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Buchschmuck

Drittes Kapitel.

In der Mitternachtsstunde des dreißigsten Oktober stand der Bürgersoldat Silvain Parmentier Posten im Hof der Conciergerie. Sein Blut war heiß. Nicht nur die Weine und die Spirituosen Vater Levoisins hatten das zuwege gebracht, denn er kam aus dem Café zu den Rutenbündeln in der Rue Saint Honoré. Nein, wieder einmal sollte sich ein Tag des Mutes aus dem Schoße des unersättlichen Paris erheben.

Aber nicht nur diese Ströme, die aus dem Altar des Vaterlandes vergossen werden sollten, hatten Herz und Sinne des jungen Bürgersoldaten, der für die Freiheit schwärmte und das Bild Marats, des nun Gemordeten, in einem goldenen Medaillon auf der Brust trug, so in Wallung gebracht. Er kam aus den Armen der Bürgerin Louise Marteau, die seiner stürmischen Werbung endlich erlegen war.

Der Geist der Revolution hatte eben aus allen menschlichen Gebieten die Bande gelöst. Die Behörden, die mit dem Fällen der Bluturteile alle Hände voll zu tun hatten, fanden keine Zeit für Eheschließungen und standesamtliche Geschäfte mehr. Die freie Liebe, die Galanterie, die unter dem Szepter des Tyrannen das Symptom der Zügellosigkeit vaterländischer Sitten gewesen, sie wurden jetzt das Dokument der wahren persönlichen Freiheit.

Im Kampf war so die Bürgerin Louise Marteau in ihrer hinter dem Café zu den Rutenbündeln gelegenen Kammer heute abend sein eigen geworden, und auch in den Adern dieser beiden jungen Menschen tobte der Sturm, der in diesen Tagen über Frankreich und die Welt dahinfuhr.

Silvain Parmentier war es klar. Die Bürgerin Louise Marteau liebte ihn. Sie liebte ihn mit jener verzehrenden, immer dürstenden, wie die Flamme der Brandfackel auflodernden und wilden Leidenschaft, die jene Tage des Mutes und des Entsetzens, des einem jeden zu jeder Stunde drohenden gewaltsamen Todes, in den Herzen jener Jugend erstehen ließ. Fiebernden Blickes, mit heftig schlagenden Pulsen, Flammengut auf den Wangen, stand der Bürgersoldat Silvain Parmentier in dieser Stunde da. Wie ein Durst nach Blut, wie ein Heißhunger nach Menschenfleisch und immer wieder nach Menschenfleisch kam es in dieser Lage über ihn, als die hohen Mauern der Conciergerie ihre schwarzen Schatten in den Hof, wo er Posten stand, warfen, indessen die Wolken dieses Herbstes wie unbegreifliche Fabeltiere vor der bleichen Scheibe des Mondes einherzogen.

Dumpfes Stimmengewirr drang an sein Ohr. Es kam von draußen, von der Straße her, aber auch von drinnen aus den Dutzenden von Kerkern, die mit des Todes harrenden Gefangenen überfüllt waren.

Der Maler Poignard hatte nur zu recht. Die Gefängnisse in Paris reichten bald nicht mehr aus.

Wie die murrenden Wellen eines über seine Ufer flutenden Stromes, der sich den Weg über jedes Hindernis bahnt, schlug das Leben der ungeheuren Stadt an die Mauermassen der Conciergerie. Der Bürgersoldat Silvain Parmentier stierte vor sich hin. Sein Auge fiel auf den Querbalken, der den Eingang der Conciergerie krönte. Auch hier, wie überall an den öffentlichen Gebäuden, hatte man in diesen Tagen die Devise der einen und unteilbaren Republik angebracht. Das Blut siedete in seinen Adern, als er jetzt wieder und wieder, zum wievielhundertstenmale, in fanatischer Begeisterung las:

Die Freiheit, die Gleichheit oder den Tod!

Lange konnte es jetzt nicht mehr dauern, dann mußten sie kommen, so fuhr es durch den Kopf des Bürgersoldaten Silvain Parmentier. Schon sieben Tage währte die Sitzung, heute würde Fouquier Tinville, der Gerechte, zu Ende kommen. Heute mußte das Revolutionsgericht sein »Schuldig« aussprechen und das Bluturteil fällen.

Und der Bürgersoldat Silvain Parmentier, der eben aus den Armen der Liebe kam, dürstete nach Blut. Ein »Schuldig« mußte es sein, anders war es in diesen Tagen gar nicht zu erwarten. Die Verräter des Vaterlands, die die Sache des Konvents, die die Sache Robespierres, des Unbestechlichen, ihrem Mitleid und ihrer Nachsicht geopfert, sie mußten sterben. Frankreich konnte, nein, mußte dieses Opfer fordern, wenn es all die andern Opfer, die schon verblutet waren, verantworten wollte.

Und er würde dabei sein! Bei den Rächern der Freiheit, bei den Verteidigern des Vaterlandes! So jauchzte es im Innern des Bürgersoldaten Silvain Parmentier, dessen, der eben aus den Armen der schönen Louise Marteau kam.

Der von der Straße durch die Dicke der Hofmauern und über diese hin hereindringende Lärm wurde lauter und lauter. Er kam näher und näher. Das waren sie, die Verurteilten, Kein Zweifel! Die Sitzung mußte jetzt endlich aufgehoben sein.

Der Bürgersoldat Silvain Parmentier lauschte und lauschte. Aber noch war es ihm nicht möglich, auch nur ein Wort der draußen johlenden und schreienden Volksmenge zu verstehen. Nur wie ein dumpfes Murren, das langsam, aber stetig zum brausenden Orkan anschwillt, drang es noch immer an sein Ohr.

Der Mond, der sich vor wenigen Minuten hinter den schwarzen Wolkenballen dieses Oktoberabends verkrochen hatte, trat nun wieder hervor. Sein fahles Licht fiel auf die Fliesen des Hofes, auf den Schmutz des Weges, in den die Räder der Henkerkarren ihre tiefen Spuren gegraben hatten, es fiel auf einen Kehrichthaufen in der Ecke, den die Gehilfen des Scharfrichters hochaufgeschichtet hatten und der zum großen Teile aus abgeschnittenen Menschenhaaren bestand. Denn in den letzten Tagen war es des öfteren vorgekommen, daß man die letzte »Toilette« hier im Hof unter freiem Himmel vorgenommen hatte, weil es in den Kerkern der Conciergerie an Platz für die »Friseure« mangelte.

Das alles betrachtete der Bürgersoldat Silvain Parmentier und er lächelte. Er lächelte glücklich und wie ein Kind, denn die Tage der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit, die des Unbestechlichen, der der Vernunft und dem höchsten Wesen huldigte, sie waren endlich hereingebrochen.

Und näher und näher kam der Lärm. Auch drinnen in den Kerkern der Conciergerie schien es jetzt in tiefer Nacht lebendig zu werden. Auch von dort drangen menschliche Laute an das Ohr Silvains. Und ein brausender Ruf von draußen, von der Straße her, belehrte den Bürgersoldaten, daß die Sache der Freiheit wieder einmal gesiegt hatte, gesiegt, wie das nicht anders zu erwarten stand, solange der Unbestechliche das Heft in eisernen Händen hielt, solange Fouquier Tinville öffentlicher Ankläger war.

Und jetzt vernahm man auch den vielhundertstimmigen Ruf, jetzt verstand ihn auch Silvain. Er kam von der Straße und schlug wie die Welle des brandenden Meeres wider die Hofmauern der Conciergerie, der Ruf:

» Es lebe die Republik

Fouquier Tinville hatte also gesiegt. Die Geschworenen hatten ihr »Schuldig« gesprochen. Und da löste es sich auch aus dem Munde des jungen Bürgersoldaten. Es war wie der Schrei eines Tieres, wie das Brüllen des Löwen, der hungrig durch die afrikanische Felsenwüste irrt und endlich die Spur einer Antilope erschnuppert hat: »Es lebe die Republik!«

Und die Antwort ließ nicht auf sich warten.

Aus dem Inneren der Conciergerie, auf deren Treppe die einundzwanzig zum Tode verurteilten »Freunde des Vaterlandes und der Freiheit«, den Leichnam Valazés, der sich angesichts des Revolutionsgerichtes erdolcht hatte, in ihrer Mitte, nach den Kerkern zurückkehrten, scholl es Silvain entgegen:

» Wir sterben unschuldig! Es lebe die Republik

Da hielt es den jungen Bürgersoldaten nicht mehr auf seinem Posten. Seine Pflicht vergessend, eilte auch er in das Innere der Conciergerie und er sah den Zug der Helden, einem nach dem andern blickte er in die Augen, der ganzen Schar, wie sie am Abend nach Fällung des Bluturteils dahergeschritten kam durch das Gewölbe und über die Treppe, hinab in die Kerker, einer wie der andere entschlossen, stolz wie die Römer zu sterben. Zwei von ihnen, die in der Mitte gingen, trugen die Leiche Valazés, als sei sie das Bild eines Heiligen, auf den Schultern. Die Menge, die der langen Sitzung des Gerichtshof beigewohnt hatte, erfüllte in dichten Massen die Gänge und das Treppenhaus der Conciergerie. Und aus den Kerkern antworteten die noch des Todesurteils harrenden diesen Märtyrern der Freiheit mit dem gleichen Liede. das sie alle sangen:

Allons enfants de la patrie,
Le jour de gloire est arrivé

Silvain kannte sie nicht alle. Aber die berühmtesten dieser Namen hatte er, wer weiß wie oft, schon gehört. Und nun der eine, der eben auf dem Absatz der Treppe Halt machte, der die Hand ausstreckte, als ob er reden wollte, und nun einen Bündel Assignate unter die Menge warf, weil das Geld für ihn, der zu sterben wußte, ja doch keinen Wert mehr haben konnte. Ja, das war er!

Ihn kannte ganz Paris. Und der junge Bürgersoldat Silvain Parmentier, der erst vor Monden von der Rheinarmee in die Hauptstadt gekommen war, täuschte sich nicht. Mit einem Worte majestätisch, wie die Togastatue eines antiken Heros sah er in dieser erhabenen Stunde aus, so wie er als des Konvents größter Redner in der Blüte seines Ansehens und seiner Macht auf der Rostra in den Tuilerien gestanden hatte!

Vergniaud!

Ein Zittern lief durch den Körper des jungen Bürgersoldaten, als er diesen Giganten der Freiheitssuche jetzt als den Gefangenen und zum Tode verurteilten seines Volkes in dieser Stunde so vor sich sah. Noch trug Vergniaud denselben dunkelblauen Rock, in dem er immer im Konvent erschienen war, aber es sah aus, als sei ihm dieser infolge des langen Nichtstuns im Gefängnis zu eng geworden und als wachse er aus dem Kleid des Republikaners heraus.

Wie ein Athlet, wie ein Riese erschien er dem jungen Bürgersoldaten auch in diesem Augenblick. Und dennoch wie einer, der schon den Stempel des Vergehens auf seiner hohen Stirn, aber auch das Leuchten der Ewigkeit in seinen strahlenden Augen trug.

Wie ein Traum der Nacht schwand das Bild Vergniauds vor Silvains Blicken. Er wollte es festhalten, hinter dem Zug der Verurteilten stieg der junge Bürgersoldat die zu den Kerkern hinabführende Treppe hinunter. Mochte kommen, was da wollte, unwiderstehlich zog es ihn zu diesen da. Er hatte gelebt, er hatte in den Armen der Bürgerin Louise Marteau höchste Seligkeit und unendliches Glück getrunken und in den Tagen des Wohlfahrtsausschusses starb es sich in Paris so rasch und so leicht ... das lehrten ihn diese da!

Während der Zug der Verurteilten, dem Silvain folgte, die Treppe hinunterstieg, ertönten aus den Kerkern die Rufe derer, die noch nicht gerichtet waren und des Todes wie diese harrten. Aus den Tiefen der Zellen tönten die Strophen des Freiheitsliedes, erschall das Lebewohl der Abschiednehmenden, erklang das Bravo der Bewunderung, seufzte die Klage des Mitleids. Silvain mußte sich an der Wand des Treppenhauses halten. Wie schwarze Nacht der Ohnmacht war es einen Augenblick über ihn gekommen. Aber er raffte sich rasch wieder empor. Keine Schwäche, kein Mitleid! Es galt die Sache der Republik bis zum letzten Atemzuge, die große Sache des Unbestechlichen.

So mahnte er sich selber. So faßte er seinen letzten Mut zusammen und betrat den großen Kerker, den Saal der Verurteilten, in dem sie alle des Anbruchs des Todesmorgens und der Schritte der Henkersknechte zu harren hatten.

Erstaunt blieb Silvain am Eingang des großen Kerkers stehen, wie sah das heute hier aus! Liebende Hände hatten den großen Kerker in einen Festsaal gewandelt. Eine lange in der Mitte de» Raumes aufgestellte Tafel wartete der Verurteilten und lud zu einem letzten Freudenmahle ein.

Silvain drückte sich in eine dunkle Ecke des Saales. Da fuhr er entsetzt zurück. Sein Fuß hatte einen auf dem Boden, in der Ecke des Saales liegenden Körper berührt. Er sah näher zu, und im Schein der Kerze, die hier an einem Wandarm brannte, gewahrte er einen blutbedeckten Leichnam.

Es war der entseelte Leib Valazés. Auf den Befehl Hermanns, des Vorsitzenden des Revolutionsgerichts, hatte man ihn hier niedergelegt. Er sollte auch noch im Tode, morgen in der Frühe, mit den Genossen die Fahrt auf dem Karren der Schande nach dem Revolutionsplatz antreten.

Silvain wußte das nicht. Er sah nur einen blutbesudelten Leichnam und fuhr momentan trotz allem zurück. Er dachte an das blühende Leben, das noch vor wenigen Stunden in seinen Armen geruht hatte, und schauderte.

Von einem die Speisen auftragenden Nationalgardisten erfuhr er, daß der Abgeordnete Bailleul dieses letzte und feierliche Mahl für die einundzwanzig Verurteilten bestellt hatte. Bailleul befand sich selbst in Haft, aber die Fürsprache eines der Allmächtigen jener Tage hatte es ihm dennoch ermöglicht, den einundzwanzig Freunden diesen letzten Liebesdienst zu erweisen.

Und voll Staunen und Verwunderung ward der junge Bürgersoldat Silvain Parmentier Zeuge des Unvergeßlichen, das sich hier in der Nacht vor dem Tode der einundzwanzig Gerechten zutrug.

Er schaute und schaute und er fühlte, wie allgemach eine seltsame Veränderung, gegen die anzukämpfen er vergeblich sich bemühte, in seinem Inneren vorging. Vaterlandsverräter und Feinde der Freiheit hatte er bis zu diesem Augenblick in den einundzwanzig mit Recht Verurteilten gesehen und nun wandelten sie sich unter seinen eigenen Augen zu sterbenden Helden, zu Brüdern, zu Märtyrern der Menschheit um. Er starrte auf diese Tafelrunde, die im Schein der flackernden Kerzen und Fackeln ihm schon wie die Tafel der Abgeschiedenen an den Ufern des schleichenden Acheron vorkam.

Wie oft in den folgenden Monaten hatte sich der Bürgersoldat Silvain Parmentier die bittersten Vorwürfe gemacht über all das, was er in dieser Nacht im Saal der Verurteilten in der Conciergerie empfunden! Aber er suchte auch Gründe für seine eigene Entschuldigung. Am Ende lag das tiefverschlossen in dieser Zeit, am Ende war das nur die natürliche Folge dessen, was sich ereignete, daß der Henker weinen konnte mit dem Freund und der Braut des Verurteilten, daß die Tochter des Kerkermeisters die Zelle des zum Tode Verdammten mit Blumen schmückte.

Und weiter flogen die Gedanken Silvain Parmentiers im Angesicht dieses Abschiedsmahles! Waren sie nicht alle am Ende in gleichem Maße schuldig und unschuldig? War es nicht die große Idee der Freiheit, die Mutter dieser einzigartigen Bewegung, die die Welt in einen wahren Taumel der Freude und des Schreckens versetzte, und die so ihre eigenen Kinder fraß?

Er wollte nicht länger darüber grübeln. Er versenkte sich ganz in das seltsame Bild, das sich hier vor seinen Blicken entrollte. Sein Vater war ein frommer Katholik in einem kleinen Städtchen des Elsaß gewesen, kein komplizierter Kopf, kein Schwärmer der Freiheit, wie er doch einer war. Ein Sandmann, der dort in den gesegneten Gauen zwischen Rhein und Vogesen den Pflug geführt hatte, und in dessen Stube hatte ein Bild gehangen, das man heute in Paris, da man drauf und dran war, die Religion der Vernunft auf den Schild zu erheben, öffentlich verbrannt hätte. Silvain wußte nur, daß dieses Bild das letzte Mahl des Heilands im Kreis seiner Jünger darstellte. Daß es eine schlechte Kopie des Abendmahls des Leonardo da Vinci war, das wußte er nicht, vielleicht hatte sein Vater selbst davon nicht eine Ahnung gehabt, denn die Parmentiers waren schlichte Bauern, die sich um Fragen der Kunst wenig kümmerten. Aber dieses Bild seiner Knabenjahre fiel ihm ein in dieser Nacht, da er im Saale der Verurteilten lauschend und spähend in der Ecke neben dem blutbesudelten Leichnam Valazés stand.

Das waren ausgezeichnete Speisen und erlesene Weine, die man hier auftrug, und herrliche Blumen schmückten diese Tafel, indessen zahllose Fackeln und flackernde Kerzen den Saal der Verurteilten erleuchteten. Still und feierlich spielte sich das alles vor den Augen des jungen Bürgersoldaten ab. Es lag ein Hauch des Ewigen über dieser Tafelrunde und vor der Tür des Saals harrte der Priester, der die zum Tode Verdammten auf ihrem letzten Gange trösten sollte.

Schweigend nahmen die »Freunde des Vaterlandes«, wie sie die einen, die »Feinde der Freiheit«, wie sie die anderen nannten, ihr Mahl ein. Nur leise Gespräche, die Silvain in seiner Ecke nicht verstehen konnte, schwirrten wie auf den Fittichen des Todes von Mund zu Ohr. Stunden und Stunden gingen dahin ... und endlich brach der fahle Schein des letzten Morgens durch die vergitterten Fenster und stritt mit dem Flackerlichte der ersterbenden Fackeln und Kerzen.

Und Silvain Parmentier lauschte und lauschte. Aber es war ihm nicht möglich, das Geflüster der dem Tode Geweihten zu begreifen, es in Worte und Sätze, die ihm verständlich gewesen wären, auseinanderzulegen, denn es ging nur wie der Hauch des scheidenden Sommerwindes leise durch den Saal.

Doch jetzt traf eine Stimme wirklich und vernehmlich Silvains Ohr. Es war die Stimme dessen, dem aus der Höhe seiner Macht und seines Glanzes ganz Paris gelauscht hatte, wenn sie hell und klar von der Rostra des Konvents erklang. Es war Vergniauds Stimme, der sich eben noch einmal an seine Leidensgenossen wandte und sagte:

Meine Freunde!

Da wir den Baum der Freiheit pfropfen wollten, haben wir ihn getötet. Er war zu alt. Und Robespierre haut ihn jetzt ab. Wird er glücklicher sein als wir? Ich glaube nein! Auf diesem Boden erblüht die bürgerliche Freiheit nicht. Denn dieses Volk steckt noch in den Kinderschuhen. Es kann seine Gesetze nicht handhaben, wenn wir sie ihm auch geben wollten. Es wird seine Könige wieder verlangen, wie das Kind sein Spielzeug. Wir haben uns in unserer Zeit geirrt, wir glaubten uns in Rom, um für die Freiheit zu sterben, und sind doch nur in Paris. Die Revolutionen gleichen den Stürmen der Leidenschaft, die das Haar des Menschen in einer einzigen Nacht bleichen. Aber sie reifen die Völker. Und das Blut in unseren Adern ist heiß genug, um den Boden der Republik düngen zu können, wir wollen die Zukunft nicht mit uns davon tragen, sondern laßt uns dem Volk, das uns das Leben nimmt, die Hoffnung geben!«

»Nein, nein, du lügst, Alter.« schrie es da bei Vergniauds Worten in wildem Aufbäumen in dem Inneren des jungen Bürgersoldaten. Die Könige werden nicht wieder kommen, das lügst du, Alter, wie recht tat man, dich und deine Genossen verdammt zu haben.«

Silvain Parmentier mußte sich Gewalt antun, daß er sich nicht auf den da stürzte, der ihn mit seinen Gedanken des Pessimismus und der Mäßigung die ganze Frucht des furchtbaren Blutbads in Frage zu stellen schien.

Die Fackeln und Kerzen im Saale der Verurteilten erloschen, eine nach der andern. Der helle Tag erhob sich über Paris.

In den Gängen der Conciergerie, vor dem Saale der Verurteilten und auf der Treppe, die hinab in den Kerker führte, wurde es lebendig. Die Gefangenen schwiegen und lauschten. Voll fieberhafter Glut waren ihre Augen auf die Tür des Saales gerichtet, gleich den Augen Silvains. Aber noch Stunden der Qual und der Angst schlichen schneckengleich dahin.

Es war gegen zehn Uhr vormittags, als sich die Tür des Saales endlich öffnete, um den Henker und dessen Gehilfen einzulassen. Und die einundzwanzig Opfer für die Sache der Freiheit neigten im Angesicht des jungen Bürgersoldaten das Haupt. Ihre Locken fielen unter der Schere der Henkersknechte. Sie streckten den Gehilfen des Scharfrichters beide Hände entgegen und ließen sich fesseln.

Silvains Auge ruhte voll staunender Bewunderung auf dem leichenblassen und schönen Gesicht eines noch ganz jungen Mannes, dessen rabenschwarze Locken eben wie Schlangen auf die Dielen des Kerkers niederglitten. Es war Gensonné.

Aber der junge Bürgersoldat kannte auch dessen Namen nicht.

Ein Priester trat an die Seite des Verurteilten. Mühsam beugte sich der junge Mann zur Erde, nahm eine der Locken, die der Knecht des Henkers soeben von seinem Scheitel getrennt hatte, auf, küßte sie lange und überreichte sie dem Priester.

»Bringt sie meiner Frau,« sagte er mit brechender Stimme, »und richtet ihr aus, daß diese Locke alles ist, was ich ihr senden kann von dem, was von mir übrig bleibt, aber sagt ihr auch, daß ich sterbe im letzten Gedanken an sie.«

Da war der junge Bürgersoldat nahe daran, daß ihn die Tränen übermannten, aber die Wirbel des Tambours, die jetzt draußen auf dem Hof einsetzten, rissen ihn wieder aus seiner weichen Stimmung heraus.

Die Gendarmen und Nationalgardisten, die die Karren der Verurteilten auf ihrer letzten Fahrt nach dem Revolutionsplatz zu begleiten hatten, traten in den Saal.

Man führte die »Geschorenen« in zwei Kolonnen in den Hof des Justizpalastes. Fünf Henkerskarren standen hier bereit. Eine ungeheure Menschenmenge füllte den Hof. Silvain tauchte in dieser Menge unter.

Der Ruf:

» Es lebe die Republik

brauste allen auch in dieser Stunde des Abschieds entgegen.

Und wie eine Antwort klang es aus den Kehlen der Verdammten, als sie nun geschorenen Hauptes, die Hände gefesselt, auf den Karren zur Seite ihrer Henker wie aus einem Munde zu singen begannen:

»Es flattert rot zu unsern Häupten
Die Blutstandarte des Tyrannen!«

Vier dem Tod Geweihte saßen auf jedem der Karren, nur der letzte trug deren fünf.

Und der junge Bürgersoldat Silvain Parmentier, der vor wenigen Wochen am Fuße des Schafotts der Österreicherin gestanden hatte, begleitete auch diesen Zug durch die Gassen von Paris. Als die Sonne draußen am blendend blauen Himmel stand, als er die johlende und schreiende Volksmenge mit den roten Jakobinermützen wieder erblickte, als es tausendstimmig wieder und wieder an sein Ohr drang:

» Es lebe die Republik

»Es lebe die Freiheit!« Nieder mit den Tyrannen!« ... als die Trommeln wirbelten und die Trikoloren im Winde sich blähten, da waren die Bilder des Mitleids und des Schauderns, die in dieser Nacht seine Seele so ganz erfüllt hatten, wieder wie ausgelöscht in seinem Hirn. Der Marsch der Soldaten, die die Karren der Henker begleiteten, fuhr in Silvains Beine. Hier ging es zum Tode in Reih und Glied! In Schritt und Tritt! Zum Tode auf dem Altare des Vaterlandes, auf dem der Freiheit, die jedes, auch das letzte Opfer, in diesen Tagen von ihren Kindern und dem guten Bürger forderte.

Er dachte nicht mehr an die Liebesstunde in den Armen der Bürgerin Louise Marteau. Er dachte nicht mehr an die Tränen, die in dem Saal der Verurteilten in dieser doch unvergeßlichen Nacht leise und fast ungesehen geweint worden waren, nicht mehr an die schwarze Locke des jungen Mannes, die auf die Diele des Kerkers unter der Schere des Henkerknechts gefallen und die ein Angedenken in den Händen des Priesters auch über das Grab hinaus bleiben sollte.

Er hörte nur noch die Trommelwirbel der Tambours, er sah nur noch die Trikoloren, die Farben der einen einzigen und unteilbaren Republik, die jedes Opfer zu fordern berechtigt war. Er sah den Pöbel, der den langen Weg von der Conciergerie nach dem Revolutionsplatz säumte, denselben Weg, den der Karren der Österreicherin vor gerade zwei Wochen gefahren war. Er sah die Horden blutdürstiger Weiber aus den Halles und dem Palais Royal, die sich den drallen Busen, der einem jeden gehörte, mit der dreifarbigen Kokarde geschmückt hatten und die nun aus Leibeskräften wie die Besessenen, wie das Tier der Wüste brüllten: » Es lebe die Republik!« »Es lebe die Freiheit;« »Nieder mit den Tyrannen!« ... und im Sonnenglast der blutgetränkten Straße, im Anblick des blutbesudelten Platzes kamen ihm diese Megären wie die Prophetinnen einer besseren Zukunft vor.

Rot war der Himmel vor Silvains Blicken, rot der Revolutionsplatz und rot die ganze Stadt. Ein Regen von Blut, von düngendem, von befruchtendem Blut ging über sie nieder.

»Es lebe die Freiheit!« jauchzte jede Fiber seines Körpers, brüllten die Trommelwirbel der Tambours, als die Karren endlich die Stufen des Blutgerüstes erreicht hatten.

Die Verurteilten stiegen aus. Die Marseillaise, das Lied der Freiheit, tönte noch immer von ihren Lippen über den weiten Platz, und der junge Bürgersoldat starrte wie gebannt, ganz erfüllt von einer einzigen und blutigen Vision, auf die Opfer. Er sah, wie sie sich einander in die Arme fielen, wie einer den Bruderkuß auf die Stirn des andern drückte, wie die einen letzten Bund der Freiheit zu schließen schienen in diesem Augenblick des letzten Abschieds, noch einmal einen Bund für Leben und Tod.

» Es lebe die Republik

»Es lebe die Freiheit!« »Nieder mit den Tyrannen!« ... brauste es da wieder von tausend und abertausend Stimmen über den weiten Platz.

Auch Silvains Lippen bewegten sich. Auch der junge Bürgersoldat brach mit aus in den frenetischen Ruf, der den Trommelwirbel des die Exekution weithin verkündenden Tambours überdröhnte.

Da fiel das erste Haupt.

Aber die anderen sangen:

»Es flattert rot zu unsern Häupten
Die Blutstandarte des Tyrannen!«

Sillery betrat das Schafott.

Er verbeugte sich nach links und nach rechts. Er dankte diesem Volke, das ihm den Heldentod für die Freiheit ermöglicht hatte.

Und Sillerys Haupt fiel.

Und die anderen sangen:

»Es flattert rot zu unsern Häupten
Die Blutstandarte des Tyrannen!«

Auch der junge Bürgersoldat Silvain Parmentier fiel in diesen Gesang ein. Aus welchem Grunde, das wußte er selbst nicht. Aber er sang: Das Lied der dem Tode Geweihten, das Freiheitslied Frankreichs riß ihn einfach mit sich fort.

Schwächer und schwächer wurde der Gesang. Mit jedem Haupte, das fiel, verlor der Freiheit Chor eine Stimme. Und unentwegt taten der Henker und seine Gehilfen ihr Werk.

Die Reihen der Verurteilten zu Füßen des Schafotts lichteten sich.

Maschine und Gerüst flossen in Blut.

» Es lebe die Republik

»Es lebe die Freiheit!« »Nieder mit den Tyrannen!« ... brauste es wieder und wieder über den weiten Platz, und die Stimmen, die den Schwanengesang der Freiheit anstimmten, wurden schwächer und schwächer.

Nur ein mächtiger Baß tönte noch. Es war Vergniauds gewaltige Stimme, die die Bänke des Konvents und die Massen dieses Volkes so oft in flammende Begeisterung versetzt hatte. Sie war es, die hier an den Stufen des Blutgerüstes noch als letzte den Hymnus der Freiheit sang.

Wie ein Triumphator betrat er jetzt die Stufen, die zu der Guillotine hinaufführten.

Noch einmal dröhnte es aus seinem Munde:

»Es flattert rot zu unsern Häupten
Die Blutstandarte des Tyrannen!«

Dann warf er sich selbst in die Arme der Henkersknechte. Noch einmal blitzte das hochgezogene Beil, zum einundzwanzigsten Male in dieser Stunde ... und Vergniauds Denkerkopf fiel.

Da brach das Volk in rasenden Jubel aus.

Es war eine seltsame Ironie des Schicksals, daß man die Leiber der Enthaupteten in der gleichen Grube verscharrte, die vor langen Monden die Gebeine des Tyrannen aufgenommen hatte, gegen den sie als die ersten Sturm gelaufen.

Wie im Traum ging der junge Bürgersoldat Silvain Parmentier seines Weges. Er dachte nicht mehr an die, die am vergangenen Abend seine Geliebte geworden, nicht mehr an die Bürgerin Louise Marteau, nicht mehr an die Kameraden, nicht mehr an Vater Levoisin und dessen Café zu den Rutenbündeln. Ein abenteuerlicher Gedanke stieg in ihm auf, als er jetzt, von dem Revolutionsplatz kommend, sinnend durch die wie immer menschenüberfüllte Rue Saint Honoré schritt.

Es genügte nicht, wenn er als Bürgersoldat wie tausend andere der Sache der Freiheit diente, das war zu wenig. Das war nichts. Er hatte in diesen Tagen so viel von dem Wohlfahrtsausschuß gehört, so viel von dem Überwachungskomitee, das die Schuldigen ausfindig machte. Er war noch jung und gelehrig. Im Dienst des Komitees würde er dem Vaterland und der Sache der Freiheit, deren letzter Feind durch Henkershand verbluten mußte, besser dienen können. Das stand bei ihm fest. Wer wagte, gewann!

Schließlich war es das beste, er wandte sich direkt an Chaumette oder Hébert, er bot einem von diesen beiden Männern, die in der Stadtverwaltung von Paris saßen, seine Dienste an, oder er begab sich zu Fouquier Tinville. Der saß im Justizpalast. Der war dermaßen mit Arbeit überhäuft, daß er seine Mahlzeiten auf dem gleichen Tisch einnahm, auf dem er die Anklagen auf Tod und Leben abfaßte, daß er in seinem Arbeitszimmer auf einer Matratze schlief und überhaupt nicht mehr nach Hause ging.

Einem von diesen Männern mußte er seinen glühenden Wunsch vortragen, der Sache der Freiheit besser, als er das bisher vermocht hatte, dienen zu wollen.

In solchen Gedanken und Plänen schritt der junge Bürgersoldat Silvain Parmentier durch die Rue Saint Honoré und stand plötzlich wie durch einen Zufall wieder vor dem Café zu den Rutenbündeln.


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