und mit jenem Hauch überflogen, der Unsterblichkeit gibt; noch einmal küßte er den kalten Mund mit heiligem Schauer, noch einmal glaubte er das wehmütige Rauschen des Meeres zu hören, das die purpurblaue, einsame Küste von Capri umspielte – dann verließ er hochaufgerichtet die Stätte, wo er Trost gefunden, und die zu sehen er schon lange Jahre mit heißer Sehnsucht gewünscht hatte, über seine Züge lief der Abglanz eines holden Wahns, einer befreienden Täuschung. Es war schon richtig: in der Seitenkapelle der Liebfrauenkirche pochte auch für ihn das Leben an die Pforte des Todes, und der Tod erwachte. Hier hatten sich Tod und Leben gefunden, hatten vergessen und waren glücklich gewesen.

Das fühlte auch Heinrich vom Hövel, als sein Freund wieder zu ihm trat, und sie beide, vom Glöckner begleitet, die Kirche verließen. Er bemerkte es trotz der Dunkelheit, die sich inzwischen unter den hohen Gewölben wie tiefgraue Fischernetze ausgespannt hatte; es wurde bei ihm zur Gewißheit, als sie ins Freie traten und der letzte Rest des Abendlichtes ihm alles deutlich machte: Hans Behrend hatte sich wiedergefunden. Er sah darin die Vorboten eines neuen Lebens, einer gehobenen Stimmung, wie sie auch die starre Erde empfindet, wenn sich endlich die Tage längen und die Nächte wärmer werden. Fern drüben über einem grauen, eingedunkelten Land regte sich ein verheißungsvolles Licht – und das Licht wurde größer und größer. Es war für ihn die Quelle der Erkenntnis und des Trostes geworden.

Der gönnerhafte Mensch mit dem glattrasierten Gesicht winkte den Wagen, der sich seitlich vom Portal aufgestellt hatte, näher heran. Seine Blicke glichen noch immer ermatteten Flämmchen, die an dem Docht einer bleichen Wachskerze zehren. Hierauf machte er eine stumme Verbeugung und grüßte die Abfahrenden mit einer derart pompösen Handbewegung nach, als wenn er sagen wollte: »Ziehet in Frieden. Ich weiß, was ich weiß, denn wer Augen zu sehen hat, der sehe, und wer Ohren hat zum Hören, der höre. Ich habe gehört und gesehen. Hier geschah ein Wunder, oder es kommt noch ein Wunder, denn hier der Grund und Boden . . .«

Er verschluckte die letzten Worte und stand in einer Wolke, die nach Weihrauch und Buchsbaum duftete.

Und dieser Duft nach Weihrauch und Buchsbaum nahm stetig an Ausdehnung und Stärke zu. Er schleierte über den Platz der Liebfrauenkirche, drängte sich in die zunächst gelegenen Straßen hinein und deckte schließlich alle Viertel der toten Stadt mit seinen süßlichen und betäubenden Aromen zu. Da nahm auch das schwarze Nönnchen mit ihrer brennenden Kerze am Beghinenhof aufs neue ihre Wanderung auf. Da ging sie . . . Gespenstisch schwebte sie von Straße zu Straße, von Gasse zu Gasse. Hinter den weißen Mullgardinen aber saß das Grauen und sah zum Fenster hinaus.

Inzwischen hatte der Wagen, am Quai du Rosaire vorbei, Richtung auf das Dammer Tor genommen. Bald darauf empfing ihn die offene Landschaft.

Rechts von der Straße lag der breite Brügger Kanal. Kein Geräusch war auf ihm, nichts bewegte den schwarzen Spiegel. Unermeßlich dehnte sich die Erde. Ein falber Strich grenzte sie im Westen ab. Eine Sense arbeitete noch im freien Felde. Plötzlich hörte sie auf, die Gräser umzulegen. Dafür ließ sich das Dengeleisen vernehmen. Dann rauschte die Sense wieder durch das endlose Land hin. Ab und zu blinkte sie auf. Weiter zur Linken wetterleuchtete der Abend. Es war nur ein schwaches und kränkliches Leuchten.

Heinrich vom Hövel erhob sich im Wagen und deutete auf den Schein, der plötzlich wieder am Himmel stand.

»Du,« sagte er leise, »genau dorthin liegt Sankt Anne ter Muiden.«

 


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