Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel.
Die Briefe

. Also heute über acht Tage werden sie hier eintreffen?« fragte Inez den vor ihr stehenden Juan, indem sie sich in ihren Stuhl zurücklehnte und einen beinahe neidischen Blick auf Maria warf, die, nahe am Fenster sitzend, mit glücklich lächelnder Miene einen langen Brief durchlas.

»Genau heute über acht Tage«, entgegnete der schwarze Juan. »Sie haben schon vor drei Tagen San Franzisko verlassen, und da sie am Joaquinfluß herunterkommen, den alten bekannten Weg beibehalten, so kann ich ihre Tagemärsche genau berechnen. Es sei denn, daß sie ihre Pferde über die Kräfte anstrengten, was ich aber bezweifle, denn der Majordomo wie Don Sidney lieben die Tiere viel zu sehr.«

»Und er hat dir sonst nichts aufgetragen?« fragte Inez mit erheuchelter Teilnahmlosigkeit, abermals ihrer Freundin einen mißgünstigen Blick zusendend.

»Weiter nichts, Sennora; er trug mir auf, Euch seiner Ehrerbietung zu versichern, und nachdem er mir auch Grüße an Donna Maria und an Don Ramiro mitgegeben, an Euren edlen Vater hat er ja selbst geschrieben, sagte er noch, indem er mir die Hand reichte: ›Reise mit Gott, guter Juan; gern machte ich dich zum Überbringer anderer Nachrichten, aber nein, ich kann, ich darf nicht.‹«

»Das hat er dir gesagt? Doch, was sollten diese Worte bedeuten?« fragte Inez schnell, indem sie ihren Oberkörper erwartungsvoll vornüber beugte.

»Was er damit meinte, gute Sennorita? Ich weiß es nicht, vermag es auch nicht zu erraten. Seine Stimme aber klang ernst, und zögernd brachte er die Worte hervor, als ob seine Gedanken in die Ferne schweiften.«

»Zögernd brachte er die Worte hervor«, wiederholte Inez leise zu sich selbst sprechend. »Und zeigte er keine Eile, hierher zu kommen, ich meine, um meinem Vater die Rechnungen vorzulegen?« verbesserte sie sich selbst, wie aus einem Traum erwachend.

Auf Juans sonst so ernsten Zügen spielte ein verständnisvolles Lächeln, als er seine geliebte Herrin so zweifeln sah.

»Er schickte mich mit den Leuten voraus«, begann er, »weil nach der Übergabe der Herden unsere Anwesenheit in San Franzisko überflüssig gewesen wäre. Auch mochte ihm wohl daran liegen, auf der Heimreise nicht durch einen zu großen Troß aufgehalten zu werden. Glaubt mir, edle Sennora, er wäre gern mit uns gezogen, hätten die dringendsten Geschäfte ihn nicht zurückgehalten. Ich weiß es und versichere Euch, keine Minute länger als unumgänglich nötig ist, bleibt er in San Franzisko, und wenn er sich erst unterwegs befindet, dann wird er die Pferde nicht allzusehr schonen.«

»Was kümmert es mich, ob er in San Franzisko verweilt oder seine Reise beschleunigt?« versetzte sie, die Lippe stolz emporwerfend und dem Arriero einen unzufriedenen Blick zuschleudernd, wobei sich aber, indem sie auf Maria schaute, ein tiefes Rot über ihre Wangen ausdehnte. »Geh nur, guter Juan«, fügte sie milder hinzu, als sie den getreuen Burschen mit trüber Miene zurücktreten sah; »geh nur, vielleicht hat mein Vater noch mit dir zu sprechen, und etwas Ruhe mußt du nach dem scharfen Ritt deinem Körper ebenfalls bieten. Du weißt ja, guter Juan, ich halte dich für meinen Freund. Morgen, wenn wir unseren Spazierritt machen, sollst du uns begleiten. Ich freue mich übrigens, guter Juan, daß du hier bist; denn seit der Majordomo sich wieder auf der Rancho befindet, traue ich Ramiro ebensowenig wie El Muerte. Ich fühle es, beide hassen mich; du, der erste Arriero Kaliforniens, wirst sie aber scharf beobachten und über deine Freundin wachen.«

Indem Inez wie halb in Zerstreuung ihren sich jagenden Gedanken Worte verlieh, jagten sich auf des Arrieros dunklen Zügen ebenfalls die Ausdrücke der dadurch wachgerufenen verschiedenartigen Empfindungen. Bald war es aufrichtige Freude und Anhänglichkeit, bald Stolz und Enthusiasmus, was am meisten durchblickte; als Inez aber El Muertes und ihres Vetters erwähnte, ihn selbst dagegen ihren Freund und den ersten Arriero Kaliforniens nannte, da sprühten seine Blicke förmlich vor tief gewurzeltem Haß und opferwilliger Entschlossenheit. Indem er zu ihr herantrat und die dargebotene Hand küßte, legte er die rechte Faust auf das breite Messer in seinem Gurt. »Ich rächte den Tod meiner unbekannten Eltern an dem übermütigen Navahoehäuptling«, murmelte er leise, um nicht von Maria verstanden zu werden, »meine Dienste gehören jetzt nur noch der Tochter meines Wohltäters.«

Im nächsten Augenblick war er unter die Veranda hinausgetreten und zog die Tür leise hinter sich ins Schloß. –

Ungefähr fünf Minuten mochten in tiefer Stille verstrichen sein, da sprang Maria plötzlich mit lautem Jubel empor, und zu Inez hineilend und vor ihr niederkniend, las sie mit lauter Stimme den Schluß des Briefes:

›– wie gern schriebe ich mehr, doch Juan wartet und Robert treibt zur Eile. Er trägt mir noch die innigsten Grüße an Euch und an Inez auf. Ich habe allen Grund zu glauben, daß unsere Wünsche schneller, als wir anfangs erwarteten, in Erfüllung gehen, und ich würde es für kein Verbrechen halten, wenn wir darauf hinwirkten, daß – doch ich darf den Gegenstand ja nicht weiter berühren. – So lebet denn wohl, teuerste Maria! Auf baldiges Wiedersehen! Ewig und unveränderlich in treuester Anhänglichkeit Euer Sidney Bigelow.‹«

»Ich danke für die Grüße«, versetzte Inez kalt, sobald Maria geendigt; »würde es ihm aber auch recht sein, wenn er wüßte, daß du seine Briefe andern Leuten vorliesest? Du darfst nicht vergessen, daß du jetzt Rücksichten zu nehmen hast.«

»Inez, Inez, ich kenne dich ja nicht wieder!« rief Maria besorgt aus, und sie trat einen Schritt zurück, um ihre Freundin besser betrachten zu können. »Inez, gute Inez, und nun gar noch Tränen in deinen Augen! Oh, sage mir, was dich bewegt; sage mir, wenn ich dich oder wenn dieser Brief dich verletzt hat. Siehe, ich werfe ihn von mir, nur sage mir, was dich bewegt, was dich unglücklich macht«, und indem das erregte Mädchen so sprach, schleuderte es den Brief rücksichtslos in einen Winkel und warf sich dann an Inez' Brust, die nun nicht mehr länger imstande, ihre Gefühle niederzukämpfen, in heftiges Weinen ausbrach.

»Es ist nichts, meine treue, gute Maria«, sagte sie nach einer Weile, indem sie sich sanft aus den Armen der Freundin wand und ihre Tränen trocknete. »Es ist nichts«, wiederholte sie, und etwas von dem alten Stolz leuchtete wieder aus ihren prachtvollen Augen. »Ich gedachte der Zeit, in der du dich von mir getrennt haben wirst, und trennen mußt du dich ja von mir, aber gehe und hebe den Brief wieder auf«, fügte sie liebreich lächelnd hinzu.

»Nie, nein, niemals trenne ich mich von dir!« rief Maria nun ebenfalls schmerzlich erregt aus, »ich bleibe bei dir, so lange, bis – so lange – ja –«

Ein leises Klopfen an der Tür kam dem eifernden Mädchen zu Hilfe, das über den Nachsatz in Verlegenheit war und aus natürlichem Zartgefühl um keinen Preis in der Welt hätte verraten mögen, daß der Freundin Hinneigung zu dem Majordomo zwischen ihr und Sidney Gegenstand der Unterhaltung gewesen war.

Kaum hatte Maria auf einen Wink von Inez den zur Seite geworfenen Brief wieder an sich genommen, so öffnete sich auf der letzteren lautes »Herein!« die Tür, und zu ihrer nicht geringen Überraschung zeigte sich der schwarze Juan, der abermals einen Brief in der Hand hielt.

Ein schwacher Hoffnungsschimmer glitt bei dein Anblick des Briefes über Inez' Züge; er war aber ebenso schnell wieder verschwunden und mit gleichgültiger Miene fragte sie, für wen der Brief bestimmt sei.

»Ein Chinese brachte ihn«, antwortete Juan. »Euer Vetter Ramiro, der gerade hinzukam, bot sich an, das Schreiben an den gelangen zu lassen, für den es bestimmt ist; der Bote wollte es ihm aber nicht einhändigen, sondern forderte mich durch Zeichen auf, die Besorgung zu übernehmen. Er nannte dabei immer Euern Namen, weiter schien er nichts sprechen zu können und wies auf die Adresse, die, wenn ich nicht irre, den Namen des Majordomos Don Roberto trägt.«

»In der Tat an den Majordomo«, sagte Inez, die Aufschrift nachdenklich betrachtend und sie dann der über ihre Schulter blickenden Maria zeigend. »Der Brief würde ihn aber nicht mehr finden, wollten wir ihn mit dem Dampfboot nach San Franzisko senden«, fügte sie gleich darauf hinzu.

»Gewiß nicht, Sennorita!« entgegnete Juan; »der Bote schien zwar zu wünschen, daß die in dem Schreiben enthaltenen Nachrichten so bald als möglich an den Majordomo gelangten, allein vor dessen Heimkehr ist nicht daran zu denken.«

»Und warum soll denn gerade ich der Überbringer sein?« fragte Inez, die feine Schrift der Adresse fortwährend aufmerksam prüfend.

»Verzeiht, Sennora, der Bote sagte das nicht ausdrücklich; weil er aber Euren Namen so oft aussprach und bald verneinend, bald bejahend nickte, so vermutete ich, es sei am geratensten, mich direkt an Euch zu wenden, um so mehr, da der Brief schlecht gesiegelt gewesen und in den ungeschickten Händen des Chinesen wieder aufgesprungen ist. Gleichzeitig gab er mir auch dieses mit Papierschnitzeln beklebte Brettchen und ersuchte mich dringend mit den unzweideutigsten Zeichen, Euch dasselbe ›sicher‹, er sprach das Wort ›sicher‹ mehrere Male deutlich aus, zuzustellen.«

»Wo ist der Bote?« fragte Inez nun hastig Juan, als sei ihr ein Ausweg eingefallen.

»Ich wollte ihn zu Euch bringen, edle Sennora«, antwortete der Arriero, »allein er weigerte sich, mitzugehen. Nachdem ich ihm das Versprechen gegeben, die Aufträge pünktlich auszurichten, galoppierte er auf seinem Pony davon, so schnell das kleine zottige Tier nur laufen wollte. Euren Vetter Ramiro schien er zu fürchten, denn er händigte mir das Brettchen nicht eher ein, als bis dieser sich entfernt hatte.

Während Inez noch das Brettchen mechanisch, als ob sie nicht wisse, was damit anzufangen sei, nach allen Richtungen hin umwendete, trat Maria plötzlich vor sie hin und bedeutete sie durch einen Wink, den Arriero zu entlassen.

Als Inez zu ihrer Freundin aufblickte und in deren Zügen den Ausdruck einer tiefen, überaus unangenehmen Überraschung gewahrte, sprach sie ihren Dank gegen Juan aus, der, den Wink verstehend, sich sogleich entfernte.

»Was gibt es?« fragte sie dann, sobald sie sich mit ihrer Freundin allein sah. Maria, die, ihrem ersten Impuls folgend, ihre Besorgnis geweckt hatte, stand jetzt zweifelnd da und wußte offenbar nicht, ob sie das, was sie auf dem Herzen hatte, ihrer Freundin mitteilen oder verschweigen solle.

Doch gerade dieses Zögern steigerte die Aufregung der leidenschaftlichen Kalifornierin, und als Maria noch immer nicht zu einem Entschluß kam, da trat sie dicht vor das bebende Mädchen hin und forderte sie halb flehend, halb befehlend auf, sie nicht länger in Ungewißheit zu erhalten.

»Du bist meine Freundin, wir sind seit unserer frühesten Kindheit ein Herz und eine Seele gewesen«, sagte sie mit zitternder Stimme; »du hast durch dein Benehmen eine unbestimmte Besorgnis in mir wachgerufen; an dir ist es nun auch, offen gegen mich zu verfahren. Sage daher, Maria, ich beschwöre dich bei der gebenedeiten Jungfrau, was ist es, das dich so tief bewegt?«

Maria sprach nicht; ihre Blicke waren aber verzweiflungsvoll auf Inez gerichtet, und während sie mit der einen Hand den Brief etwas auseinanderbog, deutete sie mit der andern auf die Unterschrift desselben.

Inez schaute auf die bezeichnete Stelle; die Farbe wich von ihren Wangen, ihre Lippen zuckten, ihre tiefen, glanzvollen Augen schossen Blitze, und mit tonloser Stimme las sie langsam: »Ewig Deine Alienor!«

Minuten gingen dahin, lange, schmerzliche Minuten. Inez hielt ihre Blicke noch immer auf die verhängnisvollen Worte geheftet; Maria dagegen legte ihren Arm zärtlich um den Hals ihrer Freundin und weinte. Sie weinte über die bittere Täuschung, deren Opfer nach ihrer Meinung die Freundin geworden; sie weinte über ihre und Sidneys Zukunft, die des Majordomos vermeintliche Falschheit zertrümmert hatte.

»Maria, du bist ein Kind«, sagte Inez endlich, sich auf wenig sanfte Art dem Arm der Gefährtin entziehend und zornig mit dem Fuß auf den Boden stampfend. »Du bist ein Kind, dich durch gleichgültige Sachen aus der Fassung bringen zu lassen. Was kümmert es dich oder mich, wer an den Majordomo schreibt oder wem er sein Herz geschenkt hat? Will die reiche Spanierin den deutschen Majordomo mit in ihre Heimat nehmen, so mag sie es tun. Er ist frei wie die Möven, die so oft über uns hineilen, wenn der Weststurm sich an unseren Bergen bricht. Ihre Reise wird eine glückliche sein, denn er ist ja im Besitz meines Amuletts. – Das teure Andenken, es schien ihm so viel Freude zu gewähren.«

Hatte Inez beim Beginn ihrer Rede eine herausfordernde und übermütige Haltung angenommen, so waren, je länger sie sprach, doch wieder mildere Gefühle in ihre Brust eingezogen, und als sie schloß, da glänzten abermals Tränen in ihren Augen, während ihre Stimme zu einem träumerischen Flüstern herabsank.

»Möge die heilige Jungfrau dich und mich trösten«, sagte Maria mit rührender Innigkeit.

»Trösten?« fuhr Inez auf, und wie durch Zauber verschwand der wehmütige Ausdruck vor einem erzwungenen Lachen. »Trösten? Über was soll ich mich trösten? Etwa darüber, daß mein Vater in dem Majordomo einen gewissenhaften Diener verliert; oder darüber, daß wir auf unseren Spazierritten einen unterhaltenden Begleiter vermissen werden? Mein Vater wird einen andern Majordomo finden, und um uns zu begleiten, ist Ramiro trotz seines schwarzen Herzens, noch immer gut genug. – Don Roberto ist ein treuer Majordomo, er verdient ein glückliches Los; wir sollten uns daher von Herzen freuen, daß er eine so herrliche Gelegenheit gefunden hat, in seine teure Heimat zurückzukehren. Ja, diese Alienor ist ein schönes Wesen«, fuhr Inez fort, indem die ihre Blicke sinnend diese vornehme Kastilianerin. Freuen wir uns also über sein Glück, und wenn wir hören, daß es ihnen gut geht, dann wollen wir uns ins Gedächtnis zurückrufen, daß sie ihr Glück uns verdanken. Maria!« rief sie plötzlich mit einer Fröhlichkeit aus, die in merkwürdigem Widerspruch zu ihrem bleichen, durch schmerzliche Aufregung entstellten, aber noch immer wunderschönen Antlitz stand. »Wo wäre wohl der getreue Majordomo, wenn der schwarze Juan die Schlinge nicht so geschickt warf? Wo wäre die Schlinge gewesen, wenn wir nicht El Muerte und meinen edlen Vetter belauscht hätten?«

»Ja, der Vampyr, er hat es uns allen angetan!« versetzte Maria schaudernd und sich an die Freundin schmiegend.

Da fuhren sie plötzlich erschreckt auseinander. Sie glaubten Schritte zu vernehmen, die sich unter der Veranda leise von der Tür entfernten.

»Wir sind belauscht worden«, flüsterte Inez, die zuerst ihre Fassung wiedergewonnen hatte, und im nächsten Augenblick schaute sie auf die Veranda hinaus.

Das Portal, das ins Freie führte, stand wohl offen, allein auf dem ganzen Hofe war kein lebendes Wesen zu erblicken. Nur auf der östlichen Wand tanzten wieder die phantastischen Schatten der vom leisen Lufthauch bewegten Ranken, die die sinkende Sonne allabendlich so geschickt auf das graue Mauerwerk malte. »Es war Täuschung,« sagte sie, gleich darauf zurücktretend und die Tür behutsam schließend, »wem könnte es auch von Wert sein, uns zu belauschen?«

»Der Vampyr vielleicht, er will uns nicht wohl«, versetzte Maria heimlich.

»Verfalle doch nicht wieder in deinen kindischen Aberglauben«, entgegnete Inez, indem sie versuchte, ihrer Freundin aufmunternd zuzulächeln; »wir haben uns getäuscht, denn selbst einer deiner gefürchteten Vampyre vermöchte sich nicht unsichtbar zu machen, – aber komm, beinahe hätte ich den Brief an den Majordomo vergessen, wir wollen ihn gemeinschaftlich siegeln, und wenn er heimkehrt, dann magst du ihm denselben einhändigen.«

Maria gab keine Antwort und folgte willenlos, als Inez sie nach dem nahen Schreibtisch hinführte.

Hätten sie aber zu dieser Zeit durch das Fenster geschaut, das nach den Weingärten hinauslag, so würden sie Ramiro wahrgenommen haben, wie er sich eiligen Schrittes in der Richtung nach der Hütte El Muertes entfernte. Seine Züge waren entstellt vor Wut und Entsetzen, denn kein einziges Wort der zwischen den beiden Mädchen geführten Unterhaltung war ihm entgangen. Er hatte den Brief Arabellas schon längst erwartet, und um seine Wirkung auf Inez kennen zu lernen, war er unter der Veranda heimlich bis an das Gemach der jungen Mädchen hingeschlichen. Er würde auch noch länger dort verweilt haben, wenn nicht der Schrecken über die Entdeckung, daß einst seine Beratung mit El Muerte behorcht worden sei, ihn zu einer unvorsichtigen Bewegung veranlaßt und das dadurch entstandene Geräusch ihn nicht zum schleunigen Rückzug genötigt hätte.

Nun schritt er dahin, Wut und Rache im Herzen, aber noch ungewiß, gegen wen sich sein Haß zuerst und am meisten zu kehren habe. –

Inez hatte unterdessen mit fester Hand Licht angezündet, als sie aber den Siegellack den Flammen näherte, erschütterte ein leises Beben ihre Gestalt. Sie überwand diesen Anfall von Schwäche leicht und war eben im Begriff, die siedende Masse auf den Brief träufeln zu lassen, als Maria sie mit einer schnellen Bewegung daran hinderte.

»Nur einen Augenblick warte, meine süße Inez«, flehte sie mit einer Stimme, in der alles das lag, was sie für ihre Freundin fühlte; »nur einen Augenblick; es dient vielleicht zu deiner und zu meiner Beruhigung. Wer sagt uns denn, daß dieses Schreiben gerade an Don Roberto gerichtet ist? Es ist möglich, daß er nur die Besorgung desselben an eine dritte Person zu übernehmen hat. Hier steht wohl ›Alienor‹, aber es steht nicht dabei, wen sie mit dem ›Deine‹ meint.«

»Verletze nicht das Briefgeheimnis«, erwiderte Inez, ihre Lippe so hoch emporziehend, daß ihre Zähne wie zwei Reihen Perlen hervorschimmerten.

»Laß mich aussprechen, laß mich aussprechen«, eiferte Maria, deren Mut mit jedem neuen Wort, das sie sprach, zu wachsen schien; »laß mich aussprechen,« wiederholte sie heftiger, als Inez noch immer Miene machte, sie zu unterbrechen; »ich bin mehr dabei beteiligt, als du vielleicht ahnst – ich kenne deine Hinneigung zu dem Majordomo, wie du Don Roberto jetzt standhaft nennst, und ich glaube an die treue Anhänglichkeit, mit der er dir ergeben ist, oder ich müßte an der Rechtlichkeit aller Menschen zweifeln. Diese unglückselige Unterschrift kann uns allen das Leben bis ans Ende unserer Tage verbittern, wogegen der Inhalt des Briefes selbst vielleicht jeden bösen Verdacht verscheucht. Wir müssen ihn lesen, und wenn nicht deinetwegen, so doch meinetwegen!«

Indem Maria die letzten Worte in einem schmerzlichen Tone, der den Widerstand von Inez besiegte, ausrief, hatte sie auch den Brief schon vollständig geöffnet und vor sich auf den Tisch ausgebreitet.

Zögernd senkten sich Inez' Augen auf das Papier; als Maria aber nach dem ersten Blick sich mit einem tiefen Seufzer zurücklehnte und den Brief wieder an sich nehmen wollte, da legte Inez ihre Hand auf denselben.

»Ich will zu Ende lesen, lies auch du«, sagte sie so ruhig, so kalt und mit so tonloser Stimme, daß die zagende Maria erschreckt zu ihr emporschaute.

Totenstille herrschte in dem Gemach, die beiden Mädchen aber lasen; Maria mit allen äußeren Zeichen schmerzlicher Erregung, Inez dagegen kalt und starr wie eine schöne Bildsäule. Nur ein schwaches krampfhaftes Zucken wurde zuweilen um ihre zusammengepreßten Lippen sichtbar.

Da begannen sich ihre Züge plötzlich wieder zu beleben, und tiefes Rot breitete sich weit über die eben noch so weißen Wangen und Schläfen aus; die zierlichen Finger der linken Hand, mit denen sie sich auf Marias Stuhl stützte, schienen sich in das harte Holz eingraben zu wollen.

Ihre Lippen öffneten sich endlich und wie unbewußt las sie eine Stelle des Briefes laut vor: »Die niedliche Tochter des Rancheros bedauere ich innig, mein geliebter Robert, aber was wolltest Du auch wohl mit einem so einfachen Landmädchen? Du stehst zu hoch über ihr hinsichtlich Deiner Weltbildung; und selbst wenn Du ihre törichte Neigung erwidertest, würde sie doch nie für Dich passen, im Gegenteil nur eine unbequeme Last für Dich sein. Jetzt, wo ich Deiner treuen Liebe versichert bin und Deinen Wert kennen und schätzen gelernt habe, bedauere ich die niedliche Inez innigst. Oh, ich schaudere bei dem Gedanken: wenn, ich an ihrer Stelle wäre und Dich ihretwegen hätte verlieren sollen! Ich vergegenwärtige mir dabei aber die Qualen, die sie empfinden muß, wenn Du vor sie hintrittst und, statt der so heiß erwarteten Erklärung Deiner Liebe, ihr die Hand zum Abschied fürs ganze Leben reichst. Das arme Kind, mag die heilige Jungfrau es trösten! Dieser Brief soll über Pueblo de los Angeles, wohin er durch einen sicheren Boten befördert wird, zu Dir gehen. Möge er Dich nicht verfehlen. Ich sterbe vor Sehnsucht nach Dir, Du innig Geliebter. Erfahre ich Zuverlässigeres über Deine Heimkehr, so reise ich Dir wahrscheinlich entgegen, um mit Dir auf der Mission San Fernando zusammenzutreffen. Mögen Dich die Heiligen auf Deiner Reise beschützen und über Dir wachen. Mein edler Bruder sendet Dir die aufrichtigsten Grüße. Von mir aber nimm die heißesten Küsse und kehre bald in meine Arme zurück. Ewig Deine Alienor.«

»So straft es sich, daß wir das Briefgeheimnis nicht besser zu achten wußten«, sagte Inez, nachdem sie den Brief zu Ende gelesen hatte, die Blicke aber noch, wie in tiefem Nachdenken, auf der Unterschrift haften ließ. »Sie bedauert mich; mich, das einfache Landmädchen«, flüsterte sie, ihren Gedanken unbewußt Worte gebend; »er hat meine Gefühle erraten und sie zum Gegenstand seiner und ihrer scherzhaften Bemerkungen gemacht. Und sie, sie bedauert mich!« rief sie laut aus, indem sie, weinend vor Entrüstung, mit ihrem Fuße heftig auf den Boden stampfte. »Maria, du hast es gelesen, sie bedauert mich, mich, das einfache Landmädchen! Oh, dieser Spott! Als ob ich seine Erklärung heiß erwartet hätte! Als ob es mir das Herz bräche, den Majordomo scheiden zu sehen. Ihn, für den ich so viel getan, und doch nicht mehr, als ich für jeden andern Menschen getan haben würde. Ihn, den ich ohne Hoffnung auf Dank beschützte, der so viel innige Anhänglichkeit heuchelte, und den ich jeden Augenblick aus dem Hause meines Vaters hätte weisen können! Aber es ist noch nicht zu spät«, fuhr das so tief verletzte junge Mädchen fort, indem es die geballte Hand mit leidenschaftlicher Erregtheit auf den Brief stemmte. »Nein, es ist noch nicht zu spät. Er wird heimkehren; ich selbst werde ihm den Brief einhändigen; ich will ihn fragen, was ihn berechtigt, in meinem Herzen eine Neigung für ihn vorauszusetzen. Von ihm geht es ja allein aus, woher sollte seine grausame, herzlose Gefährtin dergleichen sonst erfahren haben? Sie, die mit so viel Gastfreundschaft unter dem Dache meines Vaters aufgenommen wurde? Oh, ich bemerkte es schon an jenem Abend, daß sie ihn in ihr Netz lockte – und sie sah so kindlich unschuldig aus – und er schaute so treuherzig um sich – Verstellung! Maria, alles war wohldurchdachte Verstellung – sie hatten sich verschworen, ihr Spiel mit mir zu treiben, mich zu verspotten, zu verhöhnen – und ich war kindisch genug, an die Aufrichtigkeit anderer Menschen zu glauben – aber ich will mich rächen, rächen an ihm, an ihr, rächen für den Schimpf –«

»Inez, Inez, mäßige deinen Zorn, der, ich pflichte dir bei, vollkommen gerecht ist«, flehte Maria, die sich jetzt, in Tränen ausbrechend, an ihre Brust warf. »Nicht alle Menschen sind falsch«, schluchzte sie, vom Schmerz überwältigt; »du hast ja mich, mich, deine Freundin, deine Schwester, die, solange sie lebt, Leid und Freude mit dir teilt. Laß sie ziehen, wohin ihr Geschick sie ruft; sie werden, auch ohne daß du dich an ihnen rächst, ihre Strafe finden für das bittere Leid, welches sie dir zugefügt haben. Es lag ja auch gar nicht in ihrer Absicht, dich durch die offene Darlegung ihrer Falschheit zu verletzen, und wenn nicht dieser unglückselige Brief –«

»Du hast recht«, unterbrach Inez jetzt wieder ruhiger ihre trostspendende Gefährtin, indem sie ihre Liebkosungen erwiderte; »ja, du hast recht; der Inhalt des Briefes war nicht für unsere Augen bestimmt; und dennoch ist es gut, daß wir ihn kennen gelernt haben. Sie sollen es aber nie erfahren. Und rächen? Nein, ich habe nicht nötig, mich für irgend etwas zu rächen. Er war stets freundlich und liebevoll, und er soll mich in den letzten Tagen unseres Zusammenseins nicht anders als freundlich finden. Wenn ich mich wirklich zu einer törichten Neigung zu ihm hinreißen ließ, was ich dir, meiner einzigen Freundin, gegenüber nicht ableugne, so war das nicht seine Schuld. Er wird von uns scheiden, ohne eine Ahnung davon zu erhalten, was er mir vielleicht gegolten; mein Abschiedsgruß wird ein freudiger sein, und nur du, du ganz allein, meine gute, treue Maria, die du Zeuge eines langen, mit glücklichen, hoffnungsreichen Träumen durchwebten Jahres warst, nur du sollst und darfst Zeuge meines Schmerzes sein. Aber auch du wirst ja von mir gehen«, schloß Inez, Maria die rabenschwarzen Locken, wie eine Mutter ihrem Kinde, zärtlich von der Stirne streichend.

»Niemals gehe ich von dir!« rief Maria schmerzlich aus, indem sie die, die ihr während ihres ganzen Lebens alles gewesen, fester an sich drückte, als ob sie eine gewaltsame Trennung befürchtet hätte; denn der ernste, wehmütige Ton, in dem Inez gesprochen, hatte ihr das Herz zerrissen.

»Du wirst deinem guten Stern folgen und glücklich sein«, entgegnete Inez bestimmt, und ein liebliches Lächeln schlich sich wieder auf ihre bleichen Züge. »Du wirst glücklich sein und auch in der Ferne meine einzige treue Freundin bleiben. Aber sei verständig jetzt, trockne deine Tränen, es darf niemand eine Ahnung von dem erhalten, was hier vorgefallen ist. – Doch wir vergessen ja den Brief.« Und so sprechend, entwand sie sich den Armen Marias, die, unfähig, weitere Trostesworte hervorzubringen, schwermütig die erzwungene Fassung der Freundin beobachtete.

Als Inez das wiederversiegelte, aber nicht mit dem Abdruck eines Petschafts versehene Schreiben vor Maria auf den Tisch legte und sie um die weitere Beförderung desselben bat, da spielte wieder der alte Stolz um die frischen, aufgeworfenen Lippen. Ihre Wangen waren aber noch bleich, und aus ihren seelenvollen Augen leuchtete tiefe Trauer.

»Du wirst die Besorgung schon übernehmen müssen,« sagte sie, milde lächelnd, indem sie Maria auf die Stirn küßte, »vielleicht ist dein Vertrauter freundlich genug – schüttle nicht dein schönes Haupt,« unterbrach sie sich selbst, und sie drohte neckisch mit dem Finger, »er ist dein Vertrauter und wird bald mehr als dieses sein. Aber nun komm, ein Spaziergang wird uns gut tun, und die kühle Abendluft die letzten Spuren von Aufregung vertilgen.«

Inez hatte sich schon erhoben und ihren Reboso herbei geholt, als Maria schüchtern auf das Brettchen hinwies, das seitdem Juan es gebracht hatte, unberührt auf dem Tische liegen geblieben war.

»Gewiß irgendeine Spielerei des Chinesen«, versetzte Inez, den bezeichneten Gegenstand flüchtig betrachtend; »Juan sagte ja wohl, einer dieser armen, mißhandelten Menschen, die zu Tausenden in San Franzisko landen, habe es ihm übergeben.«

»Er sagte, es sei ein Chinese gewesen, er sagte aber auch, dieser hätte dem Brettchen und der richtigen Einhändigung desselben eine große Wichtigkeit beigelegt.«

Inez antwortete nicht, denn einzelne der auf das Holz geklebten Worte hatten ihre Aufmerksamkeit erregt, und den Reboso nachlässig über die Stuhllehne hängend, setzte sie sich nieder, worauf sie Maria bat, mit ihr gemeinschaftlich die auf so sinnige Weise mitgeteilte Nachricht zu entziffern. –


 << zurück weiter >>