Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das alte Klavier

Der Hirschwirt von Aufhausen hat ein Klavier gekauft. Gern hat er's nicht getan, denn erstens kostet es Geld, und zweitens nimmt es den Platz weg im Nebenzimmer, das ohnehin nicht groß ist. Aber was will man machen? Wenn die Stadtleut' heraufkommen auf den Berg, dann fällt's ihnen auf einmal ein, daß sie tanzen wollen, und dazu brauchen sie ein Klavier. Die Aufhausener brauchen keins. Wenn's ihnen in den Füßen juckt und es fragt einer: »Wollen wir eins?« dann zieht sicher ein anderer eine Mundharmonika aus der Tasche und fängt an zu blasen, oder im Notfall pfeift einer auch nur. Da braucht's nicht viel. Aber die Stadtleut' sind nun einmal so. Im Löwen und im Engel ist ohnehin auch eins, und der Hirsch ist sowieso immer hinterdrein. Also hat der Hirschwirt in den sauren Apfel beißen müssen und hat ein Klavier gekauft. In Geislingen ist eins zu haben. »Ein gebrauchtes, wohlerhaltenes Tafelklavier um billigen Preis,« ist in der Zeitung gestanden. Eine Base seiner Frau hat den Kauf vermittelt und hat auch den Preis von achtzig auf siebzig Mark herabgehandelt. Und nun fährt er in die Stadt mit zwei Gäulen und seinem Leiterwagen und will es holen.

Es gehört einer alten Jungfer, einer Näherin, die in einer Giebelstube beim Bäcker Hintenlang wohnt. Früher hat sie in den Bürgerhäusern genäht, jetzt hat sie die Herzwassersucht und wartet aufs Sterben. »Da braucht sie kein Klavier dazu,« sagt die Base, als der Vetter mit der Peitsche knallend an ihrem Haus anhält und unter anderem wissen will, wieso denn die Jungfer Kenngott ihr Instrument hergebe. Ob es vielleicht recht miserabel sei? Um siebzig Mark, das müsse er sagen, dürfe es wohl gut sein. Er ist gar vorsichtig, der Hirschwirt; er ist ein rechter Geschäftsmann. Das freilich, das beruhigt ihn, daß die Jungfer Kenngott das Klavier »sterbenshalber« hergibt. »He he he,« er lacht sogar ein bißchen, »da braucht sie freilich keins dazu. Sterben, das kann eins ohne Musik.«

Darüber gehen nun allerdings die Ansichten auseinander, aber davon weiß der Hirschwirt nichts.

Die Jungfer Kenngott einmal, die denkt schon nicht ganz so. Die Sache ist nur so, daß sie nicht mehr in ihrem engen Kämmerchen schlafen kann, in das nur grad das Bett hineingeht. Der Doktor hat schon lang gesagt, sie soll das Bett in die Stube stellen, schon weil da mehr Luft zum Atmen ist. Die Herzwassersucht, das ist ein enges Tor zur Freiheit, man meint oft, es sei schier gar zu eng. Alle Luft von den Albbergen her sollte man haben zum Atmen und hat doch so wenig.

Und darum, weil das Bett, das große, breite Bett, das eigentlich ein zweischläfriges ist, in die Stube soll, darum muß das Klavier hinaus. Für beide ist nicht Platz darin. Sonst wär's ihr nicht um die siebzig Mark gewesen, es hätte auch ohne sie vollends zum Sterben und Begrabenwerden gereicht, und sie hätte das Klavier gern behalten bis zuletzt. Es stand so vertraut und altbekannt da bisher; sie kannte es so gut von innen und außen. Aber nun soll es abgeholt werden. Es wird doch recht fremd aussehen da in der Stube, wenn es nicht mehr da ist. Sie wird sich nicht leicht daran gewöhnen, daß es fehlt. Obgleich, sie hat ja selber einen Auszug vor; sie wird nicht viel Zeit haben, sich damit abzufinden und auch nicht, es zu vermissen. Es ist nur merkwürdig bei den Menschen: sie glauben es doch immer noch in einiger Ferne, das Vergehen, das Fortmüssen. Sie weiß es gut, daß es kommt, die Jungfer Kenngott. Alle sagen es, die zu ihr kommen. »Jetzt treiben Sie's nicht mehr lang, das sieht man,« sagen sie tröstlich. »Wenn eins einmal so geschwollen ist.« Aber so ganz nah, denkt sie, wird's doch nicht sein. Es ist ja auch immer noch etwas Schönes da, es ist noch nicht lauter Qual, das Dasein. Die Berge grüßen in ihr hochgelegenes Stübchen herein, die Berge der schwäbischen Alb, morgens in weißen, wogenden Schleiern, abends in sanfter, klarer Bläue. Hier und da fliegt ein Vogel auf den Fenstersims und zwitschert einen Gruß vom Leben. Da nickt sie ihm zu: »Ja, eigentlich bin ich noch ganz gern da. Wenn es ein bißchen leichter ginge mit dem Atmen, dann würde es mir eigentlich nicht eilen mit dem Fortgehen. Man ist nun doch so gewöhnt, daß man da ist. Das Neue, Fremde, das da draußen wartet vor den Toren des Lebens, das ist so unbekannt. Aber am schlimmsten ist doch der Gedanke an das, was vorher noch auf einen warten mag. Die letzten Tage, die sollen ja am bösesten sein.« Da graut ihr doch manchmal, wenn sie daran denkt.

Ob sie wohl nicht mehr ohne Hilfe bis zum Klavier hinüberkommt? Sie hat es von den Eltern ererbt und diese von den Großeltern. Es ist ein altes, ausgespieltes Ding. Aber es ist ihr, wenn sie den Deckel höbe und die schwarzen und weißen Tasten zu sich reden ließe, so würde ihr leichter. Die schweren, geschwollenen Glieder wollen nicht, und dann braucht es auch so viel Atem, ein paar Schritte zu machen. Aber sie überredet den einen Fuß und dann den anderen, es doch zu wagen, sie können ja später lange ausruhen. Und da gelingt es auch. Eine Künstlerin ist sie ja natürlich nie gewesen. Der Großvater, der ein Schullehrer war droben auf der Alb, hat einst des Kindes kleine Finger über die Tasten geleitet und sie ein paar Liedchen zu spielen gelehrt. Und später ist dann noch dies und das dazu gekommen, wie es das Leben brachte.

Hört, nun spielt sie mit ihren steifen, verdickten Fingern eine der Melodien aus der Kindheit. Ist das nicht: »Guter Mond, du gehst so stille?« – ja, und dann folgt: »Des Sommers letzte Rose.« Die schlaffen, welken Züge der Jungfer beleben sich, während sie spielt. Ach, wie lang hat sie keine Musik mehr gehabt. Und dies ist doch Musik. Sie hört nicht, daß die dünnen Saiten zirpen und die alten ausgespielten Tasten klappern beim Niederfallen, sie denkt auch nicht daran, daß sie kümmerlich genug spielt. Ach nein, diese Melodien tragen Jugend und Heimat und frische Luft auf ihren Flügeln, sie klingen voll und stark und weich. Sie trösten das einsame Menschenkind: du bist nicht allein, wir sind alle bei dir, Vater und Mutter und Geschwister.

Da lächelt Jungfer Kenngott vor sich hin, als ob sie ein Geheimnis wüßte. Es sind auch noch andere da, außer den Eltern und Geschwistern. Und schon spielt sie einen Walzer mit zitternden Händen. Wie ihr dabei das Herz klopft. Laut und hart klopft es. Einen Augenblick meint sie, es habe jemand an der Tür geklopft, und sie ruft: herein. Aber es sind nur die Genossen ihrer Jugend um sie herum, und sie tanzen auf der Wiese hinter dem Schulhaus. Sie ist jung und schlank und atmet leicht, ganz leicht, als ob sie ohne alle Schwere wäre, und von drinnen heraus fließen die Walzertöne. Dann sitzt sie selbst am Klavier und spielt, während die anderen tanzen. Sie kann nur gerade diesen einen Walzer, aber das ist auch genug, denn man wird nicht müde, darauf zu tanzen. »Feenreigen« heißt er. Da läßt sich ja denken, wie leicht und graziös er ist.

Ach, was ist doch das für ein Klavier. Es zaubert alles Versunkene herauf und in die Stube herein. Und nun spielt sie ihr Glanz- und Bravourstück, das eine, um dessentwillen sie so viel bewundert worden ist und das von Liebe und Wärme und Rührung überfließen macht. Es ist ein Potpourri aus der Oper »Martha«, der einzigen, die sie jemals gehört hat. Die Finger wollen nicht mehr recht, sie sind ja müde und auch zu ungelenk. Aber sie müssen doch. Noch ist Jungfer Kenngott Herrin über sie, sie muß das noch hören: »Ach so fromm, ach so traut.« Denn es ist ihr, als treibe das ihr altes Herz zu neuem Takt an; es ist ihr, als blättere sie ein Bilderbuch durch, das ihr ganzes Leben enthalte. Wie oft hat sie das Stück den Kindern ihrer Wirtsleute vorgespielt und den Mägden, die zu ihr kamen und Wäsche genäht haben wollten. Dann hat sie ihnen von den Tagen erzählt, in denen sie das Stück gelernt hat bei einem jungen Provisor droben im Heimatort, und die Mädchen hörten zu und trällerten die Melodien nach. Aber sieh, ist er nun nicht selber im Zimmer, jener Lehrer? »So ist es gut,« sagt er, »nun kannst du es lassen.« – »Aber es kommt noch so vieles nach,« sagt sie mit Mühe, denn sie ist so sonderbar müde geworden. »Ach, laß nur,« sagt er freundlich, »setze dich nur hin und ruhe aus, ich spiele dir das andere vollends.«

Ja, das ist auch wohl das beste, denn sie kann wirklich nicht mehr. Es ist auch ein zu weiter Weg vom Klavier zu dem Großvaterstuhl hinüber, es ist wohl besser, sie bleibt gerade auf dem Holzstuhl vor dem Klavier sitzen und läßt den Kopf ein wenig auf die Brust herabhängen zum Ausruhen. Und inzwischen strömen neue Melodien aus dem Klavier.

Da sind plötzlich ein paar schrille, scharfe Töne dazwischen, daß Jungfer Kenngott aufschrickt und mit der Hand nach dem Herzen greift.

»Ach nein, das mußt du nicht spielen,« sagt sie. »Das liegt nun alles so weit da hinten, das wollen wir nicht noch einmal heraufholen. All das Böse und das Traurige.« – Aber es ist auch nun schon vorbei, es gleitet alles in raschem Zuge durch die Stube und durch den müden, gesenkten Kopf und zum offenen Fenster hinaus. Da mag es sich mit all dem vielen Vergangenen umsehen, das der Zeitstrom auf seinen Wellen davonträgt von aller Menschen Leben her. Ist es ein Luftzug vom Fenster her, oder streicht wirklich jemand sacht über den braun und grau gemischten Scheitel? »Ach nein,« sagt Jungfer Kenngott verschämt und duckt sich ein wenig, denn sie ist das Streicheln nicht gewohnt. Aber da merkt sie plötzlich, daß die rauhe und etwas harte Hand, die dennoch so gut ist, der Mutter gehört und meint einen Augenblick, ein Kind zu sein, und zu Bett gebracht zu werden, schon weil sie deutlich hört, daß jemand spielt: »Müde bin ich, geh' zur Ruh', schließ die müden Augen zu.«

Es sitzt ein Spatz auf dem Fenstersims und äugelt nach ein paar Brosamen hin, die auf dem Tischchen gleich neben dem Fenster verkrümelt sind. Ob er sich getraut, sie zu holen? Es ist alles ganz still in der Stube. Dort sitzt zwar ein Mensch, aber er rührt sich nicht. Am Ende ist es schon zu wagen. Er wagt es auch und trippelt ganz frech hin und her; wer weiß, vielleicht gehört die Stube den Spatzen, wie draußen die ganze Welt? Aber plötzlich schrickt er auf und flattert mir lautem Geschrei auf und zum Fenster hinaus. Denn draußen vor der Tür geht ein Gepolter los wie von schweren Tritten, und gleich darauf geht die Tür auf, und der Hirschwirt von Aufhausen kommt herein und hinter ihm noch zwei Männer und eine dicke Frau. Da fliegt der Spatz mit Schimpfen davon.

»Sie schläft,« sagt die Bäckerfrau. »Und so im Sitzen und am Klavier. Und vorhin hat sie noch gespielt und sogar einen Walzer und so Sachen. Ich sag', wenn man so weit draußen ist, soll man keine so leichtsinnigen Dinger mehr spielen. Wer weiß, wie nahe mir mein Ende? Das wäre das Rechte. Auf, Jungfer Kenngott, man will – –.« Aber da verstummt sie, denn sie spürt's wohl beim Anrühren: das, was hier sitzt, ist einmal die Jungfer Kenngott gewesen, das wacht hier drinnen nicht mehr auf. »Behüt uns Gott,« sagt der Hirschwirt und kratzt sich hinter dem Ohr, denn er ist ein bißchen abergläubisch, und es gefällt ihm nicht, daß sie grad an seinem Klavier gestorben ist. Das bringt ihm kaum ein Glück ins Haus. Er klimpert ein paar Takte darauf. »O du lieber Augustin,« das kann er, das allein. Und er muß doch probieren dürfen, ob das Klavier brauchbar ist, um siebzig Mark, man denke. Die Bäckerfrau spielt sich auf die Kennerin auf. »Für eine Wirtsstub' tut sich's schon noch,« sagt sie; »es ist ein bißchen ›schätterich‹, aber das merkt man nicht, wenn man darauf tanzen will.«

Drinnen aber in der Kammer – es ist jetzt Luft genug dort drinnen – lächelt währenddem das stille Gesicht der alten Jungfer, die sie mit vereinten Kräften auf das breite Bett gelegt haben. Geheimnisvoll lächelt es und wie im Triumph. Ist es, weil die da draußen das Klavier nicht zu spielen verstehen, so, daß es seinen schönsten Wohllaut hergibt?

Oder wer weiß warum?

Leute, die durch das enge Tor in die Freiheit gegangen sind, fragt man umsonst, was sie noch zu lächeln haben.

»Brr – öha,« sagt der Hirschwirt von Aufhausen, und läßt seine Gäule ein wenig verschnaufen nach dem steilen Stich, den sie soeben mit dem schweren Wagen erstiegen haben. Aber er dreht fast erschrocken den Kopf nach dem alten Klavier hin. Es hat beim Anhalten so seltsam darin geklungen.

Ist ein Luftzug hindurchgegangen? Oder hat eine vorbeireisende Seele noch einmal, zum letztenmal, die Saiten zum Erzittern gebracht? Was weiß der Hirschwirt?

»Hüo!« Die Peitsche knallt kräftig durch die Luft.

»Wer weiß, auf der Auktion hätt' ich's um fünfzig bekommen.«


 << zurück weiter >>