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Elftes Kapitel.
Das Wrack

Die Familien Göhring und Stormarn saßen beim Frühstück, zu welchem der Graf mit verbundenem Kopfe und äußerst schlechter Laune erschienen war. Er wollte am vergangenen Abend auf der Treppe vom Unter- zum Oberland »ausgerutscht und ganz … mäßig gegen eine Steinbank gefallen« sein. Eigentlich bedauert wurde er von niemanden, am wenigsten von seiner Gattin, die innerlich überzeugt war, der Fall sei die Folge irgend einer nächtlichen Kneiperei. Daß Theodor den »Fall« durchschaute, ahnte der Graf nicht im entferntesten.

Noch gereizter erschien übrigens die Chanoinesse. Sie erklärte nach einer längern Suada: »Sie werden es begreifen, verehrte Directorin, daß hier meines Bleibens nicht sein kann. Ein Haus, in welchem die Nachtruhe einer alten Dame durch bewaffnete Diebe gestört wird, ist kein Aufenthalt während einer Badekur. Meine Nerven sind durch diese affreuse Nacht vollständig derangirt. Ich überlege nur, ob ich mich zur Abreise rüste oder ein changement de logis vornehme.«

Theo hielt es für das gerathenste, vorläufig die Entwicklung des Gespräches abzuwarten und sich nicht gleich zu verrathen.

Der Graf stimmte der Sprecherin bei: »Allenfalls würde ich dich begleiten, Tante. Ich glaube nicht, daß mir das maritime Klima auf die Dauer zusagt … weil, nun weil ich kolossal rheumatisch bin. Mathilde könnte ja bei den Eltern bleiben. Was meinen Sie, verehrte Mama?«

»Solche Pläne wollen wir doch nicht schon nach einem Tage machen! Das Wetter ist heute Morgen außerdem so stürmisch, daß wohl kein Dampfer kommen und gehen wird. Und was Ihre schlechte Nachtruhe angeht, liebe Gräfin …«

»›Schlechte Nachtruhe‹ ist sehr milde ausgedrückt, verehrte Directorin. Ich habe selten in meinem Leben so etwas ausgestanden.«

Der Director meinte: »Sollten Sie nicht doch vielleicht geträumt haben?«

»Ich bitte Sie. Wenn ich doch die Flinte auf dem Boden fand!«

»Die kann aus irgend einem Grunde vom Schranke gefallen sein.«

» Ça serait vraiment! Von selbst?«

»Wenn z. B. ein Luftzug die Zimmerthüre öffnete und hierdurch eine Erschütterung …«

»Ich bitte Sie. Ich habe ja den Dieb am Fenster stehen sehen!«

»Aber wir haben doch auf Ihren Alarm hin das ganze Haus von oben bis unten eine Stunde lang durchsucht. Die Hausthüre war verschlossen, nirgends die geringste Spur von einem Eindringling zu entdecken.«

» Quand même, ich traue meinen Sinnen.«

»Man kann ungeheuer lebhaft träumen, verehrte Gräfin.«

»Ja,« rief der Carlito, »mir hat geträumt von einem großen Walfisch, der mich fressen wollte. Ich hab' ihm aber immer ins Gesicht gespuckt, bis er wegschwamm.«

»Pfui, Carlito,« monirte die Direktorin; »das Wort gebraucht man nicht.«

» Gran madre, Papa sagt auch immer ›Walfisch‹.«

»Aber ›spucken‹ sollst du nicht sagen, Kind.«

»Da sagst du es ja selbst, gran madre.«

»Hahahahoho!« lachte der Cyklop trotz seines erbärmlichen Zustandes.

»Jedenfalls«, fuhr die Chanoinesse fort, »weiß ich ein Traumbild von einer Realität zu unterscheiden. Die Thatsache steht fest, wenn sie auch mysteriöse ist.«

»Vielleicht kann ich eine Erklärung geben, gnädige Gräfin,« begann Theo schüchtern. Aller Augen richteten sich auf ihn.

Carlos meinte: »Du warst ja doch gar nicht zu Hause, als die Geschichte passirte. Wir haben ja auch in deinem Zimmer nachgesucht.«

»Wo es sehr unordentlich aussah,« fügte der Papa bei.

»Alles ganz schön. Ihr könntet euch aber doch irren. Was würden Sie sagen, gnädige Gräfin, wenn ich aus irgend einem Grunde bei Ihnen eingedrungen wäre …«

»Das ist impertinent!« fuhr die Chanoinesse auf.

»Ich gebe es zu. Ich dachte aber, daß Sie …«

»Es ist impertinent von Ihnen, Theodor, daß Sie nun auch noch Ihre unmögliche Interpretation zu dem Dutzend Lesarten hinzufügen, die man mir schon als calmants für meine Nerven verabreicht hat. Es soll Anke, der dienstbare Geist, gewesen sein; dann die Mohrin von Madame Dolores; dann ein großer Kater; dann ein Traumbild; und nun kommen Sie, Theodor, und behaupten … mon Dieu, schämen Sie sich doch, ich bin eine alte Dame! Lassen Sie Ihre Studentenwitze zu Hause!«

Natürlich lachte sich Waldemar weidlich aus, als er seine Tante so reden hörte.

»Es war aber doch Onkel Theos Finte, die auf dem Boden lag!« rief Carlito.

»Flinte, nicht Finte heißt es,« belehrte der Director.

Die Chanoinesse aber behauptete: »Der Knabe hat ganz recht; die Erklärung ist eine elende Finte. Ich will nichts mehr von der Schreckensnacht hören und werde mir überlegen, ob ich mein Logis wechsle.«

»Gnädige Gräfin,« begann Theo abermals, »wenn Sie mich nun trotzdem am Fenster haben stehen sehen. Ich wollte …«

»Es wird mir zu viel, Theodor. Menagiren Sie sich! Ich erkläre Ihnen, daß ich einen Schiffer – verstehen Sie mich: einen Schiffer mit Mütze und leinenem Ueberhemd – am Fenster gesehen habe.«

Theodor wollte verrathen, daß er in Schifferkleidung gewesen sei; aber da that sich die Thüre auf, und Anke meldete: »Der Herr Dr. von Sechow bittet, die Herrschaften beim Frühstück stören zu dürfen.«

»Er stört gar nicht. Bitten Sie ihn herauf,« sagte der Director; »das heißt, wenn Sie nichts dagegen haben, Gräfin.«

»Ich ziehe mich zurück. Ich muß einen Spaziergang machen, um meine Kopfnerven zu beruhigen. Madame Dolores, wollen Sie mir Ihren Knaben zur Begleitung mitgeben?«

»Wenn er Ihnen nicht zu lebhaft ist, Frau Gräfin …«

» Mon Dieu, ich bin doch auch keine Dormeuse!«

Erneute Heiterkeit Waldemars.

Dolores erklärte lächelnd: »Der Chico wird Ihnen zu viel dummes Zeug vorschwatzen.«

»Kinder sind stets interessant, Madame. Carlito, willst du Tante Stormarn begleiten?«

»Wenn du mir eine angenagelte Seemöve kaufen willst.«

»Schäme dich, Chico,« sagte der Papa.

»Was meint er?« fragte die Gräfin.

»Ach,« erklärte Dolores, »er hat gestern in einem Laden ausgestopfte Möven gesehen. Er will durchaus eine solche haben.«

»Ja,« rief Carlito, »sie waren auf einem Kasten angenagelt.«

Die Gräfin amüsirte sich. Als sie sich erhob, versicherte sie: »Du sollst so ein joujou bekommen!«

»Nein, eine Möve will ich, kein Schuschuh!«

»Jawohl, eine Möve!«

Unter allgemeiner Heiterkeit zog die Stiftsdame mit dem kecken Knaben ab. Mathilde, die beim Frühstück kein Wort geredet hatte – wie sie denn fast den ganzen Tag »abgespannt« war –, verließ ebenfalls das Zimmer, um sich eine Stunde nach dem Aufstehen wieder »hinzulegen«.

»Mathilde ruht sich vom Frühstück aus,« grinste der Graf, der sich überlegte, wie und wann er den Director am besten von seinen Finanzen unterrichten könne. Vorläufig erschien aber das Lexikon.

»Sie sitzen hier noch beim Kaffee?« rief Sechow, »noch beim Frühstück, und draußen werden wir in wenig Augenblicken die Strandung eines großen Dampfers erleben!«

»Wie? was? Ein Dampfer gestrandet?« Alle sprangen auf.

»Noch nicht gestrandet. Er wird binnen einer viertel Stunde stranden.«

»Entsetzlich!« schrie Dolores. »Wie können Sie das wissen? Santa Maria!«

»Wie interessant!« rief die Directorin. »Das muß ich sehen!«

Sechow berichtete: »Vor etwa drei viertel Stunden sah man einen Steamer von Nordnordwest einen ganz merkwürdigen Curs auf die Insel zu halten. Er steuerte geradenwegs auf die unterseeischen Klippen, die in der Verlängerung der Nordspitze liegen. Die Schiffer meinten, er habe entweder gar keine Specialkarten oder wolle die einzige schmale Durchfahrt zwischen Insel und Düne benutzen, eine Passage, welche wegen der Enge der freilich ziemlich tiefen Wasserrinne sehr gefährlich ist. Es sind mehrere Lotsenboote entgegengesegelt, um sich dem Kapitän anzubieten. Wegen des starken Nebels, der seit 20 Minuten auf der Stelle liegt, kann man nicht sehen, wo die Helgoländer Boote geblieben sind. Bums! Hören Sie, das ist die Nebelkanone auf der Nordspitze! Kommen Sie hinaus, man meint, der Dampfer werde hinter der Wittkliff oder den Seehundsklippen auflaufen.«

Eilends holten alle die nothwendigste Garderobe, und dann ging es über die Falm bis zur Ecke am obern Treppenkopfe, von wo schon viele Badegäste der Scene zuschauten. Die Schiffer und Fischer waren meistens auf dem Unterlande am Strande und auf dem Pier versammelt. Dorthin begab sich auch Theo. Bumm – Bums! hallte wieder ein Warnungsschuß über das Wasser. Nach Norden zu stand eine dichte Nebelbank, aber der Dampfer hatte dieselbe bereits hinter sich und tanzte auf den Wellen wie ein Stück Kork. Er hielt jetzt den Curs auf die gefährlichsten unsichtbaren Klippen zwischen Sanddüne und Felseninsel. Wenn er so beiblieb, mußte er, das sah jeder in die Topographie der Gegend Eingeweihte, binnen wenigen Minuten festgefahren sein. Die See war stark bewegt, und nah und fern leuchteten die weißen Schaumköpfe der vom Sturm gepeitschten Wogen auf. Einen Augenblick erschien die Sonne und färbte einen Streifen der sonst fast schwarzen Meeresfläche durchsichtig hellgrün. Aber zwei oder drei Minuten später war wieder alles in die stahlgrauen Tinten der Gewitterböe gehüllt.

Theo nahm sein Glas und beobachtete den Dampfer. »Er hatte ja gar keine Lotsenflagge gesetzt,« äußerte er zu einem Schiffer, der bei ihm stand.

»Nee, Herr. Der Kerl hat obendrein abgewiesen. Er will keinen Lotsen, hat er signalisirt. Wird ihm schlecht bekommen, daß er die paar Thaler sparen will!«

»Wo sind denn die Helgoländer Boote?«

»Sehen Sie se nich? Halten Sie Ihr'n Kieker mal zwei Strich mehr östlich – sehen Sie nich vier Böte?«

»Zwei – drei – – ja, jawohl, dort ist das vierte! Himmel, das ist ein Seegang!«

»Is es auch. Zum Spaß geht keiner 'raus, den Generalkunsel ausgenommen. Der Seebär is mit seinem Mittelboot all 20 Minuten fort. Er muß dat allens mit erleben. Is 'n forschen alten Herrn.«

»Sind nur vier Lotsenboote heraus?«

»Nee, fünf. Aberst die fünfte Schlupp kann ich nich find'n.«

»Wessen Schaluppe ist es?«

»Pehr Larssen sien Schlupp.«

»Ist da nicht Hans Payens mit drin?«

»Ich glaub woll, Herr. Ich weiß aber nich gewiß.«

»Payens und Peter Döhren fischen doch im Winter mit Larssen, nicht?«

»Ich glaub woll, Herr. Weiß ja aber nich.«

Theo wurde unruhig. Er ging zu einer Gruppe junger Burschen: »Hat einer von euch Hans Payens heute Morgen gesehen?«

»Jawohl, Theo. Er ist mit bei'n Auslosen gewesen. Ob ihn aber das Los traf, weiß ich nich. Wenn er mit is, is er in Larssen seine Schlupp.«

»Kannst du das Boot sehen. Nick?«

»Woll. Es is weit von den andern vier Böten ab – grad vor dem Damper.«

Durch das Glas konnte Theo die Schaluppe erkennen, aber nicht ihre Bemannung.

Das fünfte Boot schien noch einmal den Versuch zu machen, dem Dampfer einen Revierlotsen anzubieten. Nach wenig Augenblicken hatte der qualmende Riese es jedoch eingeholt und dann offenbar seine Hilfe abgewiesen, denn die Schaluppe suchte sich den andern vier allmählich wieder zu nähern. Die zur Rettung bereiten Boote kreuzten sodann etwa eine viertel Seemeile vom Dampfer entfernt, um bei der unvermeidlichen Katastrophe zur Hand zu sein. Das dem Verderben geweihte Schiff bot einen schaurig schönen Anblick dar. Mit voller Dampfkraft und zugleich vom Winde wie von der Strömung unterstützt, eilte es auf die heimtückischen Klippen zu. Bald war der ganze Schiffsleib auf einem gewaltigen Wasserberge sichtbar, bald sank der schwimmende Bau tief in ein gähnendes Thal hinab, sodaß nur der Rauch und die Masttoppen Kunde von seinem Dasein gaben. Immer näher rückte die gefährliche Stelle, immer wahnsinniger schien das Beginnen des Kapitäns, dessen Haltung man sich nur aus frevelhaftem Uebermuth oder als sinnlose Trunkenheit zu erklären vermochte; denn wenn die lauernden Felsen auch nicht hoch aus dem Meere emporragten, so deutete doch die über der Untiefe brandende See selbst dem minder geübten Auge das Verhängniß deutlich an. Bumm! Rumm! dröhnte abermals der Signalschuß durch die schwere Luft. Da stand das Unglücksschiff plötzlich einige Sekunden unbeweglich still, und um seinen Bug herum schäumte und wogte wirbelnder, dampfender Schaum.

»Er dreht! er dreht!« rief Theo.

»Er sitzt!« antwortete einer der Schiffer kalt und wandte den Rücken, als ob er damit andeuten wollte: Nun bin ich befriedigt.

Das Schiff bewegte sich in der That nicht mehr vorwärts, sondern versuchte mit Contredampf aus der Umarmung des grausamen Feindes zu entfliehen. Umsonst. Die tückischen Felsen hielten ihre Beute fest. Alles Rütteln der Schraube, alles Stampfen der Maschine war vergeblich. Die Brandung warf den schwarzen Koloß nach kurzer Zeit auf die Backbordseite, und dann stürmte eine Schlachtreihe der weißen Wellenrosse nach der andern, von dem wüthenden Sturme gepeitscht, auf das Deck und riß alles in die Tiefe, was keinen Widerstand zu leisten vermochte. Der Qualm des Schornsteins vermischte sich in unheimlicher Weise mit dem Nebel und der sprühenden Salzfluth, so daß man bald auf der Unglücksstätte nichts sah als eine graue, wirbelnde Masse von Dunst und Schaum. Als sich die Scene klärte, waren von dem Dampfer nur noch der Vorderteil und die Masten erkennbar. Der ganze Hintertheil bis zum Schlote war bereits der See zum Opfer gefallen. Ein gewaltiger Leck mußte also den Untergang des Schiffes beschleunigen. Aber schon eilten die Helgoländer Lotsenboote zur Stelle. Selbst durch das Glas konnte man ihre Rettungsarbeiten nicht genau verfolgen. Von der Insel aus trat der Raketenapparat in Thätigkeit; aber da nach etwa 20 Minuten auch die Toppen zu versinken drohten, so konnte man die für den Rettungskorb bestimmte Leine nirgends mehr in geeigneter Weise befestigen, und den Schaluppen mußte der ganze Rest der schweren Arbeit zufallen.

Zum guten Glück verzog sich der Nebel mehr und mehr, die Gewalt des Sturmes nahm dagegen eher zu. Der Inselstrand, die Brücke, die ganze Falm sowie alle geeigneten Aussichtspunkte waren mit Schaulustigen und Neugierigen besetzt. Eine halbe Stunde nach der Katastrophe – und keine Spur mehr von dem Dampfer. Eine Stunde – und das erste Rettungsboot langte am Strande an. Theo drängte sich zur Stelle. Es war nicht die Schaluppe, die er suchte.

Todmüde, und trotz ihrer Oelkleidung bis auf die Haut durchnäßt, schifften die braven Piloten die Geretteten aus und wankten dann in ihre Wohnungen, wo die Frauen heißen Grog und trockene Kleider bereit hielten.

Der Dampfer war ein Kohlenschiff gewesen, von Newcastle nach der Elbe bestimmt, zwischen 25 und 30 Mann Besatzung und außerdem einige Passagiere. Es stellte sich in der That heraus, daß der Kapitän betrunken gewesen war und trotz seiner ungenügenden Karten allein die Elbmündung zu finden meinte.

Das zweite, das dritte Rettungsboot landete. Noch kein Hans! Theodor hielt aus, bis die letzte Schaluppe die Insel erreicht hatte. Mit tödtlichem Schrecken gewahrte er, daß Hans nicht ans Land stieg.

»Wo ist Hans Payens?« fragte er einen Schiffer, welcher zur Bemannung dieser Schaluppe gehörte.

Müde und kaum im stande, aus den Augen zu schauen, erwiderte der Mann: »Sie werden ihn aufgefischt haben. Ja … ich bin sicher, ein Boot war in seiner Nähe! Er muß schon an Land sein.« – Damit verschwand er.

Aber Hans, das wußte Theo, war nicht an Land, und keine Schaluppe mehr draußen. In höchster Aufregung rannte Theodor am Strande hin und her, um Aufklärung zu erhalten. Doch die Leute, welche er fragte, können ihm keinen Bescheid geben. Das Wrack nimmt auch das erste Interesse in Anspruch. Einzelne Abtheilungen rüsten sich bereits, zur Bergung treibender Güter und Hölzer wieder hinauszusegeln. Für Theodor, der an Hans' Vorahnung von einem Unfall denkt und beständig die schreckliche Scene in seiner Phantasie herumträgt, hat niemand ein Wort der Theilnahme. In seinem Herzen sieht es trostlos und trübe aus, gerade wie am regenschwangern Himmel. Feucht und kalt umschauert ihn der unfreundliche Wind; die Füße frieren ihm vom langen Stehen und Harren und wollen auch beim Gehen nicht wieder warm werden. Die Augen schmerzen vom unentwegten Ausspähen in die Ferne. Ein eisiges Gefühl macht sich an den Schläfen bemerkbar. Worte, die in der Nähe gesprochen werden, klingen wie Laute aus weiter Ferne ans Ohr. Theodor fühlt, daß ihm schlecht wird. Schwindel packt ihn, instinctmäßig faßt er nach einem Pfahl, der zu seiner Rechten am Wege steht. Er kann jedoch die Entfernung nicht mehr berechnen und greift zu kurz. Taumelnd sinkt er zu Boden und verliert das Bewußtsein – – –

Drei Stunden später erwacht er aus festem Schlummer. Aber nur ganz allmählich kann er sich Rechenschaft geben von dem, was um ihn her vorgeht. Er hört eine sanfte Stimme sagen: »Mrs. Göhring, ich versichere Ihnen, ich verstehe mich auf die Krankenpflege. Ich habe meinen Bruder zwei Jahre lang gepflegt.«

Die Stimme von Dolores antwortet: »Nein, Miß Douglas, Sie sind zu jung, um das schwierige Amt zu übernehmen. Meine Schwiegermutter und meine Schwägerin würden es überhaupt nicht zugeben. Ich bin eine verheiratete Frau; lassen Sie mir die Stelle!«

»Sie sind zu schwach, und das kalte Klima sind Sie auch nicht gewohnt.«

» Oh no, Miß Douglas, ich bin ganz am Platze hier. Meine Babuna unterstützt mich.«

»St! meine edlen Damen,« mahnt eine männliche Stimme, »Sie wecken unsern Freund mit Ihrem Wettstreite. Lassen Sie die Frau Director entscheiden, wenn sie wieder kommt.«

Theo schlägt die Augen auf: »Doctor, wo bin ich?«

»In Ihrem Bette, Freund,« versetzt Dr. von Sechow, und die beiden Damen schleichen hurtig in das Nebenzimmer.

»Ist das letzte Boot an Land?«

»Welches Boot?«

»Larssen seine Schaluppe. Geben Sie mir das Fernglas! Doctor, wir brauchen keine drei Reffe! Wir segeln zu langsam – mehr Leinen bei dem bißchen Wind, Hans ertrinkt ja, ehe wir zur Stelle sind!«

»Halten Sie sich ruhig, Theo …«

»Erst will ich den Freund retten. Das ist meine Pflicht. Warum setzen wir keine Focksegel?«

»Bleiben Sie still, Theo! Sie sind nicht im Boote, Sie sind in Ihrem Bette … hier, trinken Sie mal!«

Gierig schlürft der junge Mann den erfrischenden Trank, den ihm Sechow an die Lippen hält.

In dem Augenblicke trat der Badearzt in die Thür: »Mein Gott, Sie reichen ihm zu trinken? Was geben Sie ihm da?«

»Einen Fiebertrank nach meinem eigenen Recepte, der mir in Westafrika ausgezeichnete Dienste geleistet hat.«

»Nach Ihrem Recepte?«

»Ja, wenn Sie erlauben. Sehen Sie, das hat dem Kranken gut gethan.«

»Ich stehe nicht für die Folgen ein,« erklärte der Arzt kopfschüttelnd.

»Ist auch nicht verlangt. So – da der Herr Director Göhring Ihnen die Behandlung übergeben hat, trete ich Ihnen den Kranken nunmehr ab. Sie werden indessen gestatten, daß ich bei meinem Freunde bleibe.«

Theodor fragte abermals: »Wo bin ich?«

»In Ihrem Bette, in der Villa Hansa.«

Bei dem Worte »Hansa« verstand Theo etwas Naheliegendes: »Wo ist Hans?« Dabei richtete er sich im Bette auf.

»Zu Hause, Freund.«

»O,« sagte Theo mit einem Seufzer, »und ich habe ihn nicht gesehen.«

Die Gedanken gingen ihm wieder durcheinander. Er fing an, von Schiffbruch, Selbstmord und feurigem Wasser zu phantasiren. Der Badearzt schrieb ein Recept, nachdem er ihn lange beobachtet hatte. Dann fragte er: »Wer wird für ihn sorgen?«

»Ich,« erklärte Sechow.

»Wäre nicht eine weibliche Hand wünschenswerth?«

»Ich finde schon eine Dame aus der Familie, die mir hilft.«

»Gut, aber lassen Sie nicht zu viele ins Zimmer; das regt den Kranken nur auf. Ich komme heute Abend wieder vor. Eine eigentliche Gefahr sehe ich nicht. Sie sind gut mit dem jungen Herrn bekannt, nicht wahr?«

»Sehr gut.«

»Ich glaube, daß er schwache Nerven hat.«

»Wenigstens sind seine Nerven sehr angegriffen.«

»Also bis später, Herr Doctor!«

»Habe die Ehre, Herr Doctor!«

Sechow ließ zwar gewissenhaft die von dem behandelnden Arzte verschriebene Medicin besorgen, kurirte aber trotzdem mit seinem eigenen Fiebertranke weiter und erzielte so gute Resultate damit, daß Theo gegen Abend ziemlich klar wurde. Seine erste Frage war wieder: »Doctor, wo ist Hans?«

»Wahrscheinlich zu Hause.«

»Sind Sie gewiß?«

»Ich denke.«

»Ich fürchte, er sei ertrunken.«

»Das habe ich mir gedacht. Nein, er hat Sie selbst auf das Oberland getragen.«

»Wer? Hans?«

»Freilich. Hans und ich.«

»War er denn nicht bei dem Dampfer?«

»Freilich.«

»Jemand sagte mir … ja, was hörte ich denn? Ich kann mich nicht mehr besinnen.«

»Regen Sie sich nicht auf. Versuchen Sie zu schlafen!«

»Ist er nicht ins Wasser gefallen? Er kam ja nicht mit der Schaluppe zurück!«

»Der Seebär war mit seinem Boote in der Nähe. Die haben ihn gerettet. Er kam gerade ans Land, als Sie beim Musikpavillon umsegelten.«

Jetzt kam Theodor alles deutlich zum Bewußtsein.

»Wer hat mich gefunden?«

»Zuerst der Gouverneur und Miß Douglas. Dann kamen wir hinzu, und Hans und ich haben Sie herausgeschleppt.«

»O, Hans lebt! Aber warum kommt er nicht?«

»Er wird morgen kommen.«

»Ich will aufstehen und zu ihm.«

»Das wäre! Sie bleiben hübsch liegen. Ihr Freund kommt schon.«

»Wann?«

»Morgen, denk' ich. Nun schlafen Sie aber mal, Freundchen!«

Theos Geist schien plötzlich zu wandern. Sechow bereute schon, so viel mit dem Kranken gesprochen zu haben. Andererseits schien es ihm aber doch gut, seine ängstlichen Fragen nach Hans beruhigend zu beantworten. Die Auskunft, welche Sechow gab, war richtig; aber einen Punkt verhehlte er geflissentlich: Hans hatte, nachdem er Theo mit hinaufgetragen, plötzlich Blutspeien bekommen.

Nachdem er beim Reffen eines Segels der Schaluppe über Bord gestürzt war, mußte er eine Viertelstunde mit den Wellen kämpfen, bis es den Schiffern des Generalconsuls gelang, ihn zu retten. Durchnäßt und überaus erschöpft kam er ans Land und half darauf sofort, den ohnmächtigen Freund in die Villa zu schaffen. Die Anstrengung war zu groß. Als man Theo kaum auf sein Lager gebettet hatte, mußte der schnell herbeigerufene Badearzt sich auch mit dem jungen Schiffer beschäftigen. Mit bedenklicher Miene schickte er ihn heim. Er solle sich ein paar Tage ruhig im Bette halten, und wenn er wieder aufstehe, keine schwere Arbeit thun. Da der Badearzt bemerkte, ein wie großes Interesse Herr von Sechow an Payens nahm, wandte er dem letztern besondere Aufmerksamkeit zu.

So lagen denn beide Freunde krank zu Bette; doch Theodor durfte vorläufig noch nicht wissen, wie es um seinen Kameraden stand.

Dolores Göhring und Miß Douglas hatten am nämlichen Tage noch einen zweiten edeln Streit über die Frage, wer Dr. von Sechow an dem Krankenbette ablösen sollte. Alle Welt wunderte sich, daß die siebzehnjährige Engländerin ein so reges Interesse an Theo nahm und so resolut voranging. Sie wich der Spanierin erst, nachdem Lady O'Brien es für unpassend erklärt hatte, daß eine junge Dame, deren Beruf die Krankenpflege gar nicht sei, einen wildfremden Herrn warte, zumal wenn der Kranke über die Hilfe von Mutter, Schwester und Schwägerin verfügen könne. Allerdings handelte es sich praktisch nur um Dolores, denn die Directorin hatte sich vom Arzte warnen lassen, den Erfolg ihrer eigenen Badekur durch allzu große Aufopferung am Krankenbette ihres Sohnes in Frage zu stellen, und Gräfin Mathilde, die ohnehin der Ruhe und Schonung bedurfte, hielt es geradezu für »unverantwortlich ihrem Gatten gegenüber«, wenn sie nicht alles vermeide, was ihre Nerven noch mehr aufregen könnte.

Miß Douglas und Dolores wurden durch das Ereigniß übrigens schnell gute Freundinnen. Theo war schwächer, als man anfangs glaubte, und mußte fast eine Woche das Bett hüten. Täglich kam die junge Engländerin vom Government-House herüber und erkundigte sich bei Dolores, wie es mit dem Kranken stehe. Die beiden Damen unterhielten sich dann über dieses und jenes und lernten einander verstehen. Bald hatte die Spanierin Beweise für ihre Vermuthung, daß die Miß in Theo nach allen Regeln verliebt war.

Ethel Douglas war in Ostindien geboren, wo ihr Vater einen hohen Posten in der britischen Kolonialverwaltung bekleidete. Früh starben beide Eltern, und Ethel mit ihrem einzigen Bruder Harry wurde nach England zu dem kinderlosen Bruder ihres Vaters geschickt, um dort erzogen zu werden. Der Earl und seine Gattin nahmen die Waisen mit großer Herzlichkeit auf und wandten ihnen alle erdenkliche Liebe zu. Harry galt als Erbe aller Titel und Besitzungen des Earls of Cantire and Arran; denn nach seinem Oheim war er der letzte Sproß dieser Linie des alten schottischen Geschlechtes Douglas. Indessen starb der zarte Jüngling im Alter von 16 Jahren nach längerem Krankenlager, und Ethel blieb der einzige Trost ihrer tiefbetrübten Pflegeeltern. Als Sir Terence und Lady O'Brien, die den Bruder des Earls in Indien gekannt hatten, mit dem Earl und Counteß Ethel zufällig in London zusammentrafen, sprach die Gouverneurin den Wunsch aus, das junge Mädchen einen Sommer bei sich auf Helgoland sehen zu dürfen. Ein Jahr nach dem Tode Harrys entsprach Ethel dieser Einladung. Sie war ein ernstes Mädchen mit reichen Gaben des Herzens und des Verstandes, selbständiger, entschlossener und lebenserfahrener, als ihre Jugend es ahnen ließ. Eine blendende Schönheit war sie keineswegs, aber eine durchaus vornehme und sympathische Erscheinung. Wegen ihrer ungezwungenen Liebenswürdigkeit und als einzige Nichte des reichen Earls of Cantire and Arran war sie von dem Momente an, wo ihr Onkel sie nach dem Drawing-Room im Buckingham-Palace in die Gesellschaft eingeführt, viel begehrt und viel umworben. Daß sie ihr Herz das erste Mal gelegentlich einer Sommerreise an einen deutschen Jüngling verlor, der noch ein unreifer Primaner und kaum ein Jahr älter war als sie selbst, erschien der kleinen Spanierin als ein halbes Wunder. Aber die Thatsache konnte man nicht mehr läugnen, obwohl Theodor selbst noch nicht die geringste Ahnung hatte, daß sich ein Mädchen für ihn interessire, dessen Schicksale dereinst wunderbar in sein eigenes Leben hineinspielen sollten.

Bei einem ihrer Besuche in der Villa Hansa traf Ethel die Spanierin gerade an, als diese eine kleine Kette mit vielen Kügelchen und einem Kreuz in der Tasche verschwinden ließ.

»Was ist das, Señora?« fragte die Engländerin überrascht, »beten Sie den Rosenkranz?«

»Freilich, Miß Douglas.«

»Ja – sind Sie denn Katholikin?«

»Gott sei gedankt, ja.«

»Ist Ihre ganze Familie katholisch?«

»Die meinige ist katholisch – die Familie meines Mannes nicht. Mein Kind ist auch katholisch.«

Ethel athmete erleichtert auf. Theo war also protestantisch, wie sie selbst. Sie versetzte: »Ich habe viel Gutes von Katholiken gesehen, obwohl ich ihren Glauben nicht theile. Ich bin eine Anglikanerin, aber von der kirchlichen Richtung, und hoffe, Señora, daß wir uns gut verstehen werden – auch in diesem Punkte.«

»Warum nicht?« sagte die Spanierin, »Sie sind ja ohne Ihre Schuld im Irrthum, Miß Douglas.«

Die Engländerin meinte piquirt: »Also für eine Ketzerin halten Sie mich doch, Señora?«

»Wenn Sie ohne Ihre Schuld den Irrthum bekennen, den redlichen Willen haben, der wahren Kirche Christi anzugehören, so …«

»So bin ich nur eine halbe Ketzerin?« lachte Ethel, durch die Miene der Sprecherin ein wenig außer Fassung gebracht.

»Nein, Señora,« erklärte Dolores ernst, »so gehören Sie zur Seele der katholischen Kirche, aber nicht zum Leibe derselben.«

»Dann ist ja alles gut.«

»Doch wohl nicht, liebe Miß – Sie sollten die volle Wahrheit besitzen.«

Ethel zog die Stirne in Falten und lenkte das Gespräch auf ein anderes Gebiet über. Sie dachte bei sich: Mit diesen Papisten kommt man doch nie zu einer Verständigung; sie wollen immer recht behalten und keinen Zoll breit von ihrer Position aufgeben.



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