Oscar A. H. Schmitz
Melusine
Oscar A. H. Schmitz

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VII

Der Tod ihres Vaters brachte Erich und Ferdinand wieder in der Heimat zusammen. Ferdinand studierte in München Kunstgeschichte. Noch war er schmächtig und blaß. Ein oberflächlicher Beobachter hätte gesagt, er sei noch ganz der Alte, hilflos und verträumt. Das war auch so weit ganz richtig, aber dennoch hatte eine grundlegende Veränderung mit ihm stattgefunden. Er war dies alles nun sozusagen mit gutem Gewissen. Damals, als Lehrling in einer Bank, ist es für ihn wirklich eine Schmach gewesen, so zu sein wie er war; nun, als angehender junger Gelehrter nahm er fast heiter diese Schmach auf sich, und das gab dem Unverbesserlichen eine tief humorvolle, ironische Einstellung zu sich selbst, die besonders dadurch zum Ausdruck kam, daß er das bleiche, gutartige Kindergesicht, was damals noch kein Mensch tat, durch eine geradezu unheimlich wirkende schwarze Hornbrille mit kreisrunden Gläsern beschattete. Darunter sah man große, weit aufgerissene graublaue Augen, die etwas erschreckt, doch klug in die Welt blickten, aber es war nicht mehr der Schrecken, dem man fassungslos erliegt. Nun, ist denn die Welt vielleicht nicht erschreckend? schienen sie zu fragen. Na also! Spärliches, blondes Haar fiel ein wenig in die hohe, sinnende Stirn. Obgleich er sich nun hinnahm, wie er war, schien Ferdinand doch nicht in voller Harmonie mit seiner eigenen Natur zu leben. Ein gelegentliches nervöses Zucken um die seinen Mundwinkel verriet die Gewohnheit stoßweise unternommener Energieanläufe, mit denen er eine Art Lebensträgheit von Zeit zu Zeit aufpeitschen mußte; denn leider fordert nicht nur das Addieren von Zahlen in einer Bank Energie, sondern selbst die Ausführung dessen, was einen am meisten freut, z. B. das Studium der Kunstgeschichte. Wenn man sich da ein bischen gehen läßt, ist so ein Vormittag, eine Woche, ein Jahr, ja das ganze Leben im Handumdrehen vertrödelt. Diese betrübende Erfahrung hatte Ferdinand inzwischen gemacht, und das Zucken um seine Mundwinkel verriet, daß es auch in seinem behaglichen Leben Heulen und Zähneklappern gab. Da er indessen das Kreuz des Handelns jeden Morgen tapfer auf sich nahm, indem er aufstand, sich wusch, sorgfältig ankleidete und nach nicht allzu ungebührlich ausgedehntem Frühstück tatsächlich in die Vorlesungen oder daheim an die Bücher ging, wirkte er durchaus nicht vernachlässigt; auf die Pflege seiner etwas patschigen, aber sehr weißen Hände schien er sogar einigen Wert zu legen.

Es war ihm vor dem Wiedersehen mit dem älteren Bruder etwas bange gewesen, vor dessen überlegenem Blick er nicht zu bestehen fürchtete; aber Erich hatte nun gelernt, Menschen und Dinge an sich herankommen zu lassen und aus ihrem eigenen Wesen, nicht nach angelegtem Maßstab zu beurteilen, und daher merkte er sofort, daß in dem Bruder etwas ähnliches wie in ihm selbst vorgegangen sein mußte. Dessen gelegentliche Zerfahrenheit war kein törichtes Irrlichtelieren mehr, sondern er war offenbar mit derselben Notwendigkeit wie er selbst auf seinen Pfad gelangt. Als Ferdinand dies, ohne daß es ausgesprochen wurde, anerkannt fühlte, war die alte Kameradschaft erneuert.

Die Holthoffsche Bank wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, die Witwe und die Söhne ließen indessen ihre Erbteile zum größten Teile in dem Geschäft. Alle drei waren nun sehr wohlhabend. Während Erich, der sich mitten im ersten Staatsexamen befand, sobald wie möglich nach Rolfsburg zurückkehrte, bereitete Ferdinand eine Orientreise vor. Mehrere Jahre blieb er in Indien und China, überall dort verweilend, wo es ihm gefiel und sich meistens schwer losreißend. Es war ein Wunder, daß er überhaupt wieder nach Europa zurückfand. Besonders das chinesische Leben zog ihn unbeschreiblich an, und wenn nicht der Boxerkrieg ausgebrochen wäre, hätte er sich kaum zur Heimkehr entschlossen. Diese war auch nur vorübergehend gedacht. Nach Beendigung des Krieges wollte er unbedingt wieder nach Peking gehen, wo er Zutritt in chinesische Gelehrtenkreise gefunden hatte. Nachdem er jedoch wieder in Europa war, fand er nicht noch einmal den Entschluß zu der langen Reise. Er hatte nicht nur umfangreiche Sammlungen mitgebracht, sondern auch an der Lehre Laotses und Kungfutses genährte Überzeugungen. In der von diesem verkündeten Kraft Wu-Wei fand er seine Gottheit. Es ist jene allem Werden zu grunde liegende Schöpfergewalt, der man sich nur zu überlassen hat, damit alles wird, wie es soll. Diese Lehre wirkte auf Ferdinand wie auf viele müde Europäer höchst faszinierend, und darum war er geneigt, wie sie, das »Nichttun«, das Laotse preist, mit »Nichtstun« zu verwechseln. So glaubte er sich fromm dem Wu-Wei zu überlassen, wenn er seinem persönlichen Phlegma nachgab.

Erich schüttelte den Kopf über Ferdinands neue Lehre. Er war philosophisch bedeutend weniger geschult, als der Bruder, der inzwischen viel gegrübelt und gelesen hatte; dennoch wollte ihm scheinen, daß die geheime Gewalt, der er sich einst an einem regnerischen Sommerabend unter jenem Kastanienbaum am Rheinufer anvertraut, mehr jenem Wu-Wei glich, das Ferdinand schilderte und oft durch die Vorlesung englischer Texte aus dem Chinesischen erhärtete, als die Kraft, die Ferdinand bald untätig der ihm dauernd über den Kopf wachsenden Materie erliegen ließ und dann wieder unruhig umhertrieb. Wohl schien Erich der Bruder damit recht zu haben, daß der Amerikaner mit seiner Übergeschäftigkeit und der Preuße mit seiner ewigen Willensverkrampfung Frevler an der heiligen Kraft des sich in uns auswirkenden Schicksals seien, aber der träge Russe, den Ferdinand gleichfalls pries, und der müde Europäer erschienen ihm nicht minder auf falschem Weg; denn damit jene Kraft durch uns wirke, verfocht Erich, müßten wir uns willig und durchlässig halten; darum würde sie durch Trägheit ebenso gehemmt, wie durch Willensüberspannung durchkreuzt. Ferdinand gab das alles theoretisch zu. Er sagte, sie seien grundsätzlich ganz einig, und um seine Lippen zuckte es. Da Ferdinand nicht wußte, wann er nach China, seiner »wahren Heimat«, zurückkehren konnte, vermochte er sich nicht zu einer festen Niederlassung zu entschließen. Indessen standen Berge von Kisten mit den Sammlungen beim Spediteur. Ferdinand verhielt sich ratlos vor dieser Masse von Materie, die er selber aufgetürmt hatte. Schließlich folgte er Erichs Rat – es war offenbar die Stimme des Wu-Wei – mietete in Rolfsburg eine kleine Wohnung in demselben Haus, wo Erich sich mit Behagen und Geschmack eingerichtet hatte. Nach wenigen Wochen waren die vier Zimmer mit Vorplatz und Küche in ein orientalisches Museum verwandelt, in dem leider kein Raum mehr blieb zum Wohnen. Das Wu-Wei trieb daher Ferdinand, während Erich diese Schätze bewachte, wieder in der Welt umher, aber nicht mehr in den fernen Osten, sondern in die geistigen und künstlerischen Zentren dieses lieben alten Europas, Paris, Rom, Wien, München und zuweilen auch wieder nach Rolfsburg. Dort stieg er im Hotel ab oder, wenn es gerade paßte, bei Erich, da ja seine eigene Wohnung ein Museum war, in das er jedes Mal, wenn er nach Rolfsburg zurückkehrte, neue Einkäufe einbaute. Neuerdings sammelte er gotische, später auch barocke Holzplastik. Zu einer Niederlassung konnte er sich immer noch nicht entschließen, da er ja alles wieder würde abbrechen müssen, wenn er nach China zurückkehrte. So wurde dieser Plan weder aufgegeben noch ausgeführt. Immerhin war Ferdinand nicht müßig. An der Technik des Ostens geschult, verfertigte er Zeichnungen, Lithographien, ja schließlich Radierungen, obgleich unter dieser Tätigkeit zeitweise die Weiße seiner gepflegten Hände litt, aber keineswegs ahmte er einfach östliche Kunst nach. Vielmehr geschah es, daß im Augenblick, wo er über die nötigen Ausdrucksmittel verfügte, ihm halb vergessene Traumvisionen aus der Kindheit wiederkehrten, verwandt mit der Naturmystik deutscher Märchen. Diese Versuche wurden in Künstlerkreisen ermuntert, und, nachdem er sich recht widerwillig zur Versendung an Ausstellungen entschlossen hatte, kamen günstige Kritiken, ja es fanden sich sogar Käufer. Niemand war darüber mehr erstaunt, als Ferdinand. Von dieser Zeit an gab er als Beruf Maler an.

Erich war nicht ohne Verständnis für die Arbeiten des Bruders. Er legte sogar eine kleine Sammlung davon an und gab einigen in seiner Wohnung einen Platz an sichtbarer Stelle, um unauffällig seine Gäste darauf hinweisen zu können. Abgesehen davon, daß ihn Ferdinands Erfolge als solche freuten, war etwas ihm zugleich fremdes und vertrautes in dieser Kunst, was ihn immer wieder anzog und zum Sinnen veranlaßte. Er fühlte darin etwas von der eigenen Art, nämlich das Stück von ihr, das er mit der Kindheit hinter sich gelassen hatte, während Ferdinands Seele offenbar noch dort weilte. Nun konnte man sich doch einen Begriff davon machen, wo dessen Gedanken umherirrten, wenn er in der Bank hatte addieren sollen. Erich zeigte die Sachen öfters Espérance, aber zu seiner Enttäuschung hatte sie kein Verständnis dafür. Sie nannte sie unheimlich, sie möchte so etwas nicht um sich haben. Tatsächlich hätten diese Bilder schlecht in ihre Räume gepaßt, wo ein echter Fragonard, mehrere englische Porträts aus dem 18. Jahrhundert und heitere Landschaften aus der Biedermeierzeit hingen. Auch fehlte es nicht an Miniaturmalerei und gemalten Fächern. Erich liebte nichts mehr, als sich in so heiter festlicher Umgebung von seinen nun immer arbeitsreicher werdenden Tagen zu erholen, aber mehr und mehr fühlte er, daß hier doch etwas fehlte. Außer dem harten Diesseits der Arbeit und der lichten Jenseitigkeit festlicher Stunden gab es doch noch ein anderes Jenseits, das gewissermaßen hinter uns lag, wo vielleicht unsere tiefsten Wurzeln waren. Gerade in dieses griff die Kunst Ferdinands, und das machte sie Erich, der jene Bereiche irgend wann auch einmal gekannt zu haben sich erinnerte, aber lange, lange Zeit gemieden hatte, zugleich so fremd und vertraut, auf jeden Fall geheimnisvoll anziehend. Gerne hätte er die Bilder einem guten Freund gezeigt, auf dessen Kunsturteil er viel gab, leider aber weilte dieser schon seit ein paar Jahren im Ausland.


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