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10. Die Auslandspolitik der deutschen Sozialdemokratie vor dem Weltkrieg

Da der marxistische Sozialismus – sowohl als Theorie wie als Organisation – auf einem schon stark durch französische Ideen und Methoden beherrschtem Arbeitsfelde auftrat, war es bloß natürlich, daß der Marxismus erst nach einem Kampfe innerhalb der sozialistischen Bewegung und relativ spät zu einer hohen, wenn auch nie ganz unbestrittenen Machtstellung gelangen konnte.

Weder innerhalb der Internationale noch in der deutschen Sozialdemokratie haben die von Marx und Engels verkündeten Ideen sich ohne harten Kampf geltend zu machen vermocht, und in keiner der beiden haben sie je völlig oder in ganzer Reinheit geherrscht. Wenn man unter »Marxismus« die mehr oder minder folgerichtig auf die Theorien jener beiden Männer gegründete Ausgestaltung der Programme der Internationale und der sozialdemokratischen Parteien in Deutschland und gewissen anderen Ländern versteht, dann ist vor allem zu beachten, daß zwischen dem Marxismus und Marx oder Marx-Engels immer starke Abweichungen bestanden haben. Außerdem kompliziert sich die Sache dadurch, daß auch zwischen Marx und Engels – zwei guten Freunden, aber sehr verschiedenen Naturen – bedeutungsvolle theoretische Divergenzen existieren. Teilweise ist der Marxismus mehr eine bei Engels als bei Marx gemachte Anleihe. Wenn Marx wirklich das ihm zugeschriebene Scherzwort: »Ich bin nicht Marxist!« ausgesprochen hat, so hatte er jedenfalls guten Grund dazu. Sein Leben war ein Kampf – sowohl innerhalb wie außerhalb der Sozialdemokratie.

Die erste, 1848 von Marx in Paris erschaffene internationale sozialistische Arbeiterorganisation segnete schon 1852 das Zeitliche – nachdem ihr in Wirklichkeit bereits durch die blutige Niederlage des Pariser Proletariats im Jahre 1848 und die nach dem großen Revolutionsjahre eintretende allgemeine europäische Reaktion der Todesstoß versetzt worden war.

Erst im Anfange der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts war die Zeit wieder zu einer internationalen Arbeitervereinigung reif, die nun nicht in Paris, sondern in London, aber wieder durch Karl Marx, ins Leben gerufen wurde. Seine Programmschrift, die » Inaugural-adresse«, nimmt die Grundgedanken des 1848 erlassenen »Manifestes« auf. Die Arbeiter aller Länder leiden unter denselben fundamentalen wirtschaftlichen Übelständen, die sich nicht anders beseitigen lassen als durch eine vollständige, den Privatkapitalismus stürzende soziale Revolution. Sie müssen sich zur Eroberung der politischen Macht vereinigen; erst nachher können sie ihre wirtschaftliche Emanzipation verwirklichen.

Programm und Statuten sind mit Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten durchsäuert. Es galt, höchst ungleichartige Elemente gemeinsam zu organisieren – nüchterne englische Fachgenossenschaftler mit französischen, italienischen und polnischen Terroristen, französische Kleinbürger und deutsche Sozialdemokraten mit russischen Anarchisten – und die völlig geistige Einheitlichkeit erst hinterdrein als Resultat des Zusammenarbeitens innerhalb der Organisation zu erreichen zu suchen. Von 1866 bis 69 fanden alljährlich Kongresse statt, und es ging auf ihnen stürmisch zu, weil sich das Streben des Marxismus nach der Oberleitung durchaus nicht widerstandslos durchsetzen ließ. Die Spaltung erreichte nach dem Kriege 70-71 ihren Höhepunkt und führte schließlich zur förmlichen Auflösung – im Jahre 1870.

Der dritte Versuch, eine internationale sozialistische Arbeiterorganisation ins Leben zu rufen, datiert von dem 1889 in Paris abgehaltenen internationalen Sozialistenkongresse und war endlich in jeder Weise erfolgreich. Und dies lag daran, daß die sozialdemokratischen Arbeiterparteien der verschiedenen Kulturländer sich inzwischen organisiert hatten und nun reif zu politischer Aktionsfähigkeit waren. Die Arbeiterbewegung machte die grundlegende, allgemeingültige Erfahrung, daß die internationale Organisation auf der nationalen basiert sein muß. Nur als Verband festorganisierter, tiefwurzelnder nationaler Arbeiterorganisationen oder ein Zusammenarbeiten solcher Organisationen läßt sich »die Internationale« aufbauen.

Damit aber wird auch das ganze Problem gemeinsamer Arbeit unwillkürlich durch den unumstößlichen Gegensatz zwischen nationalen Charakterzügen und Interessen einerseits und den internationalen Ideen und Bestrebungen andererseits verwickelt werden müssen. Hatte Marx sich, im »Manifest« von 1848, ursprünglich »die Internationale« aus geistig nationalitätslosen (wenn auch äußerlich nach Nationen und Staaten in primärer Weise organisierten) Individuen zusammengesetzt gedacht, so hatten seine Schüler, falls sie weitblickend genug waren, jetzt alle Veranlassung, dies Programm einer Revision zu unterziehen und es durch ein ganz anderes zu ersetzen.

Die dritte Internationale hat ihre großen Kongresse ungefähr jedes dritte Jahr abgehalten (in Paris, Brüssel, Zürich, London usw.) und ihre Organisation durch Errichtung eines permanenten Bureaus in Brüssel (1900) sowie auch (1904) durch Einrichten eines organisierten Zusammenarbeitens der sozialdemokratischen Vertretungen in den Parlamenten der verschiedenen Länder verstärkt. Schließlich ist zu beachten, daß gewaltige Fachvereinsverbände in verschiedenen Ländern den Kern der politischen sozialdemokratischen Parteiorganisationen bilden und den inneren Zusammenhang dieser mit der Arbeiterwelt sichern.

Noch wohnen zwei Seelen in der Brust der Internationale – die alte, rein agitatorische oder propagandistische, und die neue, praktisch-politische. Wie schlecht sie sich vertragen, werde ich in der Folge zeigen müssen. Aber trotz aller inneren Unklarheit und Inkonsequenz hat die dritte Internationale doch eine unvergleichlich viel größere realpolitische Bedeutung erlangt als ihre Vorgängerinnen. Stellt sich heraus, daß 1914 ihr Todesjahr war, so entsteht nach dem Weltkriege ohne Zweifel eine neue, vierte Internationale mit einem durch die Lehren und Wirkungen der großen Weltkrise bedingten, teilweise neuen Ideeninhalt.

Im großen gesehen herrscht Marxens Geist in der dritten Internationale vor. Die vierte wird mehr theoretische Klarheit und größere realpolitische Zielbewußtheit haben müssen, als der Marxismus hat schenken können.

 

Die erste allgemeine deutsche sozialistische Arbeiterorganisation, der 1863 gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, war nichts weniger als rechtgläubig marxistisch, denn ihr Urheber war Marxens genialer Schüler Ferdinand Lassalle, der in vielem von seinem Lehrer abwich. Schon 1869 erlangte jedoch der Marxismus bei der Bildung einer neuen deutschen arbeitersozialistischen Organisation, die in Eisenach ins Leben gerufen wurde und Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands hieß, einen gewissen Einfluß. Eine vollständige Verschmelzung der Lassalleschen und der Marxistischen Richtung fand indessen erst 1875 in Gotha statt – obgleich auch dann nicht auf einer theoretischen Grundlage, die Marx befriedigte. Es dauerte noch bis zum Erfurter Parteikongresse im Jahre 1891 – als Marx schon 8 Jahre tot war! – ehe das Programm der deutschen Sozialdemokratie streng marxistisch wurde.

Wer das schnelle Veralten aller soziologischen Theorien in der außerordentlich schnellen sozialen Entwicklung unserer Zeit beobachtet hat, dem wird sich hier die Reflexion aufdrängen, daß vieles von Marxens Anschauungen über, das Wesen des Kapitalismus wahrscheinlich schon durch die Wirklichkeit widerlegt worden war, als diese Anschauungen endlich zum offiziellen Programm des revolutionären deutschen Proletariats wurden. Sogar bei einer so zukunftshungrigen Volksbewegung kann die geistige Rührigkeit offensichtlich nicht zureichen, um das schließliche offizielle Festsetzen bereits veralteter Theorien zu verhindern.

 

Marx und Engels wollten, wie wir gesehen haben, die auswärtige Politik der Sozialdemokratie zugleich auf die Prinzipe des Nationalismus und des Internationalismus bauen. Hierbei machten sie einen scharfen Unterschied zwischen dem herben Nationalitätsgefühl der Bourgeoisie und dem milden des Proletariats und betrachteten das letztere nicht als einen bestehenden allgemeinmenschlichen Zukunftswert, sondern nur als eine Übergangsstufe zu einem nationalitätslosen »Humanismus«. Dies in der Theorie. Im wirklichen Leben wurde es hauptsächlich das Los der deutschen Sozialdemokratie, den Internationalismus zu praktizieren, während besonders die französische sich mehr an die nationale Praxis hielt, und zwar in einem Stile, der sich oft dem der Bourgeoisie genähert hat. Eine Abweichung von dieser Regel gewahren wir erst während des Weltkrieges, der die deutsche Sozialdemokratie in eine nationalgesinnte Mehrheit und eine internationalistische Minderheit gespalten hat.

Während des Krieges 1870-71 ging es dagegen anders zu. Die Oberleitung der deutschen Partei erließ nach Sedan ein Manifest, das zu Massendemonstrationen für einen ehrenvollen Frieden mit der französischen Republik und gegen eine Annexion Elsaß-Lothringens aufrief. Die Folge war ein Gerichtsverfahren, das gegen die Führer unter Anklage des Hochverrats eingeleitet wurde und bei dreien unter ihnen einstweilen zur Festungshaft führte. Im Frühling 1872 wurden Bebel und Wilhelm Liebknecht, die sich bis dahin der Freiheit erfreut hatten, von einer Jury der Vorbereitung zum Hochverrat schuldig erklärt und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Dies Märtyrertum gab dem doktrinären Internationalismus innerhalb der deutschen Sozialdemokratie die Weihe der Tradition – was zu der deutschen Gemütsart in jeder Richtung paßte, mit der französischen oder englischen aber ganz gewiß nicht in Einklang gestanden hätte.

In den »allgemeinen Grundsätzen« des Erfurter Programms wird die internationale Natur der wirtschaftlichen Entwicklung betont. »Die Interessen der Arbeiterklasse sind in allen Ländern mit kapitalistischer Produktionsweise die gleichen. Mit der Ausdehnung des Weltverkehrs und der Produktion für den Weltmarkt wird die Lage der Arbeiter eines jeden Landes immer abhängiger von der Lage der Arbeiter in den anderen Ländern. Die Befreiung der Arbeiterklasse ist also ein Werk, an dem die Arbeiter aller Kulturstaaten gleichmäßig beteiligt sind. In dieser Erkenntnis fühlt und erklärt die Sozialdemokratische Partei Deutschlands sich eins mit den klassenbewußten Arbeitern aller übrigen Länder.« Mit einigen unwesentlichen Änderungen der Ausdrucksweise finden wir diese Deklaration auch z. B. in dem jetzt geltenden, 1914 zuletzt umgearbeiteten Programm der schwedischen Sozialdemokratie wieder.

Die »praktischen Forderungen« des Erfurter Programms enthalten einen Paragraphen (§3), der so lautet: »§ 3. Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege.«

Der entsprechende Teil des schwedischen Parteiprogramms hatte früher einen ähnlichen Wortlaut. In der jetzigen Fassung lautet er jedoch ganz anders. »Kampf gegen den Militarismus. Sukzessive Verminderung der Militärlasten bis zur Abrüstung. Bindende Schiedsgerichtsvereinbarungen, permanente skandinavische Neutralität, kräftiges internationales Zusammenwirken der Arbeiterorganisationen gegen den Krieg.«

In seinem allgemeinen Teile ist das Erfurter Programm also eine blasse Wiederspiegelung des entsprechenden Teiles in dem mächtig explosiven »kommunistischen Manifest« des Jahres 1848. Man merkt, daß diesmal ein so blutleerer Pedant und gedankenarmer Epigone wie Karl Kautsky, natürlich in naivem, gutem Glauben, eine verarmende, verschlechternde Auswahl aus der genial üppigen Gedankenwelt des »Manifestes« getroffen hat.

Das magere, hinkende Dogma, daß »die Interessen der Arbeiterklasse in allen Ländern mit kapitalistischer Produktionsweise« die gleichen seien, soll jetzt das Ganze tragen. Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, daß »die Interessen der Arbeiterklasse« in einem gegebenen Lande so lange, wie der Kapitalismus noch besteht, unauflöslich mit den wirtschaftlichen Sonderinteressen dieses Landes verknüpft sind und daß solche notwendigerweise zu den schärfsten wirtschaftlichen Interessenkonflikten zwischen verschiedenen Ländern führen – besonders dann, wenn diese sich in einem gegebenen Augenblicke nicht alle auf einundderselben Entwicklungsstufe befinden und auch nicht alle ganz dieselben inneren und äußeren Voraussetzungen zur kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung haben. Daß »die Interessen der Arbeiterklasse in allen Ländern mit kapitalistischer Produktionsweise einunddieselben« seien, ist ein schönes Ideal, um davon zu träumen, und eine Utopie, deren Verwirklichung wohl des Erstrebens wert ist – doch eine soziologische Wirklichkeit und eine wissenschaftliche Wahrheit ist es nur teilweise und kann es auch nie anders als teilweise sein, solange unsere privatkapitalistische Produktionsweise noch von Bestand ist. Denn sie erzeugt zwar internationale Interessengemeinschaft innerhalb der Bourgeoisie sowohl wie des Proletariats – aber auch das Gegenteil. Ebensowenig wie die Bourgeoisie kann das Proletariat im kriegerischen Zeitalter des Kapitalismus und in dem ihm folgenden, wie wir glauben und hoffen, friedlicheren zugleich leben.

Dieselbe Denkschwäche des hierher gehörenden auslandspolitischen Teiles des Erfurter Programms enthüllt das auffallende Vermeiden des Wortes national sowie auch jeder Besprechung der Stellung der Nationalitätsfrage zum Internationalismus des Proletariats. Das Programm schweigt und läßt uns über diese ganze große Frage völlig im Unklaren – sodaß sich die extremsten doktrinären Internationalisten innerhalb der Partei wohlfühlen können; diejenigen aber, welche sich einen Rest klaren Nationalitätsgefühls und zukunftsgültigen Nationalitätswillens bewahrt haben, vielleicht weniger. Also im stillen ein Vollenden der Denklinien des »Manifestes« in ihrer internationalistischen Richtung, mit vorläufiger Unterdrückung seiner nationalen Entwicklungsmöglichkeiten.

Noch größer ist die Unklarheit, die wir im »praktischen« Teile des deutschen Programms finden. Was ist unter den Worten » allgemeine Wehrhaftigkeit« und » Volkswehr« zu verstehen? Und wie will man den Ausdruck » stehende Heere« motivieren? Es hat den Anschein, als ob man sich irgendeine Art gewaltiger radikaler Demokratisierung des Militärsystemes gewünscht habe, aber nicht imstande gewesen sei, offen herauszusagen, wie diese Demokratisierung beschaffen sein solle, oder es auch nicht gewagt habe.

Doch warum denn eigentlich überhaupt ein Militärsystem? Diese Frage wird in dem deutschen Programm ganz übergangen. Vielleicht, um sich nicht mit den radikalen Antimilitaristen, die unter radikalen Internationalisten wohl massenweise vertreten sein werden, auseinandersetzen zu müssen. Das schwedische Programm geniert sich dagegen nicht, den Antimilitaristen mit der etwas orakelhaften Phrase »sukzessive Verminderung der Militärlasten bis zur Abrüstung« einen kräftigen Handschlag zu geben mit einer Redensart, die offenbar ein wenig von allem bedeuten soll, nur nicht etwas, das wirklich irgendeinen vernünftigen militärischen Sinn haben kann.

 

Studieren wir die Besprechungen und Beschlüsse über Nationalität, Auslandspolitik, Friedensbestrebungen, Militarismus, Imperialismus, Kolonialpolitik usw. auf den Kongressen der deutschen sozialdemokratischen Partei und auf denen der Internationale, so steht als klare, unwiderlegliche Tatsache da, daß die Sozialdemokratie in diesen, gerade bei einer internationalen Volksbewegung grundlegenden Fragen weder zur Klarheit noch zur Einigkeit gelangt ist. Aber ebenso klar leuchtet eine andere Tatsache hervor: die, daß die fundamentale Unklarheit als Mittel zur Verdeckung der fundamentalen Uneinigkeit vorzügliche Dienste geleistet hat.

Man hat, mit anderen Worten, immer in gutem Glauben und unter dem Eindrucke, daß alles in schönster Ordnung sei, zum Schlusse prächtig klingende »einigende« Beschlüsse zurechtdrechseln können, die dann von den Kongressen unter Hurrarufen und Absingen revolutionärer sozialistischer Hymnen angenommen worden sind. Nichts charakterisiert die intellektuelle Schwäche gewisser Führer sowohl wie der großen Massen und ihre beiderseitige Unfähigkeit zu gesundem politischem Realismus besser, als der beinahe religiös unerschütterliche Glaube an den großen, realen Wert jener »einigenden« Beschlüsse für die sozialdemokratische Arbeiterbewegung.

Dies ist der Glaube an die Phrase und die Blindheit gegen die Realitäten. Nur eine weltgeschichtliche Krisis wie der Krieg der Jahre 1914-16 vermag zu beweisen, daß Unklarheit Unklarheit ist, Phrase Phrase bleibt und daß in Fragen, über die man auf den Kongressen die herrlich »einigenden« Beschlüsse gefaßt hat, fundamentale Uneinigkeit herrscht.

Das Unheimliche an der Sache ist, daß die fundamentalen Unklarheiten, die mit leeren Phrasen verdeckten Uneinigkeiten, da sie in Beschlüssen, die auf internationalen oder nationalen Parteikongressen angenommen worden, formuliert sind, den Namen, die Ehre und die Würde der »einstimmig angenommenen und festgestellten grundlegenden Prinzipe der internationalen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung« erhalten müssen! Wer gegen die fundamentale Sinnlosigkeit der auf den Kongressen zusammengebrauten Kompromisse opponiert, der stellt sich in schärfsten Gegensatz zu der ganzen Bewegung – so heißt es von führender Seite innerhalb der Internationale und in den verschiedenen Ländern –, denn er bricht ja mit den » grundlegenden Prinzipen« der Bewegung, wie sie von der höchsten Autorität der Bewegung, ihren Kongressen, festgestellt worden sind!

Natürlich ist es den Führern der Bewegung beinahe unmöglich, öffentlich einzugestehen, daß der Lauf der Weltgeschichte seit dem Entstehen der Internationale und die eigene tragisch zerrissene innere Geschichte der Internationale unwiderleglich die bisher vollständige Inkompetenz der Kongresse zum Formulieren haltbarer Prinzipe, nach denen die Sozialdemokratie zur auswärtigen Politik, zur Friedensfrage, zum Militarismus, zum Imperialismus, zum Nationalismus, zur Kolonialpolitik und zu ähnlichen Fragen Stellung nehmen könnte, bewiesen haben.

Dies zuzugeben ist den Führern der Sozialdemokratie beinahe unmöglich, weil darin eine Anerkennung der Tatsache läge, daß die Prinzipe der Sozialdemokratie auf diesem Gebiete, wo Nationalismus und Internationalismus, Kriegswille und Friedenswille einander berühren, erst noch zu formulieren sind. Marx und Engels behandelten die Sache viel zu obenhin, indem sie das Problem durch Doktrinen oder vielmehr Phrasen lösten, die sowohl der Wirklichkeit wie ihrem eigenen fundamentalsten und wertvollsten wissenschaftlichen Prinzipe widerstreiten – nämlich dem Prinzipe, daß die eigenen Entwicklungsgesetze der privatkapitalistischen Gesellschaft darüber entscheiden, was solange, wie die privatkapitalistische Gesellschaft noch besteht, in der praktischen Politik möglich und unmöglich ist.

Also: entweder muß die Arbeiterklasse so lange, wie die privatkapitalistische Gesellschaft noch in völlig typischer Gestaltung existiert, auf praktische Politik verzichten, oder sie muß diese praktische Politik ehrlich in dem Rahmen der volkspsychologischen, wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten, welche das Wesen und die Bewegungsgesetze der privatkapitalistischen Gesellschaft vorschreiben, bleiben lassen. Die dritte Alternative ist Phrasenmacherei, eine nicht sehr ehrliche Idealisterei, Zurechtdrechseln hohler »einigender« Kongreßbeschlüsse, die als bindende Prinzipe ausgegeben werden.

Die Sozialdemokratie muß schließlich zersprengt und zwischen zwei ehrlichen Willen geteilt werden. Der eine ist der ehrliche Wille, keinen Anteil am Nationalismus, Militarismus und Imperialismus der Kapitalistengesellschaft zu haben und jede Verantwortlichkeit in dieser Beziehung abzulehnen. Hierbei wird jedoch übersehen, daß mit jenem Nationalismus, Militarismus und Imperialismus, wenn er auch unter der Führung der Bourgeoisie und in ihrem Dienste steht, vitale proletarische Interessen verknüpft sind. Der andere ist der ehrliche Wille, in Übereinstimmung mit den unerläßlichen Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft die Verantwortung auf sich zu nehmen und in den nationalen, militärischen, kolonialpolitischen und imperialistischen Angelegenheiten auch der Kapitalistengesellschaft mitzuwirken – natürlich nicht im Sinne der Bourgeoisie, sondern mit dem sozialen Entwicklungsziele der Arbeiterklasse vor Augen.

In den sozialdemokratischen Kongreßdebatten sehen wir den Kampf zwischen diesen beiden ehrlichen Willen – dem sogenannten »radikalen« und dem sogenannten »revisionistischen«. Und in den Kongreßbeschlüssen sehen wir beide unterliegen und an ihre Stelle einen anderen Willen treten, den Willen, zwei unvereinbare Dinge zu gleicher Zeit zu wollen und Phrasen auszuklügeln, die einen Kompromiß zwischen dem Willen, ehrlich an der Auslandspolitik der Kapitalistengesellschaft mitzuwirken, und dem Willen, dies ganz und gar nicht zu tun, zustande bringen. Dieser Wille ist weder intellektuell stark, noch ehrlich, noch moralisch gesund und rein. Aber er ist die Lebensluft sozialdemokratischer Führer eines gewissen, wohlbekannten Typus.

 

Um diese prinzipielle Unklarheit, Inkonsequenz und Spaltung in den sozialdemokratischen Kongreßauffassungen der hierhergehörenden Fragen zu beleuchten, muß es des Raummangels wegen genügen, wenn ich nur einige wenige charakteristische, autoritative Äußerungen und Beschlüsse der deutschen Parteitage und der Kongresse der Internationale während der beiden dem Weltkriege vorangegangenen Jahrzehnte anführe.

Hierbei möchte ich zunächst auf die Stellung der Sozialdemokratie zur Kolonialpolitik aufmerksam machen, weil diese Politik in den letzten Jahrzehnten immer mehr der Mittelpunkt der wirtschaftlichen und politischen Reibereien der Großmächte und damit der Mittelpunkt der großen auswärtigen Politik überhaupt geworden ist.

Da ist es denn notwendig, wieder an die nationalökonomischen Grundfakta zu erinnern, welche als treibende Kräfte hinter dem Imperialismus, Militarismus und Nationalismus unserer Zeit stehen, und damit auch hinter der politischen Spannung zwischen den Großmächten, die sich in der verheerenden Explosion des Weltkrieges Luft gemacht hat.

Da die Entwicklung der west- und mitteleuropäischen Völker zu immer einseitiger und intensiver werdendem Industrialismus bis dato beständig fortgedauert hat, ist auch ihr Bedarf an Lebensmittel- und Rohstoffeinfuhr und an Ausfuhrgebieten zum Absetzen ihrer Waren und ihres Kapitals beständig gestiegen. In gewissen Ländern sind auch die Auswanderungsmöglichkeiten der Bevölkerung eine Lebensfrage von zunehmender Bedeutung. Was man, allgemeiner ausgedrückt, braucht, ist, wie ich schon früher hervorgehoben habe, also entweder ein in aller Zukunft gesicherter, völlig freier, durch kein Machtmonopol zu Lande oder zu Wasser gestörter Weltverkehr, oder auch ein für jeden großen Industriestaat ausreichender, gesicherter Anteil, in Form kolonialer Besitzungen oder reservierter »Interessen«gebiete, an solchen nahrungsmittel- und rohstoffproduzierenden außereuropäischen Ländern, die nicht deutlich erkennbar, aber unvermeidlich auf dem Wege sind, in relativ naher Zukunft selbst Industriestaaten zu werden. Mit einer gewissen Kombination dieser beiden Eventualitäten ist natürlich stets zu rechnen. Für eine Großmacht, die nicht, wie Rußland und die Vereinigten Staaten, in ihrem zusammenhängenden Landgebiete sowohl eine gemäßigte Industriezone wie eine halbtropische Kolonialzone besitzt, ist es jedenfalls eine Lebensfrage, nicht durch die Kolonialerwerbungen anderer Großmächte, deren Handelspolitik oder deren Macht über den Verkehr auf den Weltmeeren gegenwärtig oder in Zukunft von geeigneten Kolonialgebieten abgesperrt zu werden.

Daher ist die Kolonialpolitik gerade jetzt der Kern des modernen expansiven Imperialismus und einer der innersten Gründe des land- und seemilitärischen Wettstreites zwischen den Großmächten, sowie der Kampfplatz, auf welchem die nationalistischen Leidenschaften und Bestrebungen zusammenstoßen. Der Weltkrieg, die große, kriegerische Entwicklungskrisis des modernen Imperialismus, ist daher seinem tiefsten Inhalte nach ebensowohl ein Krieg um Kolonial-, Handels- und Seemacht, wie ein Krieg um nationale Rangstellung.

Die Art und Weise, wie sich die Sozialdemokratie zu den kolonialpolitischen Problemen und Konflikten der Gegenwart gestellt hat und stellt, muß daher, dem Wesen der auslandspolitischen Probleme in unserer Zeit gemäß, ein untadeliges Kriterium ihres innersten Prinzipstandpunktes zum Imperialismus, Militarismus und Nationalismus und zur auswärtigen Politik überhaupt sein.

In seinem Buche Kolonialpolitik und Sozialdemokratie Stuttgart 1904. hat Gustav Noske eine speziell zur Aufklärung der deutschen Sozialdemokraten bestimmte Übersicht über die Geschichte der deutschen Kolonialpolitik seit ihren ersten Anfängen im Jahre 1884 gegeben und dabei auch das offizielle Verhalten der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei gegen die kolonialen Bestrebungen des deutschen Staates geschildert.

Das Motto des Buches ist ein Ausspruch Wilhelm Liebknechts im deutschen Reichstage am 4. März 1885: » Die menschliche Kultur ist vom Kolonisationswesen überhaupt nicht zu trennen.« Es wäre eine fürchterliche Anklage gegen die deutsche Sozialdemokratie, wenn sie sich gegen die Kultur überhaupt ebenso verhalten hätte, wie sie sich in ihrer Kolonialpolitik verhalten hat; denn das Buch enthält ein haarsträubendes Gemisch von Vorurteil, Stumpfheit und Inkompetenz in der Behandlung, welche die deutsche Sozialdemokratie dem deutschen » Kolonialwesen« hat zuteil werden lassen. Zum Glück hat die Partei ja zur selben Zeit gezeigt, daß » die menschliche Kultur« im allgemeinen an ihr eine warmherzige, einsichtsvolle und tapfere Vorkämpferin besitzt.

Die »revolutionäre« marxistische Parteidogmatik stand einer wirklich sozialistischen Auffassung der kolonialpolitischen Aufgaben der Partei »im Rahmen der bestehenden Gesellschaft« im Wege. Höchstens vermochte man (wenn man nicht, wie Kautsky In Dresden 1903; Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage von 1863 bis 1909, S.236. Kautsky sagte in der kolonialpolitischen Debatte: » Ich meine nicht, daß es eine Schande ist, Revisionist zu sein, es ist nur ein Pech, ein Pech für die Person und für die Partei.« Eine einfältigere Äußerung über die theoretische und praktisch-politische Neugestaltungsarbeit innerhalb der Sozialdemokratie, als diese von der »vornehmsten wissenschaftlichen Autorität« der Partei ausgesprochene, läßt sich wohl schwerlich denken. es ausdrückt, das »Pech« hatte, »Revisionist« zu sein) sich zu dem Zugeständnisse aufzuschwingen, daß nach vollständiger Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft von sozialistischen Aufgaben innerhalb der Kolonialpolitik die Rede sein könne. Auf dem im Jahre 1907 in Essen stattfindenden Parteitage erklärte Bebel mit charakteristischer Offenherzigkeit: »Die Frage, ob es eine sozialistische Kolonialpolitik gebe, hätte gar nicht in die Erörterung gezogen werden sollen, weil das ein Streit um des Kaisers Bart ist, eine reine Zukunftsmusik. Was wir, wenn wir zur Herrschaft gelangt sind, mit unseren Kolonien anfangen, das sage ich Ihnen ganz offen, weiß ich nicht Op. cit., S. 228.

Hier, wie sooft, wenn es sich um die tagespolitischen und realpolitischen Aufgaben der Sozialdemokratie gehandelt hat, mußte die Phrase »Zukunftsmusik« die verhängnisvolle Rolle eines Schlummerkissens für die in dogmatischen Schlaf versunkenen Parteigenossen spielen. Man glaubte, daß man, nach Marx, eigentlich nur auf die mit Naturnotwendigkeit ausbrechende »soziale Revolution« zu warten habe, um dann (sozusagen gratis) »die politische Macht zu übernehmen« und das sozialistische Programm durchzuführen. Erst dann würde von einer Aufführung der »Zukunftsmusik« die Rede sein können. Bis dahin sollte die Bourgeoisie ungestört die Wirtschaft und die Politik anordnen.

Ungestört? Nein! Man sollte ja, nach Marx, agitieren, organisieren und das Proletariat aufklären. Und Marx gab zu, daß Sozialpolitik zum Schutze der Arbeiterklasse gegen unaufhaltsame geistige und körperliche Versumpfung und Ausbeutung notwendig sei. Die Sozialdemokratie stürzte sich also als politische Partei in das politische Leben hinein – und stürzte sich damit nolens volens sowohl in die »Zukunftsmusik« wie in das revisionistische »Pech«. Es erwies sich in der Praxis unmöglich, nur Revolutionär zu spielen. Aber das nur umstürzlerische Prinzip durfte nicht aufgegeben werden. Folglich wurde man im Widerstreit gegen seine Prinzipe und sein »revolutionäres« Gewissen Realpolitiker – d. h. in vielen Fällen ein inkonsequenter, unwilliger, schlecht unterrichteter und inkompetenter Realpolitiker, der jeden Augenblick bereit war, die Arbeit und die Verantwortung ganz und gar dem Gegner (der Bourgeoisie) zu überlassen, von »Zukunftsmusik« und »Kaisers Bart« zu schwatzen und schließlich, als ehrlicher Mensch, seine eigene vollständige Unzulänglichkeit einzugestehen.

»Es hat geraume Zeit gedauert, bis es die deutsche Sozialdemokratie für erforderlich erachtete, auf ihren Parteitagen zur Kolonialpolitik Stellung zu nehmen«, schreibt Noske Noske, op. cit., S. 221.. Es scheint bis 1890 gedauert zu haben, in welchem Jahre Paul Singer auf dem Parteitage in Halle erklärte, daß die Sozialdemokraten »Gegner« der Kolonialpolitik seien, weil sie »nur den besitzenden Klassen zugute komme«. Das Erfurter Programm von 1891 sagt über Kolonialpolitik nichts – als indirekt, daß die Sozialdemokratie auch »die Ausbeutung und Unterdrückung einer Rasse bekämpfe«. Dann ist von der Kolonialpolitik auf einem deutschen Sozialdemokratenparteitage erst 1894 wieder die Rede, in welchem Jahre sie als »zwecklos« und als »Luxus« bezeichnet wird. Im Jahre 1898 nennt man Deutschlands Kolonialpolitik »Kreuzfahrerromantik«. Auf dem 1900 in Mainz stattfindenden Parteitage versichert Singer, daß die Kolonialpolitik, »weit entfernt, der deutschen Arbeiterklasse irgendeinen Nutzen zu verschaffen«, im »Gegenteil« »auch in bezug auf die Arbeitsverhältnisse erheblichen Schaden stiften« werde, und eine Resolution über »die Welt- resp. Kolonialpolitik« sagt: »Die Sozialdemokratie – – – erhebt gegen diese Raub- und Eroberungspolitik entschiedensten Widerspruch.« Als 1907 auf dem Parteitage zu Karlsruhe ein Delegierter die Einsetzung eines Ausschusses für Kolonialfragen beantragt, wird dies, wie das Protokoll angibt, mit »Lachen« begrüßt – ein geradezu scheußlicher Beweis der Erkenntnislosigkeit, welche die deutsche Sozialdemokratie gegen die unabänderliche politische Entwicklung, die über die Marokkokrise des Jahres 1911 hinweg zur Katastrophe des Weltkrieges führen sollte, gezeigt hat.

 

Ich komme nun mit einigen Worten auf den Dresdener Parteitag im Jahre 1903 zurück, weil er in dieser Verbindung besonders interessante Züge aufweist.

Auf diesem Parteikongresse lag ein Resolutionsantrag folgenden Wortlautes vor: »Der Parteitag erwartet, daß die Fraktion die größere Macht, die sie durch die vermehrte Zahl ihrer Mitglieder wie durch die gewaltige Zunahme der hinter ihr stehenden Wählermassen erlangt, entsprechend den Grundsätzen unseres Programms dazu benutzt, die Interessen der Arbeiterklasse, die Erweiterung und Sicherung der politischen Freiheit und der gleichen Rechte für alle aufs kraftvollste und nachdrücklichste wahrzunehmen und den Kampf wider Militarismus und Marinismus, wider Kolonial- und Weltpolitik, wider Unrecht, Unterdrückung und Ausbeutung in jeglicher Gestalt noch energischer zu führen, als es ihr bisher möglich gewesen ist. Handbuch der Sozialdemokratischen Parteitage von 1863-1909. Bearbeitet von Wilhelm Schröder. München 1910. S. 235-36.« Also: »in jeder möglichen Form« – nicht bloß gegen »Militarismus und Marinismus«, sondern auch gegen »Kolonialpolitik und Weltpolitik« – und zwar »in Übereinstimmung mit den Grundsätzen unseres Programms!«

Der große Parteitheoretiker Karl Kautsky, der Mann, der als unmittelbarer Nachfolger von Marx und Engels dasteht, sprach sich unter anderem folgendermaßen aus: »Hier möchte ich das Wort ›Kolonialpolitik‹ unterstreichen. (Ruf: Aber recht scharf!) Denn dies Wort spielt im Revisionismus eine große Rolle und nicht nur das Wort, sondern auch die Sache!«

Um dies zu beweisen, führt Kautsky einen Artikel des Revisionisten Eduard Bernstein an, worin dieser sagt: »Ohne koloniales Vordringen unserer Wirtschaft würde das Elend, das wir heute in Europa noch vor uns sehen und auszurotten bestrebt sind, unendlich viel größer, die Aussicht auf seine Ausrottung bedeutend geringer sein als dies jetzt der Fall ist.« – »Dies«, erklärt Kautsky, »ist die grundsätzliche Billigung der Kolonialpolitik

Mit dergleichen kann der volkswirtschaftliche Gelehrte und marxistisch »materialistische« Soziologe Kautsky unmöglich einverstanden sein. »Bernstein«, sagt er, »führt weiter aus, daß es ganz unsinnig sei, wenn man auf der einen Seite darauf hinweise, der Drang nach kolonialer Expansion entspränge mit Naturnotwendigkeit aus dem Wesen des Kapitalismus und andrerseits diese Expansion bekämpft; gegen das, was notwendig sei, könne man nicht auftreten, man müsse es mitmachen.«

»Ich bin anderer Meinung«, fährt Kautsky nun fort. »Hier kann man eine Parallele ziehen zwischen der kolonialen Expansion und den Bestrebungen des Kapitalismus, das Kleinhandwerk zu ruinieren. Daß der Kapitalismus das Kleinhandwerk ruiniert, ist eine Naturnotwendigkeit, aber folgt daraus für uns etwa die Pflicht, bei diesem Expropriationsprozeß des Kleinhandwerks mitzutun? Nein, das müssen wir dem Kapitalismus allein überlassen, und darauf berufen wir uns ja auch immer in unseren Agitationsreden. Dieselbe Haltung müssen wir gegenüber der Kolonialpolitik einnehmen. Gewiß, die Ausdehnung des Kapitalismus in den Kolonien ist notwendig, und es wäre kindisch, ihn daran hindern zu wollen, aber die Herren Kapitalisten sollen, wenn sie außerhalb Deutschlands gehen, dies auf eigene Kosten und Gefahr tun (sehr gut!), sie sollen nach Venezuela, China, Südafrika gehen, wohin sie wollen, aber sie sollen nicht verlangen, daß das deutsche Volk auch nur die Knochen eines einzigen Grenadiers dafür opfert, daß die Bourgeoisie bei ihren Kolonialabenteuern auf die Kosten kommt.« (Lebhafte Zustimmung.)

 

Ich bitte, den Leser zunächst auf die einstimmenden Zurufe der Zuhörer jener Rede in der Kongreßversammlung aufmerksam machen zu dürfen. Läßt sich, wenn man ehrlich sein will, leugnen, daß diese begeisterten Rufe der Befriedigung immer gerade an den Stellen ertönen, wo der Redner die allerärgsten Dummheiten gesagt hat? Das läßt tief in die Mysterien der Kongreß- und Parteipsychologie hinein blicken.

Unter den »ärgsten Dummheiten« verstehe ich hier Sätze, die der von Marx und Engels aufgestellten, absolut grundlegenden sozialwissenschaftlichen Theorie »der materialistischen Geschichtsauffassung« zufolge und nach Marxens absolut grundlegenden volkswirtschaftlichen Theorien der »Theorie des Arbeitswertes« und der Kapitaltheorie, reiner Unsinn sind.

»Die Herren Kapitalisten sollen, wenn sie außerhalb Deutschlands gehen, dies auf eigene Kosten und Gefahr tun«, sagt das marxistische wissenschaftliche Licht Kautsky unter hörbarem Entzücken der marxistischen Vertreterversammlung. Und diese marxistische Begeisterung steigert sich noch, als er Bismarcks Wort von den »Knochen des Grenadiers« entlehnt, um zu bekräftigen, daß das deutsche »Volk« mit den »Kolonialabenteuern« der deutschen » Bourgeoisie« auch rein gar nichts zu schaffen haben könne und wolle!

Dies ist wirklich eine liebliche sozialistische Gesellschaftsanschauung, hochfeiner »Geschichtsmaterialismus« und eine prächtige Anwendung der Wert- und Kapitaltheorie, die Marx aufgestellt hat! Herr Kautsky hat vergessen, daß es nach Marxens Wert- und Kapitaltheorien der »Bourgeoisie« vollständig unmöglich ist, innerhalb oder »außerhalb Deutschlands« etwas Wirtschaftliches zu unternehmen, ohne daß dies buchstäblich auf Kosten des »Volkes«, auf Kosten und Risiko der Arbeiterklasse geschähe! Herr Kautsky hat vergessen, daß es gerade das epochemachende Verdienst der sozialistischen Gesellschaftsforscher Marx und Engels ist, bewiesen zu haben, daß das tragische Element in dem sozialen Zustande des modernen Arbeiters vor allem sein unabänderliches Gebundensein an die Kapitalistengesellschaft, seine Solidarität mit ihr, ist – solange, wie sie noch besteht und die einzige Gesellschaft, die es zum Darinleben gibt, ist. Im Gegensatz zu allen älteren und jüngeren Gesellschaftsauffassungen behauptet der Marxismus und jeder andere echte Sozialismus, daß die menschliche Gesellschaft auf jeder einzigen ihrer naturnotwendigen Entwicklungsstufen eine unauflösliche Solidarität zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft sei. Eine Solidarität, die sich nicht beseitigen läßt, so grausam sie auch gegen gewisse Schichten der Gesellschaft sein mag.

Bisher war dies teilweise eine Solidarität zwischen Freien und Sklaven, zwischen Feudalherren und Hörigen, zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitern. Die Sozialdemokratie erwartet, daß es im nächsten Entwicklungsstadium nur eine Solidarität zwischen freien, gleichberechtigten Staatsbürgern geben werde. Doch wenn etwas bei Marx und Engels blutigen Hohn erregt hat, so ist es die Sentimentalität und das unwissenschaftliche Gewäsch, die naturnotwendige Gesellschaftssolidarität zu leugnen, weil sie, leider, teilweise noch eine Solidarität zwischen einer Oberklasse und einer Unterklasse, zwischen Reichen und Armen, zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitern ist. Die kapitalistische Solidarität wird – nach Marx – dann gesprengt, wenn die sozialistische Solidarität im Schoße der Kapitalistengesellschaft zu selbständiger Lebensfähigkeit herangereift ist und infolgedessen sofort an die Stelle der alten treten kann – aber nicht eher!

Die menschliche Gesellschaft ist Solidarität im Bösen wie im Guten. Sonst gäbe es keine Not! Keine soziale Not! Die Leidenden könnten ja dann – »unter energischen Protesten« – aus der Gesellschaft herausspazieren und es ihren Herren und Ausbeutern überlassen, das »Risiko« und die »Kosten« ihrer Räuberpolitik zu tragen! Nun bleibt, nach Marx, der Arbeiterklasse kein anderer Ausweg als der übrig, die kapitalistische Räuberpolitik, welche nicht ein naturnotwendiges Glied der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft zur sozialistischen ist, wenn möglich mit aller Macht zu hindern und sich, ihrem humanitären Charakter entsprechend sowie unter Leitung ihrer sozialistischen und demokratischen Ideale, in kluger, sachlicher Weise an der kapitalistischen Räuberpolitik, die ein naturnotwendiges Glied in dem Heranreifen der Kapitalistengesellschaft zu ihrem Sturze ist, mitzubetätigen.

Ein solches Mitwirken kann nicht eine der Arbeiterklasse sympathische politische Aufgabe sein (wenn es in unserer sündhaften Welt überhaupt sympathische Aufgaben gibt!), aber sie ist unerläßlich, falls die Arbeiterklasse überhaupt in der Kapitalistengesellschaft politisch tätig sein soll und nicht – nach Marxens Revolutionstheorie – in die sozialistische Gesellschaft hineingeschleudert werden soll – – – – – ohne zu der ungeheuer großen Aufgabe, die »politische Macht zu übernehmen«, den »Staat abzuschaffen« und die Gesellschaft auf irgendeiner »kollektivistischen Basis« zu organisieren – was es nun sein soll – vorbereitet zu sein.

Also: Entweder ist die Kolonialpolitik eine sozialentwicklungsgeschichtliche Notwendigkeit, oder sie ist es nicht. Sowohl der »radikale« Kautsky wie der »revisionistische« Bernstein geben ohne jeglichen Vorbehalt zu, daß sie notwendig sei. Bernstein zieht daraus in ehrlicher Weise die praktischen Folgerungen, die der Lehre Marxens entsprechen.

Auch der wissenschaftliche Spezialist Kautsky denkt an die praktischen Konsequenzen – aber an die demagogischen. Es ist leichter, die Massen radikal gegen die Kolonialpolitik aufzuwiegeln, als sie in mäßiger Weise dagegen aufzureizen. »Nein«, sagt er, »das müssen wir dem Kapitalismus allein überlassen.«

Was ist der »Kapitalismus allein« in einer Gesellschaft, die kapitalistisch und noch nichts anderes ist!? Ist nicht der moderne Arbeiter in genau ebenso hohem Grade eine kapitalistische Erscheinung wie sein Arbeitgeber?

»Und auf den Grundsatz weisen wir ja stets in unseren Agitationsreden hin Ich habe diese Worte gesperrt drucken lassen..« Ein schöner »Grundsatz« für einen Hüter der wissenschaftlichen Prinzipe einer sozialdemokratischen Arbeiterpartei.

Hinsichtlich des Standpunktes, den Bebel zur Frage der Kolonialpolitik eingenommen hat, läßt sich noch eine 1907 auf dem Parteitage in Essen gemachte Äußerung hervorheben, worin er auf seine bekannte große kolonialpolitische Ausführung im deutschen Reichstage, die er nun selbst als »eine seiner besten Reden« bezeichnet, hinweist. »Ich habe zuerst«, sagt er, »scharfe Angriffe gegen die deutsche Kolonialpolitik im allgemeinen gerichtet, habe sie als Raub-, Plünderungs- und Unterdrückungspolitik gebrandmarkt, als eine Politik, die wir unter allen Umständen nach allen Richtungen hin zu bekämpfen hätten. Daran anschließend habe ich dann ausgeführt: ›Aber daß Kolonialpolitik getrieben wird, ist an und für sich kein Verbrechen. Kolonialpolitik treiben kann unter Umständen eine Kultursache sein, es kommt nur darauf an, wie die Kolonialpolitik getrieben wird‹.« Hierauf las Bebel einen Auszug aus seiner Reichstagsrede vor und betonte, daß er noch ebenso denke, wie er damals gesprochen habe. Aber, fügt er hinzu, »kann mir denn irgendeiner unterstellen oder bildet sich irgend jemand ein, daß ich diese Sätze als erfüllbares Programm für die kapitalistische Gesellschaft aufgestellt hätte? Es ist mir doch selbstverständlich gar nicht eingefallen, zu glauben, daß die bürgerliche Gesellschaft eine solche Kolonialpolitik treiben könnte. Ich wollte nur sagen: ›Wollt ihr Kolonialpolitik treiben, dann wäre das das Ziel‹ Op. cit., S. 238.

Also im Grunde ganz dieselbe Auffassung wie bei Kautsky. Die gleiche fundamental unfolgerichtige Vorstellung, daß die Arbeiterklasse sich mit Vorbedacht außerhalb der politischen Arbeit der bürgerlichen Gesellschaft stellen könne und müsse und daß die Arbeiterklasse zu gleicher Zeit in energischer planmäßiger Weise mitten in der politischen Arbeit der bürgerlichen Gesellschaft stehen könne und müsse, indem sie nämlich Reichstagsabgeordnete wählt und diese ermahnt, im Reichstage zu »kämpfen«. Der Reichstagstribun grundsätzlich als Agitationstribun und nichts anderes! Zu gleicher Zeit: der Reichstagstribun und die Reichstagsarbeit grundsätzlich als Mittel, um die durch »naturnotwendige« Gesellschaftsverhältnisse in unabänderlicher Weise bedingte Lage der Arbeiterklasse zu schützen und zu verbessern! Der Marxismus als theoretische Grundlage zu politischer Untätigkeit auf gewissen Gebieten des sozialen Lebens. Derselbe Marxismus als theoretische Grundlage zu politischer Betätigung auf anderen Gebieten desselben sozialen Lebens!

Ein freiwilliger politischer Konfusions- und Schwächezustand, der nur die grundsätzlichen Feinde des »Übernehmens der politischen Macht« durch die Arbeiterklasse oder ihres Heranreifens zum Lösen überhaupt irgendeiner ernsten politischen Aufgabe erfreuen kann. Wären nicht gute Aussichten vorhanden, daß das revisionistische »Pech« gar bald in der deutschen Sozialdemokratie kräftig um sich greifen und endgültig die Führung übernehmen wird, so wäre es wahrhaftig mit den Möglichkeiten zu fortschreitender Demokratisierung deutscher Politik und zu fortschreitendem politischen Heranreifen der deutschen Demokratie schlecht bestellt.

Sicherlich werden die Aussichten auf einen solchen Sieg des Revisionismus und des Demokratismus nach dem Weltkriege in Deutschland unvergleichlich viel größer sein, als sie vor ihm gewesen sind. Um aber nicht zur Unterschätzung der inneren Schwierigkeiten, die sich einer solchen Entwicklung besonders auf auslands- und kolonialpolitischem Gebiete entgegenstemmen, zu veranlassen, möchte ich an den wegen seines »Imperialismus« aus der deutschen Sozialdemokratie ausgeschlossenen Gerhard Hildebrandt erinnern. Seine hierher gehörenden Anschauungen hat er in einer 1911 erschienenen Broschüre » Sozialistische Auslandspolitik« In der Sammlung » Staatsbürgerliche Flugschriften«, erschienen bei Eugen Diederichs in Jena. niedergelegt.

Was seine Schrift, sagt Hildebrandt in der Vorrede, »zum Schluß als aktuelle Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie bezeichnet, ist in Jena (1911) von der obersten, Richtung weisenden Instanz der Partei einmütig abgelehnt worden«, d. h. von dem vor dem Marokkoprobleme stehenden Parteitage. Allerdings habe Bebel durchblicken lassen, daß der Handel Deutschlands große Vorteile aus der Kolonisation Marokkos ziehen könne, »wenn sie mit den geeigneten Mitteln, gegen die wir auch, wenn sie die rechten wären, nichts einzuwenden hätten, betrieben würde«, und daß hierin eine Gleichstellung Deutschlands mit den anderen Großmächten auch wünschenswert sei, aber die Resolution des Parteitages enthalte »kein noch so kleines Körnchen der Anerkennung dafür, daß das monopolistische Ausdehnungsstreben Frankreichs und Englands auf die Dauer zu einer verhängnisvollen Schwächung der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit Deutschlands führen muß und daß deshalb Deutschland und die deutsche Arbeiterklasse ein Interesse daran haben und gezwungen sind, sich dieser Politik entgegenzusetzen und auf die Gleichberechtigung oder Mitberücksichtigung Deutschlands zu dringen.«

Auch der Sprecher der Revisionisten auf dem Parteitage, Dr. David, habe darauf gedrungen, daß der Beschluß gegen die »kapitalistische, militaristische und chauvinistische« Kolonialpolitik (als Privatangelegenheit oder Sonderinteresse der Bourgeoisie gefaßt) bestehen bleiben solle, ohne daß ihm etwas über Deutschlands berechtigte Ansprüche auf Gleichberechtigung und Mitberücksichtigung hinzugefügt werde. Hildebrand dagegen sieht eine in dieser Richtung gehende Meinungsäußerung von seiten der deutschen Arbeiterklasse als notwendig an, um die führenden Kreise Frankreichs und Englands vor einer zu weit getriebenen wirtschaftlichen und kolonialen »Einkreisungspolitik« gegen Deutschland zu warnen. Im Lichte des Weltkrieges gesehen, ist diese Auffassung Hildebrandts aus dem Jahre 1911 außerordentlich merkwürdig. Sie zeigt, daß der sozialdemokratische »Imperialist« die auslandspolitische Lage und die in ihr liegenden furchtbaren Gefahren unvergleichlich viel richtiger erkannte als die übrigen »Revisionisten«, von den großen geistigen »Führern« – einem Bebel und einem Kautsky – ganz zu schweigen.

Was, nach Hildebrandts Überzeugung, die deutsche Sozialdemokratie im Jahre 1911 hätte sagen müssen, war dies: »Wir sind für den Frieden, aber nur für einen Frieden auf Grundlage der Gleichberechtigung.« (Der Gleichberechtigung Deutschlands mit England und Frankreich.) »Wir sind es der Zukunft unseres Volkes, der Zukunft unserer Kinder schuldig, daß wir die koloniale Sicherung der benachteiligten Volkswirtschaften erstreben und durchsetzen, mögen die Hindernisse so groß sein, wie sie wollen, mögen sie kommen, von wem sie wollen!« »Das«, fügt er hinzu, »wäre nicht nationalistisch und nicht chauvinistisch, weil es ein einfacher Akt der Selbstverteidigung wäre. Es wäre national in dem Sinne, in dem die Arbeiterbewegung für die Sicherung der Lebensbedingungen eines jeden Volkes einzutreten verpflichtet ist, und wäre darum ein Schritt, ein gegenwärtig notwendiger und erfolgreicher Schritt zum Sozialismus hin.«

»Täten vor allem die deutschen Arbeiter in der gegenwärtigen Situation diesen Schritt, dann würden die herrschenden Klassen in Frankreich und England gewahr werden, daß sie mit ihren nun seit mehr als einem Vierteljahrhundert fortgesetzten Versuchen zur Einschnürung des deutschen Wirtschaftslebens an die Grenze des Möglichen gekommen sind, und sie würden endlich einmal sich überlegen müssen, wohin die Fortsetzung dieser Einschnürungspolitik schließlich führen muß. Dann würden aber auch weite Schichten des deutschen Volkes, die der Arbeiterbewegung feindlich gegenüberstehen, obwohl sie den kulturellen Aufstieg der Arbeiter wünschen, sich zum engen und dauernden politischen Anschluß an die Arbeiterbewegung entschließen können. Tun aber die sozialistischen Arbeiter den notwendigen Schritt nicht, dann haben sie es sich selbst zuzuschreiben, wenn sie bei den übrigen zur demokratischen Mehrheitsbildung nötigen Teilen des deutschen Volkes kein Vertrauen gewinnen, sondern dauernd zur Minderheitspartei verdammt bleiben. Es ist dann ihre Schuld, wenn die nationalistisch gesinnten Schichten die Führung behalten – um sozialistisch notwendige Forderungen der auswärtigen Politik gegen die Arbeiter durchzusetzen, aber darüber hinaus vielleicht gleichzeitig unberechtigte und unverantwortliche Sonderinteressen im Innern und nach außen hin zu betreiben. An der sozialistischen Arbeiterbewegung liegt es, ihr Schicksal zu entscheiden. Versagt sie, so verdammt sie sich selbst zur Opposition und Einflußlosigkeit. Tut sie, was notwendig ist, dann kann sie schnell ungeahnte Erfolge auch im Innern erzielen. Hier gibt es nur ein Entweder – Oder Op. cit., S. 62-63.

Gerhard Hildebrandt wurde auf dem Parteitage in Chemnitz im Jahre 1912 formell aus der deutschen sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen, nachdem die Debatte über seine Rechtgläubigkeit bereits einige Jahre, besonders in der Parteipresse, angedauert hatte. Vor allem hatte seine Schrift Die Erschütterung der Industrieherrschaft und des Industriesozialismus böses Blut erregt, weil er sich darin »in scharfen Gegensatz zu den Grundforderungen der Partei gestellt Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten in Chemnitz vom 15. bis 21. September 1912, Berlin 1912, S. 451.« haben sollte – d. h. weil er nachweist, daß die tatsächlichen wirtschaftlichen Entwicklungstendenzen um 1911 herum durchaus nicht so waren, wie Karl Marx in der Zeit zwischen 1847 und 1867 angenommen hatte, daß sie bis zum »Sturze des Kapitalismus« oder bis zur »sozialen Revolution« werden müßten. Anstatt nun das Programm neueren Forschungen und der Wirklichkeit gemäß abzuändern, tut man den Forscher, der diese neuere, Marx und dem Marxismus unerwartete Wirklichkeit zu entdecken und anzuerkennen gewagt hat, in Acht und Bann.

»Es ist notwendig, daß sich die Parteiinstanzen mit Hildebrandt beschäftigen, denn die bürgerliche Presse wirft uns täglich mit Auszügen aus Reden und Schriften von Schippel, Calwer und Hildebrandt Knüppel zwischen die Beine, indem die Ausführungen dieser sozialistischen Schriftsteller gegen die Sozialdemokratie ausgeschlachtet werden Op. cit., S. 451..« Dies war natürlich sehr unzart von der bürgerlichen Presse – aber man versteht, daß sie der Versuchung erliegen mußte, als sich ihr die Gelegenheit bot, von so anerkannt bedeutenden Gesellschaftsforschern wie Schippel und Calwer Waffen gegen einen politischen Gegner zu entlehnen, dessen berüchtigte Furcht vor freier Gesellschaftsforschung offensichtlich eine Kulturfrage von allgemeiner Bedeutung ist, nicht etwas, das die schuldige politische Partei als ihre ausschließliche Privatsache kann ansehen dürfen.

»Gegen Hildebrandt als Mensch hat niemand etwas, wir handeln nur im Interesse der Partei, wenn wir Stellung gegen Hildebrandt nehmen.« – – – »Aber das soll uns nicht weiter aufregen, vielmehr kommt es darauf an, festzuhalten, wo Hildebrandt sich in recht krasser Weise in Widerspruch mit uns setzte. Um es kurz zu sagen: er trat ein für Kolonien, für Schutzzölle, für den Marokkorummel, ja sogar für den Militarismus. Dabei ließ er Äußerungen fallen, wie die, daß wir in Deutschland noch am besten regiert würden, und daß er sich wohl bewußt sei, Forderungen zu vertreten, die teilweise auch die Nationalliberalen stellen.«

Auf einem deutschen Parteitage erklärte man es demnach als fundamentalen Parteigrundsatz (an welchen die Mitglieder glauben müssen, da sie sonst Gefahr laufen, ausgeschlossen zu werden), daß man Kolonien und Schutzzölle (solange der Kapitalismus währt!) unter allen Umständen fanatisch bekämpfen müsse und daß ein demütig lächelndes Gesicht zu französischer Aggressivität und englischer Weltbevormundung in der Marokkofrage das allein Seligmachende sei. Außerdem wird die Lehre, daß Deutschland schlechter regiert sei als andere Länder, zum Parteidogma erhoben! Wer das Gegenteil glaubt, der kann nicht deutscher Sozialdemokrat sein! Ist es da zu verwundern, daß der neutrale Herr Branting hat glauben können, diese schöne Lehre mit voller Berechtigung auch zum Parteidogma der schwedischen Sozialdemokratie erheben zu dürfen!

Wer nicht an die sehr einfache, sehr einfältige und sehr ententehafte Verrücktheit glaubt, daß der »deutsche Militarismus« gerade jetzt ein viel schlimmeres allgemeinmenschliches Übel sei als der »Zarismus« oder Frankreichs chronische politische Zuckungen oder Englands übermütige, unersättliche Expansionspolitik – der kann kein Mitglied der grundsätzlich internationalistischen Sozialdemokratie sein, weder in Deutschland noch in einem neutralen Lande! Aber vielleicht möglicherweise in Rußland, Frankreich und England! Es gibt Zeichen, die nach dieser Richtung hindeuten!

Hildebrandt gab zu, daß seine Auffassungen in gewissen Punkten von den Grundsätzen des Parteiprogrammes abwichen. Aber, sagte er, es müsse »in der Partei auch für die Vertreter solcher Ansichten Raum vorhanden sein Op. cit., S. 454.«, denn er wisse doch, daß er der sozialdemokratischen Partei näher stehe als irgendeiner anderen.

Wenn diese Auffassung nicht früher oder später angenommen werde und wenn man nicht die Grundsätze des Parteiprogrammes schrittweise in bessere Übereinstimmung mit der wirklichen sozialen Entwicklung (im Gegensatz zu der Gesellschaftsentwicklung, die Marx zwischen 1847 und 1867 voraussehen zu können geglaubt habe) zu bringen wisse, so werde es ja zum Parteidogma, daß kein sozialwissenschaftlich frei forschender und denkender Mensch Zutritt zur Partei habe oder berechtigt sei, in ihr zu bleiben.

Es nützte Hildebrandt nicht das Geringste, daß er auf dem Chemnitzer Parteitage beweisen konnte, daß seine wirtschaftliche Anschauung radikal sozialistisch sei, daß seine politische Anschauung radikal demokratisch sei, daß er »auf dem Boden des Klassenkampfes« stehe und daß er »den Klassenkampf für eine solche Selbstverständlichkeit« halte, »daß davon zu reden gar nicht lohnt Op. cit., S. 476.«. Die veralteten Parteidogmen über die Kolonialpolitik, die Schutzzölle, den Imperialismus, den Militarismus und Deutschlands schauderhaftes Regierungssystem waren es, die gegen »eine nur geringe Minderheit« Op. cit., S. 507. im Jahre der Gnade 1912 auf einem Parteitage über ihn siegten.

Die Jahreszahl 1912 zeigt, mit 1914 verglichen, in deutlich erkennbarer Weise, daß die deutsche Sozialdemokratie reichlich lange auf die Gnade hin gesündigt hat.

 

Ich habe auch die Protokolle der Parteitage, welche die deutsche Sozialdemokratie 1910 in Magdeburg, 1911 in Jena und 1913 wieder in Jena abgehalten hat, durchgesehen und darin noch viele Beweise des dogmatischen Schlummerns der deutschen Sozialdemokratie hinsichtlich der auslandspolitischen sowohl wie der damit am engsten zusammenhängenden innerpolitischen (besonders hinsichtlich der das Militärwesen betreffenden) Fragen gefunden. Etwas prinzipiell Neues und über das, was ich in diesem Kapitel bereits mit Beispielen belegt habe, Hinausgehendes habe ich jedoch nicht entdeckt. Über die Opposition der wenigen Einsichtsvollen gegen die Unbelehrbarkeit der überwältigenden Mehrheit ließe sich zwar noch allerlei sagen, aber es würde hier zu viel Raum fortnehmen.

Nur folgende Episode sei der Kuriosität halber angeführt.

Dr. Karl Liebknecht sprach sich 1911 auf dem Parteitage in Jena bei der Diskussion über den »Zarismus« und Finnland folgendermaßen aus:

»Wenn wir dies alles vor unserem Auge Revue passieren lassen, so wird niemand verkennen, daß das finnische Proletariat gerade auch im jetzigen Moment seiner Leidensgeschichte Anspruch darauf besitzt, daß die deutsche Sozialdemokratie, daß das ganze internationale Proletariat seine Solidarität mit dem gepeinigten finnischen Volke erklärt Protokoll usw. Jena 10. – 16. September 1911, Berlin 1911, S. 406. Von mir gesperrt wiedergegeben.

Daß in den Jahren 1914-16 diese »Solidarität« zerrissen sein könnte – zerrissen zugunsten des »Zarismus« – das war weder durch irgendeinen Prinzipienparagraphen des Parteiprogrammes noch durch irgendeinen Parteitagsbeschluß in irgendeiner Form als entfernte Möglichkeit vorausgesehen. Im Gegenteil! Und dennoch geschah es. Hatte das Parteiprogramm unrecht? Oder haben die jetzt an der Seite des »Zarismus« kämpfenden, des gepeinigten finnischen Volkes und vieles anderen Russischen gar nicht gedenkenden französischen und englischen Sozialdemokraten aufgehört, echte Mitglieder der Internationale zu sein?


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