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Die Schlacht bei den Pyramiden

Das Münster trug das Kleid der schönen Herbstabende.

Sehr gefallsüchtig trotz ihres Hochmuts, war die Schöne in Rosa und Lila gekleidet – schimmernd vor guter Laune. Ihr Lachen strahlte über die alten Häuser. Die aber hatten schon so viel erlebt, daß nichts sie aus ihrer Verschlafenheit aufrütteln konnte. Sie hockten beisammen gleich verdrießlichen Frauen: »Eine Frechheit!« schienen sie zu sagen – »wie sich die jung macht! Und hat hundertmal soviel Jahre auf dem Buckel wie wir, das Rabenvieh!«

In der Höhe ging ein fröhlicher Wind. Unten war es still.

Der Rauch aus den Kaminen der Stadt spielte um die Hüfte der Schönen. Das schillernde Gewoge weckte den Gedanken an die Fluten, denen einst an einem Abend wie diesem die vollkommenste Gestalt der Schöpfung entstiegen war: die Ahnfrau alles Guten, die Göttin der im Gewaltigen maßvollen Liebe.

Ahnte die Schöne ihre Abkunft? Erinnerte ein plötzlich aufwallendes Gefühl sie an die Mutter?

Sie wandte den Kopf von den Strahlen der sinkenden Sonne weg, blickte nach Süden und lachte. Es schlug sechs. Ihr Lachen ließ jeden der Schläge erbeben – einer nach dem andern wirbelte in der Luft und sank herab auf die Stadt.

Durch die Dachluke des Speichers hätten die Kinder sehn können, wie sie dastand in der Herrlichkeit ihrer Freude. Aber die Gedanken der Knaben und Mädchen waren unempfänglich für die reine Größe, sie galten den gewaltigen und bösen Werken der Menschen.

 

Von den zwei übereinanderliegenden Speichern war der oberste ziemlich hell. Er hatte auf jeder Seite eine Reihe hoher Dachluken, deren meist schadhafte Scheiben mit Packpapier verklebt waren. Durch das einzige offene Fenster fiel ein Sonnenstrahl und teilte den Raum in zwei ungleiche Teile. Im kleineren Teil war der Boden mit Zeitungen ausgelegt.

Die Kinder kamen einzeln und in Gruppen, den Schrecken des unteren düsteren Speichers, in dem sich einmal ein Mann ›aus Liebesnot‹ (so hieß es jetzt) erhängt hatte, noch schaudernd im Rücken – alle zögerten vor dem flimmernden Sonnenstrahl und durchschritten ihn teils ängstlich geduckt, teils aufatmend, mit erhobenen Armen wie eine durchlässige Mauer. Zwei kleinere Mädchen faßten sich an den Händen, nahmen das Hindernis mit einem Satz und landeten quietschend auf der andern Seite.

»Pst!« erklang es zurechtweisend, und aus dem Hintergrund rief eine Stimme: »Ruhe!«

Die Kinder hielten erschrocken die Hand vor den Mund und schlichen zur Seite.

Nachdem das Publikum auf dem Viereck aus Zeitungen, die natürlich sofort durcheinandergerieten, versammelt war, erschienen als letzte zwei weißgekleidete Mädchen. Das Musselinröckchen reichte ihnen knapp bis an die Knie der übermäßig langen und mageren Beine. Die eine war ebenso auffallend schwarz wie die andre blond. Die Schwarze trug eine rote, die Blonde eine weiße Rose am Ohr, dort, wo bei beiden der eine der zwei starken Zöpfe ansetzte. Sie gingen rechts und links an den andern vorbei bis dicht vor die Bühne und betraten ihre Logen, zwei Waschzuber. In dem einen stand ein wackeliger Polsterstuhl, im andern ein Schemel.

Die Mädchen wandten sich zum Publikum, das sich stumm verneigte – erst gegen die Schwarze, dann gegen die Blonde. Die Mädchen dankten mit einer bedeutend kürzeren Verbeugung und setzten sich, worauf auch das Publikum auf dem Zeitungsparkett Platz nahm.

Ursprünglich hatte in jeder der beiden Logen ein alter Polsterstuhl gestanden, weil das Hofmeisteramt es für eine genügende Auszeichnung Lisas hielt, wenn das Publikum sich zuerst vor ihr verneigte. Aber infolge von Unstimmigkeiten, die mit einer Ohrfeigengeschichte zusammenhingen, hatte Lisa ihr Erscheinen an die Bedingung geknüpft, daß sie vor ihrer Freundin sichtlich erhöht werde – eine Anmaßung, die bestimmt an der Weigerung der maßgebenden Stelle gescheitert wäre, wenn nicht Eva selbst sich mit aller Kraft für die Kapitulation eingesetzt hätte.

Ihre Nachgiebigkeit wurde noch vor Beginn der Aufführung schlecht gelohnt. Sie erhob sich mit Anstand und bat, man möge die Hornisse verjagen, die in der plötzlich eingetretenen Stille den Speicher mit ihrem Brummen erfüllte, und als die Jungen im Parkett darauf mit höhnischen Zurufen antworteten, suchte sie mit einer leichten, hoheitsvoll vertraulichen Gebärde Unterstützung bei Lisa – so, als wende sie sich über die Köpfe des Pöbels hinweg an ihresgleichen und die zarteren Gesetze der Gesittung. Lisa aber verbesserte nur ihre Haltung und blickte auf Eva wie ins Leere.

Ein Wecker schnurrte ab. Die Kulissen, alte Gardinen, die von den Dachbalken herabhingen, gerieten in Bewegung. Eva setzte sich, von niemand beachtet, und der Vorhang, eine verfärbte, einst grüne Markise, rollte mühsam in die Höhe. Auf der Bühne, nämlich hinter einem quer über den Boden verlaufenden Kreidestrich, sah man die Generäle Kléber und Bonaparte. Hinter ihnen ragte ein spitz zulaufendes, mit alten Säcken bekleidetes Gestell bis unter das Dach.

Die Generäle standen neben zwei ziemlich neuen, kräftigen Stühlen und spähten durch das Fernrohr in die Kulisse. Es waren Fernrohre, wie sie in Friedenszeiten zur Versendung illustrierter Zeitschriften gebraucht werden, und nichts, außer vielleicht den Löchern in den Schuhen Klébers, hätte die sprichwörtliche Armut der republikanischen Heere schlagender beweisen können als diese Papprollen vor den Augen ihrer Befehlshaber. Hingegen waren die Kürassiersäbel, die sie mit der andern Hand festhielten, echte, sagenumwobene Haudegen aus dem Familienbesitz der Köchin Gudula. Sie reichten den Generälen bis an die Schulter.

Über Bonapartes lockenumrahmter Stirn glänzte ein Zweispitz aus vergoldetem Zeitungspapier. Seitlich schmückte den Hut eine blauweißrote Kokarde. Der ebenfalls blauweißrote Federbusch aus Papierschnitzeln raschelte bei jeder Bewegung. Das köstliche Geräusch, nicht etwa, wie das Publikum annahm, Unzufriedenheit mit dem, was er durch das Fernrohr erspähte, war der Grund, weswegen der Höchstkommandierende so häufig den Kopf schüttelte. Kléber trug als Generalshut die rote Kappe, die Bonaparte ihm früher, als er noch Zivilist war, geschenkt hatte. Neben ihnen, etwas weiter nach vorn, hielten die 32 000 Mann der Ägypten-Armee, von denen man freilich nur den Flügelmann sah. Die übrigen 31 999 Mann verbarg die anschließende Kulisse.

Der Kopf des Flügelmanns steckte in einem viel zu großen Feuerwehrhelm, der Klebers Vater, dem Zimmermann, gehörte, und den der General gegen entsprechende Vergütung hergeliehen hatte.

Den Flügelmann der Ägypten-Armee machte Lisas Zwillingsbruder Ferdinand. Er hatte einen hölzernen Säbel umgeschnallt und gab sich Mühe, über diese Unzulänglichkeit hinwegzutäuschen, indem er ein unzweifelhaftes Jagdgewehr des öfteren aus der einen, von der Kulisse verdeckten Hand in die andre, sichtbare wandern und die kriegerische Pracht vor den Augen der Zuschauer spielen ließ. Hier funkelte und blitzte es, bis die mutmaßliche Ungeduld der Ägypten-Armee ihren Höhepunkt erreichte. Dann kehrte das Gewehr zur andern Hand und damit in die Kulisse zurück, wo die Unruhe einer kampflustigen Armee durch Aufschlagen des Kolbens eine täuschende und, zumal für Mädchen, schaurige Nachahmung erfuhr. Die schwarzen, feurigen Augen des Mannes schielten bald nach Bonaparte, bald nach Eva, deren Blicke wiederum zwischen dem Höchstkommandierenden und der undurchdringlichen, in ihrem Bottich thronenden Lisa hin und her wanderten.

Robby sieht gut aus als Bonaparte, gestand sich Eva. Nach der Schlacht, wenn er gesiegt hat, schenke ich ihm meine Rose ... Ich werfe sie ihm zu. Lisa weiß nichts davon ... Sonst käme sie mir natürlich zuvor ...

»Siehst du was, Kléber?« fragte mit tiefer Stimme Bonaparte.

»Nein, General, ich sehe nichts«, piepste Kléber.

Es hätte nicht erst des Kicherns im Zuschauerraum, bedurft, um den General vor Schreck über seinen Querpfiff zusammenfahren zu lassen. Ohne den Feind im Fernrohr aus dem Auge zu verlieren, räusperte er sich und stieß mit dem Kürassiersäbel auf den Boden. Nachdem die Unruhe sich gelegt hatte, nahmen die Generäle das Fernrohr vom Gesicht, und Bonaparte fragte: »Wie stark sind die Mamelucken?«

»Hunderttausend Mann, General«, versicherte Kléber, diesmal in einer dem Ernst der Stunde angemessenen Tonlage.

»Wir werden sie einfach angreifen müssen«, meinte Bonaparte. »Wir können nicht länger warten.« Mit erhobener Stimme fügte er hinzu: »Die Armee bebt vor Ungeduld.«

Auf dieses Stichwort begann der Flügelmann ganz entsetzlich in der Kulisse zu rumoren. Der Gewehrkolben klopfte und scharrte. Auch ein Klirren vernahm man. Eine Staubwolke erhob sich und zog langsam über die Bühne.

»Wie sollen wir sie angreifen, General«, bemerkte Kléber, »wenn wir sie gar nicht sehn?«

»Irgendwo muß schon gekämpft werden«, versetzte Bonaparte und fuhr mit dem Fernrohr durch die Staubwolke. »Sehn Sie nicht den Pulverdampf?«

Es klang verächtlich, und Kléber beeilte sich, das Fernrohr ans Auge zu heben. Kaum, daß er hindurchgesehen, rief er erschrocken: »Da sind sie, General! Wahrhaftig! Sie kommen in Haufen!«

Bonaparte nickte befriedigt, tat ein paar Schritte zur Seite, wobei er den Kürassiersäbel als Wanderstab benützte, zeigte auf das Gestell mit den alten Säcken und schrie:

»Soldaten! Von diesen Pyramiden schauen vierzig Jahrhunderte auf euch herab!«

Im Saal herrschte nachdrückliche Stille. Das Publikum hielt eine so kurze Ansprache vor einer großen Schlacht für ungenügend und wartete auf die Fortsetzung. Die Hornisse bumste gegen die Scheibe einer Dachluke, und Bonaparte sah Eva ängstlich auf ihrem Schemel rücken. Erst als Kléber, der das Mißverständnis witterte, »Bravo!« rief, geriet auch das Volk in Bewegung. Es spendete lebhaft Beifall, und mit dem Ruf: » Vive l'Empereur!« Französ. – »Es lebe der Kaiser!« präsentierte der Flügelmann das Gewehr.

Gleich darauf war er in der Kulisse verschwunden, und nun erscholl es bald hier, bald dort hinter der Bühne: » Vive l'Empereur! Vive! Vive l'Empereur!« Die 32 000 Mann der Ägypten-Armee schrien ihre Begeisterung in die Wüste.

Das Volk schloß sich an, minutenlang herrschte tapferes Geschrei.

»Was heißt denn das?« brüllte Bonaparte. »Ich bin doch noch gar nicht Kaiser! Ich bin doch erst Konsul! ... Maul halten ... Ruhe!« Er war außer sich, ganz blaß um die Nase, und schwang das Fernrohr, als suche er, wem aus dem Volk er es an den Kopf werfen solle.

Als der Lärm verstummt war, vernahm man erst nur wieder das Brummen der Hornisse, von helleren Tönen unterbrochen, wenn das Tier gegen die Scheibe stieß. Allmählich jedoch trat ein andrer Laut hinzu, ein Glucksen wie von einer Flasche, aus der eingeschenkt wird, leise erst, dann stärker: Lisa lachte.

Und jetzt steckte sie das Taschentuch zwischen die Zähne, beugte sich vor, man sah von ihr nur noch den krampfhaft geschüttelten Rücken.

Bonaparte, der bis an den Kreidestrich vorgerückt war, ließ das drohend erhobene Fernrohr sinken und blickte von Lisa auf Eva, von einem Bottich zum andern. Eva war so verdutzt wie er selbst, wie das Publikum, wie die übrige Generalität, wie die gesamte, plötzlich verstummte Armee. Da, endlich, erhellte eine Eingebung Evas Züge. Sie warf den Arm hoch und rief mit ihrer schönen hellen Stimme: » Vive Bonaparte!«

Jetzt bald, dachte Eva ... Gleich ziehe ich die Rose aus dem Haar und werfe sie ihm zu ... Wenn nur Lisa nicht ... Warum wartet er so lange, um zu siegen!

»So ist es richtig«, bemerkte sachlich der Konsul, und zu Kléber und dem wiederaufgetauchten Flügelmann sagte er: »So war es abgemacht, ihr Esel!«

Eva, vom Erfolg ermutigt, sprang auf, machte in militärischer Haltung eine Bewegung, als ziehe sie einen Säbel, und nickte Bonaparte eifrig zu.

Leider konnte er den Rat nicht befolgen, weil zum Herausziehn des Säbels zwei gehörten, einer, der die Scheide festhielt, und ein andrer, der die Klinge herauszog.

Erstaunlicherweise eilte ihm in diesem Augenblick Lisa zu Hilfe. Sie richtete sich in ihrem Bottich auf und kreischte: » Vive Bonaparte!« drei-, viermal, bis das Publikum und anschließend auch die Armee die Sprache wiederfand, und nun spürten alle in ihrem Fleische, wie der Feind unter dem verbesserten Schlachtruf in sich zusammenkroch.

Eva allein nahm nicht an dem Ausbruch teil und setzte sich traurig auf ihren Schemel. Sie wußte jetzt, daß Lisa ihr zuvorkommen würde – daß die rote Rose auf die Bühne flöge, bevor sie noch ihre weiße losgemacht hätte ...

Währenddessen würgte Kléber an einer Gewissensfrage. Bonaparte hatte ihm auseinandergesetzt, daß die Worte, die auf seinem Denkmal auf dem Kléberplatz standen, vor der Schlacht bei Heliopolis und in Abwesenheit Bonapartes gesprochen worden seien als Antwort auf eine Aufforderung zur Übergabe – wohingegen hier die Schlacht bei den Pyramiden stattfinde, bei der Bonaparte allein kommandiert und das große Wort geführt habe. Kléber hatte sich, wenn auch widerstrebend, gefügt und seinen historischen Ausspruch hinuntergeschluckt. Jetzt aber, in der durch den Fehlruf der Armee angerichteten Verwirrung, stieg ihm der Ausspruch ganz von selbst wieder hoch. Eine zeitlang kämpfte er mit sich, dann trat er mit rotem Kopf neben Bonaparte, forderte, indem er mit dem Säbel auf den Boden klopfte, Ruhe, räusperte sich ein paarmal, und siehe da, sein verzweifeltes Unternehmen gelang nicht nur stimmlich, es brachte auch die Schlacht in Gang. Hell und männlich schmetterte er ins Parkett:

»Soldaten! Auf derartige Frechheiten gibt es nur eine Antwort: den Sieg. Macht euch fertig zum Gefecht!«

Der Beifall war ungeheuer, und als habe die Armee nur auf dieses Wort gewartet, marschierte sie mit gewaltigem Lärm gegen den Feind. Man hörte den dröhnenden Schritt der Infanterie, das Trappeln und Wiehern der Pferde, das Poltern der Kanonen. Die Pyramide wankte.

Bonaparte, schnell gefaßt, verfolgte den Aufmarsch seiner Armee durch das Fernrohr. Als der Beifall abflaute, rief er: »Kléber!«

Kléber, der, von sich selbst entzückt, mit blanken Zähnen in den Zuschauerraum grinste, pflanzte sich vor dem Höchstkommandierenden auf und salutierte.

»Kommen Sie, mein Lieber«, sagte Bonaparte und klopfte ihm auf die Schulter. »Sie kriegen jetzt zu tun.«

Gemeinsam schritten sie zu den beiden Stühlen vor der Pyramide.

»Vorwärts«, befahl der Konsul. »Greifen Sie mit dem linken Flügel an und machen Sie mir einen schönen Salat aus den Türken.«

Kléber stellte das Fernrohr am Fuß der Pyramide ab, salutierte und ließ den gewaltigen Säbel vorsichtig in das Gehenk hinab. Um so stürmischer schwang er sich dann aufs Pferd.

Hier kam nun ans Licht, warum von allen im Speicher versammelten Gegenständen die beiden Stühle allein mit Sorgfalt ausgewählt und voll gebrauchsfähig waren. Den Säbel am, Boden schleifend, beide Hände um die Stuhllehne gekrallt, begann Kléber in die Schlacht zu reiten. Bereits drangen die ersten Kanonenschüsse herüber. Der Galopp war heftig, das erkannte jeder, aber so wild die vier Beine auch tanzten, sie kamen nur mühsam vom Fleck, und so kräftig das Tier gebaut war, drohte es doch bei jedem Sprung in die Brüche zu gehn. Atemlos verfolgten alle, Bonaparte an der Spitze, die Anstrengungen des wackern, in den Schmittlinschen Geschäftsräumen requirierten Rößleins. Als es endlich mit seinem Reiter den letzten Satz in die Kulisse hinein tat, brach ein Jubel sondergleichen los, und die Schlacht schien gewonnen.

In Wirklichkeit begann sie erst.

Alle halbe Minute kam der Flügelmann gelaufen, um als Adjutant Meldung zu erstatten und die Befehle des Feldherrn entgegenzunehmen.

Man hörte deutlich, wie er jedesmal in der Kulisse vom Pferde sprang.

Mit Rücksicht auf die verschiedenen Waffengattungen, die ihn zum Höchstkommandierenden entsandten, kam er bald von der Artillerie im Feuerwehrhelm, bald von der Infanterie in einer hohen Grenadiermütze aus geschwärztem Papier, und wenn die Papiermütze weiß war und oben zu einer Spitze eingedrückt, so schickten ihn die Kürassiere. Zuletzt, als eine Abteilung Voltigeure in einen Hinterhalt gefallen und bis auf ein paar Ausreißer niedergemacht worden war, erschien er barhäuptig, mit zerrauftem Haar und einem Stirnverband, der rote Flecken aufwies.

Bisher hatte der Konsul seine Befehle mit Gelassenheit erteilt – sogar, als ein von der feindlichen Reiterei gesprengtes Karree in der Eile aus verschiedenartigen Truppen neu zusammengestellt werden mußte. Bei der Meldung von den niedergesäbelten Voltigeuren verlor er die Geduld. Er ließ den Überlebenden sehr unangenehme Dinge bestellen, und durch das Versagen einer so erprobten Truppe gewarnt, stieg er zu Pferd, um für alle Fälle bereit zu sein.

Die Hoffnung der Zuschauer, er werde nun ebenfalls wegreiten (die Kleinsten im Parkett sprangen auf, um besser zu sehn), erfüllte sich nicht, obwohl der Geschützdonner näher und näher rückte und der Wind zuweilen ein wildes Geheul herübertrug, das unverkennbar von den Mamelucken kam. Statt dessen erschien schon wieder der Flügelmann. Mit Hilfe eines Tischtuchs und einer Serviette hatte er sich in einen burnustragenden, turbangeschmückten Türken verwandelt. Er trat als Parlamentär auf und warf sich dem Konsul zu Füßen.

Lisa war die Lust, sich aufzuspielen, unter den gewaltsamen Ereignissen vergangen, und Bonaparte hatte infolgedessen seine Aufmerksamkeit unbehindert der Kampfhandlung zuwenden können. Seitdem das Geschützfeuer die Luft erschütterte und der Speicher nicht nur wankte, sondern von einem ekligen Pulverdampf erfüllt war, der ihr die Kehle zuschnürte, drehte Lisa an ihrem Taschentuch und schluckte.

Das letzte, besonders bedrohliche Aufheulen des Feindes entriß ihr einen Schrei. Der Schrei war so beängstigend, daß der Höchstkommandierende sich versucht fühlte, den stürmisch anrückenden Muselmanen abzuwinken. Doch belehrte ihn ein Blick auf Lisa, daß sie, wie die andern auch, auf die Steigerung der Schlacht ins Unmenschliche brannte, keineswegs auf die Schmälerung ihrer Greuel.

So tupfte er denn dem Parlamentär mit dem Fernrohr auf den Kopf und fragte: »Sprich! Was begehrst du, ungläubiger Hund?«

Als der Türke daraufhin das Gesicht hob und seine Bitte um Waffenstillstand vorbrachte, rief eine Knabenstimme im Parkett: »Mein Gott, ist das nicht die Lisa?«

»Du Simpel!« versetzte auffahrend Lisa. »Du siehst doch, daß ich hier sitze! Du kennst doch wohl noch meinen Bruder!«

»Oho«, mischte Lucie Schön sich aufgeregt ein, »man kann euch wahrhaftig nicht auseinanderhalten.«

Im Zuschauerraum begann ein Flüstern und Wispern, mit kleinen kichernden Lauten dazwischen, wie von Kindern, die gekitzelt werden. Alle, Knaben und Mädchen, fühlten das Richtige der Behauptung. Plötzlich, wie auf ein Stichwort, schien ihnen die Ähnlichkeit der Zwillinge über das natürliche und gewohnte Maß hinauszugehn. In manchen stieg eine Ahnung auf, als habe es mit den beiden nicht seine Richtigkeit, als sei Lisa ein verkleideter Junge und Ferdinand ein verheimlichtes Mädchen oder als könnten sie abwechselnd das eine sein und das andre. Was wollten Unterschiede wie Hose und Rock, wie kurze oder lange Haare besagen – wer von ihnen hatte sich nicht schon verkleidet! Niemals aber hatten sie sich dabei so weitgehend verändert wie der Türke Ferdinand, das wußten sie genau, sie hatten sich im Spiegel gesehn. Und sie fragten sich, ob das Ganze ein Skandal sei oder nur ein verbotenes Vergnügen.

»Das Nachthemd, in dem er da vor seinem angebeteten Robert kniet –«, flüsterte Lucie Schön der Emma Hämmerle ins Ohr. »Ob ihm darunter Brüste wachsen?« »Du bist ein schmutziges Ding«, versetzte Emma.

Lucie stieß sie in die Seite: »Selber Schmutzfink!«

Und Emma, die immer zu kurz kam im Leben, spürte, wie sich in ihr ein Gefühl von Verlegenheit ausbreitete, ein trauriges Verlangen, an der Gefahr solcher Zweideutigkeit teilzuhaben, mit Ferdinand und Lisa verbunden zu sein, wenn auch nur durch Mitwissen (wovon, blieb unklar) – mit ihnen und mit Robert, der dem Geheimnis am nächsten lebte ...

Während der Schlachtenlärm auf der Bühne verstärkt einsetzte (Kléber, der ihn vertretungsweise besorgte, zeigte sich erfindungsreicher als der derzeitige Türke), richtete der General an den Parlamentär ein Ansinnen, das die Zuschauer gänzlich verwirrte. Er verlangte als Preis des Waffenstillstandes, daß der Sultan die schönsten Frauen seines Harems an ihn abtrete!

»Wieviel hat er denn?« fragte eine Mädchen stimme, die sich vor Eifer überschlug.

Lisa wandte den Kopf und sagte hochnäsig: »Wieviel wird er schon haben!«

Und zu Bonaparte, über den Kreidestrich hinüber: »Puh! lauter alte Weiber! Da gratuliere ich aber, Robby.«

»So bringe mir die jüngste Sultanstochter!« befahl, sichtlich eingeschüchtert, der Konsul.

Der Parlamentär neigte das Haupt und sprach, indem er gleichsam fröstelnd den Burnus fester um sich zog: »Oh, Herr! Die Sultanstochter bin ich selber!«

»Nein?« schrie jemand in höchster Erregung.

Die Zuschauer sprangen fast alle gleichzeitig hoch, Lisa aber in einem Schwung aus dem Bottich und auf die Bühne. Sie riß der angeblichen Sultanstochter den Turban vom Kopf und packte sie bei den Haaren.

»Was willst du sein, du Simpel? Die Sultanstochter? Sag es noch einmal!«

Wiederum war es Kléber, der, diesmal unsichtbar hinter der Bühne, eingriff und der Lahmlegung des Schlachtenlenkers auf dem Höhepunkt des Ringens ein Ende setzte.

In der Tasche bewahrte er ein Dutzend Knallerbsen. Sie sollten zur Verwendung kommen, wenn die Muselmanen, den von einem ungenannten General befehligten rechten Flügel überrennend, bis dicht an die Pyramiden herangekommen wären und auf das Konsuls Befehl die Garde nach kurzem, heftigem Gewehrfeuer zum Bajonettangriff überginge, wodurch die Schlacht entschieden würde ...

Ohne länger zu warten, entfesselte Kléber das Gewehrfeuer im gleichen Augenblick, als Bonaparte sein Pferd scheuen und durchgehn ließ, um sich vor Lisa beim Feind in Sicherheit zu bringen. Lisa, durch das Knallen und Funkensprühen eingeschüchtert, versetzte der Sultanstochter einen Stoß in die Richtung, aus der das Feuer kam, und floh in ihren Bottich zurück.

Eva nestelte an ihrer Rose, lockerte sie vorsorglich. Nun würde doch sie es sein und nicht Lisa, von der er die Rose bekäme ... Sieg doch endlich – sieg, sieg! ...

Bonaparte brachte sein Roß mit einem Zug an der Kandare zum Stehen und klopfte das stolz nachscheuende Tier beruhigend auf den Hals.

Kléber kam angestürzt.

»General, drei unsrer Karrees sind niedergesäbelt, fünfzig Geschütze verloren, unsre Kavallerie flieht dem Rheine zu.«

»Dem Nil«, verbesserte Bonaparte.

»Dem Nile zu, wollte ich sagen«, benachrichtigte Kléber das Publikum.

Sodann überreichte er dem Höchstkommandierenden den blanken Säbel, den er schon vor einiger Zeit mit Hilfe des Flügelmanns hinter der Kulisse aus der Scheide gezogen hatte, und übernahm statt dessen den Säbel Bonapartes. Der Klinge sah man an, aus welchem Blutbad sie kam: Sie war mennigerot von der Spitze bis zu dem Griff.

Bonaparte schwang den blutigen Säbel über den Kopf, und Kléber lief unter Mitnahme der Sultanstochter, die Burnus und Turban im Stiche ließ, spornstreichs hinter die Bühne.

»Soldaten!« rief Bonaparte. »Ihr seid die Garde. In hundert Schlachten habt ihr niemals gewankt, ihr seid keine Voltigeure, die wie junge Hunde – wie junge Hunde – Ihr seid meine alte Garde! Ein Grenadier stirbt, er ergibt sich nicht. Achtung! Fällt das Bajonett. Vorwärts! Es lebe Frankreich! Es lebe die Republik!«

In wuchtigem Gleichschritt marschierte die Garde ab. Auf einer Spieluhr erklang leise, beinah zärtlich die Marseillaise. Die Zuschauer, die in der Aufregung vergessen hatten, ihre Plätze wieder einzunehmen, summten sie stehend mit, ohne Rücksicht auf Takt und Wortlaut. Einige verwechselten sie mit der Sambre-et-Meuse Titel eines französischen Tanzliedes..

Bonaparte drehte das Roß zur andern Seite und schrie: »Artilleriereserve vor! Schwerste Geschütze! Feuer!«

Ein furchtbares Krachen und Klirren erfolgte. Von der unsichtbar gewordenen Bühne wälzte sich eine Staubwolke ins Parkett. Vielleicht stand die Welt noch, aber sicher ging sie gleich unter.

Die Zuschauer standen noch blind und betäubt vom ersten Schlag, da ließen Kléber und die Sultanstochter hinter der Bühne die zweite Kiste mit leeren Weinflaschen von den Dachbalken herabsausen. Der Schrecken warf die Kinder gegeneinander, schreiend liefen sie über den schwankenden Boden. Einige sahen noch, wie die Pyramide zusammenbrach.

Jenseits des Sonnenstrahls, in dessen gelblichen Dampf sie rasch nacheinander auftauchten, schienen sie in einen Abgrund zu stürzen – Bonaparte nahm es verwundert, aber unbekümmert wahr. Er hielt vorn am Kreidestrich, stieß den vom Blut des Feindes geröteten Säbel in die Luft, brüllte: »Sieg! Sieg!«

Schon ritt auch Kléber herbei. Als das Pferd nicht schnell genug lief, stieg er ab und schleifte es hinter sich her. »Sieg!« jubelte er, und an die andre Seite des Konsuls stellte sich der alte Grenadier und Flügelmann mit dem endlich wieder zu Ehren gekommenen echten Gewehr, und auch er schrie nach Kräften: »Hoch Bonaparte! Sieg! Sieg!«

Außer der siegestrunkenen Armee befand sich nur ein Mensch noch im Speicher: Eva, mit der baumelnden weißen Rose im Haar. Sie stand in ihrem Bottich, vollführte Schwimmbewegungen mit den Armen und suchte vergeblich, die undurchsichtig gewordene Staubwolke zu zerteilen. Wie gern hätte sie »Sieg! Sieg!« gerufen. Sie setzte dazu an, es ging nicht. Sie hustete herzzerreißend, und darüber fiel die Rose zu Boden.

Sie bückte sich mehrmals, um sie aufzuheben, der Husten riß sie vorzeitig wieder hoch.

In einer Atempause wurde der Konsul auf das Geräusch aufmerksam. Er drang bis zu dem Mädchen vor und trat unversehens auf die Rose. Eva sah es und wollte ihn zurückstoßen.

»He da! Ambulanz!« rief er und hielt ihr die Hände fest wie einem Verwundeten, der in Schmerzen um sich schlägt. Zu dritt trugen sie die Zappelnde an Armen und Beinen auf die Treppe. Dort sagte der Konsul: »Verzeihen Sie, Madame, wenn ich Sie jetzt im Lazarett absetze. Ich muß nach meiner tapferen Armee sehen. Die Wüste ist mit Toten und Verwundeten übersät.«

Sie ließen sie stehn und kehrten auf das Schlachtfeld zurück, um es womöglich noch vor dem Abendessen aufzuräumen.

Die Kinder rannten über die beiden Höfe und weiter den Illkai hinunter.

Eva folgte ihnen langsam. Sie hätte viel lieber unter den Toten und Verwundeten gelegen, mit denen die Welt übersät war und zwischen denen sie in Gedanken den zukünftigen Kaiser wandeln sah. Das Schlachtfeld war ein exotischer Garten. Die Toten waren schön, ihre starren Augen blickten dankbar auf den Kriegsgott, der sich mitleidig über sie beugte. Die Sterbenden sprachen wunderbare Worte, die in die Schulbücher kamen. Sie zweifelte nicht, daß Robby eines Tages Kaiser sein werde – oder etwas ähnliches. Ein Sonnenstrahl traf die Spitze des Münsterturmes, um dessen nadelfeine Umrisse die Dämmerung wob. Glühend schwebte sie im Himmel, losgelöst von der Erde, einsam und erhaben.

»Eine Krone!« sagte Eva leise. »Robby! Eine Krone!«

Dann lief sie hinter den andern her.

Die Kinder sammelten sich auf der Mitte der Brücke, um zu Atem zu kommen. Gewohnheitsmäßig hoben sie plötzlich alle den Kopf und guckten in die Luft. Der ganze weite blaue Himmel knurrte. Es war der tägliche Artilleriekampf in den Vogesen. Der Krieg ging ins fünfte Jahr.

Bald stockte das Geräusch, bald schwoll es an, gleichsam erbost, unterbrochen worden zu sein.

Geradesogut, nein, viel eher hätte es aus der Erde kommen können, denn der Himmel rührte sich nicht. Vergnügt schossen die Schwalben hin und her. In der Erde aber war eine Bedrückung und heimliche Unrast, schwächer als ein Zittern – ein Schauern, ein kleiner Wirbel hier und dort auf erstarrter Fläche ...

Die Kinder waren in der Unruhe groß geworden. Sie nahmen sie ohne besondere Gemütsbewegung wahr. Jene Wallung von Angst und sinnlicher Erregung, die sie in der ersten Zeit gleichsam überschwemmt hatte, drang längst nicht mehr in ihr Bewußtsein. Das vertraute Knurren beruhigte sie.

Lisa blickte zum Haus hinüber, aus dem sie geflohen waren.

»Die Simpel!« sagte sie. »Einen so zu erschrecken!«


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