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Fünfundvierzigstes Kapitel

Durch die wenig belebte Straße, in der Doktor Braun wohnte, fuhr ein Wagen, dessen rasches Rollen manches neugierige Gesicht ans Fenster lockte. Es war eine herrschaftliche, mit zwei wundervollen Pferden bespannte Kutsche, an derem Schlage ein großes Wappen prangte. Auf dem Bock neben dem Kutscher saß ein Jäger in glänzender Livree. Die Kutsche hielt vor dem Hause des Doktor Braun, der Jäger sprang vom Bock, riß den Schlag auf; eine junge, sehr elegant gekleidete Dame stieg aus und trat rasch durch den kleinen Garten vor der Tür ins Haus.

»Ist Frau Doktor Braun zu sprechen?«

»Ich weiß nicht«, antwortete das Mädchen, und warf dabei einen scheuen Blick auf den schwarzen Sammetmantel und das reizende weiße Hütchen der Dame, »ich will nachsehen.«

»Ist nicht nötig«, sagte Sophie, die plötzlich im Schmuck einer sehr langen Schürze in der Tür der Küche erschien, »hier bin ich schon.«

»Liebe Sophie!« »Liebe Helene!«

Sophie zog die Freundin in die Stube, nestelte ihr mit vor Freude zitternden Händen den Mantel los, nahm ihr den Hut ab, faßte sie bei den Händen und rief:

»Nun, laß dich doch einmal bei Lichte besehen, du Liebe – schön, wie immer, wunderschön! Aber so blaß und so ernst und angegriffen, wie mir scheint. Kann ich etwas zu deiner Erquickung tun? Du siehst, ich habe die Küchenschürze noch um.«

Helene lächelte. Es war ein schwermutvolles Lächeln, das ihre dunklen Augen nur noch dunkler machte.

»Ich danke dir, Sophie! Ich wollte mich nur an deinem Anblick erquicken. Ach, du weißt nicht, wie ich mich nach dir gesehnt habe.«

Die beiden jungen Damen hatten sich bis zu Sophiens Abreise von Sundin Sie genannt. Die Freude des Wiedersehens hatte das schwesterliche Du geboren. Sophie dachte daran, als sie das erste Du aus Helenens stolzem Munde hörte. Es rührte sie, und noch mehr der traurige Ton, in dem Helene sagte, daß sie sich nach ihr so gesehnt habe. Ein solches Geständnis, das die Pensionärin von Fräulein Bär sicher nicht gemacht hätte, kleidete die Braut des Fürsten Waldernberg gar seltsam.

Das alles fuhr Sophie durch den Kopf, während sie, Helenens beide Hände noch immer festhaltend, ihr tief und tiefer in die dunklen Augen sah.

»Arme Helene!« sagte sie; sie wußte kaum, daß sie es sagte.

Aber in Helenens Herzen erweckten die leisen mitleidsvollen Worte alle die Herzensgeister, die die letzte bange Nacht mit ihr gewacht und kaum gegen Morgen eine Stunde lang mit ihr in unruhigem Schlafe gelegen hatten. Mitleid mit sich selbst, wie sie es nie gekannt hatte, ergriff sie, die Tränen kamen ihr in die Augen, und sie warf sich in Sophiens Arme, das schöne blasse Antlitz an der Freundin Busen verbergend.

»Um Himmels willen, liebe Helene, was hast du«, sagte Sophie, jetzt ernstlich bestürzt, »ich habe dich ja nie so gesehen, nie geahnt, daß ich dich so sehen würde und am wenigsten jetzt, wo ich glaubte, es sei in deinem Leben alles Herrlichkeit und Freude.«

»Hast du das wirklich geglaubt?« fragte Helene, sich aufrichtend, und Sophie mit den großen, starren Augen forschend anblickend.

Sophie senkte vor diesem Blick die Wimpern. Sie mochte nicht Nein sagen, und Ja zu sagen, erlaubte ihr ihre Ehrlichkeit nicht. Aber dieses Schwanken dauerte bei ihr nicht lange. Jetzt oder nie war der Moment, Helenen alles mitzuteilen, was sie so lange schon auf dem Herzen gehabt hatte.

»Helene«, sagte sie, klar und ruhig mit ihren tiefen blauen Augen aufblickend, »ich kann nicht lügen und mag nicht lügen, keinem Menschen gegenüber und zumal dir gegenüber nicht, die ich so herzlich liebhabe. Komm, süße Seele, setze dich zu mir hier aufs Sofa und laß uns sprechen, wie's Schwestern geziemt, die wir, wenn nie wieder, doch wenigstens in dieser Stunde sein wollen. Wenn du nicht Aufrichtigkeit von mir wünschest, weshalb wärst du denn, da du so viel glänzendere Freundinnen haben könntest, gerade zu mir gekommen? Habe ich recht?«

»Sprich weiter!« sagte Helene, als sei nur die Stimme der Freundin zu hören, für sie schon ein Trost und eine Erquickung.

»Du hast mich gefragt«, fuhr Sophie immer mutiger werdend, fort, »ob ich wirklich glaube, daß du jetzt glücklich bist? Ich glaube es nicht. Du siehst nicht aus wie eine Glückliche. Dein schönes blasses Gesicht sagt nein, wenn deine Zunge auch ja sagen sollte. Ich habe oft und oft in deinem Gesicht gelesen, lange, lange Geschichten, von denen du Stolze, Schweigsame mir kein Wort gesagt, und ich will dir erzählen, was ich gelesen. Darf ich?«

»Sprich weiter, Sophie! Sprich weiter!«

»Ich habe hier auf deiner Stirn gelesen, daß deinem Geiste nur das Große, das Außerordentliche genügt, und selbst das kaum – und hier in deinen zauberisch schönen Augen, daß dein Herz sich, wie nur ein Menschenherz es kann, nach Liebe sehnt. So ist von jeher ein Zwiespalt gewesen zwischen deinem Kopf und deinem Herzen. Du willst herrschen und willst lieben zu gleicher Zeit, und, liebe Helene, das geht nicht an. Die Liebe, die echte Liebe – und es gibt ja nur die eine – ist demütig; sie duldet alles und glaubt alles; sie will nichts, als eins sein mit dem Geliebten, in Freud und Leid. Sieh, süße Seele, mir ist das Glück solcher Liebe zuteil geworden, und ich weiß deshalb, was ich sage. Franz und ich haben nur einen Willen. Er will das Gute, ich will's mit ihm, und sollten unsere Ansichten wirklich einmal auseinandergehen – die Herzen bleiben doch verbunden; da findet sich denn das andere ganz von selbst. Alle Freude ist doppelt groß, und alles Leid trägt sich doppelt leicht. Ich hab's erfahren, als mein guter Vater starb. Was hätte aus mir werden sollen, wenn ich Franz nicht gehabt hätte.«

»Ich hatte, als mein Vater starb, niemand«, sagte Helene tonlos.

»Ich weiß es, liebes Herz, und ich habe mich oft, wenn ich daran dachte, wie einsam du warst und wie du so keine Menschenseele hattest, der du dein Leid klagen konntest, an die Brust meines Franz geworfen, der dann manchmal gar nicht wußte, was mich so plötzlich und gewaltig zu ihm trieb. Du stehst allein, selbst jetzt noch, wo du im Begriff bist, dich zu vermählen, und, was tausendmal schlimmer ist, du bist in deinem Herzen überzeugt, daß es so bleiben, daß dein Gatte nie dein Freund, dein Bruder, dein Geliebter sein wird, vor dem deine Seele so klar und offen liegt wie ein kristallheller Bergsee, in den die liebe Sonne bis auf den tiefsten Grund hinabblickt.«

»Nie, nie!« murmelte Helene.

»Ich wußte es ja«, sagte Sophie traurig, »aber Helene, wenn es schon schlimm genug ist, daß du den Fürsten heiraten willst, ohne ihn zu lieben, so ist es noch viel, viel schlimmer, daß du sein Weib wirst, während du in deinem Herzen eines anderen Mannes Bild trägst.« –

Eine dunkle Röte ergoß sich über Helenens Gesicht, als Sophie mit fester Stimme diese letzten Worte sprach und sie dabei mit den großen blauen Augen so ernst und vorwurfsvoll anblickte.

»Nein, süßes Mädchen, schäme dich nicht, daß du ihn geliebt hast. Deshalb tadle ich dich nicht, denn er ist ein ungewöhnlicher Mensch, ausgestattet mit allem, was wohl ein Mädchenherz fesseln kann. Ich tadle dich auch nicht, daß du ihn noch liebst – wer kann die Liebe so leicht aus seinem Herzen reißen! – Aber, Helene, da dem so ist, heirate den Fürsten nicht! Du darfst es nicht, aus Achtung vor dir selbst, aus Achtung vor ihm, wenn er achtungswürdig ist.«

»Es ist zu spät«, sagte Helene, ihr Gesicht in den Händen verbergend.

»Nun und nimmermehr!« rief Sophie leidenschaftlich. »Nie ist es zu spät, einen Irrtum zu bekennen, der dich und ihn grenzenlos unglücklich machen muß. Versteh mich wohl, Helene! Ich spreche nicht für jenen unglücklichen Mann, der deine Liebe, wenn er ihrer je würdig war, woran ich zweifle, jetzt durchaus verscherzt hat. Ich bin niemals seine Freundin gewesen; die sogenannten glänzenden Eigenschaften lassen mich ziemlich kalt, wenn sie die Güte des Herzens nicht zur Folge haben. Aber weil er deiner nicht würdig, mußt da deshalb einen Mann heiraten, für den, mag er sonst noch so vortrefflich sein, nun einmal dein Herz stumm ist? Oh, Helene, ich wollte, ich könnte mit Engelszungen reden, um dein stolzes Herz zu rühren, daß du dich demütigtest vor der Wahrheit, daß du alle Herrlichkeit der Welt gering achtetest vor der Seligkeit, mit dir selbst übereinzustimmen.«

Helene bebte zusammen, als ob wirklich der Himmlischen einer zu ihr spräche.

»Oh, du bist gut«, rief sie, »wäre ich doch wie du!«

»Du kannst es sein, wenn du nur willst!«

»Aber wie entrinnen aus diesem Wirrsal? Ich habe mein Wort gegeben; wie kann ich es zurücknehmen?«

»Sprich ganz offen mit dem Fürsten«, sagte Sophie, der dieser Ausgang das einfachste und natürlichste schien.

»Lieber tot«, murmelte Helene.

In diesem Augenblick wurde an die Tür gepocht; der Jäger trat herein mit einem Billett in der Hand.

Er blieb kerzengerade an der Tür stehen.

»Gnädigen Baronesse gehorsamst zu vermelden, daß dies Billett soeben aus dem Palais hierher gesandt ist.«

Helene griff hastig nach dem Billett.

»Von meiner Mutter.«

Sie warf einen Blick hinein und zuckte heftig zusammen.

»Was ist's, Helene?«

»Meine Mutter hat soeben Nachricht aus Sundin erhalten, daß mein Bruder sehr schwer erkrankt ist. Sie muß augenblicklich zurück.«

»Armes Mädchen!« rief Sophie. »Wie blaß und erschrocken du bist. Soll ich mit dir fahren?«

»Nein, nein!« sagte Helene. »Bleib! Ich muß allein hin. Leb wohl, liebe Sophie! Leb wohl!«

Sie riß sich aus Sophiens Armen.

Sophie geleitete sie bis zum Wagen. Sie hielt die Hand der Freundin fest in der ihren und sagte: »Laß von dir hören, Helene! Was du auch tust, folge der Stimme deines warmen Herzens, es rät dir besser als der kalte Verstand.«

»Ich will es«, erwiderte Helene, schon im Wagen, »verlaß dich drauf; ich will es. Leb wohl.«

Der Jäger schloß die Tür. Der Wagen donnerte davon. Sophie sah ihm nach, bis er um die nächste Ecke gebogen war. Dann schritt sie langsam, das liebe Gesicht sinnend zur Erde geneigt, in das Haus zurück.


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