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XIX.
Der Fremdling und seine Götter

Lukas war geekelt, vollkommen geekelt. Es gelang ihm zwar, während der kirchlichen Hochzeitsfeier sich zu beruhigen, besonders da der große Kanonikus nur in einer untergeordneten Funktion zugegen war; was aber nachher kam, reizte seine Nerven aufs höchste und verletzte seine Begriffe von Schicklichkeit. Bei einer irischen Hochzeit lösen sich nämlich alle Unterschiede des Ranges, Standes oder Vermögens; es herrscht da eine entzückende Offenherzigkeit, die allerdings nicht selten in Orgien ausartet. Die lärmenden, lauten Segenswünsche der Blinden, Lahmen und Bresthaften, die aus der ganzen Umgegend zusammengeströmt waren, irritierten Lukas' Nerven, verletzten sein Auge und sein Ohr, und erschütterten seine theologischen Grundsätze. Vor einem Monat noch hatte er im »Salon« in Aylesburgh seinem glühenden Wunsche Ausdruck gegeben, einmal einen wirklichen Bettler im Sinne der heiligen Schrift zu sehen – einen leibhaftigen Lazarus, voller Geschwüre und mit Lumpen bedeckt. Und hier waren sie nun zu Dutzenden, jeder wie dazu geschaffen, am Teiche Bethesda zu sitzen oder sich im Teiche Siloe zu baden. Und jetzt hörte er auch zum erstenmale von den »siebzehn Engeln, die die Pfeiler des Himmels tragen«, vom »besonderen Segen des Erzengels Michael«, und von den »armen Seelen im Fegefeuer, die heute erlöst würden« und von vielen anderen seltsamen und mystischen Sprüchen, die die Sprache nicht wiedergeben kann. Lukas war aber trotzdem nicht begeistert. Und nun begann das glorreiche musikalische Duett, das Crashaw unsterblich gemacht haben könnte, zwischen dem berühmten blinden Geiger von Aughadown und dem nicht minder berühmten Pfeifer von Monavourleigh. Nichts in den Gesängen Homers könnte ihm gleichkommen.

»Gib mir das Kolophonium, Kate!«

Und Kate reichte es ihrem blinden Gemahl, einem stämmigen, prächtigen Tipperarymann. Dann begann er zu spielen, und der Geist der Musik umfing ihn; die lichtlosen Augen rollten in ihren Höhlen, als ob sie nach Licht schrien; sein Antlitz wurde bleich und seine Füße zitterten in göttlichem Rausche. Und diese Musik! Erst geheimnisvoll, ernst und melancholisch, daß alles in Schweigen und Tränen zerfloß; dann klangen allmählich die Saiten in ein immer schwächeres Echo aus, und der Musiker beugte sich nieder und horchte, wie um sich zu vergewissern, ob er noch den Bogen hielt oder ob die Seele seines Instrumentes sich ausklagte und in Schweigen weinte. Denn dieser große Mann war ein arger Bigamist. Er hatte immerdar zwei Frauen; eine, die für seine leiblichen Bedürfnisse sorgte, und eine andere, die zu süßer Harmonie wurde auf seiner Geige. Sie war wohl eifersüchtig, die arme Frau von Fleisch und Blut; was wollte sie aber machen, da ihre Rivalin es war, die das tägliche Brot verdiente? Und so blickte sie denn voll Stolz auf ihren Mann, während alles, was Füße hatte, herbeieilte, um die großartige Musik zu hören.

»Begor, Den, das könnt Ihr nicht besser machen! Das ist die schönste Musik, die man je gehört hat. Kommt, Mann! Hier ist ein Schnaps für Euch!«

Nein! Den, der Pfeifer, durfte die Harmonien seines Innern nicht mit diesem gefährlichen Tranke stören. Die Lage war zu kritisch. Seine Ehre stand auf dem Spiel.

»Was wollt ihr hören?« fragte er, sich zur Ruhe zwingend.

»Die ›Fuchshetze!‹, die ›Fuchshetze!‹« schrien alle.

Sie wußten wohl, daß es sein Meisterwerk war, die Vollendung seines Könnens. Wenn man da die Augen schloß, hörte man das Traben der Pferde, ein gelegentliches Peitschenknallen und fernen Hornruf. Man vernahm das Hundegebell beim Anblick des Fuchsbaues und den Ruf des Jägers. Das ganze Auditorium war mit voller Seele beim Spiel und begleitete es mit Ausrufen: »Bravo, Den, laß sie los!«

»Sie haben ihn gefunden! sie haben ihn gefunden!«

»Der Teufel, da springen sie grade übers Ackerfeld!«

»Gor, meint man nicht, man sähe sie mit eigenen Augen?«

»Da, jetzt haben Sie ihn! Hört, hört! Wie die Hunde bellen!«

Dann war die Jagd zu Ende, und die Musik erstarb in leisem Stöhnen.

»Er ist hin, Begor! Hört, wie er schreit!«

Ach! und da gibt es noch Leute, soviel ich weiß, weit weg in fernen Städten, die vom »Parsifal« und vom »Lohengrin« reden. Eines Tages werden sie finden, daß der Keim und die Seele aller Kunst und Musik immer noch die verzauberten Gestade Irlands heimsucht.

Aber Lukas war geekelt; mehr geekelt noch, als lustiger Sang und lautes Lachen die große Tafel in der Scheune umklangen und all die rauhe Ritterlichkeit des männlichen und die primitive Koketterie des weiblichen Geschlechts das Gelächter und Singen begleiteten.

»Mutter, wie lange dauert das noch?« flüsterte Lukas.

Diese wischte sich ihre Augen voll Stolz und Seligkeit. Von einer solchen Hochzeit sprach man in Lisnalee gewiß noch in zwanzig Jahren.

»Der Spaß beginnt ja erst,« gab sie zurück. »Gott segne die guten Nachbarn; wir hätten nie gedacht, daß so viele Leute –«

»Ich drücke mich ein wenig. Du wirst mir darob nicht böse sein?«

»Wischa! O nein! Tue nur, wie es dir gefällt. Da steht eben der Kanonikus auf.«

Plötzlich schwieg die lärmende Unterhaltung, und alle erhoben sich, als der Kanonikus Abschied nahm. Wo in aller Welt gibt es solch eine zarte, ehrfürchtige Höflichkeit gegen den Priester, wie die liebenden Pfarrkinder in Irland sie zeigen?

Lukas hatte dem Kanonikus einen »guten Tag« gewünscht und wußte nicht, was er anfangen sollte. Er hatte versprochen, bei Vater Martin um fünf Uhr zum Mahle zu kommen, und es war erst Mittag. So schlenderte er denn über die Felder ans Meer hinab und trat ins Haus des Fischers. Es befand sich aber nur Mona darin. Das Kind war gewachsen und stand eben im Begriff, das Grenzland zum Selbstbewußtsein zu überschreiten. Er fragte:

»Wie geht es?«

Das erschreckte Kind machte eine Verneigung und errötete; er schämte sich ein bischen über sich selber und sagte freundlich:

»Ist das meine kleine Mona? Mein Gott, wie du groß geworden bist! Wo sind deine Angehörigen alle?«

»Droben bei der Hochzeit,« gab sie verschämt zur Antwort. »Aber ich will den Vater holen.« Sie war froh, fortzukommen.

Sie ging zur Türe und stieß einen Ruf aus, der weit drunten am Strand beantwortet wurde. Unterdessen begann Lukas, der nicht wußte, was er sagen sollte, die Felsen und Steine am Ufer zu betrachten und sich alte Zeiten ins Gedächtnis zurückzurufen. Aber die alten Zeiten mieden den Fremdling und weigerten sich, zurückzukehren. Schließlich kam arbeitend und keuchend der Fischer, und nach ein paar Worten der Begrüßung schwamm das alte, hübsche Boot wieder über der Tiefe. Ein matter Sonnenschein lag wie ein schwacher Goldglanz über Meer und Land, und Lukas ruderte durch die sonnenbeschienenen Wellen, ohne sie zu sehen. Als er dann so ungefähr eine Meile vom Ufer entfernt war, zog er wie ehedem die Ruder ein und legte sich auf den hinteren Teil des Bootes zurück. Es hilft dir aber nichts, Lukas! Gar nichts! Meer und Land sind noch die gleichen – und doch nicht mehr. Noch liegt dieselbe unaustilgbare Lieblichkeit über Himmel und Woge. Noch schauen die braunen Klippen und die purpurne Heide herüber, und da sind auch die Schafe und die jungen Lämmer des Frühlings; aber ach! wie öde, wie verlassen ist alles!

»Was ist nur über das Land gekommen?« fragte sich Lukas. »Ich hätte an einen solchen Wechsel in so kurzer Zeit nicht geglaubt. Es ist ein Land der Oede und des Todes.«

Ja, wirklich, denn die Natur ist eine eifersüchtige Mutter und begegnet ihrem abgefallenen Sohne mit kaltem, eisigem Blicke! Er hat sie verlassen, und als Weib, das sie ist, muß sie nun einmal ihre Rache haben. Und so hat sie es gemacht: Sie hat sich selbst entkleidet und entstellt. Sie hat alle Farbe von ihren Wangen, aus der See und den Wolken, genommen, und sie zeigt das blutlose, bleiche Antlitz und das stumme Starren einer Leiche. Sie kann nie wieder werden, was sie ihm war. Er hat sie um anderer Lieben willen verlassen – für die geputzte, bemalte und künstliche Schönheit Englands, und deshalb haßt sie ihn. Er streckte seine Hand mit der alten Bewegung ins Meer hinab, zog sie aber schmerzlich wieder zurück. Er glaubte, die kalte Welle beiße ihn. Träumerisch ruderte er ans Ufer zurück. Der alte Fischer wartete auf ihn und nahm ihm das Boot ab.

»Wo ist Mona?« fragte er.

Aber Mona, das sonnenhaarige Kind, war nirgends zu sehen.

»Was ist nur über das Land gekommen?« fragte er sich. »Eine solche Veränderung in so kurzer Zeit hätte ich mir nicht träumen lassen. Es ist ein Land der Oede und des Todes.«

* * *

Nur vier Personen setzten sich zum Diner in dem hübschen, geschmackvollen Wohnzimmer in Seaview-Cottage nieder. Vater Martin stellte Lukas Vater Meade, den Nachfolger Vater Tims in Gortnagoshel, vor. Vater Cussen, den neuen Kaplan des Kanonikus, hatte Lukas schon bei der Hochzeit seiner Schwester kennen gelernt. Eine Wolke hing über der kleinen Gesellschaft; die »Unzertrennlichen« waren getrennt. Der Tod und der Bischof waren daran schuld, und Vater Martins Herz war betrübt.

»Eine große Veränderung, seit du das letzte Mal hier warst, Lukas,« sagte er. »Mein Gott! Denkst du noch daran, wie wir dich fürs Diner beim Kanonikus präparierten?«

»Ich finde überhaupt nichts anderes als Veränderung hier vor,« erwiderte Lukas, »und zwar zum Schlechteren. Mir scheint das ganze Land in einen Zustand hoffnungsloser Bettelarmut gesunken zu sein.«

»Eine solche Wandlung nehmen Sie schon nach drei Jahren wahr?« fragte Vater Cussen.

»Ja. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich das Winseln und Mitleiderregen dieser vielen Bettler heute morgen anwiderte! Diese allgemeine Mildtätigkeit, die allgemeine Bettelhaftigkeit voraussetzt, scheint mir unvernünftig und verschwenderisch.«

»Sie sagen doch nicht auch noch ›unchristlich‹?« rief da Vater Meade.

»Nein!« erwiderte Lukas.

»Weil es auch nicht unchristlich ist!« wiederholte Vater Meade. »Ja, hören Sie nur, mein lieber junger Herr! Weil es nicht unchristlich ist!«

»Vielleicht nicht,« gab Lukas zurück, der nicht in der Stimmung war, mit Vater Meade zu rechten; er hielt auch den armen alten Mann für einen seiner ganz unwürdigen Gegner.

»Weil es nicht unchristlich ist!« wiederholte Vater Meade in aggressiver Weise. »Was Sie auch über Ihre politische Oekonomie sagen mögen und was Sie darüber, wie ich vermute, in England aufgelesen haben, wo jeder arme Mensch ein Verbrecher ist, wir in Irland lieben die Armen und werden sie stets bei uns behalten.«

»Mit dieser Prophezeiung werden Sie allerdings recht behalten, Vater,« erwiderte Lukas, der es verschmähte, über einen derartigen Gegenstand zu streiten. »Nichts destoweniger bin ich vollständig gegen das unterschiedslose Almosengeben, weil es seinen Zweck verfehlt und zur schuldbaren Unterstützung der Lasterhaften und Schlechten herabsinkt.«

»Gut gesprochen, wohl gesprochen, mein junger Freund, aber nehmen Sie einmal an, Sie schickten einen Heiligen von Ihrer Türe fort, oder gar unsern göttlichen Heiland selbst, wie würde Ihnen dann sein?«

»Unbehaglich,« gestand Lukas; »aber ich habe noch nie gehört, daß so etwas möglich sei.«

»Aber ich tat es, und was noch mehr heißen will, ich war selber der Schuldige, Gott möge es mir verzeihen!«

Das war entzückend. Lukas hätte kaum ein solches Vergnügen erwartet wie das, daß er mit dem Uebernatürlichen so nah, so unmittelbar vor sich in Berührung kommen sollte. Er fegte die Stäubchen von seinem Rocke fort und lehnte sich behaglich zurück, um zu hören.

»Sie möchten die Geschichte gerne erfahren?«

»Gewiß!« erwiderte Lukas lächelnd.

»Nun ja,« begann der Greis, und sein Gesicht rötete sich und sein ganzes Wesen nahm den Ton tiefer Ehrerbietung an, »es begegnete mir schon zweimal; wenn ich das dritte Mal Gottes Warnungszeichen wieder übersehe, wird es mein letztes Mal sein. Vor einigen Jahren saß ich eben beim Mittagessen, als die Hausglocke heftig geläutet wurde. Ich hatte einen arbeitsreichen Tag hinter mir und war von Bettlern schon ordentlich belästigt worden. Ich war entschlossen, komme was da wolle, daß mich nichts mehr dazu bringen sollte, an diesem Tage noch einen Penny herzugeben. Ich hörte zu, wie der Ton der Glocke verklang und sagte mir: ›Das genügt, mein Junge!‹ Aber gleich darauf schellte es wieder, daß ich glaubte, die Glocke sei heruntergerissen. Ich sprang ärgerlich auf und ging zur Türe. Es war fast dunkel. Eine schlanke, graue Gestalt stand unter dem Eingang. Er trug keine Kopfbedeckung, aber er hatte ein Tuch um seinen Nacken geschlungen und eine Art Gürtel oder Strick um seine Hüfte. Er überreichte mir einen Brief; ich schaute ihn aber gar nicht an, sondern gab ihn wortlos zurück. Wortlos verneigte sich die Gestalt und ging auf dem Eingangspfade wieder zur Landstraße zurück. Ich kehrte zu meinem Mahle zurück. Aber nein! Ich konnte keinen Bissen anrühren. Die Gestalt ging mir nach. Ich setzte meinen Hut auf und verließ das Haus. Aber keine Spur war von ihm zu finden. Ich konnte von meinem Gartenzaun die Landstraße ungefähr eine Meile weit übersehen in jeder Himmelsrichtung. Und ich schaute die Straße hinauf und hinunter. Niemand war zu erblicken. Ich ging zur Polizeistation. Die Leute dort halten immer scharfen Lugaus. Nein, kein Mensch, der meiner Beschreibung glich, war vorübergekommen. Ich ging in die entgegengesetzte Richtung zur Schmiede. Nein; die Gesellen hatten niemand gesehen. Und ich kehrte wieder heim, und daß es mir in meinem Innern unbehaglich genug war, das kann ich Sie versichern!«

»Wen glauben Sie denn gesehen zu haben?« fragte Lukas.

»Den hl. Franziskus in eigener Person,« erwiderte der Greis. »Innerhalb einer Woche lag ich an der schlimmsten Krankheit, die ich je durchgemacht, darnieder.«

»Und die – – eine – zweite Erscheinung?« fragte Lukas, der sich dem alten Mann gefällig erweisen wollte.

»Die zweite hatte ich in Dublin,« gab der alte Mann feierlich zur Antwort. »Ich kehrte eben von den Sommerferien zurück und hatte etwas Geld übrig. Ich spazierte von den Vier Höfen bis zur Brücke am Quai entlang und hatte eben mit einem Laienfreunde die Bücher eines Antiquariatsbuchhändlers betrachtet. Eben als wir an die Stelle kamen, wo eine Seitengasse auf den Quai hinausging, hielt mich ein hochgewachsener, unbekannter Mann an. Er war weiß wie der Tod und hatte einen Ausdruck unsagbaren Leidens in seinem Gesichte. Ebenso wie mein erster Besucher sagte er nichts, sondern hielt nur stumm die Hand hin. Ich schüttelte mit dem Kopfe und ging weiter; aber augenblicklich erinnerte ich mich und drehte mich um. Da lag der lange Quai da und streckte sich vor mir aus, so weit das Auge reichen konnte. Nirgends eine Spur von ihm! Ich eilte zurück und fragte den Buchhändler, den ich an seinem Laden hatte stehen lassen. Er hatte ihn nicht gesehen. Ich sagte nichts mehr; aber beim Essen fragte ich meinen jungen Freund:

›Haben Sie einen Mann bemerkt, der uns am Quai anhielt?‹

›Gewiß‹, erwiderte er, ›habe ich ihn bemerkt.‹

›Glauben Sie, daß er in Not zu sein schien?‹

›Ich habe noch nie ein Gesicht gesehen, das so sehr von Leiden sprach,‹ gab er zur Antwort.

›Erinnerte er Sie, – nun –,‹ versuchte ich recht unbewußt zu fragen, ›erinnerte er Sie besonders an Jemanden?‹ ›Gewiß‹, erwiderte der junge Mann, ›wenn ich es aussprechen darf, so erinnerte er mich fürchterlich an unsern Heiland!‹ Innerhalb drei Tagen lag ich wieder schwerkrank im Bette und kein Mensch glaubte, ich würde je genesen. Das dritte Mal –«

»Nun, wie war's das dritte Mal?« forschte Lukas, der dem greisen Priester ungläubig zulächelte.

»Das dritte Mal wird es nicht mehr vorkommen, wenn der Herr mich im Besitze meiner Sinne läßt,« erklärte der Greis.

Es war für Lukas wirklich entzückend, in solch unmittelbare Berührung mit der Mittelalterlichkeit zu kommen. Welch eine glänzende Geschichte war das doch für den »Salon«! Er würde des »Meisters« Haare zu Berge stehen lassen. Und vielleicht würde dann Olivette Lefevril ihre Pilgerfahrt zum hl. Franziskus nach Irland statt nach Assisi machen. Wer weiß?

Das Gespräch kam jetzt nicht mehr in Fluß. Die zwei Gäste empfohlen sich frühzeitig.

Lukas und Vater Martin waren allein.

»Ich fasse den festesten Entschluß,« erklärte Lukas, »mich in keine Erörterung in Irland einzulassen, weil ich, obgleich ich selber unsern nationalen Hang zu Wutanfällen bemeistert habe, doch nicht immer sicher sein kann, daß mein Gegner sich die gleiche Selbstbeherrschung angeeignet hat.«

»Sie taten sehr wohl daran,« meinte Vater Martin trocken.

»Ganz gewiß! Ich fürchtete schon, dieser alte Herr möchte aggressiv werden; solch einen Ton führte er im Anfang.«

»Gut, daß die Diskussion nicht auch auf das Verhältnis der beiden Rassen übersprang. Wir hätten sonst von Vater Cussen was Schönes erleben können. Jedes Uebel kommt von England, behauptet der.«

»Natürlich,« erwiderte Lukas, »der gute Mann ist eben noch nie aus seinem Lande hinaus gekommen. Man muß England schon etwas genauer kennen, um den gewaltigen und radikalen Unterschied zwischen ihm und Irland zu verstehen.«

»Er ist eben aus England zurückgekommen.«

»War's nur ein kurzer Besuch?«

»Nein, sondern ein mehr als siebenjähriger Aufenthalt.«

»Das ist aber unbegreiflich. Und sein Akzent –«

»Er hat sich eben seinen Heimatdialekt bewahrt, und der steht diesem glänzenden Redner gut an.«

»Dann kann er aber die bessere Seite des englischen Lebens unmöglich kennen gelernt haben. Ich habe auch erst seit meiner Versetzung nach Aylesburgh die vielen schönen Züge des englischen Charakters zu würdigen begonnen. Mir scheint, wir haben so viel zu lernen.«

»Zum Beispiel?« fragte Vater Martin lächelnd.

»Nun, nehmen Sie nur die Kirche. Sie haben hier keine öffentlichen Gottesdienste, die den Namen verdienen – keine großen Feiern, keine Prozessionen, keine Benediktionen, kein großes Zeremoniell, um den Glauben des Volkes durch den Appell an die Phantasie zu beleben –«

»Ah, du meinst, wir lassen nicht jede Benediktion in die Zeitung rücken?«

»Nein, das ist vielleicht übertrieben. Aber ich habe doch so viel vom Verkehr mit Anglikanern gelernt. Ich habe vor allem eingesehen, daß meine Studienlaufbahn in unserem geistlichen Seminar vollständig Zeitverschwendung war –«

»Ich dächte, du wärst aber doch der erste Preisträger gewesen?«

»Gewiß! Aber wer kehrt sich denn in England an unsere irischen Auszeichnungen? Dann habe ich weiterhin erfahren, daß unser theologischer Kursus gerade so viel wert ist, wie ein Kursus in der Theosophie oder im Okkultismus; nein, weniger wert, denn über diese Sachen unterhält man sich doch manchmal in Gesellschaft, über Theologie, wie wir sie verstehen, aber niemals! Kein Mensch in England träumt heutzutage davon, auf unsere gesicherten Stellungen einen Frontangriff zu wagen. Man ignoriert uns einfach. Denken Sie nur an all die Mühe, die wir uns beim Studium der Dreifaltigkeit und Menschwerdung geben mußten! Verlorene Arbeit war das, Wasser auf Wüstensand –«

»Ich las aber doch erst letzthin,« unterbrach hier Vater Martin, »daß fünf oder sechs anglikanische Bischöfe und ein großer Prozentsatz der Geistlichkeit Unitarier sind.«

»Nun, und?«

»Ich meine, da würde die Dreifaltigkeit und Menschwerdung doch gut hineinpassen.«

»Sie verstehen mich nicht recht. Auf diese – nun – peinlichen Gegenstände kommt man in guter Gesellschaft nie zu sprechen. Man läßt sie links liegen. Das Gespräch dreht sich um die höheren Niveaus des Humanitarismus und Positivismus, statt sich in endlosen Kontroversen zu verlieren.«

»Und was ist nun das Fazit dieses neuen Dogmas?«

»Suche Gott im Menschen, nicht den Menschen in Gott!« erwiderte Lukas feierlich. »Arbeite, schaffe, dulde um der großen Sache – der Hebung und Vervollkommnung der menschlichen Rasse willen.«

»Sahest du die Wolke, die eben über den schwarzen Hügel dort hinzog?«

»Gewiß.«

»Nun, genau so ist deine Menschheit, ihre Geschichte und Wichtigkeit.«

»Aber die göttliche Immanenz im Menschen, der Geist des Genies, die innerliche Befriedigung, die erfüllte Pflicht verleiht – ist das alles nichts für die Ewigkeit?«

»Das ist alles dummes Gerede! Ich bin dort gewesen und kenne das alles. Aber wenn ihr eure Götter aus ein paar elenden Zweifüßlern nehmen müßt, die Aas fressen und orientalische Arzneien trinken, um ihr elendes Leben sich zu erhalten, und sich des Nachts in garstige Gewänder hüllen und bis zu den Sternen hinaufschnarchen, so halte ich es nicht mit euch. Da würde ich die Götter der Griechen schon vorziehen.«

»Aber sehen Sie denn nicht,« fuhr Lukas ungeduldig fort, »daß unsere Rasse jetzt möglicherweise den letzten Kreis menschlicher Entwicklung zum Göttlichen hin durchläuft? Sollen wir da keine hilfreiche Hand bieten? Ist es nicht Englands Schicksal, alle, auch die niedrigsten Vertreter der Menschheit, der Zivilisation zuzuführen und im Afghanen wie im Aschanti die Glorie der schlafenden Gottheit wachzurufen?«

»Gütiger Himmel! Warum hast du denn das nicht eine Stunde früher gesagt? Ich würde viel darum geben, dich das vor Cussen wiederholen zu hören.«

»Es käme mir nicht darauf an,« erwiderte Lukas gelassen.

»Und du glaubst wirklich im Ernste, England habe eine göttliche Mission erhalten? Ich kann mir dieses Land nie anders vorstellen, als einen großen, gewaltigen Mechanismus, der alles Schöne und Malerische in der Welt zu einer tödlichen Monotonie zermalmt.«

»Das heißt, indem es alles auf eine gewisse Höhe der Zivilisation und Kultur bringt.«

»Schuf der Allmächtige den Aschanti und Afghanen etwa, um im Laufe der Zeit in einen aufgeblasenen Briten verwandelt zu werden? Wenn Englands Zivilisation die des Katholizismus wäre, könnte ich dich verstehen. Aber selbst wenn es gefallene Rassen wieder aufrichtete und ihnen neues Leben einhauchte, wie die Spanier und Portugiesen es taten, so wäre es doch noch recht zweifelhaft, ob es eine göttliche Sendung ist, wegen etwas mehr Verfeinerung edle Traditionen zu vernichten. Aber Englands Mission ist, alles zu zerstören und zu verderben, mit dem es in Berührung kommt –«

»Nun, nun, Vater Martin, das ist alles angebornes und anerzogenes Vorurteil. Schauen Sie auf Ihr eigenes Land und sehen Sie, wie es zurückgeblieben ist.«

»Was du angeborenes Vorurteil nennst,« erwiderte Vater Martin ernst, »das heiße ich Glauben. Unser Glaube läßt uns englische Art hassen. Für jeden echten Iren ist England nur ein Frankenstein-Ungeheuer, In dem Roman »Frankenstein« der Mrs. Shelley gelingt einem Studenten die Erfindung, wie man ein lebendes Wesen erschaffen kann. Er stellt sich so ein Ding her, das nun sein lebenslänglicher Schrecken und Quälgeist wird. Anm. d Uebers. das siebenhundert Jahre einer unsterblichen Seele nachgestellt hat. Ueberall hat es Erfolg gehabt, außer in Irland; deshalb haßt es uns.«

»Ich sehe, es hilft alles nichts,« gab Lukas resigniert zurück. »Haben Sie schon ›Atta Troll‹ gelesen?«

»Nein.«

»Auch kein anderes Werk von Heine?«

»Ein paar Kleinigkeiten wohl,« erwiderte Vater Martin gleichgültig. »Sehr wenig Licht oder Musik kam noch aus der Matratzengruft.«

»Haben Sie den ›Laches‹ von Plato gelesen? Wir hatten neulich eine Diskussion über diesen Gegenstand. Der ›Meister von Balliol‹ war herübergekommen und wußte uns außerordentliche Aufschlüsse über Platos Philosophie zu geben. Ich begreife nicht, warum man Plato in unseren Lehranstalten nicht liest.«

»Da hat man eben Wichtigeres zu tun, als seine Zeit an solche Lappalien zu verschwenden. Plato ist ein großes Bündel Sophismen ohne ein Körnchen solider Weisheit.«

»Um Gotteswillen, Vater Martin! Das hätte ich wirklich nicht von Ihnen erwartet! Ich glaubte immer, wenigstens Sie würden jeden Fortschritt zur besseren Erkenntnis freudig begrüßen.«

»Bessere Erkenntnis? Mein lieber Junge, ein bißchen buntes Feuerwerk hat dich geblendet. Du vergißt darüber die ruhigen, bleibenden, ewigen Sterne.«

Lukas machte sich melancholisch und niedergeschlagen auf den Heimweg. Er war so sicher gewesen, daß er sich auf dem richtigen Wege befinde; daß die Welt mit ihren eigenen Waffen bekämpft werden mußte, mit Gelehrsamkeit, Wissen, Aufklärung, Wissenschaft, Literatur und Kunst, die von der Kirche in ihren Dienst genommen und mit tödlicher Wirkung gegen die Welt angewandt werden mußten. So hatte er es überall gehört – von der katholischen Presse, von aufgeklärten und führenden Männern innerhalb der Kirche, und seine eigene Ueberzeugung lautete nicht anders. Aber man konnte ja gut sehen. Die Ansichten über diesen Gegenstand waren sehr verschieden. Und dieses Irland – so sonderbar, altertümlich, konservativ und mittelalterlich!

»Ich wollte, ich wäre daheim,« seufzte Lukas. Er wollte sagen, in Aylesburgh.

»Mein junger Freund hat soeben seinen ersten falschen Schritt getan,« sagte Vater Martin zu seinen Büchern; und sonderbarer Weise war es gerade die große, dreizehnbändige Bekkensche Ausgabe Platos, vor der er seinen Monolog hielt. »Jawohl!« rief er wie zum Trotz gegen den mächtigen Geist, »jawohl, den ersten falschen Schritt – das πρῶτον ψεῦδος, mein gelehrtester Freund! Und er hat Vater Tims Rat verteufelt ernst genommen. Er trägt seinen Kopf sehr hoch.«

* * *

Lukas betrat den Hofraum seines Vaterhauses. Wirrer Lärm scholl ihm aus der beleuchteten Scheune entgegen; Musik, Lachen, Schreien und das Trippeln vieler Füße tönten durcheinander, Betrunkene brüllten ländliche Lieder mit heiserer Stimme und einzelne Paare irrten Arm in Arm um das Haus und sprachen wohl von ihrer eigenen Zukunft. Von einer benachbarten Hecke sang Philomele! – nein, das nicht! Sondern aus einem benachbarten großen Heuschober drang ein mächtiger Chor, der den Hainen und Bacchus geweiht war:

Ohe! Ohe!
Evoë! Evoë!
Iacche! Iacche!

Lukas kannte ihn gut und den begleitenden Ausruf.

»Das ist Bacchus-Poesie, ihr verdammten, jungen Dummköpfe! Glaubt es auf die Autorität eines Mannes von Trinity College hin, der um seiner Sünden willen nach Böotien verbannt wurde.«

Es war der Hornruf vom Spiel, den der alte Winkelschulschulmeister von Kerry ausgestoßen hatte. Lukas fühlte fast das Rasseln der Trommel. Es war auch der Vespersang desselben Patrons, nachdem er seinen Gott verehrt hatte und seine Schritte unsicher wurden.

»Da kann ich doch heute Nacht an keinen Schlaf denken, Mutter,« erklärte Lukas.

»Wir haben halt ein bißchen Musik in der Scheune –«

»Im Hof liegen zwei Kerle sinnlos betrunken am Boden, wahrscheinlich sind ihrer noch mehr draußen.«

»Wischa! Sie haben etwas zu viel erwischt und es hat ihnen nicht bekommen. Aber in der ganzen Grafschaft hat es noch nie eine solche Hochzeit gegeben –«

»Ich gehe zum Kanonikus und bitte ihn um ein Nachtlager.«

»Ja, tue das! Du würdest hier doch nicht recht schlafen können heute nacht.«

Und die Mutter lehnte sich über einen Stuhl, um ihren Rosenkranz zu beten.

* * *

Es war Sonntag Abend.

Lukas und der Kanonikus speisten zusammen. Es war etwas still, aber würdig. Lukas und sein Wirt besaßen jetzt viele gemeinsame Anschauungen über allgemeine Fragen, besonders über die neue, brennende Frage, für die alle Weisheit sämtlicher Staatsmänner, Gesetzgeber und Nationalökonomen in sieben Jahrhunderten noch keine Lösung gefunden hatte. Der Kanonikus hatte sie gelöst und seine Pfarrei in ein glückliches Arkadien umgeschaffen. Seine Häuser waren schmuck und reinlich, seine Leute wohlhabend; da gab es keine Armut und kein Elend.

»Alle diese unseligen Bettler, die Sie bei der Hochzeit Ihrer – hm – Schwester gesehen haben, waren importiert. In meiner Pfarrei gibt es keinen einzigen – hm – professionellen Bettler.«

»Ich hoffe,« entgegnete Lukas, »daß der geistige Fortschritt der Leute, nachdem Sie ihnen materiell so auf die Beine geholfen haben, mit ihrem zeitlichen Wohlstand Schritt halten wird.«

»Ich hoffe es auch –«

Tum! Tum! Tum!!! Tum! Tum! Tum!!! brach da ein mächtiges Trommelwirbeln vor den Fenstern los, die Pfeifen schrillten und der Schaffotsang der Martyrer von Manchester, angestimmt zum Marschlied amerikanischer Bataillone, tönte herein, während sich eine riesige Volksmenge auf der Straße an des Kanonikus' Besitztum entlang angesammelt hatte. Die Fensterscheiben klirrten bei dem Getöse, denn die Musikbande hatte sich gerade gegenüber dem Pfarrhause postiert, um seinem Bewohner eine Serenade zu bringen und ihm Patriotismus einzuflößen. Der war aber starr vor Ueberraschung und Unwillen. Zehn Minuten lang hielt die lärmende Musik an, nur zuweilen von Hochrufen unterbrochen. Dann marschierte der Haufe ab. Jedoch nicht weit, denn er besetzte das Schulhaus und hielt ein Sonntagsmeeting ab.

Es dauerte ziemlich lange, bis der Kanonikus seinen Gleichmut wieder gefunden hatte. Er war ganz bleich vor Aerger. In mitleiderregendem Tone wandte er sich an Lukas:

»Ist das nicht sehr traurig? Ist das nicht elendiglich? Welche – hm – Lehre für Sie, mein lieber junger Freund, über den Zustand dieses tollen Landes!«

Lukas konnte nicht antworten; er starrte nur aufs Kaminfeuer, wo die Holzblöcke brannten, denn der Winter hielt immer noch an. So saßen sie stumm bei einander, während zuweilen ein Beifallssturm vom Schulgebäude herübertönte, wo Vater Cussen eben eine Rede an das zahlreiche Auditorium hielt.

»Denken Sie nur an die grobe Ungehörigkeit, die in all dem liegt,« nahm der Kanonikus das Gespräch wieder auf. »Das ist einmal eine Herabwürdigung des friedlich-stillen Sonntagabends; sodann ist es eine Aufreizung – hm – gefährlicher Leidenschaften, endlich ist es eine Verletzung der Pflichten seines heiligen Amtes von seiten dieses jungen, geistlichen Herrn, der sich meine – hm – legitime Autorität anmaßt und ohne die leiseste Andeutung einfach meine Schule für seine Zwecke in Beschlag nimmt.«

»Wie man auch immer über die politische Seite der Frage denken mag,« erwiderte Lukas, »so viel ist sicher, daß er wegen des Schulhauses Ihre Erlaubnis hätte einholen müssen. Hoffentlich entschuldigt er sich noch. Sind diese Leute denn auch dankbar für Ihre gütigen Bemühungen zu ihrem Wohl?«

»Einige. Nicht alle. Dieses jungen Kaplans Theorie lautet: Die Lage der Leute ist unsicher trotz meiner Anstrengungen und trotz des Einflusses, den ich, wie ich wohl behaupten kann, bei den Grundherren habe. Kein Grundherr oder Agent würde auch nur wagen, sich an meine Leute zu machen. Ich brauche nur meine Hand aufzuheben und sie weichen zurück!«

»Das ist alles sehr traurig; ich wollte, ich wäre wieder in England.« – – –

Am nächsten Tage zeigte ihm seine gute Mutter mit Stolz und Genugtuung die zahllosen Geschenke, die auf Lizzie niedergeregnet waren. Lizzie half dabei. Für eine ruhige, junge Dame, die sie war, würde auch niemand eine tiefe und häßliche Benebelung erwartet haben.

»Das ist vom Vater Pat,« sagte sie.

»Gott segne ihn!« fügte die Mutter hinzu. »Und das ist vom Kanonikus.«

»Ich habe das nicht anders von ihm erwartet,« sagte Mike Delmege.

»Und Vater Martin sandte dieses schöne Frühstücksservice; und Vater Meade, den wir kaum kennen, diese Kakesbüchse; und die Nonnen vom guten Hirten diese schönen Bücher, und unser neuer Kaplan, Vater Cussen, diese Geschichte von Irland –«

»Ganz richtig, Lizzie, ganz richtig! Und das kostbare Geschenk des Vaters Lukas Delmege an seine Schwester glänzt durch Abwesenheit.«

»Du wirst Margarete alles von der Hochzeit erzählen können,« meinte die gute Mutter.

»Ich fürchte, daß ich kaum Zeit finden werde, um sie aufzusuchen,« erwiderte Lukas. »Ich habe ohnehin schon meine Urlaubsfrist überschritten.«


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