George Meredith
Richard Feverel
George Meredith

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Vierzigstes Kapitel.

Klaras Tagebuch.

Sir Austin Feverel war zur Stadt gekommen mit der Heiterkeit eines Philosophen, der sich sagt: »Jetzt ist es Zeit«, und mit der Befriedigung eines Mannes, der nicht ohne Kampf dazu gelangt ist, das zu sagen. Er hatte seinem Sohne beinahe vergeben. Seine tiefe Liebe für ihn hatte seinen verwundeten Stolz und seine zähe Eitelkeit beinahe erschüttert. Regungen einer gewissen Sympathie für das Geschöpf, welches ihm seinen Sohn geraubt und das System verletzt hatte, fanden sich in seinem innersten Herzen. Das wußte er, und im stillen rechnete er sich seine eigne Milde hoch an. Die Welt aber sollte ihn nicht für milde halten, die Welt sollte denken, daß er noch immer nach einem System handelte. Denn was konnte seine 581 lange Abwesenheit sonst bedeuten? – doch nur etwas sehr Unphilosophisches.

So wurde er, obgleich seine Liebe stark war und ihn auf die rechte Bahn lenkte, durch die letzte Regung der Eitelkeit doch immer noch zur Seite gezerrt.

Der Aphorist durchschaute sich selbst so gut, daß es für ihn eine Notwendigkeit war, sich selbst etwas vorzutäuschen. So wie er wünschte, daß die Welt ihn sehen sollte, so versuchte er sich selbst zu sehen: als einen Menschen, der rein persönliche Gefühle gänzlich beiseite läßt: einen Menschen, dem die Erfüllung seiner Vaterpflicht, die er auf die Kenntnis des Lebens begründete, obenan steht: kurz gesagt, als einen wissenschaftlichen Menschenkenner.

Er war deshalb sehr überrascht über die kalte Art, mit der Lady Blandish ihn empfing. »Endlich!« sagte die Dame mit einem traurigen Ton, der vorwurfsvoll klang. Nun hatte sich aber der wissenschaftliche Menschenkenner doch gar nichts vorzuwerfen.

Aber wo war Richard?

Adrian behauptete bestimmt, daß er nicht bei seiner Frau wäre.

»Wenn er dorthin gegangen wäre,« sagte der Baron, »würde er mir nur um wenige Stunden zuvorgekommen sein.«

Dieses hätte Lady Blandish besänftigen müssen, als man es ihr wiederholte, und hätte ihr seine große Versöhnlichkeit zeigen sollen. Sie aber seufzte nur und sah ihn nachdenklich an.

Sie waren nicht glücklich in ihrer Unterhaltung und nicht sehr vertraulich. Die Philosophie schien ihr Gemüt nicht mehr zu fesseln; und schöne Phrasen fanden nur eine traurige Zustimmung, die schmeichelhafter für ihre Erhabenheit war, als für die Wirkung, die sie ausübten.

Die Tage vergingen, Richard zeigte sich nicht. Sir 582 Austins hoher Standpunkt der Selbstbeherrschung verlangte es, daß er den Jüngling ohne Zeichen der Ungeduld erwartete.

Da die Dame dieses erkannte, sagte sie ihm, was sie für Richard fürchtete und was für Gerüchte über ihn verbreitet wären.

»Wenn diese Person, seine Frau,« sagte der Baron, »so ist, wie Sie sie schildern, teile ich Ihre Befürchtungen nicht. Ich denke zu hoch von ihm. Wenn sie geeignet ist, ihn die Heiligkeit einer solchen Verbindung empfinden zu lassen, dann denke ich zu hoch von ihm. Es ist unmöglich.«

Die Dame sah nur noch einen Ausweg.

»Rufen Sie sie zu sich,« sagte sie. »Lassen Sie sie bei Ihnen in Raynham sein. Lernen Sie sie kennen. Es ist die Trennung und die Ungewißheit, die ihn so verwirren und ihn so wild machen. Ich gestehe Ihnen, ich hoffte, er wäre zu ihr gegangen. Es scheint, daß er es nicht getan hat. Wenn sie bei Ihnen ist, wird sein Weg klar sein. Wollen Sie es tun?«

Die Wissenschaft bewegt sich bekanntermaßen nur langsam. Lady Blandishs Vorschlag war für Sir Austin viel zu hastig. Die Frauen sind von Natur rasch und haben keine Ahnung von der Wissenschaft.

»Wir werden sie mit der Zeit dort empfangen, Emmeline. Fürs erste lassen Sie es zwischen meinem Sohn und mir sein.«

Er sprach hochmütig. In Wahrheit beleidigte es ihn, daß man von ihm verlangte, daß er etwas täte, grade in dem Augenblick, indem er sich überwunden hatte, so viel zu tun.

Ein Monat war vorüber, als Richard erschien.

Das Wiedersehen zwischen ihm und seinem Vater war nicht, was sein Vater erwartet und was er sich in 583 seinen wallisischen Bergen so melancholisch ausgemalt hatte. Richard schüttelte ihm achtungsvoll die Hand und erkundigte sich mit gewöhnlicher gesellschaftlicher Besorgtheit nach seinem Befinden. Dann sagte er: »Während deiner Abwesenheit, Vater, habe ich mir die Freiheit genommen, ohne dich um Rat zu fragen, etwas zu tun, was dich näher angeht als mich selbst. Ich habe es übernommen, meine Mutter aufzusuchen und sie unter meinen Schutz zu stellen. Ich hoffe, du wirst nicht denken, daß ich unrecht getan habe. Ich handelte so, wie es mir am besten schien.«

Sir Austin erwiderte: »Du bist in einem Alter, Richard, um in solch einem Fall für dich selbst zu urteilen. Ich möchte dich nur vor der Selbsttäuschung warnen, daß du irgend etwas anders als deine eignen Gefühle berücksichtigt hättest, als du so handeltest.«

»Ich täusche mich darüber nicht, Vater,« sagte Richard, und die Unterredung war zu Ende. Beide haßten es, ihre Gefühle zur Schau zu stellen, und in dieser Beziehung waren sie beide befriedigt, aber da der Baron seinen Sohn liebte, hoffte und erwartete er Töne zu entdecken, die auf Unruhe und innerste Herzensfreude deuteten, und Richard gab ihm nichts davon. Der junge Mann sah ihn nicht einmal an, als er sprach; und wenn ihre Augen sich zufällig trafen, war Richards Blick herausfordernd kalt. Sein ganzes Wesen war verändert.

»Diese übereilte Heirat hat ihn verändert,« sagte der sehr gerechte Mann der Lebensweisheit: und damit meinte er: »sie hat ihn verschlechtert.«

Er hing seinen Erwägungen weiter nach: »Ich sehe in ihm die schlimme Reife einer zu plötzlich reif gewordenen Natur, und hätte ich nicht den Glauben, daß ein gutes Werk niemals verloren gehen kann, was sollte ich dann von der Arbeit meiner Jahre denken? Verloren, vielleicht 584 für mich! Aber auch für ihn? Es wird sich vielleicht in seinen Kindern zeigen.«

Der Philosoph findet, wie wir sehen, auch Befriedigung darin, über die Untergebenen Segen zu verbreiten: aber für Sir Austin war es eine etwas bittere Aussicht. Bitter fühlte er das Unrecht, das ihm selbst zugefügt war.

Ein kleiner Vorfall sprach zu Richards Gunsten. Eine arme Frau sprach im Hotel vor, während er fort war. Der Baron empfing sie und sie erzählte ihm eine Geschichte, die einen Teil von Richards Natur in christlichem Lichte erscheinen ließ. Das konnte vielleicht den Vater in Sir Austin befriedigen, es berührte nicht den Mann der Wissenschaft. Ein Feverel, sein Sohn, konnte nichts Geringeres tun, meinte er. Er setzte sich nieder, um seinen Sohn ausführlich zu studieren. Keine bestimmten Beobachtungen kamen ihm zu Hilfe. Richard aß und trank, scherzte und lachte. Er verlangte meistens noch vor Adrian nach einer irischen Flasche. Er sprach gewandt über alltägliche Gegenstände: seine Heiterkeit schien nicht unnatürlich. In allem aber, was er tat, erschien nicht das Wesen eines Jünglings, der eine Zukunft vor sich sieht. Das notierte sich Sir Austin. Es mochte Sorglosigkeit sein und Übermut, denn niemand konnte behaupten, daß ihn irgend etwas bedrückte. Der Mann der Weisheit überlegte nicht, daß auch Richard vielleicht gelernt haben mochte zu schauspielern und eine Maske zu tragen. Tote Gegenstände – das heißt Leute, die nicht auf ihrer Hut waren, konnte er durchschauen und zerlegen. Es ist ein seltener Zufall, und das wissen die Männer der Wissenschaft sehr gut, daß jemand die Gelegenheit hat, einen lebenden Körper zu untersuchen.

Dieser seltene Zufall wurde Sir Austin indessen zuteil. Sie hatten eine Einladung zum Diner zu Mrs. Doria bei den Foreys und gingen am Nachmittage zusammen 585 hin: Vater und Sohn, Arm in Arm, Adrian neben ihnen. Kurz vorher hatte der beleidigte Vater sich dazu herabgelassen, seinem Sohne mitzuteilen, daß es nächstens Zeit sein würde, daß er zu seiner Frau zurückkehrte, und hatte auch angedeutet, daß man Vorbereitungen treffen würde, um sie endgültig in Raynham zu empfangen. Richard hatte nichts darauf erwidert, was ein Übermaß der Dankbarkeit bedeuten konnte, oder Heuchelei im Verbergen seiner Freude, oder irgend eins der tausend Auskunftsmittel, durch welche die menschliche Natur ihre Befriedigung ausdrückt, wenn sich alles günstig für sie gestaltet. Nun hielt aber Mrs. Berry ihre Überraschung bereit, mit der sie den jungen Ehemann überfallen wollte. Sie hatte Lucy bei sich im Hause, damit sie dort auf den Gatten warte. Jeden Tag erwartete sie, daß er kommen und ganz überwältigt sein würde von Überraschung und Entzücken, und da sie seine Gewohnheiten kannte, führte sie Lucy jeden Tag im Park spazieren, unter dem Vorwand, daß der kleine Richard, denn so hatte sie ihn schon getauft, an die Luft gebracht werden müßte.

Die rote Scheibe der winterlichen Sonne stand hinter den kahlen Kastanien der Gärten von Kensington, als die beiden Gesellschaften auf einander trafen. Zum Glück für Lucy und die Hoffnung, die sie unter dem Herzen trug, hatte sie sich abgewandt und bewunderte eine schöne Reiterin, die grade vorbei sprengte. Mrs. Berry zupfte ein oder zweimal an ihrem Kleide, um ihre Augen für den Schreck vorzubereiten, aber Lucys Haupt war noch halb abgewandt und Mrs. Berry dachte: »Es wird ihr auch nicht schaden, wenn sie kopfüber in seine Arme stürzt.« Sie waren dicht bei einander: Mrs. Berry machte schon einen vorbereitenden Knix. Der schreckliche Ausdruck in Richards Gesicht ließ sie verstummen. Er ergriff ihren Arm und schob sich an ihr vorbei. Andere Leute kamen 586 dazwischen. Lucy sah nichts, was ihr Mrs. Berrys große Aufregung erklären konnte. Berry meinte, es wäre die Luft und der Speck, den sie zum Frühstück gegessen hatte, und das hätte sie schon am Morgen gewußt, während sie aß, daß es schlecht für die Galle wäre, und das war auch wahrscheinlich die Veranlassung, daß sie jetzt zu Lucys großem Erstaunen in Tränen ausbrach.

»Sie weinen über das, was Sie gegessen haben, Mrs. Berry?«

»Es ist nur –« Mrs. Berry preßte die Hand auf ihr Herz und lehnte sich zur Seite, »es ist alles nur der Magen, meine Liebe. Kümmern Sie sich nicht darum,« und da es ihr zum Bewußtsein kam, wie unpassend sie sich benahm, schleppte sie sich unter den Schutz der Ulmen.

»Du hast eine wunderbare Art mit alten Damen,« sagte Sir Austin zu seinem Sohn, nachdem er Berry zur Seite geschoben hatte. »Man kann es kaum höflich nennen. Sie benahm sich allerdings wie eine Verrückte. – Ist dir schlecht, mein Sohn?«

Richard war totenbleich, seine kräftige Gestalt bebte vor Schwäche. Der Baron suchte Adrians Auge. Adrian hatte Lucy erkannt, als sie vorbeigingen, und er hatte auch den Ausdruck in Richards Gesicht gesehen, als er Berry beiseite schob. Hätte Lucy sie erkannt, wäre er sofort auf sie zugegangen. Da sie es nicht tat, hielt er es unter diesen Umständen für besser, die Dinge gehen zu lassen, wie sie gingen. Er antwortete auf des Barons Blick nur mit einem Achselzucken.

»Bist du krank, Richard?« fragte der Baron seinen Sohn noch einmal.

»Komm weiter, Vater, komm weiter!« rief Richard.

Sie schritten schnell vorwärts und bei näherer Überlegung vermutete Sir Austin, daß die arme Berry wahrscheinlich einem Stande angehöre, bei dessen Nennung 587 allein eine Frau, die Vorlesungen über die Ehe hält und nur drei Männer in ihrem Leben geküßt hat, vor Entsetzen geschrien haben würde.

»Richard wird morgen zu seiner Frau reisen,« sagte Sir Austin, kurz ehe sie zu Tisch gingen.

Adrian fragte ihn, ob er zufällig eine junge blonde Dame gesehen hätte, neben der alten, die von Richard so sonderbar behandelt worden war, und als der Baron zugab, solch eine Person bemerkt zu haben, sagte Adrian: »Das war seine Frau!«

Sir Austin konnte jetzt ein lebendes Wesen sezieren. Als ob eine Flintenkugel des jungen Mannes Schädel aufgerissen und ein Schuß in der Schlacht sein zuckendes Inneres bloßgelegt hätte, so beobachtete er jede Bewegung seines Gehirns und seines Herzens und tat es mit dem Kummer und Schrecken eines Mannes, der gewohnt ist, immer bis zum äußersten zu gehen. Wenn er sich auch nicht ganz bewußt war, daß er so lange nur mit dem Leben gespielt hatte, so fühlte er doch, daß er jetzt in die stürmische Wirklichkeit hinaus gestoßen war. Er nahm sich vor, am Abend mit seinem Sohne über alles zu sprechen.

»Richard ist sehr lustig,« flüsterte Mrs. Doria ihrem Bruder zu.

»Morgen wird alles in Ordnung kommen,« erwiderte er; denn das Spiel war so lange in seiner Hand gewesen, so lange war er der Gott der Maschine gewesen, daß er nun, da er beschlossen hatte, offen zu sprechen und zu handeln, sich ziemlich sicher fühlte, wie viel auch gut zu machen sein mochte.

»Es fällt mir auf, daß er ziemlich aufgeregt lacht – mir gefallen auch seine Augen nicht,« sagte Mrs. Doria.

»Du wirst morgen eine Veränderung an ihm wahrnehmen,« bemerkte der Mann der Wissenschaft.

Mrs. Doria sollte selbst eine Veränderung erfahren.

588 Als sie beim Mittagessen saßen, kam eine telegraphische Botschaft von ihrem Schwiegersohn, dem würdigen John Todhunter, mit der Nachricht, daß Klara gefährlich erkrankt wäre, und der Bitte, daß sie sofort kommen möchte. Sie sah sich nach jemand um, der sie begleiten konnte, und bat Richard darum. Ehe Sir Austin seine Einwilligung zu Richards Abreise gab, verlangte er eine Unterredung unter vier Augen mit ihm, und in dieser Unterredung sagte er zu seinem Sohn: »Mein lieber Richard! es war meine Absicht, daß wir uns heute abend mit einander verständigen sollten. Aber die Zeit ist kurz, – die arme Helen hat nicht viele Minuten zu verlieren. Laß mich denn sagen, daß du mich getäuscht hast und daß ich dir vergeben habe. Wir wollen unser Siegel auf die Vergangenheit drücken. Du wirst deine Frau zu mir bringen, sobald du zurückkommst.« Und fröhlich blickte der Baron in die Zukunft, die er so großartig gründete.

»Willst du sie sofort in Raynham empfangen, Vater?« sagte Richard.

»Ja, mein Sohn, sobald du sie mir zuführst.«

»Spottest du über mich, Vater?«

»Ich bitte dich, was meinst du?«

»Ich bitte dich, sie sofort zu empfangen.«

»Ja wohl! der Aufschub kann nicht lange sein. Ich fürchte nicht, daß du viele Tage von deinem Glück getrennt sein wirst.«

»Ich glaube, es wird einige Zeit dauern, Vater!« sagte Richard und seufzte tief.

»Und welche Laune kann dich dazu veranlassen, es aufzuschieben und mit dem zu spielen, was deine erste Pflicht ist?«

»Was ist meine erste Pflicht, Vater?«

»Da du verheiratet bist, bei deiner Frau zu sein.«

»Das habe ich schon von einer alten Frau gehört, die 589 Berry heißt!« sagte Richard vor sich hin, ohne die Absicht zu haben, ironisch zu sein.

»Willst du sie sogleich empfangen?« fragte er dann noch einmal entschlossen.

Der Baron konnte die Art, wie sein Sohn seine Güte aufnahm, nicht verstehen. In früheren Zeiten war seine angenehmste Aussicht für die Zukunft Richards Heirat gewesen – der Gipfelpunkt seines Systems. Richard hatte die Teilnahme seines Vaters daran gestört. Zur Entschädigung sah er nun einer hübschen Szene entgegen: – Richard würde seine Frau zu ihm führen, beide würden väterlich von ihm bewillkommt werden und er würde sie eine Minute lang ostentativ in seine Arme schließen.

Er sagte: »Bis du zurückkommst, verschiebe ich es, sie zu empfangen.«

»Sehr wohl, Vater,« erwiderte sein Sohn mit einer Miene, als wenn er nun sein letztes Wort gesprochen hätte.

»Ich fühle mich wirklich versucht zu glauben, daß du schon jetzt deine übereilte Tat bereust!« rief der Baron, und im nächsten Augenblick schmerzte es ihn, die Worte gesagt zu haben, Richards Augen hatten einen solch traurig-wilden Ausdruck. Es schmerzte ihn, aber er erriet aus diesem Blick eine Geschichte, und er konnte sich nicht enthalten, ihn scharf anzublicken und zu sagen: »Ist das der Fall?«

»Ich sollte es bereuen, Vater?« Die Frage erregte einen Kampf in der Brust des jungen Mannes, den ein leidenschaftlicher Tränenstrom hätte beruhigen können und der wie bleierner Tod in das Herz sinkt, wenn die Tränen ausbleiben.

»Bereust du?« fragte sein Vater noch einmal. »Ich fühle mich versucht – ich fürchte beinahe, daß du es tust.« Bei diesem Gedanken – denn er sprach das aus, was er 590 meinte – war das Mitleid, das er für Richard empfand, nicht reines Gold.

»Frage mich, was ich von ihr denke, Vater! Frage mich, was sie ist! Frage mich, was das heißt, einen von Gottes herrlichsten Engeln an das Elend geschmiedet zu haben! Frage mich, was es heißt, ein Schwert in ihr Herz gestoßen zu haben und über ihr zu stehen und zu sehen, wie solch ein Geschöpf verblutet! Ob ich das bereue? Ach ja. Ja, ich bereue es! Würdest du es bereuen?«

Seine Augen blitzten seinen Vater unter seinen zornig zusammengezogenen Brauen an.

Sir Austin zuckte zusammen und errötete. Verstand er ihn? Es liegt eine zwingende Kraft in dem Blick der Seele. Wir sehen und verstehen; wir sehen und wollen nicht verstehen.

»Sage mir, warum du heute nachmittag an ihr vorübergingst,« sagte er ernst; und in derselben Weise antwortete Richard: »Ich ging an ihr vorüber, weil ich nicht anders konnte.«

»An deiner Frau, Richard?«

»Ja, an meiner Frau!«

»Wenn sie dich gesehen hätte, Richard?«

»Gott hat es ihr erspart.«

Mrs. Doria, in ihrer unruhigen, praktischen Art, kam mit Richards Hut und Überzieher in den Händen herein, als sie auf diesem Punkt angelangt waren. Ein mitleidiger Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, während sie ihren bestürzten Bruder auf die Stirn küßte. Sie vergaß ihren Kummer um Klara in ihrer Trauer um seine Schwäche.

Sir Austin sah sich gezwungen, seinen Sohn reisen zu lassen. Wie immer suchte er sich Rat bei Adrian, und der weise Jüngling beruhigte ihn. »Irgend jemand wird ihn geküßt haben und der keusche Jüngling kann das nicht überwinden.«

591 Diese abgeschmackte Vermutung diente mehr dazu, den Baron zu besänftigen, als wenn Adrian einen wirklich vernünftigen Schlüssel zu Richards Benehmen gegeben hätte: Es ließ ihn vermuten, daß es eine spröde Regung in dem Gemüt des jungen Mannes sein konnte, die dem System angemessen war.

»Ich mag in einem Punkte unrecht gehabt haben,« sagte er, sagte es aber mit einer Miene, als wenn er selbst sehr daran zweifelte. »Es war vielleicht unrecht, daß ich ihm in der Zeit seiner Prüfung so viel Freiheit ließ.«

Adrian wies darauf hin, daß er es ausdrücklich so angeordnet hätte.

»Ja, ja, das lastet auf mir.«

Sein Gemüt war so betroffen, daß er die schwersten Anklagen auf sich nehmen und durch eine Art moralischen Wuchers Nutzen aus ihnen ziehen konnte.

Man sprach wenig von Klara. Adrian schrieb die Benutzung des Telegraphen John Todhunters übertriebener ehelicher Besorgnis zu, wo es sich vielleicht nur um Zahnschmerzen, oder vielleicht um die ersten Anzeichen von einem Erben des Hauses handelte.

»In dem Gemüt dieses Kindes liegt Krankheit. Sie ist nicht gesund,« sagte der Baron.

Auf der Schwelle des Hotels stand, als sie zurückkehrten, Mrs. Berry. Nachdem sie respektvoll ihren Wunsch geäußert hatte, einige Worte mit dem Baron sprechen zu dürfen, wurde sie herauf in sein Zimmer geführt.

Mrs. Berry preßte ihre Gestalt in den Stuhl, auf den sich zu setzen sie gebeten wurde.

»Nun, meine liebe Frau, Sie haben mir etwas zu sagen,« bemerkte der Baron, denn es schien ihr schwer zu werden, den Anfang zu finden.

»Ich wünschte, ich hätte es nicht,« fing Mrs. Berry an, und da ihr die gute Regel einfiel, daß man immer mit 592 dem Anfang anfangen sollte, fuhr sie fort: »Ich darf wohl annehmen, Sir Austin, daß Sie sich nicht mehr auf mich besinnen, und als wir uns zuletzt trennten, habe ich auch nicht gedacht, wir würden uns so wiedersehen. Zwanzig Jahre gehen nicht an einem vorüber, ohne ihre Spuren zu hinterlassen, ebensowenig wie zwanzig Ochsen. Es ist eine mächtig lange Zeit – zwanzig Jahre! Ich glaube aber, es sind noch gar nicht mal ganz zwanzig.«

»Runde Summen sind immer am besten,« bemerkte Adrian.

»Und in einer solchen runden Summe von Jahren ist ein geliebter Sohn groß geworden und hat sich verheiratet,« sagte Mrs. Berry und stürzte sich nun direkt auf den Gegenstand.

Sir Austin erfuhr nun, daß die Schuldige vor ihm saß, die seinen Sohn bei diesem Abenteuer unterstützt hatte. Es war eine harte Aufgabe für seine Geduld, über seine eignen Familienangelegenheiten reden zu hören, aber er war von Natur höflich.

»Er kam in mein Haus, als ein Fremder! Wenn zwanzig Jahre uns verändern, die wir uns auf der Erde gekannt haben, wie müssen sie die verändern, von denen wir uns getrennt haben, grade als sie vom Himmel kamen! Und ein himmlisches Kind war er! so süß! so stark! so dick!«

Adrian lachte laut.

Mrs. Berry machte ihm in ihrem Stuhl einen Knix und fuhr fort: »Ich wünschte schon vorher zu sagen, wie dankbar ich bin, daß meine Pension mir nicht entzogen worden ist, da ich doch viel Veranlassung zum Ärger gegeben habe, aber ich weiß ja, daß Sir Austin Feverel, Schloß Raynham, keiner von denen ist, die es lieben, wenn ihre guten Taten ausposaunt werden. Und jetzt ist eine Pension noch mehr für mich, als es damals war. Denn 593 eine Pension und frische rote Backen bei einem Mädchen, das ich doch war – das ist ein Köder, an den mancher Mann anbeißen möchte, der es nicht täte für eine verlassene Frau.«

»Wenn Sie zur Sache kommen wollten, meine gute Frau, so will ich Sie anhören,« unterbrach sie der Baron.

»Es ist der Anfang, der am schlimmsten ist, und der ist vorüber, Gott sei Dank! So will ich sprechen, Sir Austin, und sagen, was ich zu sagen habe. – Gott helfe mir! Da ich glaube, daß wir dieselben Ansichten über die Ehe haben, sage ich: einmal verheiratet – ist verheiratet für das Leben! Ja! Ich mag auch nicht einmal Witwen. Denn ich kann doch nicht am Grab stehen bleiben. Nicht an dem Grabhügel kann ich stehen bleiben. Mein Mann ist mein Mann und wenn ich bei der Auferstehung ein Körper bin, dann sage ich in aller Bescheidenheit, mein Berry ist der Mann für meinen Körper, und zu denken, daß dann zwei an mich Ansprüche machen sollten – mir wird ganz heiß bei dem Gedanken. Das ist meine Ansicht von dem Zustand zwischen Mann und Frau. Im Himmel gibt's keine Ehe, natürlich das weiß ich, und wenn das so ist, dann bin ich eben allein.«

Der Baron unterdrückte ein Lächeln. »Wirklich, meine gute Frau, Sie schweifen sehr ab.«

»Bitte um Verzeihung, Sir Austin, ich hab' deshalb doch mein Ziel im Auge und ich komm' schon hin. Wenn wir unsern Irrtum erkennen, wenn es getan ist, ist es doch getan und da oben verzeichnet. Ach! wenn Sie bloß wüßten, was für ein süßes, junges Geschöpf sie ist. Es sind nicht alle unwürdig, die von bescheidener Geburt sind, Sir Austin. Und sie hat auch Gedanken. Sie liest Weltgeschichte! Sie spricht so vernünftig, daß Sie ganz überrascht sein würden. Aber trotz alledem ist sie eine Beute für die List der Männer, ganz unbeschützt. Und sie sind 594 doch noch jung verheiratet – aber um ihretwillen braucht man ja auch keine Angst zu haben. Die Furcht liegt nach der anderen Seite. Das liegt so in den Männern – so am Anfang – und dann wird aus ihnen Gott weiß was, wenn ihnen irgend was in den Weg kommt: während die Frauen ruhig bleiben! Sie läßt sich trösten und damit manchmal verführen. Aber der Mann – der ist ein Wilder!«

Sir Austin sah nach Adrian hin, der mit dem allergrößten Entzücken lauschte.

»Ja, meine liebe Frau, ich sehe, Sie haben etwas auf dem Herzen, wenn Sie sich nur etwas rascher aussprechen wollten.«

»Nun komm' ich zur Sache, Sir Austin. Ich sage, Sie haben ihn erzogen, so daß kein andrer junger Herr ihm gleich kommt in England, und ich würde stolz auf ihn sein. Und was sie anbetrifft, das wage ich wohl zu sagen – es ist geschehen und jetzt kann es nichts schaden – Sie könnten durch ganz England suchen, und nirgends werden Sie ein Mädchen finden, das so paßt zu ihm, wie seine eigne Frau. Das sind sie nun also. Sind sie nun zusammen, wie sie sein sollten? Ach, Gott, nein! Monate lang sind sie getrennt. Und nun da sie ganz allein und unbeschützt ist, gehe ich hin und hole sie mir aus den Wegen des Verführers – und da mögen Sie sagen, was Sie wollen, die Unschuldigsten sind am leichtesten der Verführung offen, wenn sie gesund und vertrauensvoll sind – ich hole sie mir also – und nehme mir die Freiheit, – verwahre sie sicher in meinem eigenen Hause. So viel will ich sagen von der Süßen! Das kann man mit den Frauen tun. Aber er – Mr. Richard – ich bin sehr unverschämt, das weiß ich, aber – ich hab' mich nun mal damit eingelassen, und der liebe Gott wird mir helfen! Um ihn handelt sich's, Sir Austin, in dieser großen Stadt, 595 noch warm von der jungen Ehe. Er ist's, und ich sage nichts von ihr und wie lieb sie es trägt und es zehrt doch an ihr zu einer Zeit, wenn die Natur keine andre Sorge für sie haben sollte, als die eine, die schon da ist – er ist's, und ich frage – so unverschämt bin ich, soll er hin- und hergezerrt werden als Sohn und als Mann – wo er noch bald was mehr sein wird? Ich spreche grade heraus – ich will schon, daß die Söhne ihren Vätern gehorchen sollen, aber des Predigers Worte sind über ihm, welche ich noch in meinen Ohren höre, und ich sage, daran kann auf Erden kein Zweifel sein – und ich bin sicher, im Himmel ist auch keiner – welche Pflicht die heiligere ist von den zwei.«

Sir Austin hörte ihr bis zu Ende zu. Ihre Ansichten über die Vereinigung der Geschlechter waren entschieden verwandt. Eine Vorlesung über seinen hauptsächlichsten Gegenstand zu erhalten, war indessen etwas unangenehm, und den Lehren dieser alten Dame im Geiste zustimmen zu müssen, war ziemlich demütigend, da man doch nicht behaupten konnte, daß er sie in der letzten Zeit befolgt hatte. Er saß mit gekreuzten Beinen, schweigend, einen Finger an seine Schläfe gelegt.

»Man wird ganz verwirrt, wenn man so viel Dinge zu bedenken hat,« sagte Mrs. Berry einfach. »Deshalb gehen auch solch wunderbar kluge Menschen in die Irre – denke ich. Ich meine, der beste Plan ist immer, in einer Schwierigkeit zu Gott zu beten und gradaus zu gehen.«

Die kluge, gute Frau verfolgte weiter des Barons Gedanken und sie hatte ihn wirklich überholt und ihm die Erklärung vom Munde genommen, die er Mrs. Berry geben wollte, daß er nämlich nach seinen eignen Grundsätzen gehandelt hätte und nach einer Weisheit, von der man nicht erwarten konnte, daß sie sie verstehen würde.

Natürlich wurde es ihm sofort klar, daß es 596 Zeitverschwendung sein würde, sich mit solch einer Erklärung an ihr schwaches Begriffsvermögen zu wenden.

Er gab ihr die Hand und sagte: »Mein Sohn hat die Stadt verlassen, um seine Cousine zu besuchen, die krank ist. Er wird in zwei oder drei Tagen zurückkehren und dann werden beide zu mir nach Raynham kommen.«

Mrs. Berry nahm die Fingerspitzen seiner Hand, machte einen steifen tiefen Knix und stammelte: »Er ging heut abend im Park wie ein Fremder an ihr vorüber.«

»Ach,« sagte der Baron. »Ja, sie werden, bevor die Woche zu Ende geht, in Raynham sein.«

Mrs. Berry war nicht ganz befriedigt.

»Nicht von selbst ist er an seiner eignen, süßen, jungen Frau wie ein Fremder heute vorüber gegangen, Sir Austin.«

»Ich muß Sie bitten, sich nicht weiter einzumischen, meine liebe Frau.«

Mrs. Berry knixte ihre rundliche Figur aus dem Zimmer.

»Ende gut, alles gut,« sagte sie zu sich selbst. »Es ist nicht gut, wenn man die Männer zu sehr ausfragt. Wir müssen sie so ähnlich wie die Vorsehung nehmen, so wie sie kommen. Gott sei Dank! Ich hab' wenigstens noch nicht von dem Kind gesprochen.«

In Mrs. Berrys Augen war das Kind die siegreiche Reserve.

Adrian fragte seinen Herrn, was er von diesem Exemplar einer Frau hielte.

»Ich denke, ich habe keine bessere in meinem Leben getroffen,« sagte der Baron, indem er Lob und Sarkasmus mischte.


597 Klara liegt in ihrem Bett, so friedlich, wie in den Tagen, da sie noch atmete; ihre weißen Hände lang ausgestreckt auf den Betttüchern, friedlich von Kopf bis zu den Füßen. Jetzt braucht sie kein Eisen mehr. Richard steht zum erstenmal in seinem Leben dem Tode Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er sieht die irdische Gestalt – der Lebensfunke ist dahin.

Klara begrüßte als Tote ihre Mutter. Dieses Kind hätte nur allgemeine freundliche Redensarten gesprochen, wenn sie noch am Leben gewesen wäre. Sie war tot und niemand kannte ihre Krankheit. Auf ihrem vierten Finger waren zwei Trauringe.

Nachdem stundenlanges Weinen den Kummer der Mutter beruhigt hatte, machte sie, da sie einigen Trost darin fand, Richard auf die seltsame Sache aufmerksam, und sprach leise mit ihm in dem Zimmer des Todes; und da erfuhr er, daß es sein eigner verlorner Ring war, den Klara in zwei Welten trug. Er hörte von ihrem Manne, daß Klaras letzte Bitte gewesen war, daß keiner der beiden Ringe entfernt werden sollte. Sie hatte es niedergeschrieben; sie hatte nicht davon sprechen wollen.

»Ich bitte meinen Mann und alle freundlichen Leute, die mit mir zu tun haben mögen zwischen diesem Leben und dem Grabe, mich zu beerdigen, ohne daß meine Hände berührt werden.«

Die Schrift in diesen Worten zeigte die körperlichen Qualen, die sie litt, als sie sie auf einen Fetzen Papier schrieb, den man neben ihrem Kissen fand.

Erfüllt von der unklaren Vorstellung, die dieser Wink von Klaras Hand für ihn enthielt, schritt Richard durch das Haus und strich um das schreckliche Zimmer herum, voller Furcht es zu betreten und doch auch nicht willens es zu verlassen. Das Geheimnis, das Klara zu ihren Lebzeiten begraben hatte, stand mit ihrem Tode auf. Er 598 sah es wie eine Flamme um ihre marmornen Züge spielen. Die Erinnerung an ihre Stimme durchschnitt seine Nerven wie ein Messer. Seine Kälte gegen sie erhob sich anklagend: ihre Sanftmut war ihm ein bitterer Tadel.

Am Abend des vierten Tages kam ihre Mutter zu ihm in sein Schlafzimmer mit einem so weißen Gesicht, daß er sich fragte, ob einer Mutter noch Schlimmeres geschehen könnte als der Verlust ihres Kindes. Mit erstickter Stimme sagte sie zu ihm: »Lies dies,« und drückte ein in Leder gebundenes Taschenbuch zitternd in seine Hand. Sie wollte ihm nicht sagen, was es wäre. Sie bat ihn, es vor ihr nicht zu öffnen.

»Sage mir,« sagte sie, »sage mir, was du denkst. John darf nichts davon hören. Ich habe außer dir niemanden, mit dem ich darüber sprechen könnte – Ach, Richard!«

»Mein Tagebuch,« stand in Klaras runder Kinderhandschrift auf der ersten Seite. Der erste Name, auf den sein Auge fiel, war sein eigner.

»Richards vierzehnter Geburtstag. Ich habe ihm eine Börse gearbeitet und habe sie unter sein Kopfkissen gelegt, weil er sehr viel Geld haben wird. Er macht sich jetzt nichts aus mir, weil er jetzt einen Freund hat, und er ist häßlich, aber Richard ist es nicht und wird es nie sein.«

Die Vorgänge jenes Tages wurden dann berichtet, und ein kindisches Gebet zu Gott für ihn folgte. Schritt für Schritt sah er die Entwicklung ihres Gemüts in dieser Geschichte. In vorgeschrittneren Jahren fing sie an Rückblicke anzustellen und legte kleinen unbedeutenden Erinnerungen große Bedeutung bei, sie alle hatten Bezug auf ihn.

»Wir gingen zusammen auf die Felder und pflückten Schlüsselblumen und wir warfen uns damit und ich 599 erzählte ihm, daß er sie Schlüsselblumen genannt hätte, als er klein war, und er war ärgerlich, daß ich das sagte, denn er liebt es nicht, wenn man sagt, daß er einmal klein war.«

Er erinnerte sich an den Vorfall und erinnerte sich an seine dumme Verachtung ihrer schüchternen Zärtlichkeit. Die kleine Klara! Wie sie vor ihm auflebte in ihrem weißen Kleide mit den rosa Schleifen und den sanften dunkeln Augen! Oben lag sie und war tot. Er las weiter:

»Mama sagt, keiner in der Welt ist wie Richard, und ich glaube das auch, in der ganzen Welt nicht. Er sagt, er wird ein großer General werden und in den Krieg gehen. Wenn er das tut, dann werde ich mich als Knabe anziehen und ihm nachgehen, und er wird mich nicht erkennen, bis ich verwundet bin. Ach, ich bete, daß er niemals, niemals verwundet werden möchte. Was ich wohl fühlen würde, wenn Richard jemals sterben sollte.«

Oben lag Klara und war tot.

»Lady Blandish sagt, daß Richard und ich uns ähneln. Richard sagte, ich hoffe, ich lasse den Kopf nicht so hängen wie sie. Er ist ärgerlich auf mich, weil ich den Leuten nicht ins Gesicht sehe und grade herausspreche, aber ich weiß, daß ich nicht nach Regenwürmern sehe.«

Ja, das hatte er ihr gesagt. Ein Schauer überflog ihn bei der Erinnerung.

Dann kam er zu der Periode, wo die Worte: »Richard küßte mich,« für sich allein standen und einen Tag in ihrem Leben bezeichneten.

Später wurde die feierliche Entdeckung gemacht, daß Richard dichtete.

Er las eine seiner alten vergessenen Kompositionen aus der Zeit dieses Ehrgeizes. 600

Deine Treue ist mir treuer
Als Pferd und Hund und Schwert,
Doch deine Schwüre seltner
Als Mädchen je gewährt.
Und Glanz und Pracht verläßt du
Und willst die meine sein,
Mein Herz soll sein so zärtlich
Wie deines treu und rein.

Zeile für Zeile war abgeschrieben. »Er ist der bescheidene Ritter,« erklärte Klara am Schluß, »und seine Dame ist eine Königin. Jede Königin würde für ihn ihre Krone wegwerfen.«

Dann kam die Zeit, in der Klara mit ihrer Mutter Raynham verließ.

»Richard war nicht traurig mich zu verlieren. Er liebt nur Knaben und Männer. Etwas sagt mir, daß ich Raynham niemals wiedersehen werde. Er hatte einen blauen Anzug an. Er sagte: ›Lebe wohl, Klara,‹ und küßte mich auf die Wange. Richard küßt mich niemals auf den Mund. Er weiß nicht, daß ich an sein Bett gegangen bin und ihn geküßt habe, als er schlief. Er schläft mit einem Arm unter seinem Kopf und den andern auf der Decke. Ich schob sein Haar, das über seine Augen hing, etwas zur Seite. Ich wollte es gern abschneiden. Ich habe ein Stück. Ich lasse keinen merken, daß ich unglücklich bin, auch nicht Mama. Sie sagt: ich brauche Eisen. Ich weiß bestimmt, daß ich es nicht brauche. Ich schreibe gern meinen Namen: Klara Doria Forey. Richard heißt: Richard Doria Feverel.«

Seine Brust hob sich krampfhaft. Klara Doria Forey! Er kannte die Musik dieses Namens. Er hatte sie irgend wo gehört. Es klang schwach und sanft jetzt hinter den Hügeln des Todes.

Er konnte vor Tränen nicht lesen. Es war 601 Mitternacht. Die Stunde schien ihr zu gehören. Die furchtbare Stille und Dunkelheit kamen von ihr. Klaras Stimme klar und kalt aus dem Grabe beherrschte sie.

Schmerzvoll, die Augen blind vor Tränen blickte er auf die leblosen Blätter. Sie sprachen von seiner Heirat und wie sie den Ring gefunden hatte.

»Ich wußte, daß es seiner war. Ich wußte, daß er sich an dem Morgen verheiraten wollte. Ich sah ihn am Altar stehen, als sie beim Frühstück lachten. Seine Frau muß so schön sein! Richards Frau! Vielleicht wird er mich jetzt mehr lieben, seit er verheiratet ist. Mama sagt, sie müssen getrennt werden. Das ist schändlich. Wenn ich ihm helfen kann, will ich es. Ich bete so viel, daß er glücklich werden möchte. Ich hoffe, Gott hört das Gebet eines armen Sünders. Ich bin sehr sündig. Keiner weiß es so gut, wie ich. Sie sagen, ich bin gut, aber ich weiß es. Wenn ich zu Boden sehe, sehe ich nicht nach Regenwürmern, wie er sagte. Ach, Gott, vergib mir!«

Dann sprach sie von ihrer eignen Heirat, und daß es ihre Pflicht wäre, ihrer Mutter zu gehorchen. Es folgte eine leere Stelle in dem Tagebuch.

»Ich habe Richard gesehen, Richard verachtet mich,« war die nächste Eintragung.

Aber jetzt, während er weiter las, wurden seine Augen starr und die zarte, mädchenhafte Handschrift zog seine Seele wie ein schwarzer Faden dem schrecklichen Ende zu.

»Ich kann nicht leben. Richard verachtet mich. Ich kann die Berührung meiner Hände und den Anblick meines Gesichts nicht ertragen. Ach! jetzt verstehe ich ihn. Er hätte mich nicht so küssen sollen, das letzte Mal. Ich hätte sterben mögen, als sein Mund auf meinem war.«

Weiter: »Mir bleibt kein Ausweg. Richard sagte, er 602 wäre lieber gestorben, ehe er das ertragen hätte. Ich weiß, er wäre gestorben. Warum sollte ich mich fürchten, das zu tun, was er getan hätte? Ich glaube, wenn mein Mann mich schlüge, könnte ich es besser ertragen. Er ist so freundlich und versucht es, mich zu erheitern. Er wird bald sehr unglücklich sein. Ich bete zu Gott die halbe Nacht. Es kommt mir vor, als wenn ich Gott immer mehr aus den Augen verliere, je mehr ich bete!«

Richard legte das Buch auf den Tisch. Geisterhafte Wogen schienen anzusteigen und sein Gehirn zu umkreisen. Hatte Klara seine wilden Worte ernst genommen? War sie jetzt tot – er wagte den Gedanken nicht auszudenken.

Er suchte den Gedanken vor sich zu verbergen, aber er las weiter:

»Dreiviertel auf eins. Morgen um diese Zeit werde ich nicht leben. Ich werde Richard niemals wiedersehen. Ich träumte in voriger Nacht, daß wir zusammen in den Feldern wären; wir gingen, er hatte den Arm um meine Taille. Wir waren Kinder, aber mir war es, als wenn wir verheiratet wären, und ich zeigte ihm, daß ich seinen Ring trug, und er sagte – wenn du ihn immer trägst, Klara, bist du so gut wie meine Frau. Dann schwor ich, daß ich ihn immer und immer tragen würde . . . Es ist nicht Mamas Schuld. Sie denkt über diese Dinge nicht so, wie Richard und ich. Er ist kein Feigling. und ich bin auch keiner. Er haßt Feiglinge.

»Ich habe an seinen Vater geschrieben, er solle ihn glücklich machen. Vielleicht wenn ich tot bin, wird er hören, was ich sage.

»Ich hörte eben ganz deutlich, wie Richard rief: Kläre, komm heraus zu mir. Er ist doch nicht tot. Ich gehe, ich weiß nicht wohin. Ich kann nicht denken. Mir ist so kalt.«

603 Die Worte waren größer geschrieben und schwankend zum Schluß, als ob ihre Hand die Herrschaft über die Feder verloren hätte.

»Ich kann mich jetzt nur auf Richard besinnen als Knaben. Als kleinen Knaben, und als großen Knaben. Ich besinne mich nicht mehr deutlich auf seine Stimme. Ich kann mich nur an einzelne Worte erinnern. ›Kläre‹ und ›Don Ricardo‹ und wie er lachte. Er war häufig sehr ausgelassen. Einmal lachten wir den ganzen Tag zusammen und rollten uns auf einem Heuhaufen. Dann hatte er einen Freund und fing an Gedichte zu schreiben und stolz zu sein. Wenn ich einen jungen Mann geheiratet hätte, würde er mir vergeben haben, aber ich würde nicht glücklicher gewesen sein. Ich hätte sterben müssen. Gott sieht nicht auf mich.

»Es ist über zwei Uhr. Die Schafe blöken draußen. Es muß sehr kalt in der Erde sein. Lebe wohl, Richard!«

Mit seinem Namen fing es an und endete es. Auch sich selbst gegenüber war Klara nicht sehr mitteilsam. Das Buch war nur dünn, doch ihre neunzehn Jahre des Daseins ließen die Hälfte der Blätter unbeschrieben.

Die letzten Worte trieben ihn unwiderstehlich noch einmal zu ihr hin. Da lag sie, dieselbe geduldige Klara. Einen Augenblick wunderte er sich, daß sie sich nicht rührte – ihr Bild hatte sich für ihn so verändert. Sie, die grade noch seine Seele mit seltsamer Kunde erfüllt hatte – er konnte es sich nicht vorstellen, daß sie tot wäre! Sie schien ihr ganzes Leben hindurch zu ihm gesprochen zu haben. Sein Bildnis ruhte in jenem stillen Herzen.

Er schickte die Wächterinnen aus dem Zimmer und blieb mit ihr allein, bis das Gefühl des Todes ihn bedrückte und er schaudernd an das Fenster trat, um nach dem Himmel und den Sternen zu sehen. Hinter einer breiten Fichte hing frostiger Nebel, er hörte die Glocken 604 des Leithammels der Herde in der schweigenden Hürde. Wie Tod im Leben klang es ihm.

Die Mutter fand ihn im Gebet an dem Fußende von Klaras Bett. Sie kniete neben ihm nieder und sie beteten und ihr vereintes Schluchzen durchbebte ihre Körper, aber keiner von ihnen vergoß viele Tränen. Sie bewahrten gemeinsam ein dunkles unausgesprochenes Geheimnis. Sie beteten zu Gott um Vergebung für sie.

Klara wurde in der Familiengruft der Todhunters begraben. Ihre Mutter äußerte keinen Wunsch, sie in Lobourne begraben zu lassen.

Was sie beide allein auf Erden wußten, führte sie nach dem Begräbnis zusammen.

»Richard,« sagte sie, »das Schlimmste ist jetzt für mich vorüber. Ich habe niemanden, den ich lieben könnte, außer dir. Wir haben alle gegen Gott gekämpft, und dieses . . . Richard! du wirst mit mir kommen und dich mit deiner Frau vereinigen und meinem Bruder das ersparen, was ich leide.«

Er antwortete mit gebrochener Stimme: »Ich habe eine getötet. Sie sieht nun, was ich bin. Ich kann nicht mit dir zu meiner Frau gehen, weil ich nicht wert bin, ihre Hand zu berühren, und wenn ich hinginge, würde ich Klara folgen, um meine Selbstverachtung zum Schweigen zu bringen. Geh' du zu ihr, und wenn sie nach mir fragt, sage ihr, ich hätte einen Mord auf meinem Haupt – Nein! sage ihr, daß ich in die Fremde gegangen wäre, um das zu suchen, was mich reinigen könnte. Wenn ich es gefunden habe, werde ich kommen, mir meinen Anspruch an sie wieder geltend zu machen. Wenn nicht, helfe Gott uns allen!«

Sie hatte nicht die Kraft, gegen seine feierlichen Worte anzukämpfen oder ihn aufzuhalten, und er ging. 605

 


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