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Kurze Prosa

Verzweiflung der Jugend

Die Welt befindet sich in einer Übergangsphase und ist darum qualvoller und widerspruchsvoller, als je eine Zwischenzeit es war. Der Kapitalismus steht in einer Krise von unerhörter Schärfe.

Doch trotz alledem: Die äußere Macht des Systems ist unerhört stark. Denn je größer die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Bürgertums werden, desto mehr wird die Last der Krise auf die Arbeiter abgewälzt, desto schwerer wird diese Last. Je tiefer die Zweifel des Bürgertums an der inneren Berechtigung seiner Herrschaft sind, desto brutaler werden seine faschistischen Offensiven, desto rücksichtsloser seine Herrschaftsmittel.

So sieht die Welt aus, in die die Jugend hineingewachsen ist. Diese Jugend wollte sich mit der Zeit auseinandersetzen, feurig und tatkräftig, wie es die Art der Jugend ist; aber die Zeit hat ihr Feuer erstickt und ihre Tatkraft gelähmt. Sie bekommt die Unzulänglichkeit des Systems am schärfsten zu fühlen: »Ihr seid jung und kräftig?« spricht die Zeit. »Ihr wollt arbeiten und schaffen? Es ist keine Arbeit für euch da, weil zu viel Kleider und Brot da sind. Ihr wollt essen und euch kleiden? Hungert und geht in Fetzen, denn für euch ist keine Arbeit da ...«

Und auf der Jugend lastet das Bewußtsein der Unerträglichkeit eines Kerkers, zu dem sie von einem ungerechten, unverständlichen Richterspruch verurteilt ist. Dieses Gefühl aber wäre der stärkste Ansporn zu revolutionärem Willen, zu Begeisterung, zu Pathos und Tatkraft, es gäbe der Jugend die Überzeugung, Träger einer Schöpfungsaufgabe zu sein, wenn ihre erste Empörung nicht sofort auf die tödliche Enttäuschung stieße.

Die drückende, würgende Not der Krise nagt an der Tatkraft der Jugend und pflanzt ihr immer tiefer den Gedanken ein: Es ist mehr als ein Kerker, zu dem wir verurteilt sind, es ist lebenslänglicher Kerker.

Alles, was diese jungen Menschen tun, tun sie, um der Zeit zu entfliehen, in der sie keinen Inhalt für sich finden können. Die einen berauschen sich auf jede mögliche Weise. Manche versuchen in die romantische, idealerfüllte Jugendbewegung zurückzufliehen, aus der sie eben, ohne jede Vorbereitung, in das Leben getreten sind. Aber die Kreise dieser jungen Leute werden schließlich von selbst zerschlagen, und sie treiben zerrissen und seelisch zerrüttet im Dasein umher. Dann gibt es die mühelose Betäubung des Jazz und des süßen Kitsches. Dann gibt es das herrliche Opium des krankhaft gesteigerten Sports. Viele erliegen der leeren Lockung: Hakenkreuzfahnen wehen; verzweifelt suchen sie das, was ihnen fehlt; die vermeintliche zielbewußte Persönlichkeit, den starken, sicheren Charakter, den ganzen Kerl. Und manche werfen einfach das Leben von sich. Neunzig Prozent der Briefe jugendlicher Selbstmörder lauten: Das Leben hat für mich keinen Sinn ... Welche Ironie, bei all diesem Umsichschlagen sieht es aus, als wäre die Jugend von heute besonders radikal und ungeduldig, als hätte sie den stürmischen Willen, endlich zu handeln. Es ist nicht so; diese Zeit des Widerspruches, diese Zeit, in der wir so nicht mehr weiter und doch nicht anders können, diese Zeit der Halbheit hat die Jugend hart und erbarmungslos gepackt und ihr ihren Stempel aufgedrückt: Sie hat aus ihr eine Jugend der Halbheit und des Widersinns geformt. Es bleibt immer hinter all der Begeisterung ein Rest von Unsicherheit, eine Spur von Unglauben zurück, die den Jungen sehr oft bewußt wird, wenn sie dem Taumel ihrer Massenerlebnisse entrückt sind.

Eine Ungeduld der Jugend gibt es heute nicht; leider. Leider ist diese Jugend nicht tatkräftig, nicht zielstrebend, nicht ungeduldig. Sie ist nicht revolutionär und nicht reaktionär; nicht ganz gläubig und nie ganz zweifelnd; sie ist wie ganz und immer halb. Sie ist nicht einmal ganz unglücklich. Die Neurose der Zwischengenerationen hat die Jugend von heute gepackt. Diese Krankheit als Ungeduld, als stürmisches Vorwärtswollen zu sehen ist gefährlich. Vor allem darum, weil dann eintreten würde, was um keinen Preis geschehen darf – daß die Alten in lächelndem Wohlwollen erstarren und die Jungen in müßiger Selbstgefälligkeit eine weitere Zuflucht vor dem Leben suchen und nicht an ihre Pflicht denken würden: alle Kraft daranzusetzen, sich zu retten.

Denn es gibt auch in dieser Zeit Aufgaben für die sozialistische Jugend, und wenn man lernt, ihn zu finden, auch einen Weg aus Halbheit und Verzweiflung zu neuem Ziel- und Selbstbewußtsein.

 

Alma mater Rudolphina

Studentenleben 1936

Liebe Mutter!

Ich habe also inskribiert. Der Vorgang war sehr kompliziert und ehrfurchtgebietend; nichts als lateinische Namen auf dem ganzen Amtsweg: Quästur, Dekanat, Immatrikulation, Juxte und so weiter. Ich habe zwei geschlagene Vormittage gebraucht, um das alles hinter mich zu bringen. Dann erst bin ich dazu gekommen, mir etwas anderes anzuschauen als die Rücken von Kollegen, die sich mit mir in endlosen Schlangen vor den Schaltern anstellten.

Die Alma mater Rudolphina ist ebenso schön und ehrwürdig wie ihr Name. In der Aula: marmorene Ehrentafeln und ein Denkmal des kriegsgefallenen Studenten. Im Hof Kolonnaden rund um eine Statue der Weisheit und in endloser Reihe die Büsten berühmter verstorbener Professoren. Auf Schritt und Tritt weht einem der Hauch einer großen akademischen Tradition entgegen. Ich kann sehr gut verstehen, daß dieses Gebäude bis vor einigen Jahren seine Autonomie besaß, und als ich einen Vormittag in der Bibliothek verbracht hatte, wo ich in ziemlich ungeregelter Weise allerhand Bücher, Zeitschriften, Spezialarbeiten und so weiter aufgeschlagen und wieder stehengelassen habe – da begriff ich vor diesem Berg von Wissenschaft, woher die Studentenverbindungen im Jahre 1848 eigentlich das Selbstbewußtsein schöpften, sich zu Führern des Volkes aufzuschwingen und ...

Ja, richtig, bei einer Verbindung bin ich auch schon. Der Kollege, der mich gekeilt hat, hat mir versichert, daß unter den Alten Herren des Korps sich viele gutsituierte und einflußreiche Persönlichkeiten befinden, die mir später einmal kameradschaftlich weiterhelfen können. Jeden Mittwoch und Samstag werde ich beim Farbenbummel mittun. Du kriegst ein Foto. Außerdem werde ich mich an ein streng geregeltes System von Frühkneipen, Abendkneipen, obligaten Ausflügen mit Korpsdamen und so weiter gewöhnen müssen. Gar nicht zu reden vom dicken Ehrenkodex, den ich werde auswendig lernen müssen, um nicht ewig ein krasser Fuchs zu bleiben.

Aber da schreibe ich Dir von tausend Dingen und vergesse das eigentlich Wichtigste! Du weißt ja noch gar nicht, was ich inskribiert habe! Ohnehin hast Du Dich die ganzen Ferien hindurch gewundert, warum ich so scharf aufs Studieren war, ohne überhaupt noch genau zu wissen, was! Und ich kann Dir auch jetzt diese Unentschlossenheit nicht richtig erklären und Dir nur wiederholen, daß sechs von meinen zwanzig Maturakollegen sie genau so empfunden haben. Wir haben eben sozusagen Angst gehabt, so aus der Achten Realgymnasium direkt ins Nichts umzusteigen – na, egal, jetzt hab' ich mich entschlossen. Nicht für Medizin, wie Du immer wolltest – zum Arzt muß man eine Berufung fühlen, da können die Mediziner Lechner und Steiner grinsen, soviel sie wollen –, sondern fürs Lehramt. Und zwar Germanistik und Geschichte. Da glaube ich, wie unsere Verhältnisse liegen, werde ich schon unterkommen, und außerdem, es sind bis zu diesem Problem noch vier, fünf lange Jahre Zeit.

Ich habe auch schon die ersten Vorlesungen besucht. Es war natürlich sehr interessant, und ich habe fleißig mitgeschrieben. Und doch war es irgendwie anders, als ich's erwartet habe. Wie soll ich Dir's erklären? Ich habe geglaubt, hier, wo man für seinen Beruf vorbereitet wird, wird alles irgendwie Beziehungen zum Leben haben. Was vorgetragen wird, ist aber eine Welt für sich, so wie der Lehrstoff der Mittelschule, nur selbstverständlich viel detaillierter und exakter. Von dieser Ähnlichkeit war ich im ersten Moment betroffen. Allerdings habe ich jetzt, nach einer Woche, meine falschen Vorstellungen schon korrigiert. So ist eben die Wissenschaft. Kollegen aus höheren Semestern, die ich kennengelernt habe, verstehen gar nicht mehr, wie man einen Prüfungsstoff überhaupt so betrachten kann, wie ich's in den ersten Tagen getan habe. Ich habe sie zum Beispiel eine Stunde lang bei einem Kollegium fließend über Goethes Humanitätsgedanken Auskunft geben hören, worauf sie dann auf dem Heimweg ganz entgegengesetzte Themen anschlugen.

Es gibt auch andere, die sich in den Seminaren eingescharrt haben und alles in der Welt vom Standpunkt ihrer Spezialuntersuchungen sehen. Sehr strebsame junge Leute und mit zweiundzwanzig schon richtige uralte Privatgelehrte! Die imponieren mir eigentlich mehr. Denn während die erstgenannte Majorität zum Beispiel bei Diskussionen merklich wahllos mit Satzfragmenten Nietzsches, Treitschkes, Austin Stuart Chamberlains oder gar Platos herumwirft, sind die anderen gleich mit so viel gelehrten Details zur Hand, daß man als Ungelahrter sofort den Boden unter den Füßen verliert und die ganze Welt geradezu verkehrt sieht.

Aber die wichtigste Frage ist ja für Dich momentan, wieviel Du mir für die Kollegiengelder schicken mußt. Ich weiß ja genau, liebe Mutter, daß Ihr Euch gewaltig abschindet, um mir das Studium zu ermöglichen und damit unsere Familie endlich auch einen Akademiker aufzuweisen hat. Nun, ich kann Dir noch keine Summe nennen. Ich habe um Kollegiengeldbefreiung eingereicht, habe mit meinem Vorzugsmaturazeugnis gute Aussichten, aber sicher ist nichts. Neulich ist ja in der Zeitung gestanden, daß von zirka 12 000 Studenten zirka 7000 als mittellos zu betrachten sind.

Warum wir jungen Akademiker so schlecht dran sind und so miserable Aussichten haben – darüber hab' ich in der Verbindung schon sehr viel gehört. Wie ich ja überhaupt in Gesprächen mit den Kollegen, besonders mit den obengenannten Seminarkanonen, meine Weltanschauung immer mehr vertiefe und ausbaue. Als Historiker hoffe ich, die politischen Ansichten, die ich schon in der Mittelschule gewonnen habe, durch eine wohlfundierte biologische Geschichtsauffassung solid untermauern zu können.

Aber ich will Dich nicht mit Fachsimpeleien belästigen, sondern Dir lieber zum Schluß noch kurz von einigen Studienkollegen erzählen, die Du persönlich kennst. Weißt Du zum Beispiel, was der Sohn des Apothekers studiert? Der magere, kleine Zehetner, der ein Jahr vor mir nach Wien gefahren ist? Du wirst es nicht glauben: Bodenkultur! Erst hat er Jus probiert, hat aber dann umgesattelt. Nun, die Bodenkultur schlägt ihm sehr gut an. Er hat sich mit einigen Gutsbesitzersöhnen angefreundet, wird im nächsten Sommer eine bezahlte Ferialpraxis kriegen und braucht auch keine Angst vor der Zukunft zu haben. Das ist einer, der genau weiß, was er will. Lechner und Steiner, die drei Jahre vor mir maturiert haben, sind im schönsten Medizinstudium drin. Sie haben so viel zu stucken, daß ihnen gar keine Zeit bleibt, an die Zukunft zu denken. In ihrer überheizten Bude verbringen sie qualmend schlaflose Nächte, treten mit irren Blicken zu Rigorosen an, sausen durch, treten wieder an und kommen gar nicht dazu, zu überlegen, ob sie's gern tun oder wider Willen. Wer ihnen begegnet, dem werden aus dem Stegreif ein Dutzend tödlicher Krankheiten auf den Kopf zugesagt oder schweinische Witze serviert. Verstuckte, aber unterhaltsame Patrone. Angeblich entschädigt die Spitalpraxis reichlich für durchbüffelte Monate. Ich habe da viele heitere Episoden gehört.

Ich habe auch den Hans Eilinger getroffen. Ich weiß nicht, ob Du Dich an ihn erinnern kannst, das ist der Wiener, den ich als kleiner Bub in Holland, im Lager der Kinderhilfsaktion, kennengelernt habe. Also dem geht es ganz dreckig. Sein Vater ist arbeitslos. Der Hans studiert Chemie und muß jedes zweite Semester wegen Geldmangels überspringen. Weiß Gott, wann der überhaupt Zeit zum Studieren findet: Vormittags agentiert er mit Staubsaugern, nachmittags gibt er Nachhilfestunden um 1,50 S. Er und seinesgleichen sind massenweise in den Hörsälen und Laboratorien zu finden. Mit ihren schäbigen Knickerbockern und durchgewetzten Hemden schauen sie sehr unakademisch aus.

Wie überhaupt die Mehrzahl der Hörer und Hörerinnen ganz anders aussieht, als Du es Dir vielleicht auf Grund von Alt-Heidelberg-Filmen vorstellst.

Nur wenn Farbenbummel ist, erstrahlt die Aula, der Hof von unzähligen bunten Kappen, die ununterbrochen zum Gruß gelüftet werden. Auch wenn ein Doktorand von seiner Verbindung in vollem Wichs, mit Stulpstiefeln, Pluderhosen, weißem Wams, Federhut und Rapier aus dem Promotionssaal abgeholt wird, hat man wieder voll und ganz das Gefühl: Alma mater Rudolphina!

Ich wohne um 45 Schilling in einem sehr netten Kabinett, kümmere mich, Deinen Beschwörungen folgend, überhaupt nicht um das schöne Geschlecht und esse, wie Du mir empfohlen hast, viel Obst. Wenn die Sommerbilanz von Papas Gasthaus günstig ausgefallen ist, könntest Du mir vielleicht ein paar Hemden mit steifem Kragen schicken.

Ich bin ja doch kein Hans Eilinger und muß in der Verbindung standesgemäß auftreten.

Liebe Mutter! Du weißt, daß ich mir vorgenommen habe, brav zu studieren, um was Besseres zu werden. An Euch alle die herzlichsten Grüße.

Euer Akademiker

 

Motorräder

Neulich begegnete ein Reporter einem Märchen. Nicht einem solchen, in dem das »r« ein Druckfehler ist und richtig »d« heißen sollte; sondern einem regelrechten Märchen, das von einem modernen, motorisierten Andersen zu stammen schien.

Ein sogenanntes »Märchen der Wirklichkeit« also.

Wenigstens sah es anfangs ganz danach aus.

Der Reporter schlenderte ohne vorgefaßte Absicht durch die Straßen eines Arbeiterbezirks. Er blieb zufällig vor der Auslage eines großen Motorradgeschäfts stehen. Blitzend vor Lack und Chrom glotzten da reihenweise die eleganten Maschinen mit ihrem Einaug auf die Straße heraus. Die Sättel harrten einladend des Käufers, es ragten die weichen Soziussitze, und die edlen Renner duckten sich ungeduldig zum ersten Sprung auf die Glocknerstraße.

Vor der Auslage standen ein stämmiger Fleischhauergehilfe, ein Angestellter mit Aktentasche und ein junger Arbeitsloser. Ihre Blicke streichelten schüchtern die Maschinen, ihre Träume saßen im Sattel und rasten donnernd auf den Alpenstraßen umher.

Vor dieser Auslage, dachte der Reporter, ziehen täglich Scharen von geheimen Wünschen vorbei. Tausende Träume von Gehaltsaufbesserung, Erbschaft, Lotteriegewinn, Sparbuch münden in dieses Einfahrtstor. Wenn hinter dieser Auslage keine Romantik zu finden ist, dann ist sie nirgends in der Welt zu finden.

Er trat ein und durchquerte mehrere Hallen, voll von ratternden, summenden, dröhnenden, neuen, gebrauchten, ganzen und zerlegten Motorrädern. Er stellte sich dem Chef, einem jungen Mann, vor. Der Chef zeigte ihm den Käuferkataster: »Beamter, Spengler, Gewerbetreibender, Beamter, Mechaniker, Bäcker, Selchermeister, Tapezierer, Beamter ...«

»Wenn Sie wollen, werde ich Ihnen erzählen, wie mein Bruder und ich zu dem Geschäft gekommen sind«, sagte der Chef. Und das Märchen lief vom Stapel.

Es waren einmal zwei Brüder. Der ältere zählte 19 Jahre und studierte Technik, der jüngere war 16 und ging aufs Gymnasium. Eines Tages schenkte der Vater dem älteren Bruder ein Motorrad. Damit es ihn billiger komme, versuchte der junge Mann, andere Maschinen derselben Marke zu verkaufen. Er hatte einen guten Onkel auf dem Land, der kaufte ihm ein Motorrad ab. Da schwoll den beiden Brüdern der Kamm, und sie rasteten nicht eher, als bis sie im selben Jahr noch ein zweites Motorrad an den Mann gebracht hatten.

Im nächsten Jahr, 1926, fuhren sie abwechselnd des Sonntags durch das Land und priesen den Bauern die Technik an. Und ehe das Jahr verstrichen war, hatten sie 60 Motorräder verkauft.

Da vergaßen sie alles andere auf der Welt, und der Ältere verließ die Hochschule, und der Jüngere lernte nur mehr selten Vokabeln, und sie zimmerten einen kleinen Schuppen von zwei Meter im Quadrat, wo je zwei kommissionsweise übernommene Maschinen garagiert wurden. So verkauften sie im nächsten Jahr 80 Motorräder.

Sie mieteten ein kleines Geschäftslokal. Sie hörten, eine Lampenfabrik erzeuge Doppelscheinwerfer für Motorräder. Ein Motorrad mit zwei Scheinwerfern sieht bißchen mehr nach Auto aus als ein gewöhnliches. Die Brüder verkauften im nächsten Jahr Doppelscheinwerfer und dazu 600 Motorräder.

Das war ihr großer Aufschwung. Sie durchbrachen die Wände des Nachbarlokals, vergrößerten das ihre und verkauften 800 Maschinen.

Die Krise kam. Der kleine Mann wurde ärmer und den Banken gegenüber mißtrauischer. Aber die Brüder gewährten ihm Raten bis zu 24 Monaten und »Kredit ohne Bank«. Sie kannten ihn und wußten, daß er ein wenig Hilfe im richtigen psychologischen Augenblick mit hundertfachem Vertrauen lohnt. Darum schickten sie jeden Sonntag einige Mechaniker durchs Land, die den gestrandeten Motorradlern ihre Pannen behoben, wenn nötig gratis. Sie verkauften 1300 Motorräder.

Die Krise wuchs gewaltig. Der kleine Mann verelendete noch mehr. Aber seine Träume wurden nur um so üppiger. Sie hießen: gesicherte Existenz, Eigenheim, Wochenende im Grünen, Glück zu zweit und mit Familie im eigenen Winkel. Und diese Träume des zeitlebens verhinderten Autobesitzers sind es, die ihn in den Motorradladen treiben.

Im Jahr 1935, zehn Jahre nach dem ersten verkauften Rad, haben die Brüder einen jährlichen Umsatz von 2000 Stück, das sind drei Millionen Schilling. Sie haben alle Rivalen niederkonkurriert, sie nehmen für ihr Geschäft ein ganzes Haus mit Vorder- und Hinterhof in Anspruch, sie beschäftigen 60 Angestellte, beherrschen den Markt, genießen das restlose Vertrauen aller verhinderten Autobesitzer und solcher, die es werden wollen. Und trotz der Krise sind sie nicht gestorben und leben heute noch.

   

Ein Märchen der Wirklichkeit! dachte der Reporter. Rockefeller-Karriere gibt's nicht nur in Amerika, sondern in entsprechend bescheidenen Ausmaßen auch bei uns!

»Und Sie haben also ganz ohne Geld angefangen?« fragte er abschließend und schüttelte dem 26jährigen Chef die Hand zum Abschied.

»Nicht ganz ohne Geld«, antwortete der junge Mann. »Die Eltern haben uns zum Glück anfangs mit ein paar tausend Schilling aushelfen können.«

Der Reporter stand auf der Straße und war ein wenig enttäuscht. Wieder einmal stimmte etwas nicht an der Heldenlegende »Vom Zeitungsjungen zum Millionär«! Nicht einmal im stark verkleinerten Verhältnis New York zu Wien. Ein verhindertes Märchen also. Aber irgend etwas daran war doch wert, erzählt zu werden. War es in Wirklichkeit eine moralische Geschichte? »Energie setzt sich durch?« – »Ehrlich währt am längsten?« – »Freie Bahn dem Tüchtigen?«

Vor der Auslage stand nur mehr der Arbeitslose. Der Fleischhauer und der Beamte hatten weiter müssen, er aber hatte Zeit. Er war jung, wie der Chef von derselben sportgehärteten und krisengeschulten Jugend. Er sah auch recht energisch aus, recht ehrlich, recht tüchtig. Er studierte einen Prospekt für Motoröl, auf dem es in grellen Buchstaben hieß: »Ein richtiger Start ist entscheidend!« Das ist es, dachte der Reporter. Diese Generation kann allerhand leisten. Aber ein richtiger Start und ein gleicher Start für alle Fahrer – das wäre entscheidend.

Somit war er nicht einem Märchen begegnet, sondern bloß wieder einmal der alten Wahrheit, die ihm an jeder Straßenecke in die Arme lief.

 

Die Goldgräber von Ottakring

Als vor etlichen Jahrzehnten durch alle Welt die Kunde ging, in Kalifornien sei Gold zu finden, da setzte ein gewaltiger Andrang abenteuerlustiger armer Teufel ein. Wahrscheinlich waren ihre Bemühungen etwas karger an spannenden Abenteuern und etwas reicher an verdammt eintöniger Arbeit, als Karl May es der reiferen Jugend zu berichten weiß. Aber gewiß ist, daß sie, wenn auch nicht immer und überall, so doch echtes Gold fanden; daß sie, hungernd und schuftend, die Pioniere einer neuen Zivilisation wurden und daß diese Zivilisation, im Guten wie im Grauenvollen, sich als vergrößertes Ebenbild jenes Goldgräberdaseins gestaltet. Sie war ein Kampf aller gegen alle, und der Tüchtigere setzte sich auf eigene Faust durch. Zu wieviel Prozent sich diese berühmte Tüchtigkeit aus Gier, Skrupellosigkeit, Brutalität und ähnlichen Eigenschaften zusammensetzte, sei dahingestellt. Unbestreitbar ist: Wenn die Lobpreiser der amerikanischen Wirtschaft damals den Zeitungsjungen zu Sparsamkeit und den (zeitweiligen) Arbeitslosen zu Geduld rieten und darauf hinwiesen, auch in der Zeitungs- und Autoindustrie könne jeder eines Tages die große Goldmine entdecken, wenn das Märchen vom Tellerabwascher, der Millionär wurde, weithin über den Erdball tönte – so gab es in diesen Ratschlägen, in diesem Märchen ein Silberkörnchen, einen Goldschimmer von Wahrheit. »Die große Chance für jedermann« war eine winzige Chance – aber sie existierte...

Als vor etlichen Tagen durch ganz Ottakring die Kunde ging, auf einer Gstetten in der Nähe des Johann-Nepomuk-Berger-Platzes sei Alteisen zu finden, da war der Andrang (im Verhältnis Ottakring – Erdkugel) relativ weit größer als der Rush zu den kalifornischen Goldgebieten. Zu der Entdeckung ist es folgendermaßen gekommen: Kinder haben auf einem Baugrund gespielt, wo sich einst eine Fabrik befand; beim Aufgraben des Bodens entdeckten sie Eisenstücke, aus denen sich schließen ließ, daß nach dem Demolieren der Fabrik Maschinenbestandteile in der Erde zurückgelassen wurden. In der Umgebung aber gibt es eine Anzahl von Altmetallhändlern, die beim Abwiegen großzügig, beim Auszahlen vorsichtig, im großen und ganzen aber kaufwillig sind. Die Gewinnchance für entdeckungslustige Alteisensucher liegt auf der Hand. Am nächsten Tag wurde an einem Dutzend verschiedener Stellen gleichzeitig mit dem Graben begonnen.

Die Arbeit ist nicht leicht. Was hier gefunden werden kann, sind alte Leitungskabel, alte Rohre oder (wenn man besonders viel Glück hat) irgendein verrosteter, kaum mehr identifizierbarer Gußeisenkoloß. Diese Schätze liegen zwei Meter oder noch tiefer unter dem Erdboden. Viel Klugheit und Instinkt sind erforderlich, um solche eisenhaltige Stellen zu erraten. Und auch den Klügsten kann es passieren, daß sie einen Tag lang arbeiten, um eine Rohrleitung auszuheben, dann aber bemerken, daß ihr Graben viel zu lang geraten ist, weil die Leitung nicht gerade verläuft, sondern unvermutet abbiegt; drei Viertel der Arbeit sind beim Teufel. Die Sonne brennt, im Magen rumort es, der Zigarettenvorrat ist erschöpft und kann nicht mehr erneuert werden; denn daß es nicht gerade Generaldirektoren und nicht einmal fixangestellte Hilfsarbeiter sind, die sich hier abplagen – das bedarf keiner Erwähnung.

Die Arbeit hat auch ihr Schönes. Nicht nur, weil sie möglicherweise ein paar Schillinge einbringt (und möglicherweise gar nichts, was ihr nebenbei den Reiz der Abenteuerlichkeit verleiht). Nicht nur, weil es nach unendlicher Arbeitslosigkeit wieder einmal irgendeine Arbeit ist, sondern weil man hier als Fachmann wirklich zeigen kann, was man von seiner Sache versteht. Ja, mit nacktem Oberkörper oder im altgedienten, ehrenvoll zerfetzten Schlosseranzug pflanzt man sich breitbeinig im Gelände auf; die Augen der zwei oder drei jungen ungelernten Burschen, mit denen man sich zur Ausbeutung des Bodens vereinigt hat, sind erwartungsvoll auf einen gerichtet; ringsherum die Kiebitze harren stumm als müßige Gaffer oder als hilfsbereite Gratishandlanger, die Gelüste tragen, sich an einem gewaltigen gemeinsamen »Ho ruck!« zu berauschen; und nun, vor diesem Publikum, erklärt man klipp und klar, als gelernter Metallarbeiter, dem vier Jahre Arbeitslosigkeit innerlich nichts anhaben konnten, warum das Kabel rechts ums Eck verlaufen muß und nicht links ums Eck. Eine Debatte entbrennt. Der Fachmann setzt sich durch. Dann beginnt die Arbeit unter seiner Leitung, und alles ist, wie es einst in den stolzen Zeiten war, da er noch nicht stempeln ging. Hier ist es wirklich der Tüchtige, der sich durchsetzt. Und ein überwältigender Wille zum Tüchtigsein ist es, der sich hier auf dem Grabe der toten Fabrik offenbart! Frauen und Kinder haben Schaufeln und Spitzhacken zur Hand genommen, und ganz Kleine, denen man kein Werkzeug anvertraut, scharren mit kleinen Eisenstücken die Gruben zu, aus denen die Funde schon entnommen sind. »Daß sich niemand aufregt...!« Drei Männer sind besonders eifrig am Werk. Neben ihrer Arbeitsstätte ist sogar ein Feldbett aufgestellt, so entschieden haben die drei sich hier festgesetzt. Der erste in diesem Trio ist einbeinig. Der zweite taub. Der dritte zwar völlig gesund und kräftig, aber hundsjung. So ergänzen sich Erfahrung, Geschicklichkeit und Kraft. Die Zuschauer, die die Funde taxieren und die Stimmung mit Ratschlägen und Witzen beleben (unter anderem wird auch gemutmaßt, ob sich hier nicht wirklich Gold finden ließe), betrachten wortlos zwei Blechtafeln, die der Einbeinige ausgräbt und lächelnd auf einem Haufen alter Ziegel aufpflanzt. Auf der einen Tafel steht: »Lohnbureau« und auf der anderen »Zur Kassa«. Das sieht ein wenig gespenstisch aus...

Wie frei früher einmal die »freie Bahn« für den wirklich Tüchtigen war – das ist eine Frage von früher einmal. Heute ist es so wie auf der Gstetten in Ottakring. Allein, zu zweit oder zu dritt werden die Tüchtigen auf keine Goldgrube mehr stoßen. Bestenfalls auf einen Abfall aus den Restbeständen der zerstörten Fabrik. Heutzutage müssen die Tüchtigen wohl bleiben, was sie sind: arme Teufel! So lange nämlich, als nicht alle zueinanderfinden.

 

Scharlach, Diphtherie und andere lustige Dinge

Man kriegt heutzutage in jedem dritten Kino kindliche Grazie zu sehen, die mit Stargagen bezahlt wurde; es gibt so viele Muttertränen aus Glyzerin, so viel Liebe aus Zelluloid, so viel papierene Gefühle, daß man seinem Herzen und den Herzen anderer gegenüber ganz mißtrauisch geworden ist. Darum lohnt es die Mühe, eine Stunde in einem Wiener Kinderscharlachspital zu verbringen, auch wenn man keinen der kleinen Patienten speziell zu besuchen hat.

Die kranken Kinder dürfen wegen Ansteckungsgefahr nicht in den Sälen besucht werden. Sie werden während der Besuchsstunden auf die Fensterbretter gesetzt, und Väter, Mütter, Geschwister scharen sich im Hof. Ein Dutzend Fenster voll Kinder, ein Hof voll Eltern. Und alles, was für gewöhnlich in der flüsternden Heimlichkeit um das Bett eines kranken Kindes erblüht, ist jetzt der Öffentlichkeit ausgesetzt, muß sich den Weg bahnen, durch soundso viel Kubikmeter feuchtkalter Winterluft, durch die Glasscheiben des Spitalfensters, vom Erdboden ins Parterregeschoß und sogar in den ersten Stock hinauf.

Die Eltern haben mancherlei mitgebracht, um die Macht des trennenden Raumes zu überwinden: Operngläser, Schultafeln und Schultaschen, auf die mit Kreide ein Bruchteil von alldem geschrieben werden kann, was sie zu sagen, zu fragen, zu wünschen haben: Bist du brav? Was bekommst du zu essen? Sprichst du noch durch die Nase? Willst du Mandarinen? Kann man der Schwester Blumen bringen? Nicht weinen!

Am bequemsten haben es die, deren Kinder im Parterre untergebracht worden sind. Mit Geschrei, Gesten, Mienenspiel läßt sich eine Verständigung erzielen. Am schwersten geht es, wenn die Kleinen, die im ersten Stock sind, noch nicht lesen können. Einen überglücklichen Ausnahmefall stellt jene Mama dar, die so klug gewesen war, die Stummerlsprache zu lernen. Ohne Stocken unterhält sie sich mit ihrem Sohn mittels geheimer Fingerzeichen.

Die Kinder aber deuten ja und nein. Sie weinen bitterlich und beginnen dann plötzlich zu lächeln, überraschend wie Frühlingswetter. Sie erhellen ein ganzes Fenster mit ihrem Lachen, bis eines unvermittelt losschluchzt, worauf die anderen der Reihe nach einfallen. Sie erweisen sich jedes als schon ziemlich eigenartige Persönlichkeit. »Wie geht es dir?« fragt man, und der Stoiker antwortet: »Schau dir das Schwanzerl von meinem Hunderl an«, während die Sanguinikerin erwidert: »In unserem Saal gibt's a Hetz!«

»Soll ich dir ein Hahnderl bringen?« fragt man den Gierigen, und er erklärt: »Na, später, zu Hause. Weil, wenn ich da wegkomm', müßt' ich's dalassen.«

Es gibt Kinder, die die ganze Zeit über vor Sehnsucht weinen. Es gibt andere (besonders Mädel), die, geschmeichelt, vor so großem Publikum zu stehen, unausgesetzt kokett winken, Bussi in die Welt schicken, Tänze vorführen. Es gibt ganz zusammengebrochene kleine Menschen, den Kopf bandagiert, zermürbt von den Schmerzen der Mittelohrentzündung. Es gibt robuste, scheinbar pumperlgesunde Kämpfernaturen mit blitzenden Augen und kräftigen Fäustchen, die sich die besten Plätze erobern.

Da steht eine Mutter und schaut zum oberen Stock hinauf. Irgendeines der Kinder dort oben ist das ihre, niemand außer ihr weiß, welches. Es scheint noch ein kleines Kind zu sein, denn die Frau hat keine Schreibwerkzeuge mit. Ein Fernglas besitzt sie auch nicht. Sie steht da, den Kopf erhoben, und spricht ganz leise, als säße sie am Krankenbett, spricht ununterbrochen, obwohl das Kleine oben sicherlich kein Wort versteht. »Bist brav? Was bekommst du zu essen? Sprichst du noch durch die Nase? Nicht weinen!« Erst als das Kind weggenommen wird, die Besuchsstunde aus ist, verstummt sie.

Ungefilmt und ungelogen: Dabei wird einem ganz sonderbar zumute.

 

Junge Autoren

Was sich im Vorraum des Vortragssaales in der Gegend der Garderobe drängt, gehört zumeist zu den respektabel betagten oder zu den respektabel jungen Jahrgängen: Es sind einerseits die Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel und anderseits die Freunde, Studienkollegen, Rivalen der jungen Autoren. Es gibt auch einige wenige Fünfunddreißig- bis Vierzigjährige: Das sind die Freunde der Häuser der Eltern der jungen Autoren. Und es gibt ein paar verhalten Aufgeregte, sehr Bewegliche: Das sind die jungen Autoren selbst, und man sieht es ihnen an der Nasenspitze an.

Ich werde gelesen! denken sie. Heute abend werde ich gelesen werden. – Ein gewöhnlicher Sterblicher darf das ebensowenig sagen wie! »Ich werde geregnet!« oder »Ich werde geregnet werden!« Ihnen aber ist heute dieses seltene Präsens passiv erlaubt. Und keiner der jungen Autoren ist ein genügend alter Autor, um gegen den geheimen Rausch dieser kühnen Konjugation unempfindlich zu bleiben. »Was wollt ihr von mir?« sagen hingegen die Kollegen. »Werde ich heute gelesen?« Und darin steckt weniger Unbekümmertheit und mehr Neid, als sie es zeigen möchten. Die Eltern aber, die Onkel, Tanten und Freunde der Häuser bewegen sich noch ganz in den Bahnen ihrer Bridgestubengespräche. »Sie haben im Sommer abgenommen, Frau Direktor!« – »Fahren Sie im Winter wieder nach Gastein?« – »Die Kinder ...« – »Diese Dienstboten ...« – »Die Geschäfte heutzutage, Herr Kommerzialrat ...« Und die zwei bis drei nicht verwandten und nicht befreundeten Besucher des Abends hören dies, werden von der Vorstellung ergriffen, daß mitten in so ein Gespräch ein junger Autor unversehens mit der Bemerkung hineinplatzen könnte: »Mama, ich möchte ein Sternlein am Himmel sein ...« Und empfinden wieder einmal die ganze wunderbare Rätselhaftigkeit der Poeterei.

Dann geht es los. Man spreche nicht von der Zersetzung der Familie: Der Saal ist voll. Biedermeiergeist strömt aus allen Wänden, die Büsten großer Toter blicken ernst und prüfend auf die jungen Autoren. Diese, rechts vom Podium geschart, nehmen nicht mehr von der Welt wahr als das eine: Mit meisterlicher Stimme rufen Burgtheaterschauspieler ins Leben, was einst (wahrscheinlich nachts) zu Papier gebracht worden ist. Unbewegt bleiben die Mienen der jungen Autoren, auch wenn der Beifall der Menge erklingt. Je tiefere Gefühle ihres Seelenlebens preisgegeben werden, desto kühler werden ihre Gesichter. Sie lächeln nicht, sie zeigen nichts von Stolz und Freude. Der, dessen Werk eben gelesen wurde, rührt keine Hand zum Beifall. Was übrigens den weder verschwägerten noch befreundeten Besucher sehr bald erraten läßt, »wer wer« ist. Die jungen Autoren, so fieberhaft beweglich zu Beginn, als sie dem Herrn Hofrat und dem Herrn Kommerzialrat vorgestellt worden waren, sind von einer Art Starrkrampf befallen. Ihre Erregung in Ehren; ihre Schöpferqualen in Ehren; trotzdem haben sie es gut. Ein kultivierter, freundlicher Saal; Eltern und Freunde, die ihn füllen; ein Ministerialrat, der Conférence macht; Burgschauspieler als Interpreten; und was viel mehr ist: eine humanistische Erziehung; die Schätze Georges, Rilkes, Hofmannsthals, Wildgans' in müheloser Reichweite, von mußevoller Kindheit an – nicht jedem jungen Autor in dieser Zeit ist das beschieden.

   

Diese jungen Wiener Bürger haben es nicht sehr schwer, zu dichten. Davon zeugen ihre Werke. Nicht, daß sie sich's zu leicht gemacht hätten – fast allen hört man an, daß sie sich um strenge Formen, um Rhythmus und Wort bemühen. Fast allen auch, daß sie bestrebt sind, etwas zu sagen. Aber die Form, die sie zum Teil erstaunlich gut beherrschen, ist erlernt. Nur erlernt, wenn auch von den großen Meistern. Nur erlernt, weil eigene Form sich nur um eigenen Gehalt schließen kann. Gehalt aber läßt sich überhaupt nicht erlernen, am wenigsten von Rilke, der gesagt hat: »Gedichte sind Erfahrungen.«

Man muß nicht alt sein, um Erfahrungen zu haben. Diese jungen Autoren würden eigentlich nur eines dazu brauchen: mehr Mut. Was sie erlernt haben, sollten sie wohl als einen großen Schatz, hüten. Aber auch kräftig nach dem greifen, was ihnen nicht so leicht erreichbar ist: das widerspruchsvolle, problemerfüllte, lebendige Leben von heute. Gingen sie auf solchen Wegen – sie würden glaubhaftere Worte sprechen als jetzt, da sie in den versunkenen Gärten eines gottsucherischen Mystizismus wandeln. Dann erst würden sie das Erbe der Väter erworben haben, um es zu besitzen.

Einem der Dichter hörten wir an, daß er wirklich und wahrhaftig nach Erlebniswerten in sich sucht. Einem anderen, daß er beherzt nach den Problemen der Zeit greift. Aber auch die anderen, deren kosmische Empfindungen ein bißchen nach Planetarium riechen, deren toll-tolle Liebeslieder auf der Heide durch zu gute Kinderstuben gehandikapt sind, die »sorgen, was morgen werden wird und übermorgen«, ohne daß man ihnen die Sorgen recht glauben könnte – sind zum Glück jung genug, um weiterlernen und umlernen zu können.

Dichterische Kraft steckt in fast allen. Jetzt mehr Mut! Mehr Kontakt mit jenen jungen Autoren, die von diesen die Lehren der Literatur empfangen und ihnen zum Tausch die Lehren des Lebens näherbringen könnten! Dann könnte in der Wiener Dichtkunst über Nacht ein kräftiges, zukunftverheißendes, neues Leben erstehen.

 

Hugo von Hofmannsthal

Inmitten der trachtenreichen Verzückung der Salzburger Season, im gewaltigsten Rummel des triumphierenden Fremdenverkehrs, wurde ihm ein Denkmal errichtet. In einer Enthüllungsrede sprach ein Freund die ungeteilte Überzeugung aller aus: daß Hofmannsthal sich wie kaum ein anderer um die Festspiele verdient gemacht hat. Ob die Festspiele ebenso um ihn – das würde der feine Ästhet selbst am besten erkennen, wenn er noch lebte. Er hat ja einst von sich gedichtet, ihm wäre, als hätten seine Augen keine Lider. Und so hätte er die Augen nicht verschließen können ...

Sosehr es ihn stach und schmerzte – er hielt sie immer offen. Nicht den brennenden Tagesproblemen seiner Zeit zugewendet, sondern den Regionen der Mystik. Dort war er ein um so leidenschaftlicherer Sucher. Er suchte die letzte Wahrheit, die Schönheit, suchte in »verknüpfenden Gefühlen« die Zusammenhänge einer Welt, die er nicht begriff. Denn als er, ein achtzehnjähriger Meisterschüler Stefan Georges, berühmt wurde und in diesem Alter gar nicht achtzehn war, sondern ein gelehrter, feinsinniger, gereifter Mann, da bildete er unter seinen Freunden, Sprossen des alten Wiener Bürgertums, eigentlich keine Ausnahme. Sie alle waren nicht jung und nie jung gewesen, sondern, solange sie denken konnten, belastet vom »abgelebten Leben«, ermüdet von der harten Aufbauarbeit ihrer geschäftskundigen Väter. Sie hatten, wie Hermann Bahr damals sagte, »feine Gaumen, aber keine Fäuste«. Sie verstanden, das Ererbte zu genießen, Gefühle auszuloten, Farben, Melodien, Wörter, Gerüche bis in die feinsten Nuancen auszukosten. Und »empfindlich bis in die Fingerspitzen«, hörten sie nicht auf, daran zu leiden. Auch das Leiden kosteten sie aus: Hofmannsthal erhob es in einer theoretischen Schrift zur wichtigsten Voraussetzung der Dichternatur.

Aber woran sie litten, das verstanden diese »Erben« nicht. Und so gingen sie, ausgerüstet mit ihren zufeinst empfindsamen Gefühlen, auf die Suche.

Hofmannsthals Weg, von dem seine Freunde uns in diesen Tagen wieder so viel zu berichten wissen, könnte er uns nicht um ein Stück klarer werden, wenn man ihn einmal sorgfältig als den Weg dieser Suche betrachtete?

Als er vor wenigen Jahren beim Begräbnis seines Sohnes zusammenstürzte, war ihm der Tod längst kein Fremder mehr. Er hatte ihn als den Tod des jungen Toren erforscht und als den Tod des reichen Jedermann. Denn nichts sah er so klar wie den Untergang. Noch einmal: Er war einer, der die Augen nicht verschließen konnte...

 

Vom lebendigen Nestroy

Zum 75. Todestag

Ein so springlebendiger Toter ist Johann Nestroy, daß auch das Trommelfeuer gelehrt-nichtssagender Nekrologe, welche derzeit auf seinen Geist niederprasseln, ihn gewiß nicht umbringen wird. Er wird's überstehen, wird weiterleben und – weiterwarten. Nämlich darauf, wieder debütieren zu dürfen. Was er von seinen Theaterstücken jetzt hier und da zu sehen bekommt, scheint ihm ein wenig abgeschmackt. Nicht den auswendig gelernten, entseelten Wortlaut dieser oder jener ausgegrabenen Posse möchte er zu hören bekommen. Sich selbst möchte er wieder auf der Bühne sehen, in seiner ganzen hinreißenden Aktualität und Volkstümlichkeit, belacht, bejubelt und ausgezischt (ja, warum denn nicht auch manchmal herzhaft ausgezischt?) von einem Publikum, das genau weiß: Diese Theaterspielerei geht uns an, von unserem Leben ist sie erfüllt, unsere Probleme stehen zur Diskussion, über unsere Sache wird hier verhandelt! Daß Karl Kraus in seinen unvergessenen Vorlesungen Nestroy ins rechte geistige Licht gestellt hat, war eine große Leistung, die aber nicht genügen konnte. Derzeit ist der Herr Akteur wieder beschäftigungslos. Wer ihm zu einem längst verdienten ewigen Engagement am österreichischen Theater verhelfen könnte – sind nur seine Zuschauer von Anno dazumal. In einem Leichenzug, der anderthalb Stunden lang vor einem dichten Spalier Trauernder vorbeizog, haben sie ihn 1862 zu Grabe getragen. Also haben sie ihn offenbar gern und sind ihm ein dankbares Publikum. Ob sie selbst noch leben? Gewiß leben sie noch und denken nicht dran, auszusterben, die kleinen Kaufleute, die Handwerker, die Lohnarbeiter der äußeren Wiener Bezirke!

Nicht allein die kleinen Leute besuchten Nestroys Theater. Auch die höheren Stände waren zahlreich vertreten. Unstreitig aber war seine Gesamtleistung, theaterhistorisch betrachtet, eine Leistung für die Menschen der Vorstadt, für die, die schlecht und recht »zur ebenen Erde« wohnten und nicht »im ersten Stock«. Denn Nestroy hat damals – wenn auch nicht für immer – das volkstümliche Theater aus einer tiefgehenden inneren Krise gerettet. In seiner jahrhundertelangen Entwicklung hatte dieses Theater drei schauspielerische Haupttypen geschaffen: den Hanswurst, den Kasperl, den Thaddädl. Über ihre Verschiedenheiten hinaus wiesen die drei Hauptspaßmacher unverkennbare Verwandtschaftsmerkmale auf. Und im Grunde gemeinsam war ihnen dieses: ob der Hanswurst Stranitzky in einem stereotypen Salzburger Bauerngewand auf der Bühne vom Fressen und Saufen träumte, ob der Kasperl Laroche als eine Art Sancho Pansa, seinem Ritter durch einen Gespensterwald folgend, vor Angst weinte und schrie wie ein Kind, ob der Thaddädl als Müllerjunge vor einem »Adaxl« zu Tode erschrak – stets war es das »niedere Volk«, welches sich in dieser komischen Figur verkörperte: Bauern, Handwerker, Dienerschaft.

Sie schnitten gar nicht gut ab dabei, sondern wurden so gezeigt, wie die großen Herren im Feudalstaat sie zu verhöhnen liebten. Völlig unempfindlich für höhere Bestrebungen, kindisch, gefräßig, besoffen, geil, feige, dummfrech und dabei doch gehorsam, so stolperten die Kasperln durch die edlen, kühnen und höchst gruseligen Haupt- und Staatsaktionen ihrer Herrschaften. Daß das gemeine Volk an diesen Karikaturen seiner selbst Gefallen fand und sie immer stärker zu Hauptpersonen der Stücke machte, mochte vielleicht von einer Lust an der Selbstpersiflage kommen; sicherlich auch daher, daß der Hanswurst, wenn auch ewig verprügelt, hier und da in seiner infantil-dreisten Manier eine derbe und gute Wahrheit auszusprechen wußte, die etwa den wirklichen Salzburger Bauern aus dem Herzen kam.

Um die Jahrhundertwende aber wurde es merkbar, daß die Zeit des Kasperls vorbei war. Zumal in der großen Stadt änderte sich die Gedankenwelt des Volkes rapid. Stegreifkomödien mit ihren traditionell wiederholten rohen »Lazzis« konnten dem Publikum nicht mehr recht gefallen. Es stellte kompliziertere Ansprüche an die künstlerische Form der Stücke, an die schauspielerischen Leistungen. Daß es den Hanswurst nicht mehr haben wollte, hieß aber im Grunde: Es wollte nicht mehr der Hanswurst sein.

Den Verlauf dieser Theaterkrise auch nur annähernd zu schildern, ist an diesem Platz selbstverständlich nicht möglich. Festgestellt soll nur werden: Nestroy war es letzten Endes, der für das Wiener Volk und aus diesem Volk das Theater schöpfte, welches es nunmehr brauchte. Er war ein durch und durch moderner Mensch. In seiner eigenen Persönlichkeit lebten stürmisch alle Gegensätzlichkeiten der bürgerlichen Gesellschaft. »Je tiefer ich in meinen Ideen das Senkblei auswerfe«, sagt er einmal, »desto mehr finde ich in mir den Abgrund der Widersprüche.« Und ein jammernder Kasperl war er nicht, dieser Nestroy, der sein Publikum erst erkämpfen mußte, weil es zuerst zurückschreckte vor der nüchternen, verdammt gescheiten, fanatischen Bissigkeit der zaundürren, zappligen Longinus. Ein Theaterkritiker nannte den Nestroy dieser ersten Periode »das Urbild eingefleischter, schonungsloser Satire«. Der nüchterne Fachausdruck für das, was Nestroy damals aufführte, lautet: »Outrieren.« Er outrierte geradezu diabolisch! Doch er konnte auch anders. Reifer geworden, zeigte er seinem Publikum einen Schauspielerstil, der damals sehr neu und sehr nötig war: Realismus.

Aber ob realistisch oder nicht: er sagte die Wahrheit, und zwar die seines Publikums.

– »Weiß er, Plebejer, daß ich von Rittern stamme?«

»Meine Voreltern waren Bandlkramer. Die Ritter haben vom Stegreif gelebt, den Krämern Zoll abgenommen, auf deutsch, sie ausg'raubt! – Jetzt frag' ich also: Warum is das edler, wenn man von die Räuber als wenn man von die Beraubten abstammt?«

Zwischen Nestroy und seinen Zuschauern gab es recht oft Meinungsdifferenzen. Über obige Frage niemals.

   

Nicht nur im Jahre 1848 blieb der große Dichter und Komödiant bei dieser seiner Grundanschauung, sondern auch in der Folgezeit. Zwar wurde er, als die Märzstürme verweht waren, allmählich gemäßigter, um sich schließlich zu der Meinung zu bekehren (der auch Grillparzer anhing), eine zentralistische Monarchie sei der beste Schutz der deutschen Kultur unter den zu assimilierenden Slawenvölkern. Aber diese Ansicht hatte bei ihm nichts mit Liebedienerei zu tun. Er wurde loyal, aber mit keinem Atemzug servil. Und daß er unmittelbar nach der »Freiheit in Krähwinkel« (von der Zensur ausdrücklich als »berüchtigtes« Stück gebrandmarkt) die Posse »Lady und Schneider« schrieb, um sogleich nach der Revolution den revolutionären Gschaftlhuber zu verspotten – ist nicht nur auf den seelischen Schock zurückzuführen, den er in den blutigen Oktobertagen erlitt. Nestroy litt auch unter der Unzulänglichkeit der liberalen Bewegung: Ganz klar sah er die unrühmlichen Halbheiten des Wiener Vormärz-Bürgertums, welches seine eigene Revolution verriet. Stellt man gegenüber, was er in der Zeit des großen Freiheitsrausches schrieb und was in der nachfolgenden Zeit der Reaktion, so ergibt sich immer noch und immerhin eine gewisse Linie.

Vorher: »Ein Zensor is ein menschgewordener Bleistifter oder ein bleistiftgewordener Mensch, ein fleischgewordener Strich über die Erzeugnisse des Geistes. Die Zensur is die jüngere von zwei schändlichen Schwestern, die ältere heißt Inquisition.« »... die Reaktion ist ein Gespenst, aber G'spenster gibt es bekanntlich nur für die Furchtsamen; drum sich nicht fürchten davor, dann gibt's gar keine Reaktion!«

Nachher: »Ein seidener Schnupftücheldieb kommt auf drei Monat' ins Zuchthaus, nacher scheint er frei zu sein, bleibt aber zeitlebens an den Schandpfahl der Verachtung geschmiedet. Dem politischen Verbrecher gibt man für einen kurzen Freiheitsrausch zehn, fünfzehn Festungsjahre, aber an der Ehre verliert er deswegen keine Viertelstund'; die Achtung, die man jedem zollt, der seine Meinung vertritt, der sein Leben an sein Glaubensbekenntnis setzt, die muß ihm ewig bleiben, und das ist für den schwersten Kerker eine unendliche Erleichterung.«

   

Sein Lebenswerk ist ein unverlierbares Erbgut österreichischer Kultur. Aber wie müßte ein Theater beschaffen sein, um heutzutage Nestroy in dessen lebendigem Geiste spielen zu können? Im allgemeinen ist darüber schon sehr viel und sehr fruchtlos geredet worden. Um so wertvoller muß ein konkretes Beispiel sein, zumal wenn es aus Nestroys Zeit stammt. Es ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie ein solches Theater auf der ganzen Linie nicht aussehen dürfte. Nestroy arbeitete jahrelang unter der Direktion eines geschäftstüchtigen Chefs und großen Angestelltenschinders, der geradezu das Urbild des Theaterverderbers ist: nämlich unter dem Direktor Carl. Carl kam aus Deutschland, um die Direktion des Theaters an der Wien zu übernehmen. Eines der wesentlichsten Merkmale seiner Theaterführung war seine skrupellose Knickrigkeit. Nur hier und da, wenn er eines seiner großen Ausstattungsstücke lancierte, schwang er sich zu teuren Dekorationen auf. Vor der Literatur besaß er nicht für einen Kreuzer Respekt: Schillers »Räuber« wurden unter großem Hallo mit einem Riesenaufwand an Statisterie zu Fuß und zu Pferde als »Roßkomödie« aufgeführt.

Carl hat eine Entwicklung beschleunigt, die trotz Nestroys genialen Retterleistungen schließlich nicht mehr aufgehalten wurde: Er war es, der das Wiener volkstümliche Theater zum Untergang führte. Über dieses sein Henkerwerk an der Kultur sind sich die Theaterhistoriker heute ziemlich restlos einig. Er wurde zwar reich, aber sein Reichtum war nur der aus dem Untergang des Korsarenschiffes gerettete Schatz. Nestroy stellte fest:

»Jetzt spiel'n s' auch an der Wien,
Aber 's is kein Mensch drin;
Es zeigt sich kein Hoffnungsgrün,
Da wird's klar mir im Sinn,
Es steckt nicht an der Wien,
Im Kopf müßt's sein drin,
Sonst wird man auch hin
Draußt an der Wien.«

Von Nestroy hingegen – der später selbst Direktor wurde und dabei keineswegs etwa verarmte, sondern im Gegenteil – meldet ein »konfidentieller Bericht der Polizeidirektion über die Vorstadttheater Wiens, Nr. 3566, Präs. I: Prius 101, 680 pr. I, Wien, 25. Dezember 1857«: »... einen üblen Ruf. Die Disziplin ist so gelockert, daß dem Direktor mehr aus Kollegialität und Dankbarkeit als aus Schuldigkeit gehorcht wird.«

Ein guter Tip! Wie wär's heutzutage mit einem Versuch, gerade diese Art Disziplin einzuführen? Wie wär's mit dem Schlachtruf: »Nieder mit Carl! Hoch Nestroy!«

 

François Villon

Der unsterbliche Lump

Das war vor rund fünfhundert Jahren. Frankreich seufzte, stöhnte, brüllte in Wehen, die – von fernher erst – die Geburt einer neuen Ordnung ankündigten. In einem schier endlosen Krieg gegen England hatte das Rittertum Wunden empfangen, von denen es nicht mehr genas. Im Verfall der adeligen Grundherrschaft wurde der Weg für das erstarkende städtische Gewerbe, für den neureichen »bourgeois-gentilhomme«, für die Macht einer zentralisierten Beamtenschaft und für jene absolutistischen Könige, die jahrhundertelang zu Häupten des neuen Systems thronen sollten. Der Weg wurde gangbar. Aber er war mit Leichen und Ruinen übersät. In Paris waren Tausende von Häusern verödet und alle Friedhöfe überfüllt. Mord, Brand, Pestilenz besaßen das Bürgerrecht. Menschen jeden Schlages, jeder Abstammung, Entwurzelte dieses gewaltigen sozialen Umbruchs füllten in ungezählten Scharen die Gefängnisse und die Bettlerkolonien. Im volkreichsten Teil der Stadt befand sich der Friedhof »des Saints-Innocents«. Weil in den Gräbern kein Platz mehr blieb, lagen in den Arkaden ringsherum Skelette und Leichen aufgeschichtet. Und ebendort war der sonntägliche Korso der Lebenden, wurde tagsüber Jahrmarkt abgehalten, wurde nachts gerauft und geliebt. So stand es um dieses Paris des fünfzehnten Jahrhunderts: Aufstieg und Untergang, Prunk und letztes Elend, Leben und Tod wohnten Tür an Tür.

Tür an Tür wohnten in der Seele des Menschen die Weltanschauungen der vergehenden und der kommenden Zeit. Noch lebte und dozierte die Scholastik des Mittelalters. Sie betrachtete die Erde als eine Durchzugsstation via Jenseits. Was dem sterblichen Teil des Menschen hienieden an Lust und Qualen widerfahren mochte, schien bedeutungslos in einem gewaltigen, bis ins kleinste ausgeklügelten System von Hölle, Fegefeuer und Paradies.

Aber schon regten sich die Gedanken einer sinnenfreudigeren Epoche. Einer Epoche, da das Lächeln der Mona Lisa und die Künste der doppelten Buchführung die Welt erobern sollten ... Und was vorderhand herrschte, war das wüste Chaos einer Zwischenzeit.

In dieses Chaos hineingeboren, fand François Villon sich nicht zurecht. Sein Vater war einer jener armen Pächter, die, um Land und Vieh geprellt, in die Stadt zogen, bettelnd, hungernd, einer schlechtbezahlten Arbeit nachjagend – die ersten Elemente des künftigen Proletariats.

Sein Adoptivvater hingegen, ein wohlhabender Kaplan, lehrte François lesen, schreiben, biblische Geschichte und Latein, sandte ihn auf die Universität, wo François jenes theologische Weltbild des Mittelalters studierte, wollte aus François einen braven Geistlichen machen.

François wurde kein braver Geistlicher. Ein lang andauernder Studentenstreik warf ihn aus der Bahn des Studiums. In Schenken und Freudenhäusern lernte er höchst unheilige Dinge. Sehr bald zählten zu seinen Professoren nicht nur Säufer und Dirnen, sondern auch Diebe und Mörder. Manchmal, sein Wams vom Dreck dieser untersten Schichten reinigend, betrat er zwischendurch den Salon eines Aristokraten, wo feinsinnige Komplimente und gelehrte Dispute durcheinanderschwirrten. So durchmaß er, unaufhörlich umhergeschleudert, das wüste Gefilde seiner Zeit kreuz und quer, zur Höhe und zur Tiefe – ohne Halt und Ziel. War ein Günstling erlauchter Fürsten; Mitglied von Räuberbanden; Herzliebster von Dirnen; Opfer von Folterknechten. Wie er geendet hat, wissen wir nicht.

Keineswegs war Villon in seiner Zeit eine Einzelerscheinung. Solcher armen Scholaren, schwankend zwischen Himmel und Hölle, gab es Tausende.

Was ihn einzigartig gemacht hat und unsterblich, ist, daß er für sie alle gesprochen hat. Und für alle jene Scholaren, die ihnen im weiteren Verlaufe der Geschichte nachfolgen sollten.

   

Denn es ist kein Zufall, daß Villon, durch viele Jahrhunderte vergessen, gerade um die Wende des unseren wieder bekannt wurde. Kein Zufall, daß seine große Auferstehung in deutscher Sprache (in der »Dreigroschenoper«) im fieberhaft bewegten Berlin des Jahres 1927 erfolgte. Bert Brecht, an einer alten Welt verzweifelnd und noch nicht auf einer neuen gelandet, konnte in seiner damals noch ratlosen Skepsis auf keinen besseren Kumpan stoßen als Villon.

Alles, was der entwurzelte Intellektuelle in einer Zeit zwischen zwei Zeiten durchmachen kann, hat dieser vor einem halben Jahrtausend ausgesprochen. Woran sich halten, wenn das bestehende Begriffssystem zusammenbricht und ein neues noch nicht greifbar geworden ist?

Nichts war dem Mittelalter selbstverständlicher als ein Fortleben nach dem Tode mit genauester Abgrenzung des Aufenthaltsortes. Aber den armen Villon quält schon die Frage nach dem Schicksal der Toten:

Heilge Jungfrau, sag, wo sind sie bloß?
Ja, wo ist der Schnee vom vorigen Jahr?

Und wenn man so fragt – kann man noch an die Wertlosigkeit irdischer Dinge glauben? Nein:

Da merkte ich, wie man dem Gram entkam –
Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.

Verzeihe deinen Feinden, und auch dir wird verziehen werden, lehrte man den Theologiestudenten Villon.

Er predigt es ein wenig anders weiter:

Man schlage mit gezackten Hippen,
Bleikugeln, Eisenhämmern drein,
Zerdresche ihnen alle Rippen!
Doch bitt ich sie, mir zu verzeihn.

Aber ach! Ihm ist gar nicht wohl bei solch verbrecherischen Reden. Ein ungeheurer Katzenjammer ergreift zuweilen den armen Ketzer. Er sinkt in die Knie:

Du Königin des Himmels und der Erde,
Hoch über Höllen thronst du wunderbar,
Oh, gib mir, daß ich aufgenommen werde,
Ich armes Christenweib, in deine Schar
Erwählter – wenn ich's auch nie würdig war!
An Gnade reicher du als ich an Sünden,
Die Seele kann ins Himmelreich nur münden,
Wenn dein Erbarmen es der armen bot.
Und dein Erbarmen muß auf Wahrheit gründen,
Das glaube ich im Leben und im Tod.

Wie aber löst sich dieser Widerspruch? Welcher Villon hat recht: der saufende Halsabschneider oder der zerknirschte Büßer? Er weiß es selbst nicht. Er findet nicht die Lösung. Alles, was er vermag, ist, seinen unlöslichen Widerspruch hinauszusingen, weinend, grinsend, übermannt von der eigenen Ratlosigkeit:

Nichts ist mir sicher, als das nie Gewisse,
Und dunkel nur, was allen andern klar;
Und fraglich nichts, als das für sie Gewisse,
Denn nur der Zufall meint es mit mir wahr,
Gewinner stets, verspiel ich immerdar ...

Fünfhundert Jahre sind vergangen. Es geht um andere Probleme als die, die Villon zerfraßen. Aber wieder überschneiden zwei Zeitalter einander. Wieder schwanken auf der Grenzlinie Tausende von armen Scholaren hin und her: leidend an der eigenen Skepsis, mit zynischem Lachen ihre Seelennot maskierend, alles und nichts wissend, spöttelnd und erschreckend über den sonderbaren Hang, der sie, wie jeden Entwurzelten, zur Sympathie mit dem Verbrecher treibt, die Erlösung verhöhnend und um Erlösung betend.

Ihr Vorfahre ist Villon, der genialste Bohemien aller Zeiten.

 

Ein Sowjetrusse sieht uns an

Der russische Schriftsteller Alexej Tolstoi hat sich Berlin angesehen und skizziert seine Eindrücke in der Moskauer »Iswestija« unter dem Titel »Reise in die andre Welt«. Daß Westeuropäer über Rußland berichten, geschieht häufig, daß ein Russe über Europa schreibt, ist selten.

Zwei Jahre Wirtschaftskrise haben nicht vermocht, der öffentlichen Meinung der kapitalistischen Welt, insbesondere Deutschlands, ihre erhabene Überlegenheit in der Betrachtung der Sowjetunion zu nehmen. Im Namen einer Kultur, die mit den steigenden Arbeitslosenzahlen immer mehr zur jämmerlichen Farce herabsinkt, wird die russische Unkultur verdammt.

Der Schriftsteller Alexej Tolstoi, gestern noch durch die Gassen Moskaus streifend, wo die Menschen in schäbigen Kleidern vor den Geschäften Schlange stehen, sieht sich heute auf dem lichterfüllten Kurfürstendamm in Berlin. Die westliche Zivilisation präsentiert sich ihm zuallererst verlockend in den prunkvollen Schaufenstern der Warenhäuser. Wenn man in Moskau ein paar Stück Waren ins Schaufenster legt und einen Zettel hinaushängt: »Hier zu verkaufen«, dann stürmen die anspruchslosen, warenhungrigen Menschen den Laden. Wie ist in Berlin alles feiner und vornehmer! Hier wird das Schaufenster nach den letzten Forschungsergebnissen der psychologischen Reklametechnik feenhaft beleuchtet, hier hängen Preiszettel mit den alten durchgestrichenen und den neuen reduzierten Preisen, hier wird der Vorübergehende per du und per Sie kategorisch und einschmeichelnd gebeten, doch ohne Kaufzwang einmal einzutreten. Hier offerieren Kunst und Wissenschaft eines hochkultivierten Volkes, in Licht, Marmor und riesige Glasscheiben gebannt, dem Käufer ein Paar Halbschuhe. Der Sowjetbürger betritt, von so viel Glanz geblendet, das Geschäft. Das Geschäft ist bis auf drei Verkäufer, einen Empfangschef und eine Kassiererin leer. Der Besucher läßt sich vom psychoanalytisch geschulten Personal Verschiedenes aufschwatzen, erhält zu seiner Verwunderung zu einem Paar Schuhe gratis Schuhstrecker und verläßt das Warenhaus.

Er betritt ein andres, nicht minder prächtiges. Es ist leer. Und ein drittes, in dem er in einem Kasten aus Nickel und Glas stockauf, stockab saust. Überall häufen sich Massen von Waren, die die Moskauer Proleten jubelnd an sich reißen würden. Die Waren sind billig. Lampen strahlen. Pinienschlanke Mannequins stehen in allen möglichen Posen erstarrt. In der Parfümerieabteilung sitzt eine ausgesucht schöne Dame, die den Vorübergehenden aus ihren ausgesucht grünen Augen Blicke zuwirft. (Das nennt man erotische Reklame.) Aber sie sitzt allein zwischen Kristall und Marbelstein. Nur hier und da ist ein Besucher zu sehen, der die Waren begutachtet, den Kopf schüttelt und wieder abzieht. Der Käufer ist eine aussterbende Menschengattung. Die Reklame, in deren Dienst sich der vieltausendkerzige Glanz der deutschen Zivilisation gestellt hat, ist für die Katz'.

»Niemand will hier Waren«, notiert der Russe. Gleich darauf wird er auf der Straße von einem jungen Mann angehalten, der ihm klipp und klar erklärt: »Ich habe Hunger.« Und nach zwanzig Schritten von einem nächsten, der ihm aus demselben Grund Schuhbänder verkaufen will. Diese jungen Leute aber gehen an den Schaufenstern der Warenhäuser vorüber, ohne auch nur aufzublicken. Und obwohl sie auch obdachlos sind, beachten sie nicht die Täfelchen, die an den Toren der Prachtgebäude hängen: »Zehnzimmerwohnung zu vermieten«, »Zwölfzimmerwohnung, komplett möbliert, zu verkaufen«. Der Russe schreibt: »All die Prachtwohnungen scheinen ebenso wie die herrlichen Waren für die Menschen Deutschlands nur unerreichbare Fata Morgana in den Wüsten ihrer Städte zu sein.« Und er weiß, daß die Leser der »Iswestija« den Vergleich ziehen werden zwischen Moskau, wo in jeder Wohnung mehrere Familien in furchtbarer Enge hausen müssen, und den Städten des Kapitalismus, wo es Riesenwohnungen gibt – an denen die Obdachlosen vorüberschleichen, ohne aufzublicken ...

Alexej Tolstoi sieht sich die Gesichter der Vorübergehenden an: Spießerfratzen, Maklerschnauzen, Couleurstudentenvisagen. Gepflegte, schmutzige, rasierte, stoppelige Gesichter, Bourgeois- und Prostituiertengesichter. Er bemüht sich, eines dieser Antlitze im Gedächtnis zu behalten, doch er vermag es nicht. Sie verschwimmen sofort. »Und das«, schreibt er den Moskauer Proletariern, »sind also Individualisten. Der ganze Sinn ihrer Kultur ist die Entwicklung der freien Persönlichkeit ...« Nur hier und da sieht Tolstoi auf dem Kurfürstendamm andre, klarblickende, sonngebräunte Gesichter.

Der Sowjetrusse fährt nach Spandau, wo die riesigen Fabriken der Siemenswerke liegen. Die Höfe sind fein säuberlich ausgekehrt, die Tore gesperrt, die Maschinenhallen stumm. Vor dem Ort »Siemensstadt«, dessen Werkswohnungen und Direktionsgebäude leer sind, wohnen die ehemaligen Arbeiter in hundehüttenähnlichen Bauten.

In der Sowjetunion ist eine stockende Fabrik eine neue Schlappe und eine neue Aufgabe. Hier ein neues Monument der Hoffnungslosigkeit. In der Sowjetunion kämpfen zwei Generationen freiwillig oder widerwillig mit Einsatz von Gesundheit und Leben für Produktionssteigerung und kommenden Wohlstand. Hier hocken zwei Generationen in Zinskasernen und Hundehütten und warten auf das Ende der Krise.

Der Sowjetrusse fährt ins Varieté. Am Tisch des Russen sitzen zwei Mädchen. Wie sich in einer Pause nach schnell angeknüpftem Gespräch herausstellt, ist die eine Büroangestellte, die andre arbeitslos. Nach zehn Minuten allgemeiner Unterhaltung stützen sie die Ellbogen auf den Tisch und diskutieren leise und sachlich über Selbstmordpläne. Vergleiche, auch solche, die hier gezogen wurden, spricht Alexej Tolstoi nicht aus. Er überläßt sie seinen Lesern, und mit seinem Bericht lehrt er die Proletarier der Sowjetunion das, was die Journalisten und Wissenschaftler Europas bis heute nicht gelernt haben: zu unterscheiden zwischen den Zersetzungserscheinungen einer verfaulenden und den Wehen einer gebärenden Welt.

 

Die Fotografien oder Ein Stück deutschen Landesverrates

Die Zukunft Deutschlands ist nicht nur grau, sie ist feldgrau. Die kleinbürgerliche und die großbürgerliche Fraktion des Faschismus, die heute noch in manchem Gegensatz zueinander stehen, werden sich wahrscheinlich auf der Linie der chauvinistischen Außenpolitik, der Aufrüstung, der Kriegsvorbereitung treffen. Die Interessen des verunglückten Mussolini-Hitler und des »kommenden Napoleon« Schleicher werden unter einen Hut gebracht werden, und das wird ein Stahlhelm sein. Die Zukunft des deutschen Faschismus ist eng mit der Reichswehr verknüpft.

Darum ist in Deutschland viel mehr als anderswo ein aktiver Gegner der Reichswehr durch seine pazifistische Betätigung zugleich der aktivste Antifaschist. Für die Justiz aber gilt er damit als vogelfrei.

Denn es gibt im Deutschland der Nazibarone ein Majestätsschutzgesetz der Reichswehr; das ist das Gesetz über Landesverrat. Unterlasse alles, was zwischen der Propagierung des fünften Gebotes und der Aufdeckung der Pläne Schleichers liegt! Es wäre Landesverrat und würde dementsprechend geahndet werden! »Ich schrieb früher«, so sagte in Berlin ein pazifistischer Schriftsteller, »die Zeile – dreißig Pfennig. Jetzt schreibe ich die Zeile – drei Monate.«

In der Parochialstraße in Berlin erfuhr ich, an der Tür des sonderbaren, einstöckigen Häuschens, dessen Fassade die Aufschrift Antikriegsmuseum trägt und dessen unterer Teil ganz von einem heruntergelassenen Rollbalken eingenommen wird, daß der Schriftsteller Ernst Friedrich, der Verwalter der Sammlung, nicht anwesend sei. Auf meine Frage, ob er verreist sei, erhielt ich von dem jungen Mädchen, das mir geöffnet hatte, die sonderbare Antwort: »So halb und halb.«

Die Zeile drei Monate ...

»Kann ich das Antikriegsmuseum besichtigen?«

»Das Antikriegsmuseum ist geschlossen. Das Material wird morgen fortgeschafft. Das Museum ist nicht länger zu halten: An der Ecke ist ein Verkehrslokal der Nazis, und da schlägt uns die SA die Fensterscheiben ein. Außerdem ist es bei der politischen Entwicklung wahrscheinlich, daß das Material beschlagnahmt werden wird.«

»Kann ich es nicht doch noch sehen, bevor es weggeschafft wird?«

Da wurde ich in einen kleinen Saal geführt, wo ich die Stücke eines der merkwürdigsten Museen, die Corpora delicti eines der bestsortierten Anklagemateriale gegen den Krieg zu sehen bekommen sollte.

Fast nur Fotografien lagen in jenem Saal. Viele Hunderte von Fotos, zufällig oder für den Zweck aufgenommen, von Menschen aus aller Welt eingesandt, gefundene, hervorgekramte Aufnahmen aus dem großen Krieg.

Von jungen Nationalsozialisten, die Remarques Buch gelesen hatten, habe ich das übereinstimmende Urteil gehört: »Daß der Weltkrieg eine Hölle ist, wußten wir auch ohne dieses Buch. Wir wissen aber auch, daß wir fähig sind, einen Weltkrieg körperlich und geistig zu bestehen, weil wir nicht degeneriert, sondern rassisch hochstehend sind. Stahl auf Stahl.«

Stahl auf Stahl? Hart auf hart? Die Kriegsfotos in jenem Berliner Hause erlauben nicht eine solche Flucht in die Romantik des Kriegs. Sie flößen nur ein Gefühl ein, das einzig richtige, dem Krieg gegenüber: Ekel. Kann man aber Ekel romantisieren?

Sehen Sie her: Da liegen drei Menschen, von Flammenwerfern verbrannt, ihre Glieder sind verkohlt, eingeschrumpft, verkrampft, ihre Gesichter sind ganz klein und schwarz geworden.

Und hier ist ein Mann zu sehen, der an einem Herzschuß fiel – das heißt, »fiel« ist nicht der richtige Ausdruck: er ist infolge Starrkrampfes in Schützenstellung im verlassenen Graben stehengeblieben. Sein Gewehr hält er noch immer im Anschlag; seine Leiche wurde von Kugeln durchsiebt, der tote Schütze beginnt schon aufzuquellen. Hier das Bild eines Massengrabes aus dem deutschen Gefangenenlager in Bunzlau; dieses Massengrab faßt dreihundert bis fünfhundert Tote; im Gefangenenlager gab es Typhus und Cholera, darum mußten monatlich zwei oder drei solcher Gräber gegraben werden. Auf diesem Bild sehen Sie nicht Skelette, sondern die nackten Leichen von Armeniern, die von den Türken aus der Heimat vertrieben wurden und verhungerten; ihre Zahl betrug Hunderttausende. Dieser Mann, der im Rollstuhl, mitten auf der Straße, den Kopf zurückgebeugt sitzt, ist ein Kranker gewesen; er wurde in eben diesem Rollstuhl während der Beschießung von Ostende getötet. Hier ist ein aufgehängter Priester, dem man ein Kreuz in die Hände gesteckt hat und den man als Schießbudenfigur benützt. Hier ist der geschändete Friedhof von Nesle; die deutschen Kreuze sind umgeworfen, die deutschen Gräber aufgerissen, die Leichen verstreut. Hier ist ein russischer Friedhof; die Höhe der Kreuze entspricht dem militärischen Rang der Toten. Der Tote auf diesem Bild war, als er noch lebte, ein typhuskranker Soldat; da er ohnehin sterben mußte, warf man ihn nackt in eine Grübe und ließ ihn verhungern. An seiner Stellung sieht man deutlich, wie er noch in seinen letzten Augenblicken aus der Grube hinauskriechen wollte. Hier ist eine Reihe von sieben Galgen, von Soldaten des Erzherzogs Friedrich aufgerichtet; nach einer Statistik hat die Armee dieses Habsburgers 11 400 Menschen gehenkt, nach einer andern 36 000 Menschen; den Toten auf dem Bilde wurden spaßeshalber steife Hüte aufgesetzt. Hier ist die Betriebsordnung eines belgischen Garnisonsbordells; ein Kulturdokument: Jedes der Mädchen empfängt soundso viel Mann je Tag, dies innerhalb gewisser Betriebsstunden; Taxe ist fünf Reichsmark, Aufenthaltsdauer höchstens eine Viertelstunde; ein Turnus nach Kompanien ist organisiert. Hier sind Soldaten zu sehen, die, vom Giftgas zerfressen, zu Tausenden im Sonnenbrand sterben. Dieser Mann wird durch einen Gummischlauch ernährt, da sein Mund nur ein Fleischklumpen ist. Diesem wurde die Nase in fünfundzwanzig Operationen durch Fleisch aus dem Oberschenkel ersetzt. Und nun erblicken Sie Kaiser Wilhelm, wie er bei der Besichtigung eines Schlachtfeldes über einen eigens für ihn erbauten Holzsteg schreitet, um sich nicht die Stiefel zu beschmutzen. Hier aber ist zu sehen, wie er eine Rede hält, in der er von Gott und Vaterland spricht ...

Das sind die Fotografien, die in einer kleinen, winkeligen Nebengasse Berlins zu besichtigen waren. Man hätte sie in tausendfacher Vervielfältigung in allen Schulen, in allen Kinderzimmern, bei allen Abrüstungskonferenzen der Welt ausstellen sollen.

Aber statt dessen wurden sie einmal von der Polizei mit den Säbeln vom Schaufenster heruntergekratzt und beschlagnahmt, und jetzt müssen sie versteckt werden, weil sie morgen für landesverräterisch erklärt werden können, weil die SA die Scheiben einschlägt, weil für sie kein Platz ist in einem Deutschland, das sich von seinem Schleicher Zeiten entgegenführen läßt, die noch herrlicher sind als jene.

 

Bericht aus dem deutschen Bürgerkrieg

Zeitungsmeldung: Am 16. Juli versuchten Nationalsozialisten das Gewerkschaftshaus in Halle zu stürmen. Sie wurden mit blutigen Köpfen heimgeschickt.

Ob es viele Hakenkreuzler in Halle gibt? Nun, es sind ihrer immerhin 58 000. Aber sie rekrutieren sich hauptsächlich aus den Gewerbetreibenden und aus den Studenten der Hallenser Universität. Darum konnten sie aus ihrer 58 000köpfigen Masse nur etwa vierhundert SA-Leute aufstellen. Diese vierhundert, das sind die wenigen Proleten der »Arbeiterpartei«. Sie sind es, die für Hitler prügeln und schießen, die sich für ihn schlagen und erstechen lassen, während die andern im Hintergrund bleiben. Sogar im Wahl- und Straßenkampf Hitlers und Prinz August Wilhelms gibt es also Frontschweine und Etappenhelden.

Und weil die Nazis bei der letzten Löbe-Versammlung, die sie sprengen wollten, so mächtige »Senge« gekriegt haben und weil es für sie nicht ratsam ist, mit Abzeichen durch die Arbeiterviertel zu gehen, weil bei Eiserner Front und »Kommune« nicht krampfhafter Führerglaube, sondern Klassenbewußtsein und starker Wille zur Einheit herrschen, spielen die Hallenser Nazis eine recht klägliche Rolle, obwohl sie zahlreicher sind als die Roten zusammengenommen. Das ist eine ermutigende Lehre.

   

Der Fiedler hatte einen höchst rührseligen Schmachtfetzen zum besten gegeben, und einer, der die Gitarre eine halbe Stunde lang mit überflüssiger Sorgfalt gestimmt hatte – er hatte ja bis zum Morgen Zeit –, legte mit der Arbeitermarseillaise los. Freitag nacht wurde das Hallenser Gewerkschaftshaus mit Musikbegleitung bewacht, weil der Spielmannszug des Reichsbanners Bereitschaft hatte. Ungefähr zwanzig Mann saßen im Wachzimmer, rauchten, spielten Karten, musizierten – Singen ist bei der Wache verboten. Zum Ausschlafen hatten die Reichsbannerleute am nächsten Tag Zeit, denn sie sind alle zwanzig arbeitslos.

Draußen hing über Halle der Nachthimmel dunkelgrau. Drüben im Leunawerk rauchen zwar nur noch die Hälfte der Schlote, aber das genügt, um einen richtigen, trostlosen Fabrikhimmel zu schaffen. In den das Gewerkschaftshaus umliegenden Straßen streiften verstärkte Patrouillen umher. Tagsüber hatte es nämlich Stänkereien zwischen Nazis und Arbeiterturnern, die zu einem Sportfest gekommen waren, gegeben. Auch die fünfzehn Jungbannermänner, die bei Anbruch der Dämmerung von einer Landpropagandatour auf Fahrrädern zurückgekommen waren, hatten, heiser und schweißgebadet – sie hatten zwölf Stunden lang geradelt und Sprechchöre gebrüllt –, zu berichten gewußt, sie seien in der Stadt von Hakenkreuzlern angestänkert worden.

Und so saß in Erwartung kommender Ereignisse der Spielmannszug des Reichsbanners Halle im Gewerkschaftshaus, drosch Skat, soff elenden Zichorienkaffee. Der Gitarrespieler aber summte, obwohl es verboten war: »Wohlan, wer Recht und Freiheit achtet, zu unserer Fahne ström' zuhauf!«

Schlag neun wurden von draußen plötzlich Laufschritte hörbar. Eine Patrouille stürmte von der Straße in den Hof. Und gleich hinterher eine andre. Ein Mann blutete am Kopf. »Alles heraus«, brüllten die Patrouillen, »die Nazis kommen!«

Die zwanzig im Wachlokal hatten gerade noch Zeit, ihre Lichtknüppel – schwere, stabförmige Lampen, die gut leuchten und auch andre Dienste tun – zu packen, für alle Fälle ein paar Stühle mitzunehmen und auf die Straße zu laufen. Draußen kam schon ein Lastwagen herangesaust: das Rollkommando der braunen Mordpest. In halber Fahrt sprangen fünfzig SA-Leute heraus und stürmten mit Totschlägern und Ochsenziemern auf das Haus zu.

Die Schlacht von Austerlitz läßt sich beschreiben, da damals zumindest Napoleon angeblich wußte, was los war.

Was aber Freitag den 16. um 21 Uhr in der spärlich beleuchteten Straße vor dem Hallenser Gewerkschaftshaus zu sehen war, war ein auf und ab wogender Haufe von Grün- und Braunhemden. Was zu hören war, war das Krachen von Schlägen, das Krachen von Blumentöpfen und Geschirrstücken, die aus den Fenstern der Häuser auf die Köpfe der Nazis flogen, war unbeschreibliches Gejohle.

Aber als das Überfallkommando der Polizei nach zehn Minuten erschien, blieb ihm nichts mehr zu tun übrig, als zwei schwerverletzte Hakenkreuzler wegzuführen. Die übrigen waren mit Vollgas ausgerissen.

Nach weiteren zehn Minuten war die »Kommune« (die Kommunisten) in einer Stärke von hundert Mann da, um das Gewerkschaftshaus schützen zu helfen. Sie besetzten das Nebenhaus, und ein Einkreisungsplan wurde mit ihnen vereinbart, für den Fall, daß die Hakenkreuzler wiederkommen sollten.

Doch zur allgemeinen Verwunderung holten die Nazis nicht ihre Reserven aus den umliegenden Dörfern. Sie mobilisierten nicht einmal die SA der Stadt. Sie hatten den Bereitschaftsdienst der Kommunisten wohl ausspioniert; sie gingen schlafen. Auch hier haben sie wieder einmal einen Vorgeschmack der proletarischen Einheitsfront zu spüren bekommen, der Einheitsfront, die sich, trotz allen Schwierigkeiten, vom Willen der Masse getragen, in Deutschland zu bilden beginnt.

Um 10 Uhr saßen die Spielleute des Reichsbanners wieder im Wachlokal. Der Gitarrespieler hatte eine blutige Bandage um den Kopf. Er fing die Arbeitermarseillaise von vorn an.

Und obwohl es verboten ist, sangen alle mit, als die Stelle kam: »Stehet fest, stehet fest und wanket nicht ...«

 

Der Kluge baut vor?

Seit der Vorkriegszeit hat sich in der Welt und in der Inneren Stadt von Wien vieles geändert. Man denke nur an die vielen modernen Geschäftsportale in der Kärntner Straße!

Man betrachte zum Beispiel die Auslage des Parfümgeschäftes »Guerlain«, wo sich in zarten Flakons alle Wohlgerüche der Welt vereinigen! Wie weit ist doch eine Kultur, die so gut zu duften versteht, von den Schrecken des Krieges entfernt! Wie weit? Etwa zehn Schritte! Etwa zehn Schritte von jenem Parfümladen ist seit kurzem im Herzen von Wien ein Gasmaskengeschäft errichtet.

Jeden Abend um halb acht zeigt die Auslage dieses Lokals den neugierigen Passanten vermittels eines sehenswerten Puppenspielmechanismus gratis und zollfrei die Bombardierung der Stadt Salzburg. Dies geschieht zum Zweck der Warnung: Im spannendsten Moment des Fliegerangriffes senkt sich über die Festspielstadt ein Vorhang, und auf diesem steht zu lesen: »Der Kluge baut vor!«

Der Kluge, der vorbauen will, kann dies täglich zwischen acht und sechs besorgen, indem er daselbst eine Gasmaske kauft.

Verschiedene Typen werden ihm vorgelegt. Eine brauchbare Durchschnittsgasmaske kostet komplett 57 Schilling. Sie schützt vor sämtlichen militärischen Giftgasen; außer vor Senfgas, welches die Haut selbst zerfrißt; außer vor den staubförmigen Reizgasen, welche durch jeden Filter dringen und, an sich ungiftig, den Menschen zwingen, die Maske abzuwerfen; und außer vor jenen Gasen, welche bisher von den Armeen geheimgehalten werden konnten. Viel mehr als diese 57-Schilling-Maske könnte auch die allerbeste Spezialausführung nicht leisten. Wer ein übriges für sich tun will, kann noch einen Gummianzug kaufen, der zirka zwei Stunden lang dem obenerwähnten Senfgas Widerstand leistet. Aber das wäre – wenn der Ausdruck gestattet ist – schon übertriebene Vorsicht. Denn Senfgas schlägt sich in Tropfenform nieder und verdunstet so langsam, daß das betroffene Bevölkerungsgebiet auch für die angreifenden Truppen tagelang unbetretbar bleibt. Es ist also sozusagen derart tödlich, daß es dadurch an strategischem Wert verliert. Nur wer keinen anderen Zweck verfolgte, als einfach alles Lebendige auszurotten, würde einen Stadtteil mit Senfgas belegen. Für ein derartiges Vorgehen wäre der Ausdruck »Barbarei« ein sanftes Kompliment.

Aber wer weiß? Ernstfall ist Ernstfall! In der Kärntner Straße kann der Kluge für diese Eventualität vorbauen.

Aber mit dem Vorbauen ist noch lange nicht genug getan. Man muß auch unterbauen! Hat der Kluge nämlich das irdische Geschäftslokal besichtigt, so wird er zwei Stock tief unter die Erde geführt. Dort hat die Firma einen Mustergasschutzkeller eingerichtet. Der Zugang zu diesem Raum wird von zwei aufeinanderfolgenden hermetisch schließenden Eisentüren geschützt. Diese Wunderstücke sind erstaunlich gut dressiert: Sie können vermittels sinnreich angebrachter Angeln sowohl nach links als auch nach rechts geöffnet werden. Für den Fall aber, daß die linke wie auch die rechte Seite durch Bombeneinschläge bereits verschüttet sein sollten, besitzen die Türen noch spezielle Hebel, und falls diese Hebel nicht verschüttet sind, läßt sich die ganze Tür mit einem Griff entfernen.

Immer klüger werdend, betritt der Kluge nun den Gasschutzkeller.

Was er sieht, ist – zusammenfassend gesagt – eine Zelle, ausgestattet mit Hilfsmitteln, um darinnen nicht zu ersticken und nicht zu verhungern. Es gibt da zwei Luftregeneratoren: einen mit Handbetrieb und einen, der wie ein Fahrrad betätigt wird. Weiter einen Schrank voll Gasmasken und Konservenbüchsen; einen Feuerlöschapparat; ein spezielles, vorschriftsmäßiges Gasschutzkellerklosett mit Torfbehälter; Schaufeln zum Ausgraben bei Verschüttung; eine Lichtanlage, gespeist aus einem Reserveakkumulator, für den Fall, daß das E-Werk zerstört sein sollte; und für den Fall, daß der Reserveakkumulator verschüttet wäre, zwei phosphoreszierende Tafeln, die grünlich im Finstern schimmern. Lauter reichsdeutsche Patente. Ja – fast hätten wir's vergessen, auch ein Telefon ist da!

So daß man im Ernstfall einer völlig verschütteten und zerstörten Welt immer noch die Möglichkeit zu einem Fernruf hätte: »Hallo! Ist dort die Steinzeit? Hier zwanzigstes Jahrhundert! Wir bitten um einige technische Ratschläge zur Wiederherstellung des Friedens! Wie? Ihr wundert euch, daß wir als Zeitalter der Technik ...? Ja, aber liebe Freunde, wißt ihr denn nicht, daß unsere Technik andere Sorgen hat? Fast zur Hälfte ist sie damit beschäftigt, Mittel zur Zerstörung des Lebens zu entdecken; fast zur anderen Hälfte plagt sie sich ab, um die nötigsten Gegenmittel zu finden; dazwischen hat sie noch gerade ein bißchen Zeit, um neue Guerlain-Parfüms zu ersinnen. Aber um das menschliche Leben dauernd vor Gewalt zu sichern oder gar um es lebenswerter zu machen – nein, dazu haben wir unsere Gasschutzpatente nicht, liebe Freunde und Schicksalsgenossen aus der Steinzeit!«

Trotzdem: Wie die Dinge nun einmal stehen, mag jeden Moment der Fall eintreten, daß eine gute Gasmaske und ein bombensicherer Keller hundertmal wichtiger sind als alle prinzipiellen Erwägungen. Und für diesen Fall kann selbstverständlich nicht einmal der Klügste auf eigene Faust vorbauen, sondern die nötigen Maßnahmen müssen gemeinsam und öffentlich organisiert werden. Diesem Zweck dient ja auch eigentlich das beschriebene Geschäft in der Kärntner Straße, wo außer einem sehr reichen Grafen und einem halben Dutzend ebenso gutsituierter Interessenten bisher noch niemand eine Gasmaske wirklich gekauft hat. Das sehenswerte Lokal soll vornehmlich der Propaganda des Luftschutzgedankens dienen, soll mithelfen, die Bevölkerung auf das kommende Luftschutzgesetz vorzubereiten.

Ein solches Gesetz wird wahrscheinlich die Österreicher von einer gewissen Einkommensgrenze an zum Kauf einer Gasmaske verpflichten und wird den Bau einer genügenden Anzahl von Luftschutzkellern vorsehen. Hoffentlich wird die Einkommensgrenze hoch genug gesetzt sein! Hoffentlich werden die Österreicher unter dieser Einkommensgrenze im Ernstfall nicht zugrunde gehen müssen, hoffentlich werden unter dieser Grenze Gasmasken gratis verteilt werden! Und hoffentlich wird das Gesetz dafür sorgen, daß der Luftschutz nicht in erster Linie dem geschäftlichen Interesse von Privatpersonen dient, sondern der relativ größten Sicherheit aller Österreicher.


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