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Andreas saß an dem unbequemen, kleinen Tischchen am Fenster und schrieb. Er war oft aufgestanden, hatte die Linke an die heiße Stirn gedrückt und den kleinen Raum unruhig durchmessen. Dann hatte er wieder hastig weitergeschrieben. Er schrieb noch lange. Als er endlich damit fertig war, seufzte er tief auf, lehnte sich auf den Stuhl zurück und streckte, die Hände zur Faust ballend, beide Arme wagerecht aus. Dann legte er die Handflächen aufeinander und faltete die Hände. Mit vorgebogenem Oberkörper starrte er lange Zeit auf die vollgeschriebenen Seiten. Es kostete ihn einen ernsthaften Entschluß, das Geschriebene noch einmal durchzulesen.

Der Brief war an Fräulein Sabine Kreutzer bei Frau Steuerinspektor Wittig, Mittelstraße, Berlin NW, adressiert und lautete so:

»Sidon, am 2. Juli.

Geliebte Freundin!

Auf meinen Brief, den ich unmittelbar nach meiner Ankunft auf syrischem Boden von Beirut aus an Sie abgesandt habe, habe ich noch keine Antwort erhalten. Unser dortiger Generalkonsul, an den ich Sie Ihren Brief zu richten bat, hat mir auf meine wiederholten Anfragen mitgeteilt, daß er regelmäßig Briefe und Zeitungen aus Deutschland erhalten habe, – aber nichts für mich. Ich weiß indessen, daß Sie mir antworten werden, und suche nicht nach müßigen Deutungen Ihres Schweigens. Ich will geduldig warten.

Zwischen dem Tage, an dem ich Ihnen zum letzten Male schrieb und heute liegt für mich eine Zeit, die ich als die genußreichste und freudenvollste, aber auch als die anstrengendste Zeit meines Lebens bezeichnen darf.

Was hier in meiner Gegenwart und unter meiner bescheidenen Mitwirkung für die dauernde Freude der Welt gewonnen worden ist, ist unsagbar. Es hat mich stürmisch erregt. Ich darf sagen: das Fieber hat mich am ersten Tage ergriffen und seitdem nicht wieder verlassen. Ich muß der Wahrheit gemäß auch bekennen: das Neue, Ungeahnte und Gewaltige hat mich zeitweise losgelöst von allem, was bisher mein ganzes Sinnen und Trachten ausmachte. Ich muß Anstrengungen machen, um mich auf das zu besinnen, was mich jahrelang früh und spät beschäftigte, was mich ganz erfüllte, ehe ich hierher kam, ehe ich hinabstieg in den mehr denn zwei Jahrtausende alten Schacht und in den stickigen, dunklen Grüften vor den herrlichen Marmorschreinen der alexandrinischen Großen stand.

Wie klein und armselig erscheint mir angesichts dieser Größe und Fülle jetzt alles, was ich früher getrieben habe! Ach, liebe Freundin, der Aufsatz, den meine plötzliche Abreise aus Berlin abbrach, wird nie vollendet werden!

Ich weiß auch nicht, wie ich es im Hörsäle der Universität werde aushalten können, wie ich es anfangen soll, um meinen Schülern Dinge vorzutragen, die mir jetzt so reizlos, so hölzern und nichtig erscheinen.

Was hier auf mich eingedrungen ist, war auch zu überwältigend. Ich weiß, ich werde dergleichen nimmer wieder schauen, nie wieder erleben, nie wieder empfinden. Ich werde mich, wie in etwas verhaßtes Altes oder unerwünscht Neues, in die gewöhnlichen Bedingungen meines Daseins hineinfinden müssen. Eine trostlose Zukunft! ...

Nur eines würde sie mir erträglich machen können, ja goldig aufhellen: die Erwiderung eines ehrlichen Gefühls, das von allem, was meine Seele in diesen letzten Monaten erschüttert hat, unberührt geblieben ist.

Ja, unberührt und unversehrt! Diesem Gefühle bin ich nie untreu geworden, und die stärksten Eindrücke, die ich empfangen habe, haben mich nicht von ihm abzulenken vermocht. Dieses Gefühl ist für mich ein schützendes Obdach gewesen, unter dem ich meine Seele aus dem Getümmel der Erregungen ruhig bergen konnte. In diesem sichern Hafen ankerte mein Schiff, dem auf den stürmisch aufgepeitschten Wogen der Untergang gedroht hatte.

Denn mein Dasein war ebenso schrecklich wie schön: in dem, was es bot, wie in dem, was es versagte – mir versagte!

Es war eine kindliche Überhebung, als ich von meiner Mitwirkung an diesem großen Werke sprach. Was habe ich denn getan? Nichts! In günstiger Beurteilung: wissenschaftliche Handlangerdienste, die mein teurer Freund und Gönner Hamdy Bey weit über Gebühr gepriesen hat. Nichts, nichts habe ich gefunden! Und die höchste Wonne, die stolzen Schläfer aus ihrem langen Schlummer zu neuem Leben in Gegenwart und Zukunft zu erwecken – sie ist mir versagt geblieben!

Und doch ruhen gewiß noch unter diesem Boden, auf dem ich jetzt täglich töricht und unwissend einherschreite, wunderbare Schätze, die zu ihrer Auferstehung nur des hellsehenden Meisters harren. Mir aber kündet kein Irrwisch, der auf dem Grabe tanzt, ihre Stätte.

Und diesen Boden soll ich verlassen? Soll heimkehren mit leeren Händen und mit dem demütigenden Gefühl, daß nur meine Torheit und meine Blindheit daran schuld sind, daß ich diese Schätze nicht aus ihrer Grabesnacht zum goldenen Lichte der Sonne emporhebe?

Nein, das vermag ich nicht!

Mit ehernen Klammern hält es mich hier zurück. Wie eine feige Flucht würde es mir erscheinen, wollte ich mich hier davonstehlen ... wie ein verächtlicher Betrüger, der dem Schicksal seine Schuld nicht zahlen will.

Sie müssen das begreifen! Es wäre traurig, wenn Sie es nicht begriffen.

Leben Sie wohl, geliebte Freundin. Meine Adresse bleibt bis auf weiteres: Dr. Goldap, deutscher Generalkonsul in Beirut.

Ihr

Andreas Möller.«

Der Brief war sehr ungleichmäßig geschrieben: zuerst mit fester kleiner Handschrift, dann in unruhigen, unregelmäßigen Buchstaben, zuletzt zitterig und schieflinig. Auch ein wenig geübtes Auge konnte diesem Schreiben die fieberhafte Erregung seines Urhebers ansehen.

Andreas gab es seinem Freunde Hamdy, als sie beide Arm in Arm durch den schönen Garten, dessen Bäume jetzt von der Sonnenglut versengt waren, nach dem Strande hinabgingen. Der Konsul war schon vor einer Stunde nach Beirut zurückgeritten. Sie waren beide tief ergriffen und sprachen nicht. Von Zeit zu Zeit drückte Hamdy Andreas' Arm mit dem seinigen an sich.

Sie waren unten angekommen. Die Maschine ließ zischend hellgrauen Dampf ausströmen. Auf dem Deck herrschte geschäftiges Treiben.

Hamdy Bey hatte sich von den braven Arbeitern schon mit reichen Geschenken verabschiedet, aber sie hatten es sich nicht nehmen lassen, dem davonziehenden Chef eine letzte Huldigung darzubringen. Sie alle – ihrer zweihundert an der Zahl – standen an der improvisierten Reede in Parade aufgestellt, in ihren schönsten und buntesten Trachten.

Und nun war die Stunde des Abschieds gekommen. Der Ingenieur Bechara, der in Anerkennung seiner hohen Verdienste von Hamdy mit der Einladung beehrt worden war, die Sarkophage mit nach Stambul zu geleiten, hatte dem zurückbleibenden Professor warm die Hand gedrückt. Sie hatten einige herzliche Worte gewechselt, und Bechara Effendi war an Bord gestiegen.

Und nun trat Hamdy Bey an Andreas heran. »Pflegen Sie sich, lieber Freund! Und auf baldiges frohes Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen! Und glückliche Reise!«

Sie umarmten sich. Dann wandte sich Hamdy schnell ab, legte die wenigen Schritte bis zur Brücke fast im Laufschritt zurück, erfaßte das Seil und kletterte hinauf. Als er oben angekommen war und den Fuß aufs Deck setzte, stießen die Arbeiter am Ufer einen hohen, gellenden, langanhaltenden Schrei aus, und mit mächtigem, mißlautendem Brüllen setzte die Dampfpfeife ein.

Die Landungsbrücke wurde aufgezogen. Der Kapitän stand schon oben auf seinem Posten. Das Zischen des ausgelassenen Dampfes hatte aufgehört. Der Anker wurde unter taktmäßig rhythmischem Geschrei der Matrosen gelichtet, die eisernen Ketten schlugen rasselnd auf die Planken, die in langsame Bewegung gesetzte Schraube strudelte gurgelnd wollig schaumige Wassermassen auf, und bedächtig, feierlich glitt das Schiff ab, im tiefblauen Meere eine breite, von schneeig weißem Schaum eingefaßte türkisblaue Furche hinter sich herziehend.

Vom Deck her flatterten zwei weiße Tücher. Andreas schwenkte das seine.

Als er das schöne Schiff, das vollen Flaggenschmuck angelegt hatte, mit der kostbaren Last und dem edlen Freunde an Bord sich immer weiter vom Ufer entfernen sah, bis es in nördlicher Richtung seinen Blicken ganz entschwand, zog tiefe Schwermut in sein Herz ...

Er hatte lange dagestanden. Die Arbeiter hatten sich längst zerstreut und ihre Hütten aufgesucht. Endlich entschloß auch er sich heimzukehren und schritt langsam seiner Behausung zu. Er hatte gar nicht gemerkt, daß Hassan ihm folgte.

Der Kiosk kam ihm erschrecklich ungemütlich, wie ausgestorben vor. Da duldete es ihn nicht länger.

Er trat ins Freie zurück. Da standen Hassan und der jüngere Sadi, des Befehls ihres Herrn gewärtig. Er bedeutete ihnen, ihm zu folgen.

Er nahm den alten wohlbekannten Weg. Als sie am Schacht angelangt waren, rief Andreas ihnen zu: »Wartet!«

»Pek eji, effendim!« antwortete Hassan wie gewöhnlich.

Er stieg die hölzerne Treppe hinab. Er zündete seine Lampe an, die an der gewohnten Stelle stand, und suchte noch einmal die ihres kostbaren Inhalts entleerten Grüfte auf. Mit Wehmut betrachtete er die verwaisten Stätten, die am Boden deutlich wahrnehmbaren Spuren der früheren Standorte der Sarkophage, die jetzt auf dem Meere schwammen.

Seitdem die zur Beförderung nötigen Arbeiten unternommen worden waren, waren die Grüfte nicht mehr gesäubert worden. Die Trümmer des eingerissenen Felsens lagen wüst auf dem Boden umher, Hier war abgewirtschaftet. Und ohne Reue wandten die undankbaren Menschen diesen Stätten, denen sie ihr Herrlichstes entrissen hatten, den Rücken.

Wie lange würde es wohl noch dauern, und der Schacht und die Grüfte; in denen der glückliche Spürsinn des Forschers die königlichen Marmorsärge entdeckt hatte, würden wieder verschüttet sein! Und mit den Jahren würde sich wieder über die verschütteten Höhlen vegetabilische Erde schichten und deren Spuren verdecken. Der Wind würde ihr befruchtenden Samen zuführen, und Halme und Unkraut würden hier grünen und welken, um wieder zu erblühen. Und in später Zeit würde nur noch die Überlieferung mehr oder minder genau die Stelle bezeichnen, unter der die kostbarsten Sarkophage der Welt geborgen waren.

Er durchleuchtete noch einmal das Gewölbe, in dem er gerade stand. Er wollte das Bild, das er wohl zum letztenmal sehen würde, tief in sein Gedächtnis eingraben.

Der Boden war mit Schutt und ausgebrochenen Steinen bedeckt.

Er leuchtete noch einmal, wie so oft, die Wände ab und beklopfte sie noch einmal wie täglich mit dem Hammer, ob nicht etwa der hohle Klang einen benachbarten Raum verriete. Nichts! Der dumpfe Hammerschlag stellte es außer Zweifel, daß diese Gruft keine andere Nachbarschaft hatte als die felsige Hülle.

Nach allen Seiten hin ließ er den im Reflektor konzentrierten Lichtstrahl gleiten ...

Auf einmal trat er einen Schritt zurück. Er machte eine heftige Bewegung. Dann trat er zögernd wieder einen Schritt vor.

Er hatte den Kopf erhoben. Jetzt reckte er den Hals. Die Lampe beleuchtete hell den südöstlichen Winkel der Totenkammer, und zwar den oberen Teil an der Decke. Es schien ihm, als sähe er da ein Loch ...

Es war doch kein Schattenspiel, keine Täuschung? Es war wohl auch keine zufällige Vertiefung, die dadurch entstanden, daß der Axthieb etwas tiefer in den Sandstein eingedrungen war? Die Wände der Totenkammer zeigten freilich so manche narrende Unebenheit. Aber nein! Das war wirklich ein Loch, da oben, gerade unter der Decke, und gerade im Schnittpunkt ... etwa in der Größe eines Fünfmarkstücks.

Daß es dem wachsamen Auge des Meisters wie seiner eigenen rastlos und sorgfältig forschenden Tätigkeit bis zu dieser Stunde hatte entgehen können, war allerdings nicht zu verwundern. Die eigentümliche Erscheinung, die er jetzt wahrzunehmen glaubte, war so geringfügig, daß er selbst noch an der Richtigkeit seiner Beobachtung zweifelte. Er erspähte die verdächtige Öffnung nur manchmal, wenn das Licht in dem sonst dunkeln Raume in einer gewissen Richtung, die er zufällig gefunden hatte, gerade auf diese Stelle fiel; sie entzog sich der Wahrnehmung aber sogleich wieder, wenn er die Lampe nur ein klein wenig bewegte. Bei der gleichmäßig hellen Beleuchtung, wie sie für die bisher vorgenommenen Arbeiten unerläßlich geworden war, war sie überhaupt nicht zu erkennen.

Wenn nun aber wirklich eine Öffnung da war, was hatte sie für einen Zweck? Was für eine Ursache? Wie tief war sie? Wohin führte sie? Das mußte auf alle Fälle untersucht werden. Es konnte ja eine Spur sein, die weiterleitete.

Gewohnt, einer jeden irgendwie ungewöhnlichen Erscheinung, und sei sie auch noch so geringfügig, eine ernste Beachtung zu schenken, trat er an die Tür der Totenkammer, die in den Schacht mündete, und rief hinauf, man solle ihm eine kleine Leiter bringen.

»Pek eji, effendim!« gab Hassan zur Antwort.

Schon nach wenigen Minuten, die Andreas lang genug erschienen, kamen Hassan und Sadi mit der Leiter heran.

Er kletterte hinauf. Und jetzt, da er die beobachtete Stelle ganz genau und ganz in der Nähe prüfen konnte, fand er zu seiner unbeschreiblichen Freude seine Wahrnehmung völlig bestätigt. Es war ein Loch. Er steckte zwei Finger hinein. Kein Widerstand. Die Finger hatten auf der andern Seite mehr Spielraum. Die Öffnung schien sich zu erweitern.

Nun schlug er mit dem Hammer an die Wand, rechts und links, nach oben und unten. Einmal ... zweimal ...

Die Stelle, die unmittelbar an der kleinen Öffnung war, hatte einen andern Klang, als der andere Teil der Felswände. Hier etwas hohler, dort ganz dumpf ... Hohl ... dumpf ...

Er klopfte und klopfte.

Die Araber, welche die Leiter hielten, horchten auf ... Sie zogen die Brauen bis in die Mitte der Stirn. Hassan hob den Zeigefinger der Rechten und blickte nach oben. Sadi nickte und grinste.

»Stein ausbrechen ... Loch erweitern ... schnell!« rief Andreas. Sein Herz klopfte mächtig.

Hassan, der dreimal sein stereotypes: »Sehr wohl, Herr!« dazwischengeworfen hatte, rief Sadi einige Worte zu, und dieser entfernte sich schleunig.

Andreas stieg herab. Hassan schien sehr glücklich zu sein. Er verbeugte sich tief vor Andreas, ergriff dessen Rockschoß und küßte den Saum. Er zeigte wieder seine weißen Zähne und wies mit bedeutungsvollem Lächeln nach oben.

Sadi kam atemlos wieder und brachte eine Axt und ein Stemmeisen. Geschickt wie eine Katze kletterte Hassan hinauf, während Sadi die Leiter hielt, und begann sogleich sein Zerstörungswerk. Abgeschlagene Felsstücke kollerten herab ...

In fieberhafter Erregung sah Andreas von unten dem Alten zu, der, von der Ungeduld seines Herrn angesteckt, mit aller Wucht seine wohlgezielten Schläge führte.

»Stößt du auf den Felsen?«

Die Öffnung war jetzt schon so weit, daß Hassan mit der ganzen Hand durchfahren konnte. Sein Arm drang bis zur Achselhöhle vor, ohne einem Widerstande zu begegnen.

»Nein ... Loch ... Effendim!«

»Vorwärts! Vorwärts!« schrie Andreas.

Hassan hatte in kürzester Zeit eine Öffnung gebrochen, die groß genug war, um einen schmächtigen Menschen einzulassen.

»Komm herunter!« rief Andreas.

»Pek eji, effendim!«

Nun kletterte Andreas wieder hinauf. Er ließ sich die Magnesiumlampe reichen und das blendende Licht in den eben erschlossenen Raum fallen, aus dem ein fader, widriger, feuchter, stockiger Moderdunst drang.

Eine starke Enttäuschung bemächtigte sich Andreas'. Der Raum war leer. Er war auch viel zu eng und zu niedrig, um einen Sarkophag aufnehmen zu können – im ganzen in seinem kubischen Inhalt überhaupt nicht größer als einer der mittleren Sarkophage.

Andreas leuchtete nach allen Richtungen hin. Eine schmutzige, dunstige, viereckige Höhlung, etwa ein Meter hoch und breit, kaum drei Meter lang, deren Boden etwa zwei Fuß tiefer lag, als die Decke der Gruft, in der er sich befand.

Er zwängte sich durch die Öffnung und kroch in den ungastlichen Raum hinein. Er mußte den Kopf tief ducken, um nicht an die Decke zu stoßen. Die Lampe stellte er in die Ecke und kroch nun, überall herumtastend, am Boden.

Schutt und Staub ... und da: Überreste von menschlichem Gebein. Ein Schädel, der noch ziemlich gut erhalten war, einige Rippen, ein Stück vom Beckenknochen ... Es war ein Felsengrab.

Aber wie konnte die Leiche hier bestattet worden sein? Auf welchem Wege war sie hier hereingekommen? Es mußte doch irgendwo ein Zugang vorhanden sein! Von der Gruft her, aus der er kam, konnte die Leiche natürlich nicht hereingeschafft worden sein. Durch das kleine Loch hatte sie nicht schlüpfen, und der Felsen hatte hinter ihr nicht wieder zuwachsen können ...

Also: von oben! Entweder unmittelbar durch einen darüberliegenden Schacht, oder mittelbar von der Seite her durch einen danebenliegenden.

Er legte sich auf den Rücken und blickte zur Decke auf.

Da war die Bestätigung seiner Voraussetzung! Die Decke war von gleichmäßigen, sorgfältig behauenen, größeren Felsblöcken gebildet. Dies Grab hatte nur gesprengt werden können, wenn ein zweiter Schacht von oben herabführte. Von oben waren die Steine, welche die Decke bildeten, aufgelegt.

Er machte sich auch sogleich klar, daß das Felsengrab, in dem er jetzt auf dem Rücken ausgestreckt lag, älter sein mußte, als die Totenkammer, aus der er eingestiegen war. Jetzt verstand er auch, weshalb die Wand jener Totenkammer gerade an der Stelle, wo er das Loch erspäht hatte, einen Winkel machte, und er erklärte sich nun auch die Ursache des Lochs. Die Steinbrecher, welche die Gruft, aus der er gekommen war, gehöhlt hatten, waren offenbar bei ihrer Arbeit auf das alte Felsengrab gestoßen, in dem er jetzt lag. Als sie das durch das Einschlagen der Wand, durch das kleine Loch, gemerkt, hatten sie ihre Arbeit sogleich nach der anderen Richtung fortgesetzt. Sie hatten die Heiligkeit des Todes, den Wunsch der hier Bestatteten, in tiefer Verborgenheit den ewigen Schlummer zu schlafen, respektieren wollen.

Der Aufenthalt in dem engen, heißen, luftleeren, stickigen Raum war so furchtbar, daß ihm die Sinne zu schwinden drohten. Der Kopf war ihm von dem Moder- und Verwesungsgerüche benommen, er litt an Atemnot, es summte und rauschte ihm in den Ohren. Unter Anspannung aller Willenskraft rappelte er sich auf und machte Versuche, wieder durch die Öffnung, durch die er eingedrungen war, hinauszukriechen. Aber er war von Schwindel und Übelkeit so hinfällig und elend, daß es ihm erst mit Hilfe Hassans, der gesehen hatte, wie sich sein armer Herr abquälte, und eilends hinaufgeklettert war, gelang, sich durchzuquetschen und den Fuß auf die oberste Sprosse zu setzen.

Von Hassan gestützt, beinahe getragen, kam er unten an. Er taumelte durch die Gruft.

Als er im Schacht angelangt war, in freier Luft, den Himmel über sich, machte er einige tiefe Atemzüge und stieg dann langsam und mühsam die hölzerne Treppe hinauf.

Damit hatte er seine letzte Kraft erschöpft. Oben auf dem Hügel konnte er nicht weiter. Er ließ sich auf den Boden fallen, legte sich auf den Rücken, streckte die Arme wagerecht von sich und keuchte.

Hassan, der ihm auf dem Fuße gefolgt war, war sehr besorgt und wollte sich um ihn bemühen.

»Laß nur, Hassan!« wehrte ihm Andreas freundlich mit matter Stimme. »Es ist nichts. Nur etwas ruhen!«

Inzwischen war auch Sadi aus dem Schachte heraufgestiegen. Hassan gab ihm einen Befehl. Sadi stürzte davon. Nach kurzer Zeit kam er in vollem Lauf zurück. Er brachte in einem irdenen Kruge von der nahen Quelle kühles Wasser. Andreas dankte mit einer schwachen Bewegung des Kopfes. Er richtete sich halb auf und trank begierig einige Schluck. Dann ließ er sich Wasser in die Hände gießen und wusch sich die Stirn.

Es tat ihm sehr wohl. Er stand nun ganz auf und sagte zu Hassan: »Bestelle zu morgen ganz früh, zu Sonnenaufgang, Arbeiter soviel wie möglich, wir wollen graben!«

Seine ursprüngliche Absicht, noch einmal hinabzusteigen, mußte er aufgeben, denn er fühlte sich noch sterbensmatt. Am die paar Schritte zum Kiosk zurückzulegen, mußte er sich auf Hassan stützen. Ohne sich zu entkleiden, warf er sich auf sein Lager und schlief sogleich ein ...

Vor Morgengrauen fuhr er aus seinem schweren Schlafe jählings auf. Er fühlte sich noch wie zerschlagen, aber die Kraft seines Willens besiegte seine körperliche Hinfälligkeit. Er rieb sich mit eiskaltem Wasser ab und tauchte den Kopf zu wiederholten Malen lange und tief ins Becken. Mit Besorgnis sah Hassan diesem Treiben zu und schüttelte das würdige Haupt.

Die Arbeiter kamen früh, – noch immer zu spät für Andreas' Ungeduld. Er hatte inzwischen die erforderlichen Messungen vorgenommen und die Stelle auf der Oberfläche des Felsengrabes genau bezeichnet.

Die Leute entfernten die vegetabilische Erdschicht, auf der das Unkraut gerade hier besonders üppig wucherte ... Sie stießen auf die harte felsige Unterlage. Von einem Eingange zu einem Schacht war keine Spur zu ermitteln.

»Er muß da sein, der Schacht!« rief Andreas, der mit gierigen Blicken den Arbeiten der Gräber folgte. »Nur weiter ... nach der Richtung hin!«

Auf einmal stieß einer der Arbeiter einen gellenden Schrei aus. Alle stürzten herbei ... Zerbröckeltes Geröll, festgebackte Erde ... es war der Schacht! Andreas schrie laut auf vor Freude.

»Vorwärts, vorwärts, Leute! Heute gibt es doppelte Löhnung! Nur schnell vorwärts!«

Hassan verdolmetschte die Worte des Herrn, die jubelnd aufgenommen wurden. Mit wahrem Feuereifer machten sich die Leute an die Entleerung des Schachts.

Aber es war eine langwierige und schwierige Arbeit, und Andreas war ganz verzweifelt, als er beim Sonnenuntergang konstatieren mußte, wie wenig trotz aller Anstrengungen geleistet worden war, wie viel noch zu tun übrigblieb!

So schnell die Aufräumung auch erfolgte, die Dauer erlegte Andreas kaum erträgliche Qualen auf. Eine kindische Ungeduld verzehrte ihn. Auch am zweiten Tage war er von früh bis spät am Schacht und feuerte seine Leute durch seinen Eifer zu übermenschlichen Anstrengungen an.

Dies Warten und Warten, dies Gefühl der Ohnmacht, durch eigene Tätigkeit die Sache zu fördern, die niederdrückende Erkenntnis, daß sie sich eben nicht beschleunigen ließ, – das war vielleicht die größte der Qualen, die Andreas zu erdulden hatte. Es war beinahe als ein Glück zu preisen, daß sein Schwächezustand ihn einige Tage ans Bett fesselte.

Der Besitzer des Grundstücks, Mehmed Scherif, dem Andreas von Hamdy Bey vom Generalkonsul Dr. Goldap aufs wärmste empfohlen war, nahm sich seiner liebevoll an. Er verbrachte täglich mehrere Stunden am Bette des jungen Gelehrten, verplauderte ihm die Zeit mit hübschen Geschichten aus dem Morgenlande, – Mehmed Scherif war ein vorzüglicher Erzähler und sprach recht gut Französisch, – und konnte der Wahrheit gemäß nach Beirut berichten, daß Professor Möller zwar recht schwach sei, daß aber sein Zustand nicht beunruhigen dürfe, daß er in guter Pflege und folgsam sei.

Hassan hatte seinen Herrn in der Beaufsichtigung der Arbeiten vortrefflich vertreten. Am selben Tage, an dem Andreas sich kräftig genug fühlte, um sein Lager zu verlassen, konnte ihm Hassan auch die freudige Mitteilung machen, daß der Schacht bis auf den Grund von Schutt, Geröll und fester Erde befreit sei.

Im ersten Augenblicke der Besichtigung gewahrte Andreas zu seiner Linken die mit kleinen Felsstücken wieder verschlossene Öffnung zu dem Grabe, in das er neun Tage vorher durch den früher aufgedeckten Schacht von der anderen Seite her gelangt war.

In viel höherem Maße aber wurde seine Aufmerksamkeit gefesselt durch eine andere Einsprengung in den Felsen zu seiner Rechten. Diese Tür war beträchtlich größer und viel sorgfältiger versperrt. Sie entsprach in ihren Verhältnissen und in der Art ihrer Verschließung durch größere und kleinere Felsstücke durchaus den Zugängen zu den Totenkammern, in denen die herrlichen, von Hamdy Bey entdeckten Sarkophage gestanden hatten.

Auch in diesem Punkte hatte sich seine Voraussetzung und Folgerung als richtig erwiesen: der neu aufgetane Schacht führte noch zu anderen Verborgenheiten!

Die Blöcke und Steine waren bald so weit beseitigt, daß Andreas und Hassan durch die ungeschlachte Tür eindringen konnten.

Ein leerer, quadratischer Raum, etwa fünf Meter im Geviert, zwei Meter hoch. Die Decke war durch den Felsen mit den charakteristischen Brüchen des Sandsteins gebildet. Aber der Boden! Er wies eine Art von roher Pflasterung auf. Andreas ließ die grob behauenen Steine sofort aufbrechen. Sie ruhten auf einer Erdschicht, die steinhart geworden war. Die Arbeiter verdoppelten ihre Anstrengungen, um auch dieses Hindernis zu beseitigen. Da stießen sie mit ihren Schippen und Schaufeln auf harten Widerstand.

»Der Felsen«, sagten sie und ließen ihre Geräte auf der steinigen Unterlage klirren.

Andreas furchte die Stirn. Eine tiefe Entmutigung befiel ihn.

So sollte denn wirklich die so viel verheißende Spur zu keinem Ziele führen?

Nein, das war undenkbar! Die gewaltige Arbeit, die hier in einer noch nicht annähernd bestimmbaren Vergangenheit geleistet worden war, mußte doch einen vernünftigen Zweck gehabt haben. Einer müßigen Spielerei und Fopperei halber hatte man doch sicherlich nicht den Felsen mit unsäglicher Mühe kunstvoll gehöhlt, um ihn dann wieder zu verschütten.

»Vorwärts! Schafft die Erde weg! Säubert den Boden!«

Jetzt hatte man den steinernen Grund etwa zwei bis drei Quadratfuß breit von seiner irdenen Decke befreit...

Andreas jauchzte auf. Es war nicht der Felsen:

Es war ein künstlich geschaffener Boden, in der Mitte ein mächtiger, sorgfältig behauener Block. Als die ganze Erdschicht beseitigt war, ergab die Messung, daß er über drei Meter lang und anderthalb Meter breit war. Ringsum war er von größeren Felsstücken und kleineren Steinbrocken eingefaßt. Auch diese wurden im Laufe des Tages noch zum großen Teil herausgeschafft. Jetzt konnte Andreas feststellen, daß der kolossale Monolith ebenso dick wie breit war – anderthalb Meter.

Aber wie dies Ungeheuer bewegen? Diesen trägen, plumpen, steinernen Riesen, der den ihm anvertrauten Schatz so wohl hütete?

Andreas wußte freilich, daß Mehmed Scherif für seine Bauzwecke einige der praktischen Winden und Hebevorrichtungen, die Hamdy Bey mitgebracht, käuflich von diesem erstanden hatte. Aber zur Hebung eines so kolossalen Gewichts waren sie sicherlich nicht ausreichend. Da gab es also nur ein Mittel, um dieses Hindernis zu überwinden: der gewaltige Stein mußte zerkleinert werden. Zum Glück war er nicht hart. Die Steinsägen arbeiteten unausgesetzt, den ganzen Abend, die ganze Nacht hindurch.

Am andern Mittag war der Steinblock um die Hälfte verdünnt.

Jetzt die Haken eingeschlagen, Winden und Hebel in Bewegung gesetzt!

Die Räder und Schrauben und Walzen knarrten und ächzten und stöhnten. Und langsam, langsam hob sich der gewaltige Block, hob sich so hoch, daß er von der vereinten Kraft der Arbeiter unmerklich, aber stetig, Zentimeter um Zentimeter aus seiner zentralen Lage näher an die Wand der Felsenhöhle geschoben werden konnte ...

Und nun ward es zur Gewißheit; unten war ein hohler Raum, eine Kammer! Zwischen dem Rande des Felsblocks in seiner jetzt veränderten Lage und seiner alten Einfassung öffnete sich ein Spalt ...

Mit pochendem Herzen sah Andreas diesem Schauspiel zu. Sein feuriges Wort beflügelte den unermüdlichen Eifer seiner willigen Leute.

Nun klaffte bereits zwischen dem Rande des riesigen Steinblocks und seiner früheren steinernen Umrahmung, von der er abgedrängt wurde, ein langer dunkler Spalt von etwa einem halben Meter Breite...

Was barg die steinerne Decke, die jetzt mit unsäglicher Mühe gelüftet wurde?

Unwiderstehlich trieb es ihn an den Rand des Spaltes, und er blickte hinab in die Finsternis da unten, die ihn gewaltsam an sich riß, wie den Schwindelnden der Abgrund. Schon griff er nach der Magnesiumlampe, um helles Licht in diese Nacht fallen zu lassen – den ersten Strahl seit sicherlich mehr denn zwei Jahrtausenden.

Aber ein unerklärliches Gefühl – war es törichte Angst, oder war es heilige Scheu vor der Majestät des Todes? – zügelte seine stachelnde Wißbegier. Eine unsichtbare Gewalt lähmte seine Hand. Er ließ von seinem Vorhaben ab und starrte schaudernd in die geheimnisvolle Tiefe.

Langsam, langsam rückte, unter dem Stöhnen der Hebel und den rhythmisch ausgestoßenen Schreien der keuchenden Arbeiter, der steinerne Koloß der Wand näher und näher.

Da faßte sich Andreas ein Herz.

»Eine Leiter!« schrie er Hassan zu.

Aber seine Hand zitterte, als er nach der Lampe griff, und seine Beine schlotterten, als er neben der langen und weiten Öffnung, die bis zu dieser Stunde so wohl verschlossen gewesen war, niederkniete.

Und nun fiel das grelle Licht in die nächtliche Tiefe.

Und da sah er auf dem Boden, inmitten des unterirdischen Gemachs, das auf sein Geheiß widerwillig das steinerne Tor vor ihm hatte öffnen müssen, einen mächtigen Sarkophag, staubbedeckt, – wie es schien, aus schwarzem Gestein...

Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken, Er zitterte und bebte.

Der Augenblick des höchsten Glücks, nach dem er sein ganzes Leben mit fieberndem Ungestüm gelechzt hatte, – nun war er da! Aber er war von der Macht des Eindrucks so überwältigt, in tiefster Seele so erschüttert, daß er dessen nicht froh werden konnte.

Wer war der stolze, einsame Schläfer, der sich hier in den harten Felsen, mehr denn dreißig Fuß tief unter der Oberfläche in unfindbarem Versteck, zu dem nur ein Zufall die scharfsinnige Forschung geführt, hatte einscharren lassen?

Wer war dieser stolze, einsame Mann?

In dieser gewaltigen Abgeschiedenheit von allem, was das Licht der Sonne schaut, in diesem eigenwilligen Eindringen in den Schoß des Felsens, in dieser nächtigen Verborgenheit, von Felsen umschlossen und von Felsen verrammelt, lag doch eine erschütternde Größe, etwas Erhabenes.

War es nicht eine Grausamkeit, war es nicht ein Frevel, diesen schwarzen Schrein aus seinem Gewahrsam herauszuzerren und dem so gebieterisch bekundeten Willen des darin Gebetteten zum Trotz das Tageslicht, vor dem er sich in undurchdringliche Nacht geflüchtet hatte, darauf fallen zu lassen?

Siedend heiß stieg ihm das Blut Zu Kopf, seine Pulse hämmerten, und dicke Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn. Ein nie gekanntes Angstgefühl schnürte ihm die Kehle zu...

Und das war der Augenblick des höchsten Glücks, nach dem er sich in Wachen und Träumen gesehnt hatte. Es währte lange, bis er die Herrschaft über sich zurückgewann.

Mit trotziger Entschlossenheit stieg er die Leiter, die inzwischen eingesetzt war, hinab.

Er wehrte Hassan, der ihm folgen wollte. Mit dem Toten wollte er allein sein...

Und nun stand er vor dem Sarkophag.

Es war ein anthropo¿der Totenschrein aus schwarz-grünlichem Stein in ägyptischem Stile: eine Truhe mit menschlichem Antlitz, die in ihrer Form in groben Andeutungen ungefähr den Verhältnissen in der Modellierung der menschlichen Gestalt entsprach. Das plattgedrückte Gesicht mit den weit geöffneten Augen hatte einen lächelnden Ausdruck. Die großen, abstehenden Ohren lagen flach auf. Halslos steckte der Kopf im Rumpfe. Die Schultern waren abgerundet.

Andreas entfernte mit seinem Tuche oberflächlich die dicke Staubschicht, die sich auf der ganzen oberen Seite des Sarkophags gelagert hatte. Er entdeckte am oberen Teile eingegrabene Ornamente – zwei Adlerflügel... Und da waren auch die Schriftzeichen!

Eine Inschrift! – Das war es vor allem, was ihn in diesem Augenblick erregte und mit hoffnungsvollem Ungestüm ganz erfüllte. Wie hatte er auf jenen herrlichen Sarkophagen, die jetzt sicherlich schon an ihrem Bestimmungsort gelandet waren, nach einer Inschrift gespäht! Umsonst! Kein Wort, kein Zeichen hatte über die Gewaltigen, deren Gebeine in diesen wundervollen Truhen geruht hatten, Aufschluß geben wollen.

Hier aber war, wie er jetzt schon deutlich erkennen konnte, der ganze Deckel mit eingeritzten Schriftzeichen bedeckt! Hieroglyphen auf dem ganzen Rumpf des steinernen Gehäuses...

Und da – am Fußende, dessen Erhöhung die aufrecht stehenden Füße der liegenden Gestalt veranschaulichen sollte, war eine umfangreiche phönizische Inschrift eingemeißelt. Waren auch die Eingrabungen, in die sich der Staub eingefressen hatte, noch nicht deutlich zu erkennen, so täuschte er sich doch nicht: es waren wirklich phönizische Zeichen!

Er entzifferte sogleich einen ihm wohlbekannten Namen: Tabnit.

Tabnit, der Vater des Eschmunasar!...

Bei welchem besonderen Anlasse hatte er diese Namen doch zum letzten Male genannt? Tabnit... Eschmunasar?...

Die Frage schoß ihm pfeilschnell durch das Gehirn. Er suchte kaum eine Antwort darauf. Seine Erregung war furchtbar. Das Fieber durchschüttelte ihn. Mit blödem Ausdruck starrte er die Zeichen an, die sich vor seinen Augen zu spukhaftem Unsinn verwirrten und einen greulichen Ringeltanz ausführten, der sein krankes Hirn umkreiste.

Ihm war, als ob in dieser stickigen Moderluft der Hauch des Todes aus dem schwarzen Schreine dränge und ihn verpestend anwehte. Er schwankte.

»Wasser herbei!« rief er kreischend, mit Anspannung aller seiner Kräfte. »Wasser! Und Tücher! Und Bürsten! Reinigt den Deckel! Hebt den Deckel! Hassan, hörst du? Hebt den Deckel!«

» Pek eji, effendim!« kam es von oben.

Das waren die letzten Worte, die er dumpf und wie aus weiter, weiter Ferne vernahm. Dann schwanden ihm die Sinne, und er brach neben dem schwarzen Sarkophag zusammen.

Er hatte eine lange Ohnmacht...

Als er wieder zu sich kam, riß er die Augen weit auf. Ein niedriger Raum, felsige Wände, die Decke durchbrochen. Er wußte nicht, was mit ihm geschehen war, wo er sich befand. Er betastete sein Gesicht. Es war feucht. Auch seine Kleider waren besprengt. Über sich erblickte er das treue, braune Gesicht eines alten Mannes, der sich liebevoll über ihn beugte. War das nicht der treue Hassan? Was hatte der Alte am Boden zu kauern? Und weshalb ruhte sein Kopf auf des Alten Schoß?

Und da waren ein Dutzend Araber geschäftig. Und an mächtigen Tauen, die aus einer dunkeln Öffnung von oben herabgelassen waren, schwebte ein unförmiges schwarzes Ding, das all die merkwürdigen Leute da mit äußerster Vorsicht langsam auf den Boden herabgleiten ließen.

Was sollte das alles bedeuten?

Er richtete sich auf.

»Was das heißen soll, frage ich?« rief er ungeduldig, als ob er die Frage schon gestellt hätte, und man ihm die Antwort schuldig geblieben wäre.

»Der Deckel gehoben, wie du befohlen, Herr!« erwiderte Hassan unterwürfig. »Jetzt Reinigung.«

Andreas nickte. Das dämmernde Bewußtsein hellte sich auf.

»Lange geschlafen, Herr! Sehr lange! Gute Gesundheit?« erkundigte sich Hassan teilnahmvoll.

»Ganz gut, Alter!«

Andreas trat festen Schrittes an die nun geöffnete Truhe heran, deren Deckel jetzt daneben auf den Boden niedergelassen war. Während sich die Arbeiter bemühten, den Schutt und Staub abzuwaschen und aus den eingegrabenen Verzierungen und Schriftzeichen auszubürsten, beugte sich Andreas über die Wanne des offenen Totenschreins und prüfte deren Inhalt.

Aus einer Schicht gelblichen Sandes, der sich feucht anfühlte, blickten schaurig die sterblichen Überreste dessen, der einst ein Großer dieser Erde gewesen war. Auf einem an den Seiten durchlochten Brett der Sykomore lag die Leiche, die früher angeschnallt gewesen war. In zweien der Löcher staken noch die silbernen Ringe, durch die die Schnüre gezogen worden waren. Der Schädel war entfleischt, das Gebiß bis auf einige Vorderzähne gut erhalten. Das Gerippe hatte dem Zerstörungswerke der Zeit nahezu vollkommen widerstanden, die Beine waren sogar noch zum Teil mit zähem lederartigen Fleisch bedeckt. Ein Teil der Eingeweide, Herz, Lunge, Nieren und Magen, – alles bräunlich grün, mumienartig hart und straff, – waren von der Verwesung verschont geblieben.

Mit tiefem, Ernst, aber jetzt völlig gefaßt, blickte Andreas auf den Eingesargten. Bei jeder Betastung des feuchten Sandes überlief es ihn. Er betrachtete die Leiche lange. Er hörte die Arbeiter nicht, die unmittelbar neben ihm geschäftig waren, er sah sie nicht. Er sah aber, wie sich aus den leeren Augenhöhlen der Mumie ein entsetzlicher, zorniger, drohender Blick auf ihn richtete. Er wich unwillkürlich einen Schritt zurück und wandte sich ab.

Jetzt sah er sich in dem vom Magnesiumlicht hell beleuchteten Raume mit gefurchter Stirn finster um. Er befahl den Leuten, sich zu entfernen, – allen, auch Hassan! Sie gehorchten stumm und kletterten hinauf.

Nun war er wieder allein mit dem Toten, der ihn so grausig böse angeglotzt hatte.

Er wollte dem strafenden, dem fürchterlichen Blicke ausweichen und kniete wieder neben dem Deckel. Da fiel sein Auge auf die phönizische Inschrift, deren Züge jetzt nach der Säuberung des Deckels in wunderbarer Schärfe hervortraten.

Er strich mit der flachen Hand über die Stirn, und sein Gesicht nahm nun, während er sich über die Erhöhung am Fußende des Deckels beugte, plötzlich einen völlig veränderten Ausdruck an. Er war wie losgelöst von all dem Unheimlichen, das ihn soeben noch beängstigt hatte. Seine Lippen öffneten sich ein wenig, und ein freudiger Zug umzog sie, seine Stirn glättete sich, und seine Augen, die sich in die Zacken und Spitzen der eingeritzten Zeichen ganz versenkten, leuchteten.

Denn sie waren ihm wohl vertraut, diese Zeichen, die mit der Inschrift auf dem Sarkophage des Eschmunasar völlig übereinstimmten, und er wußte deren Sinn zu deuten.

Hassan hatte sich im oberen dunkeln Räume, hart am Rande der Öffnung, auf den Boden gestreckt und beobachtete geduldig und erstaunt das sonderbare Treiben seines Herrn. Was starrte er nun immer auf die eingekratzten Kritzeleien? Weswegen lächelte er jetzt? Weshalb verdüsterte sich nun plötzlich seine Stirn? Weshalb wich er jetzt wie scheu von dem schwarzen Steine zurück und strebte dann wieder dahin, als ob er von einem Magneten angezogen würde? Weshalb sprang er jetzt wieder auf, um alsdann abermals neben dem Steine niederzuknien? Und so trieb es der gute Herr nun schon lange, lange Zeit. Es mußten wohl Stunden vergangen sein! !Und der arme Herr hatte nichts genossen, seit früh am Tage!...

Ja, es waren Stunden vergangen. Nun aber hatte Andreas die ganze Inschrift entziffert, und mit heftig zitternder Hand schrieb er, während er sich immer wieder über den Stein beugte und mit der Linken eine Zeichengruppe nach der andern betastete, die nachstehende Übersetzung in sein Notizbuch:

» Ich, Tabnit, Priester der Astarte, König von Sidon, ruhe allein in diesem Schrein. Wer du auch seiest, der diesen Schrein entdeckt, - Mensch, öffne nicht mein Totengemach. Störe meine Ruhe nicht. Du findest bei mir weder Silber noch Gold noch andere Kostbarkeiten. Ich bin allein in meinem Kämmerlein. Öffne es nicht, denn ein solches Tun ist Greuel von Astarte. Öffnest du aber gleichwohl meinen Totenschrein und störst du meine Ruhe, so sollst auch du keine Ruhe finden auf Erden! Das Blut soll dir in den Adern kochen. Verlassen soll dich das Weib, das du liebst. Deine Sinne sollen sich verwirren. Erstarren sollen deine Glieder. Du sollst lebend tot sein, und wenn du stirbst, ruhelos weiter leben! Das will Astarte. Und also verkündet es dir ihr Priester Tabnit, König von Sidon.«

Als Andreas die Niederschrift vollendet hatte, schob er das Buch, als habe er einen Diebstahl zu verbergen, in die Seitentasche und erhob sich ängstlich. Er schlich sich behutsam an der offenen Wanne des Sarkophags vorbei und legte die linke Hand wie eine Scheuklappe an die Schläfe, um nur den nicht zu sehen, der einst ein König von Sidon war und ein Priester der blutgierigen Astarte – Tabnit, dessen ergrimmter Blick aus den augenlosen Höhlen ihn überall verfolgte, dessen grausige Verwünschung er aus den Schriftzeichen herausgelesen hatte, und die in seinem Innern dröhnend widerhallte.

So schnell er es vermochte, kletterte er die Leiter hinauf. Er stürmte und stolperte durch den oberen Raum, der durch das Licht, das von unten her aus der Totengruft drang, und von der Seite durch die Öffnung nach dem Schacht eigentümlich schummerig beleuchtet war. Er bemerkte nicht einmal Hassan...

Nur hinaus, hinaus! In Gottes freie Luft, ins goldige Sonnenlicht.

Andreas war ganz betroffen, als er in den Schacht trat. In der heißen, blendenden Mittagssonne war er in die unterirdischen Höhlungen eingedrungen. Jetzt stand hoch am nächtlichen Himmel der fast volle Mond und goß sein schimmerndes Licht auf die schlummernde Erde. Es war um Mitternacht.

Elf Stunden hatte Andreas da unten im Reiche des Schattens und der Verwesung verbracht. Es trieb ihn mächtig nach dem Kiosk. Es dünkte ihn, er sei da geborgener. Er legte die erste Strecke des kurzen Wegs fast im Laufschritt zurück. Auf einmal blieb er stehen. Auf dem hellen, mondbeglänzten Boden zeichneten sich die schwarzen Schatten der hohen Zypressen und weitverzweigten Platanen, der Rosen- und Bananensträucher scharf ab. Die Schatten verwirrten ihn. Er glaubte Löcher und Gräben vor sich zu sehen. Hunderte von Malen, bei Tag und Nacht, hatte er den Weg genommen. Jetzt kam ihm alles so wunderlich verändert vor. Er wandte sich jäh um...

Unmittelbar vor ihm, Angesicht an Angesicht, stand ein alter Mann in heller Gewandung.

Andreas prallte zurück.

»Was willst du?« fuhr er den Alten barsch an.

»Dir dienen, Effendim«, antwortete Hassan ehrerbietig.

»Gut, gut«, sagte Andreas, wie aus einem Traume erwachend. »Du bist es, Hassan? Mir dienen? Ganz recht! So stelle Wachen auf! Dort an der Gruft! Und daß niemand wage, ihn zu berühren! Hörst du? Er ist ein Priester und ein König von Sidon!« »Sehr wohl, Herr!«

»Gib mir deinen Arm! Führe mich!«

Er stützte sich auf den Alten und ging einige Schritte neben ihm her. Aber der Alte kroch ja wie eine Schnecke! Ihn aber drängte es fort – fort von hier!... Denn hier folgte ihm auf Schritt und Tritt der zornige Blick dessen, der da unten lag.

Die Wanne des Sarkophags stand offen, die Decke der Gruft war gesprengt, die Tür zum Schacht war geöffnet, und durch den Schacht hatte er freien Zugang zum Garten. Hier konnt' er ihm freilich eilends nachsetzen! Hier konnte er ihn beängstigen durch den schrecklichen Blick aus den grausigen Augenhöhlen. Hier konnte er ihm den Fluch, der den Leichenschänder treffen sollte, in die Ohren schreien.

Und Andreas schloß, seine Augen, um den Blick nicht zu sehen, und hielt sich die Ohren zu, um den Fluch nicht zu hören... Umsonst! Er sah den ingrimmigen Blick und hörte die entrüstete Stimme des Toten:

»Du sollst keine Ruhe haben auf Erden!«

Er riß sich vom Arme des Alten los und stürmte vorwärts... nach dem Kiosk! Da wollte er die Fenster fest verschließen, die Tür verrammeln und sich verbarrikadieren gegen jeden frechen Eindringling von außen. Da wollte er endlich der heiß ersehnten Ruhe pflegen.

»Du sollst keine Ruhe haben auf Erden!« dröhnte es ihm wieder in den Ohren.

Keuchend riß er die Tür auf.

Auf dem Tische in der Mitte brannte die Lampe, friedlich wie immer. Seit langen Stunden schon war da das Mahl aufgetragen, kaltes Fleisch, frische und eingemachte Früchte: Wasser, Milch und Zypernwein.

Da lag aber auch, von der Lampe hell beschienen, ein großer Brief, – der erste Brief seit seiner Abreise aus Europa!

Er ergriff ihn hastig und las die Adresse. Eine unbekannte Handschrift. Er wandte ihn um und betrachtete den Stempel, mit dem das Schreiben verschlossen war: »Deutsches Generalkonsulat in Beirut.« Er riß den Umschlag auf.

Als er das Schreiben hervorzog, fiel ein anderer Brief heraus, auf den Teppich. Er wollte sich danach bücken. Aber das Blut stieg ihm so gewaltig zu Kopf, daß ihn schwindelte. Er mußte sich auf den Stuhl stützen, um nicht umzufallen.

Er setzte sich und stieß kurze, leise schnarrende Atemzüge hervor. Seine Stirn war brennend heiß, und seine Pulse schlugen hart und schnell. Er hielt das Schreiben fest in der bebenden Hand. Er führte es vor die Augen und wollte es lesen. Es war ihm nicht möglich. Es schoß ihm glühend heiß durch die Adern, und vor seinen Augen wirbelten Ringel und Kreise in hellbläulichem und scharlachrotem Schein.

Angstvoll führte er die beiden Hände an die brennende Stirn und fragte: »Mein Gott, was ist das?«

»Das Blut soll dir in den Adern kochen!« antwortete eine fürchterlich dröhnende Stimme.

Er schloß die Augen...

Nach einer Weile erhob er sich schwerfällig. Er füllte das Glas mit frischem Wasser und leerte es in einem Zuge.

Nun las er den Brief.

»Beirut, 17. Juli.

Lieber und verehrter Herr Professor!

Es macht mir große Freude, Ihnen den soeben für Sie hier eingetroffenen Brief übersenden zu können. Hoffentlich ist es der von Ihnen längst erwartete. Übermorgen, am 19., besuche ich Sie. Lassen Sie mich durch meinen Kawaß, der morgen nach Beirut zurückreitet, wissen, ob ich Ihnen gelegen komme. Es wird alsdann meiner Überredungskunst gewiß, gelingen, Sie mit mir hierher zu schleppen. In unserm kühlen Gartenkiosk finden Sie Schutz vor der sengenden Sonne Syriens und Ruhe, deren Sie, wie ich von Mehmet Scherif Effendi zufällig gehört habe, noch immer bedürfen.

Meine Frau schließt sich meinen Wünschen und Grüßen an.

Ihr

ergebenster
Goldap.«

Er bückte sich nach dem Brief, der noch immer neben ihm am Boden lag.

Als er den Poststempel »Berlin« las und die schöne, feste, gleichmäßige Handschrift Sabinens erkannte, überfiel ihn eine tiefe Wehmut. Das gelbe Haus in der Mittelstraße, die gesprächige Wirtin, das Fenster mit den Levkojen und Hyazinthen, dem blauen Flieder und den Maiglöckchen, und Sabine selbst! – wie fern, wie weltenfern lag ihm alles das!

Ja, das war das Glück gewesen! Und das hatte er verlassen können! Das ruhige bescheidene Glück, um in frevelhaftem Ehrgeiz einem Schemen nachzujagen, das ihm damals als das Herrlichste erschien, und das ihn jetzt, da er es endlich mit gieriger Hand gepackt hatte, als höhnisches Spukgespenst so grausam folterte...

Arme Sabine! Armer Andreas!

Er löste sorgfältig den Umschlag und las:

» Berlin, 4. Juli.

Verehrter Herr Professor!

Ihr Brief, den Sie unterwegs geschrieben und am Tage Ihrer Ankunft in Beirut aufgegeben haben, liegt nun seit sechs langen Wochen vor mir. Was müssen Sie von mir gedacht haben, daß ich Sie solange habe warten lassen und erst heute den Mut finde, ihn zu beantworten! Zunächst muß ich Ihnen danken für die Aufrichtigkeit, die aus jeder Zeile spricht, und die mich tief bewegt hat. Ihr Schreiben hat die Gefühle des Respekts und der Verehrung, die ich vom ersten Augenblick unserer Bekanntschaft an für Sie gehegt habe, nur verstärken können. Und deshalb geht es mir so sehr nahe, daß, ich Ihnen vielleicht Kummer und Schmerz bereiten muß. Ihr Antrag ehrt mich in hohem Grade, aber ich kann ihn nicht annehmen. Es soll gewiß kein Vorwurf sein, wenn ich Ihnen sage: daß Sie es eigentlich wohl hätten merken können, – wenn Sie eben nicht durch Ihre Studien von der Beobachtung Ihrer Umgebung abgezogen würden, – wie mein Herz nicht mehr frei war, als ich die Ehre und Freude hatte, von Ihnen beschäftigt zu werden. Damals mußte es noch ein Geheimnis meines Herzens bleiben. Gestern aber habe ich mich mit Dr. Scholl, der meine Verehrung für Sie, hochgeehrter Herr und Gönner, völlig teilt, verlobt, und nun darf ich nicht länger...«

Der Brief entfiel seinen Händen.

Er starrte vor sich hin und nickte unheimlich.

Da hörte er eine dumpfe, schadenfrohe Stimme:

»Verlassen soll dich das Weib, das du liebst!«

»Ich weiß es!« schrie er wütend. »Da hab' ich's ja, schwarz auf weiß! Da! da!« Und er stieß zornig mit dem Fuße den Brief von sich. »Verlassen soll dich das Weib!... Was willst du hier?« rief er überlaut den eintretenden Hassan an, der, durch das erregte Sprechen seines Herrn erschreckt, behutsam die Tür geöffnet hatte. »Was du willst? frage ich!« wiederholte er ungehalten.

»Die Wachen sind gestellt, Effendim«, antwortete Hassan etwas betroffen.

»Ah, du sollst mich bewachen? Das hat dir wohl der jämmerliche Deutsche, der in unseren Grüften herumstöbert, geboten? Aber ein solches Tun ist ein Greuel vor Astarte! Und ich bin dein Herr, Knecht!« Er richtete sich stolz auf. »Weißt du, vor wem du stehst? Ich bin der König von Sidon... Hinaus!« fügte er mit einer gebieterischen Handbewegung hinzu.

Tieftraurig verneigte sich Hassan. Wenn er den Herrn auch nicht verstanden hatte, so ahnte er doch Schlimmes. Er kreuzte die Arme über der Brust und entfernte sich langsam.

»Der König von Sidon?« wiederholte Andreas zweifelnd. »Oder wer denn? Wer denn?... Mein Gott, gib mir Klarheit! Astarte, dein Priester fleht zu dir und... seine Sinne verwirren sich!« Und mit einem bittern, höhnischen Lächeln fuhr er fort: »So erfüllt er sich denn in allem! Der Fluch, der den Schänder meiner Leiche treffen soll... Schon fühle ich, wie mir die Finger steif werden und wie meine Gelenke ihre Geschmeidigkeit verlieren. Aber bevor meine Glieder völlig erstarren, will ich der Mit- und Nachwelt noch sagen, wer ich bin! Zu fürchterlicher Mahnung!«

An die Wand gelehnt stand ein Karton, auf dem Hamdy Bey früher den Durchschnitt des ersten Schachts und der daran anliegenden Grüfte flüchtig skizziert hatte. Den nahm Andreas jetzt zur Hand und legte ihn auf den Tisch. Auf der noch leeren Rückseite malte er bedächtig seltsame Zeichen: Haken, kantige Striche und runde Linien.

Er erledigte die Arbeit mit angespannter Aufmerksamkeit und anscheinend mit vollkommener Ruhe. Es schien, als habe er nun alles vergessen, was ihn soeben noch bewegt hatte.

Er saß steif und gerade. Die Beine und Füße hatte er fest aneinander geklemmt, so daß sich Knie und Knöchel und Ballen berührten. Den linken Oberarm hatte er an die Seite gedrückt, und die Fläche der linken Hand dicht an den Oberschenkel gepreßt, während er mit der Rechten langsam die spitzen Winkel und Zacken und Rundungen malte, ruckweise wie ein Automat. Die Lippen hielt er geschlossen, und kein Muskel seines steinernen Gesichts zuckte.

Nun hatte er seine Schrift vollendet. Er erhob sich, als würden seine Bewegungen von unsichtbaren Drähten regiert. Er löschte die Lampe. Das hellgrünliche Licht des anbrechenden Sommertags drang durch das Fenster. Er nahm den Karton unter den Arm und schritt nun mit erhobenem Haupte majestätisch in sein kleines Schlafgemach, dessen Tür er hinter sich verschloß.

Hassan war auf der Schwelle des Kiosk eingeschlafen. Als der erste Strahl der aufgehenden Sonne auf ihn fiel, fuhr er jäh auf. Er war beruhigt, als er sah, daß, die Lampe im Mittelzimmer gelöscht war. Der Herr hatte sich also zur Ruhe begeben. Vorsichtig öffnete der Alte die Tür. Das Essen stand noch unangerührt da. Er horchte an der Tür zum Nebengemach. Kein Laut. Der Herr schlief.

Der Herr schlief lange und fest. Kein Wunder nach einem Tage wie dem gestrigen!

Der Herr schlief noch immer, als der Kawaß des Generalkonsuls nun schon zum zweiten Male bei Hassan sich erkundigte, ob er denn keine Botschaft des Professors nach Beirut mitzunehmen habe. Sein Herr habe ihm ausdrücklich anbefohlen, darauf zu warten. Er wolle nicht unverrichteter Sache heimreiten, aber er könne auch nicht länger verweilen.

Hassan schlich wieder in den Kiosk und legte das Ohr an die Tür.

Achselzuckend brachte er Bescheid: der Herr schlief noch immer...

Während sich die beiden nun berieten, ob der Bote noch bleiben oder davonreiten solle, kam Mehmed Scherif bei seinem Morgenspaziergange am Kiosk vorüber. Hassan trug ihm die Sache vor.

»Ich werde den Herrn wecken«, sagte Mehmed Scherif nach kurzem Besinnen.

Er trat geräuschlos in den Kiosk ein und drückte die Klinke an der Tür zu Andreas' Schlafgemach behutsam nieder. Die Tür war verschlossen. Sonderbar! Der Professor pflegte sich doch sonst nicht einzuschließen!

Mehmed klopfte leise... keine Antwort.

Er klopfte etwas stärker... keine Antwort.

Er klopfte laut... Er pochte und rief... Er schlug mit der Faust an die Tür und schrie... keine Antwort.

Der Kawaß und Hassan waren herangetreten.

Die drei sahen sich groß an.

»Erbrich die Tür!« befahl Mehmet Scherif.

Der alte starke Hassan stemmte sich mit aller Kraft an die leichtgezimmerte Tür. Die Bretter ächzten und krachten. Er drückte den lose eingefügten Bügel aus den Pfosten, und die Tür sprang auf.

Die drei blieben betroffen stehen.

Auf seinem Lager ausgestreckt lag Andreas da, auf dem Rücken. Um den Kopf hatte er ein Tuch gebunden, das die Haare völlig und die Stirn fast bis zu den Brauen faltenlos bedeckte und hinter den Ohrmuscheln, die unverhüllt blieben, an beiden Seiten in gleicher Länge glatt auf die Brust herabgezogen war. Die verglasten Augen standen weit auf und starrten wild und schauerlich grimmig in die Leere. Der Mund aber war halb geöffnet, wie zu einem müden Lächeln, das dem Antlitz des Toten etwas Mildes und Versöhnliches gab. Er hatte das Leintuch über die Schultern gezogen und die Arme hart an die Seiten gepreßt. Das weiße Tuch umhüllte dicht anliegend den Körper des Entseelten, dessen Formen sich in den wenigen Falten nur andeutungsweise abzeichneten. Die beträchtliche Erhöhung unten zeigte jedoch deutlich die auf die Fersen gestützten Füße mit den nach oben gerichteten Spitzen der Zehen. Da, am Fußende des Lagers, stand ein weißer Karton mit einem architektonischen Riß auf der einen und semitischen Schriftzeichen auf der andern Seite.

Die Leichenstarre war schon eingetreten. Die Sonne beleuchtete goldig den Toten.

Mehmed Scherif war tief ergriffen, und dem alten Hassan liefen die Tränen in den grauen Bart.

Noch am selben Tage sattelte Dr. Goldap, dem der Kawaß die traurige Nachricht vom Tode des deutschen Gelehrten überbracht hatte, sein Pferd und ritt nach Sidon. Am anderen Tage überführte er die Leiche nach Beirut und ließ sie dort auf dem christlichen Kirchhofe beisetzen.

Der Geistliche schloß sein Gebet mit den Worten: »Er ist zur ewigen Ruhe eingegangen. Amen!«...

*

Ein Vierteljahr war seitdem vergangen. Es fügte sich, daß das gastfreie Haus des deutschen Generalkonsuls wieder einen jungen Archäologen beherbergte, der sich durch seine gründliche Kenntnis der semitischen Sprachen in fachwissenschaftlichen Kreisen einen guten Namen gemacht hatte und in offizieller Mission das Gebiet des alten Phöniziens bereiste. An einem schönen Herbstabend saßen Goldaps mit ihrem Gaste behaglich plaudernd auf dem altanartigen Vorbau, von dem eine Treppe in den Garten hinabführte.

»Haben Sie Andreas Möller gekannt?« fragte Frau Goldap.

»Persönlich nicht. Aber sein Name ist mir natürlich bekannt. Hamdy Bey hat ihm mit seinem Nekrologe in der ›Revue archéologique‹ ein herrliches Denkmal gesetzt. Möller ist ja wohl in Sidon selbst gestorben?«

»Und wir haben ihn hier begraben!« sagte Frau Goldap. »Ich habe ihn freilich nur einmal im Leben gesehen, aber ich habe ihn nicht vergessen. Er machte auf uns beide einen ungemein sympathischen Eindruck. Wir sprechen noch oft von ihm.«

»Er starb ganz plötzlich?«

»Ja ... und nein! Er hatte sich bei den Ausgrabungen überanstrengt, die Sommerhitze war mörderisch ... er hatte schon ein paar Wochen gekränkelt ...«

»Und da kam noch ein bißchen Liebesgram dazu,« fiel der Konsul ein, »und da war es aus.«

»Liebesgram?« fragte die junge Frau. »Das ist doch bloß eine Vermutung von dir?«

»Mehr als eine Vermutung. Ich habe nur nicht davon sprechen wollen. Ich habe den Brief, den ich ihm am Tage seines Todes übersandte, bei ihm gefunden. Er hatte ihn längst ungeduldig erwartet. Ich warf einen Blick hinein. Die ersten Worte sagten mir, daß der Brief Möller wahrscheinlich Schmerz bereitet hat. Ich habe ihn natürlich vernichtet.«

»Der arme Mensch!« sagte die junge Frau mit wirklicher Trauer.

»Ja, der arme Mensch!« wiederholte der Gast. »Aber zu beklagen ist er gleichwohl nicht. Sein tragischer Tod hat in unserer Gelehrtenwelt die schmerzlichste Teilnahme geweckt. Die Auffindung des Tabnit-Sarkophags mit der wertvollsten phönizischen Inschrift, die wir überhaupt besitzen, hat seinen Nachruhm für alle Zeit gesichert.«

»Ist Ihnen bekannt, wie wir ihn tot aufgefunden haben?« fragte Goldap.

»Nein«, antwortete der Archäologe. »Darüber ist wohl nichts veröffentlicht worden?«

»Ich glaube kaum. Es war sehr merkwürdig! Er hatte sich selbst eingebettet, wie ein alter Ägypter in seinen Mumienschrein. Als ich ihn sah, mußte ich unwillkürlich an einen anthropoiden Sarkophag denken. Am Fußende seines Lagers hatte er einen Karton angebracht mit Schriftzeichen, ganz im Charakter der phönizischen. Eine Inschriftenspielerei noch in den letzten Stunden, der grausige Humor eines sterbenden Gelehrten! Ich habe den Karton übrigens mitgenommen und aufbewahrt. Wenn Sie ihn sehen wollen...«

»Es würde mich lebhaft interessieren.«

Nach einigen Minuten brachte Goldap den Karton.

Der Archäologe betrachtete ihn lange und mit großer Aufmerksamkeit. Die schöne Gestaltung der phönizischen Schriftzeichen erfreute sein Herz.

Er wandte keinen Blick von dem Blatte. Mit den Fingern der beiden Hände betupfte er bald einzelne Zeichen, bald größere Gruppen derselben.

Endlich sagte er ernst: »Das ist keine Spielerei! Es ist eine schön gebildete und, wie ich glaube, auch ganz korrekte Inschrift.«

»Und es ist Ihnen gelungen, sie zu entziffern?« fragte Frau Goldap.

Der Archäologe nickte und sprach langsam, während er mit der Rechten größere Gruppen der Zeichen zusammenfaßte und so von rechts nach links tastend die drei Zeilen ablas, mit fast feierlichem Ausdrucke:

»Wage niemand meine Ruhe zu stören! Ich bin der König von Sidon!«


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