Hermann Harry Schmitz
Grotesken
Hermann Harry Schmitz

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Das stille Villenviertel

Aus: Düsseldorfer Generalanzeiger vom 18.8.1912;
Professor Mauzfies und andere Tragödien, München 1941

Onkel Baldower Bunzlau verkaufte eines Tages seine gut gehende chemische Reinigungsanstalt – er nannte sie Fabrik –, die er seit vielen Jahren in einem Hinterhaus einer Mietskaserne in der Vorstadt betrieb, an den Bauunternehmer Döres Spießratz.

Er hatte sich sein Leben lang genügend geplackt, um ein Vermögen beiseite zu bringen, das ihn in die Lage setzte, behaglich von seinen Zinsen zu leben.

Er scharrte und raffte zusammen, wo er nur konnte, und gönnte sich nicht das geringste Vergnügen.

Er wohnte in zwei recht primitiven Zimmern im Hinterhaus, anschließend an die Räume seiner Anstalt. Das Vorderhaus war bis unter das Dach an allerlei armes Volk vermietet.

Von morgens früh bis abends spät war er tätig. Die wenigen Arbeiter, die er hatte, mußten feste ran. Er ließ es sich nicht nehmen, selbst den Verkehr mit der Kundschaft auszuüben, und nahm die zur Reinigung gebrachten Stücke persönlich in Empfang.

Mit den Jahren aber und dem Anwachsen seines Vermögens begann in ihm die Sehnsucht nach einem geruhsamen, angenehmeren, eines wohlhabenden Bürgers gemäßen Lebens sich festzusetzen. Immer die hoffnungslosen Ziegelwände und in den Fenstern die trostlose Wäsche seiner Mieter vor Augen, der Armeleutsgeruch vermischt mit den Dünsten brodelnder schmutziger Kleider, die seinen Reinigungsbottichen entstiegen, das allabendliche Gekeif streitender Parteien über den Hof, Kindergeschrei und eine quälende Ziehharmonika, dann der Ärger mit den Mietern, mit der unangenehmen, reklamierendem Kundschaft, wenn eine alte vergilbte Hose beim Reinigen eingelaufen war oder ein Barchentunterrock oder eine Bluse ihre Farbe verloren hatte: diese quälenden Umstände veranlaßten ihn eines Tages, mit diesem unwürdigen, wenn auch lukrativen Broterwerb endlich Schluß zu machen und in Behaglichkeit und stiller Beschaulichkeit den Rest seiner Tage in Nutznießung einer schönen Rente zu verbringen.

In einem anständigen Viertel der Stadt wollte er sich niederlassen. Dieses Armeleuts-Milieu lag ihm schwer auf der Seele. Eine schöne Villa mit Verblendsteinen und Stuckornamenten, mit einer Veranda und Jalousien, mit Gas und einer Badeeinrichtung, vorne und hinten einen Garten, würdige Nachbarn, die man zuerst grüßen konnte, Oberlehrer, Rechtsanwälte, Amtsrichter, Zahnärzte oder gutsituierte Kaufleute mit reizenden Kindern in Kieler Matrosenanzügen und kurzen Kleidchen und Röckchen, mit einer Laube, wo man an schönen warmen Abenden seine Bowle schlürfen und mit einer guten Zigarre im seligem Wohlbehagen dahinträumen konnte.

So schwebte ihm dieses lockende Zukunftsbild in den letzten Jahren wohl oft nach unerfreulichen Tagen in seiner Hinterhaushöhle vor. Er rechnete nächtlich über den Hauptbüchern, und der verbleibende Saldo verhieß ihm in reichlicher Weise die Erfüllung seines Herzenswunsches.

Bauunternehmer Döres Spießratz gab ihm ein Haus im Villenviertel, was den Träumen und Ansprüchen Onkel Baldower Bunzlaus völlig entsprach, mit in Kauf.

Es war Mitte August, als Bunzlau seine Villa bezog. Das war noch eine unruhige Zeit gewesen, bis er glücklich nach Wunsch im neuen Hause installiert war. So ein Umzug war keine einfache Sache. Er sah sich auch genötigt, sein bisheriges Meublement durch neue Anschaffungen, dem Stil der Villa entsprechend, zu ergänzen.

So lag er am ersten Abend auf der Veranda seiner Villa, ausgestreckt in einem Triumphstuhl, der für ihn den Superlativ der Gemütlichkeit vorstellte, sog schmatzend an der Pfeife und sann selbstzufrieden darüber nach, wie angenehm und köstlich sich nunmehr sein Leben gestaltete. Völlige Harmonie, tiefe wohltuende Stille um ihn herum. Wie er nur die Jahre, eingeschlossen von erschrecklichen Ziegelwänden, moderigen Düften und dem Lärm einer Mietskaserne verbringen konnte?

Wohlig duselte er langsam ein.

Jäh wurde er plötzlich aufgescheucht. Ein wehes jämmerliches Geheul klang schauerlich in den Frieden des Abends. Stärker und schneidender wurde dieses aus dem tiefsten Schmerz einer Tierseele hervorgestoßene Wehklagen.

Onkel Bunzlau sprang erschreckt auf aus dem Triumphstuhl, der durch die plötzliche Entlastung zusammenklappte, den Onkel mit dem Rückenteil in den Nacken schlug und seine Hände zwischen die Armlehnen klemmte. Dabei begann aus einer anderen Richtung als Antwort auf das furchtbare Geheul eines wehleidigen Hundes ein gellendes Gekläff von einem jener nutzlosen Köter, die die Qual des Besitzers und der Nachbarn sind. Als dritte Stimme in diesem Terzett verfluchter Hunde klang plötzlich ein tiefes unwilliges Bellen, wie es sogenannten treuen, wachsamen Hunden eigentümlich ist.

Bei dem Versuch, sich von dem Triumphstuhl zu befreien, fiel Onkel Bunzlau mit dem Stuhl die Verandatreppe hinunter in das Geraniumbeet. Mit der beschaulichen Ruhe war es dahin.

Das Geheul und Gebell währte fort. Keine gütige Peitsche oder ein Guß Wasser machten den Versuch, diese Kakophonie zum Schweigen zu bringen.

Mit blau angelaufenen, zerquetschten Händen, mit einer Beule am Kopf, mit einer zerschlagenen Pfeife und einem Riß in der Hose zog sich Baldower verdrossen und enttäuscht in die Vorderräume seiner Villa zurück. Bis hierhin würde der Tierspektakel nicht dringen. Weit gefehlt. Er steckte sich Brotkrumen in die Ohren und dämpfte so um einiges das Gebell. Das war das ruhige Villenviertel! Beschweren mochte er sich auch nicht gleich im Anfang und es mit den vornehmen Nachbarn verderben.

Er trank sechs Schlummerpünsche in seiner Wut, schmiß sich dann ins Bett, vergrub sich unter den Decken und einer Plumeaulawine.

Es mochte etwa drei Uhr sein, als er durch das Getöff und stampfende Schnurren eines Autos, das die Fenster erklirren ließ, unsanft aufgestört wurde. Sein Nachbar, der Zahnarzt Fidibus Dürrkopp nebst Gattin, kamen von einer Gesellschaft und disputierten laut und eingehend mit dem Chauffeur, der nicht wechseln konnte.

Nach unruhigem Schlaf wurde er um fünf Uhr in der Frühe von einem fortgesetzten, schneidenden: »Kikeriki, Kikeriki« eines eben erwachten Hahnes in der Nachbarschaft geweckt. Wo war er hingeraten, war er auf einem Bauernhof oder in einer Villa?

Mit schwerem Kopf von den sechs Pünschen und der gestörten Nachtruhe, mit der schmerzhaften Beule am Hinterkopf, saß er verdrossen beim Frühstück und reflektierte, daß, bei Gott, seine frühere Hinterhauswohnung doch auch ihre Annehmlichkeiten gehabt hätte.

»Klitsch, klatsch, klitsch, klatsch«, so begann es plötzlich im Garten des Nebenhauses, wo Herr Mertens, ein wohlhabender Getreidehändler mit einer großen Familie wohnte. »Klitsch, klatsch, klitsch, klatsch«, es war wie Ohrfeigen für den Onkel Bunzlau. Etwa eine Stunde dauerte dieses Ausklopfen der Teppiche.

Er nahm die Zeitung zur Hand, um seine Gedanken abzulenken von diesen quälenden Störungen. Lautes Geschrei und Lärmen spielender Kinder löste das »Klitsch, klatsch« des Teppichklopfens ab. Onkel Bunzlau haßte ausgelassene, schreiende Kinder. »Päng, kling, päng, kling«, ein Tennisball knallte in die Scheiben des Fensters, daß die Scherben flogen. Der kräftig geschleuderte Ball traf Baldower Bunzlau in das Auge. Mertens Kinder spielten Tennis.

Den Onkel packte die Wut, er sprang auf, schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Kaffeekanne hoch in die Luft hüpfte, auf den Brotteller fiel und zerbrach.

»Tog, tog, tog, tog«, machten die Hühner von zwei Häusern weiter. – Bunzlau steckte sich wieder Brotkrumen in die Ohren, zu viel und zu tief hinein. Bis zum Trommelfell ging der Pfropfen. Das kitzelte und schmerzte dann. Es war zum Verrücktwerden. Mit einer rostigen Haarnadel versuchte er den Brotstopfen zu entfernen, was ihm gelang.

»Tog, tog, tog, tog«, klopfte das Gegacker des vermaledeiten Federviehs wie ein Hohn gegen die Trommel seiner Ohren. Und das war das ruhige Villenviertel, Herr des Himmels!

Er stülpte sich einen dickwollenen Kaffeewärmer über den Kopf und verkroch sich im Büfett, wo er zwei Flaschen Burgunder fand, die er gierig trank. Das beruhigte ihn ein wenig.

Er setzte alle seine Hoffnung auf ein ungestörtes Mittagsschläfchen. Nach einem ergiebigen Mahle baute er sich mit Sorgfalt, Kissen und Plaid in dem Triumphstuhl, dem er die gestrige Heimtücke verziehen hatte, auf und schlief bald ein.

»Rrrr, rrrr, rrrr«, sprang auf einmal ein metallisches, stoßweises Geschnarre in die mittagliche Stille. »Rrrr, rrrr, rrrr....«, taktgemäß drang es auf den schlafenden Onkel ein. Der Zahnarzt Dürrkopp, dem vom Arzt nach dem Essen Bewegung im Freien vorgeschrieben war, bearbeitete die Bleiche mit einem schlecht geschmierten, wackligen Rasenmäher, um für seinen Stoffwechsel und Stärkung der Muskeln zu profitieren. Wenngleich auch der Rasen bereits wie glatt rasiert war, so hinderte es ihn nicht, im Interesse seiner Bewegungstherapie in seinem lärmenden, ruckweisen Hinundherstoßen des Mähers munter fortzufahren.

Der Onkel sprang auf, verhedderte sich in seinem Plaid und in dem heimtückisch zusammenklappenden Triumphstuhl.

»Klitsch, klatsch, klitsch, klatsch« – Herr Dürrkopp klopfte jetzt, aus dem gleichen hygienischen Grunde, die Teppiche aus. Mertens Kinder spielten im Garten, sie hatten eine Autohupe bekommen, auf der sie unausgesetzt tuteten. Die Hunde in den verschiedenen Häusern wurden unruhig und bellten. Einige Häuser weiter wurde bei offenem Fenster ein Klavier gestimmt. Das stereotype Gegacker der Hühner zwei Häuser weiter war im besten Gange: »Tog, tog, tog, tog.«

Baldower Bunzlau war dem Irrsinn nahe, zerdrückt und einen Finger abgeklemmt, gelang es ihm nach einer Weile, sich aus den Verstrickungen des Stuhles und des Plaids zu befreien. Er stürzte hinaus und eilte sinnlos durch die Straßen. Er flüchtete sich auf den Kirchhof, weit vor der Stadt, setzte sich auf ein wildfremdes Grab und weinte.

Spät abends wagte er sich in seine Villa, zum Himmel flehend um eine stille Stunde auf der Veranda. Aber lautes Stimmengewirr empfing ihn und das krächzende Geräusch eines abgespielten Phonographen. Nachbarn tranken eine Bowle auf ihrem Balkon. Dann sang man dazwischen furchtbar falsch und mißtönend das Weserlied. Die Nachbarn feierten bis spät in die Nacht. Onkel Bunzlau betrank sich in seiner Not mit acht Schlummerpünschen. Die Hühner und das Teppichklopfen ließen ihn trotz der alkoholischen Schwere schon früh erwachen. Er ginge zugrunde, wenn das nicht anders würde! Dann wieder dachte er, energisch zu sein und zu versuchen, sich an die verschiedenen Geräusche zu gewöhnen.

Er ertrug das Geschrei der Kinder von Mertens, den Hunde- und Hühnerlärm in aller Ergebung und Überwindung. Sein Mittagsschläfchen verdarb ihm der Naturmensch und Zahnarzt Dürrkopp mit seinem Teppichklopfen. Aber er nahm sich zusammen, heute wollte er sich nicht ärgern, wo sein Namenstag war. Im Gegenteil, er wollte auch mal feiern und fröhlich sein. Es war ein schöner warmer Abend, und er bereitete sich eine köstliche Bowle mit saftigen Pfirsichen, die er in der Laube im Garten zu trinken gedachte. Geröstete Kaviarschnitten bildeten den Auftakt, und köstliche Zigarren lockten aus der Kiste. Nebenan spielten und johlten noch die Kinder, sie schienen sich mit einem Ball zu beschäftigen. Er ließ sich die Laune nicht verderben und blieb völlig gefangen in der Weihe seiner Bowle. Schmunzelnd ließ er das edle Getränk über die Zunge laufen, mit behaglichem Schnaufen stieß er den Rauch seiner Havanna aus. Er wurde zusehends übermütiger, die Stimmung packte ihn, und er sang mit ein wenig belegter Stimme das Weserlied in den Abend.

»Tog, tog, tog«, die Hühner gackerten. »Wrr, wrr«, Fidibus Dürrkopp sägte Holz. Die Hunde bellten und heulten. Den Onkel kümmerte das nicht, er sang so laut er konnte: »Mit meinem Liebchen gesäääßen.« Das Lied war aus, er konnte nur einen Vers. Er wandte sich seiner Bowle zu und stärkte die durstige Kehle, genoß das Aroma seiner Zigarre und hielt stillvergnügt seine Hände über dem Bauch gefaltet.

So saß er da, ein Bild völliger Zufriedenheit. Mertens Kinder spielten noch immer mit dem Ball. Plötzlich etwas Schwarzes in der Luft über die Mauer und »plumps, kladderadatsch« springt der Fußball der Kinder in die Bowle; das edle Getränk spritzte mit scharfem Strahl dem Onkel ins Gesicht. Wie ein Untier lag der Fußball in dem gläsernen Bowlentopf.

Das war der Namenstag des armen Onkels. Er beschloß, morgen ein Inserat aufzugeben, zwecks sofortigen Verkaufs seiner Villa.

Zu den bisherigen störenden Geräuschen, die sich regelmäßig bemerkbar machten, gesellte sich eines Tages eine neue Sensation. Zahnarzt Dürrkopp ließ in seinem Garten ein Reck errichten, an welchem sich Schaukelringe befanden. Wacker benutzte er dieses armstärkende Gerät, wobei ein Quietschen der Befestigung der Haken nicht zu vermeiden war. Stundenlang turnte er an diesen Ringen.

Auf alle Geräusche hätte sich Onkel Bunzlau vielleicht noch eingestellt und gewöhnt, wenigstens die wenigen Wochen, bis er die Villa verkauft haben würde. Aber dieses beißende Gequietsche der Ringe war ihm unerträglich.

Drei Tage lag er in Krämpfen, und in seinen Ohren gellte dieses gräßliche Geräusch. Ein wenig Öl an die Haken geschmiert, und die Reibung wäre vermieden, stöhnte der Onkel.

Dann machte sich der Onkel eines Nachts, als alles still war, sich seines Tuns nicht bewußt, wie ein Mondsüchtiger, auf mit einer Ölkanne, kletterte über die Mauer in Dürrkopps Garten, stieg an die Haken des Recks und träufelte reichlich Öl auf sie.

Der Zahnarzt wurde durch das Geräusch des Onkels wach, glaubte einen Einbrecher in seinem Garten und erschoß kurzerhand mit seinem Jagdgewehr Baldower Bunzlau.

 


 


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