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6. Kapitel: Das Mahābhārata

In den beiden vorangehenden Kapiteln haben wir ein Bild der geistigen Bewegungen zu gewinnen gesucht, die, nach den ältesten Upaniṣaden und meist irgendwie auf ihnen fußend, in der uns vorliegenden Literatur zutage treten: auf der einen Seite entwickelten jüngere Upaniṣaden ihre Sāṃkhyaideen und Yogabemühungen, auf der andern griff der Buddhismus die alten Probleme unter dem Antrieb eines der großen Genien der Menschheitsgeschichte mit neuer Energie auf, zog der Jinismus primitive Vorstellungen in den hellen Bereich der Reflexion. Auf alle diese Bewegungen folgt nun eine neue Periode altindischer Geistesproduktivität, die sich für uns in erster Linie in dem großen Epos Mahābhārata manifestiert.

Erzählungen eines gewaltigen Heldenkampfes zwischen nahverwandten Herrschergeschlechtern in der Gegend des heutigen Delhi sind ursprünglich an den Höfen der Könige vorgetragen worden; um diesen Kern haben sich dann Mythen, Legenden, moralische Erzählungen geschlossen, religiöse, philosophische, juristische Abhandlungen sind hinzugetreten, bis schließlich das Riesenwerk von etwa 100 000 Doppelversen in 18 Büchern fertig vorlag, eine Enzyklopädie alles dessen, was die brahmanischen Redaktoren irgendwie für wissenswert erachteten. Wann das Ganze diese Gestalt gewonnen hat, wissen wir nicht, aber wenn wir, um dem Leser irgendeinen Anhalt zu geben, auf die beiden Jahrhundertpaare vor und nach Christi Geburt hindeuten, dürfte die historische Wahrheit keinen erheblichen Schaden leiden, wenigstens nicht für die Stücke, die uns hier beschäftigen sollen.

Unter diesen Stücken ragt eines hervor sowohl durch seine Bedeutung für die indische Geistesgeschichte als auch durch die Verehrung, die es bis auf den heutigen Tag genossen hat: die Bhagavadgītā, d. h. der Gesang des Heiligen, oft kurzweg Gītā genannt, eine Belehrung voll poetischen Schwunges über Moral und Sāṃkhya-Yoga auf theistischer Grundlage. Bezeichnend für die künstlerische Unbekümmertheit um Natürlichkeit u. dgl. ist die Art, wie die enzyklopädischen Redaktoren die Gītā dem Heldenepos eingefügt haben: Die Schlachtreihen der feindlichen Heere stehen sich kampfbereit gegenüber, da fühlt der Königssohn Arjuna Gewissensbisse, als er sich gegenüber nächste Verwandte erblickt, die er nun töten soll. Die Bedenken des Zögernden sucht sein Vetter und Wagenlenker Kṛṣṇa durch drei Argumente zu entkräften: Im Sinne der Upaniṣaden (Kāṭhaka wird wörtlich zitiert) weist er ihn auf die Unsterblichkeit der Seele hin, für welche die Vernichtung des Leibes ohne Belang ist. Die Verwendung dieses metaphysischen Arguments, um die Verwandtentötung unerheblich erscheinen zu lassen, deutet schon darauf hin, daß hier ein dem Heldenepos fremder Gesichtspunkt hereingezogen ist. Denn dem Geiste eines solchen sind nur die beiden folgenden Argumente angemessen, welche dem Standpunkt der Kriegerkaste entsprechen: Kämpfen ist die dem Krieger ( kṣatriya) obliegende Pflicht ( svadharma). Bei ihrer Erfüllung winkt der Himmel als Belohnung, bei ihrer Vernachlässigung Schande und Spott. Mit der daran anschließenden Aufforderung zum Kampfe (2, 37) mag die ursprüngliche Fassung der Ermahnung geendet haben, deren Erfolg im Entschluß Arjunas, seine Skrupel zu überwinden, bestanden haben wird [R111]. Nun aber gleitet die Rede Kṛṣṇas in ein allgemeines Lehrgedicht über, das, mehrere hundert Verse umfassend, von der Situation der beiden Helden inmitten der angriffsbereiten Heere fast völlig absieht. Grundlage dieses Gedichts mag die Upaniṣad eines bestimmten religiösen Kreises gewesen sein, welche, in die dem Epos gewöhnliche Versform umgegossen, schlecht und recht der Haupterzählung dort eingefügt worden ist, wo ein gewisser vorhandener Ansatz (eben die kurzen Worte über Kriegerpflicht) Gelegenheit dazu bot. Vom Inhalt dieses Lehrgedichts soll nun ohne Rücksicht auf die schwimmende Anordnung der Gedanken des Originals kurz die Rede sein.

Im Vordergrunde der ersten Kapitel steht der ethische Grundsatz der Gītā: nicht Untätigkeit, sondern Handeln ist das Rechte, aber pflichtgemäß und nicht um des Lohnes willen soll man sich betätigen. Dieser Grundsatz ist von höchster Bedeutung für die ganze indische Ethik, denn er bringt eine neue Lösung des Problems, das sich aus dem Gegensatz der asketischen Moral und den Forderungen des praktischen Lebens ergeben hatte. In den Zeiten der Hymnen und Brāhmaṇas stand, wie wir sahen, als Lohn guter Werke der Himmel in Aussicht. Die Lehre von der Seelenwanderung änderte das Verhältnis zu den Werken grundsätzlich. Jede Tat hat ihre Folgen in einem neuen Leben. Aber das Ziel ist in den ältesten Upaniṣaden die Befreiung von den Wiedergeburten. Nun aber bindet jede, auch die gute Tat, und man will nicht mehr endlichen Lohn, sondern Erlösung. So gilt es, vom Werke schlechthin loszukommen. Das ist die Quelle des Weltfluchtgedankens. Wir sahen, wie der professionelle Weise, der Yogin, der Mönch ihn verwirklichte. Was aber blieb dem im Getriebe Stehenden zu tun? All die bettelnden Entsager bedurften ja als Basis ihrer Existenz eines Standes, dessen praktische Arbeit es ihm ermöglichte, mildtätige Gaben zu spenden. So hatte sich allmählich eine Stufenfolge von Lebensstadien ausgebildet, welche Fortpflanzung und äußere Arbeit zur Pflicht machten. Schüler muß man gewesen sein und Hausvater, und erst wenn man die Kinder seiner Kinder gesehen, soll nach den brahmanischen Gesetzbüchern das Hinausziehen gestattet sein. Jedes Stadium hat seine eigentümliche Pflichten ( dharma), jede Kaste hat die ihren. Die muß man ausführen, lehren die Gesetzbücher, und -- so fügt nun die Gītā hinzu -- die Taten, die man so pflichtgemäß, ohne auf Lohn zu rechnen, d. h. ohne Welthang tut, sind besser als Untätigkeit. Der leidenschaftslose Gleichmut, jenes gemeinindische Ideal, das auch im Buddhismus eine so große Rolle spielt, wird von dem im Leben Tätigen gefordert, und erreichbar ist dieser seelische Zustand durch philosophische Erkenntnis.

Dies also ist der Weg der Gītā, die sozial notwendige Aktivität mit den Forderungen der religiös-asketischen Passivität in Einklang zu bringen: Pflicht soll das Motiv des Handelns sein, nicht Lohnsucht. Damit ist gleichsam die weltflüchtige Gesinnung in das tätige Leben hineingezogen.

Diese Gedanken kehren auch an anderen Stellen des didaktischen Epos wieder. So finden wir in einer Reihe von Erzählungen des Mokṣadharma einen König, einen Händler, je selbst einen von Berufs wegen Tiere tötenden Jäger dank ihrer rechten Gesinnung als ethische Ideale gefeiert [R112]. Bis ins Bereich der Kaste reicht diese Betonung der Gesinnung, so daß man zu dem Satze gelangt, daß nicht Abstammung, Weihe usw. die Zugehörigkeit zu den oberen Kasten ausmache, sondern allein der moralische Wandel [R113]. Aber neben solchen Aeußerungen finden sich auch zahlreiche Stellen, in denen teils die guten Werke im altvedischen Sinne, teils die Weltflucht und Passivität gelehrt werden, was übrigens auch in der Gītā gelegentlich geschieht. Die Ethik des großen Epos bildet ebensowenig wie seine Philosophie ein festes System, vielmehr haben wir eine Sammlung heterogener Standpunkte in den verschiedensten Variationen vor uns und so freilich ein umfassendes Bild orthodox-brahmanischer, asketischer und populärer Auffassungen der altindischen Sozialethik [R114].

Schon in den ersten Gesängen der Gītā, die hauptsächlich ethischen Betrachtungen gewidmet sind, beginnt leise das theistische Motiv anzuklingen. Erst allmählich aber offenbart sich in den mittleren Gesängen der menschliche Held und Verwandte Arjunas, Kṛṣṇa, als der Allgott, bis es im elften Gesang zu einer gewaltigen Theophanie kommt. Daß dieser »Vāsudeva« genannte, hier mit Viṣṇu identifizierte Gott, als der sich Kṛṣṇa herausstellt, literarisch und inschriftlich früh als der Mittelpunkt eines monotheistischen Kreises im westlichen Indien bezeugt ist und daß diese »Bhāgavatas« genannten Gläubigen eben in der Gītā ihr ältestes uns bekanntes religiöses Werk besitzen, kann hier nur im Vorübergehen gesagt werden [R115]; auf den Charakter dieses Theismus aber, wie er uns in der Gītā entgegentritt, müssen wir einen Blick werfen.

Charakteristisch ist vor allem die Weitherzigkeit dieser Religion, die von dem Allgott selbst hier verkündet wird. Der Wert philosophischer Erkenntnis, von Weltflucht und Yoga wird nicht verkannt, all dies führt zum Heile, aber als leichtester und kürzester Weg empfiehlt sich das persönliche Verhältnis zu Gott, die Liebe ( bhakti), wie sie zwischen Sohn und Vater, zwischen der Geliebten und dem Liebenden empfunden wird. Diese Liebe wird dem Schlechtesten zur Rettung, wenn er sie auch nur in der Todesstunde empfindet. Der Gedanke der Bhakti hat von hier aus fortgewirkt, ihre Wärme ist in den Buddhismus eingezogen und hat ihn religiös tiefgehend geändert, sie hat im systematischen Vedānta Schule gemacht und daneben in unzähligen sektarischen Strömen die weiten Schichten des populären religiös-philosophischen Schrifttums befruchtet. Im Sinne solcher auf Gott allein konzentrierten liebenden Hingabe modifiziert sich der Pflichtgedanke beim Handeln: »Wer nur in Hinsicht auf mich handelt, wer sich mir ganz hingibt und mich liebt, frei von aller Anhänglichkeit (an die Welt) und ohne Feindschaft gegen irgendein Wesen, der gelangt zu mir« (11, 55).

In ähnlicher Weise werden die philosophischen Anschauungen der Zeit mit dem theistischen Element erfüllt und durchwoben. Es ist das Sāṃkhya, das wir aus den jüngeren Upaniṣaden kennen, welches neben Geist und Materie den Brahman-Gedanken beibehalten hat. So hat Gott zwei Naturen ( prakṛti), eine niedere und eine höhere (7, 4 f.). Die niedere sind die fünf Elemente (Erde, Wasser, Feuer, Luft, Aether) und die psychisch-kosmischen feinmateriellen Faktoren Manas, Buddhi, Ahaṃkāra, d. h. in dem poetisch verschwimmenden Stile der Gītā sowohl das Grobmaterielle und das Feinmaterielle des menschlichen Organismus als auch die materielle Welt überhaupt. Gottes höhere Natur aber ist die Seele ( jīva), der Träger des Alls, also einerseits der Puruṣa des Sāṃkhya, die individuelle Seele, andererseits gleichzeitig der Ātman der Upaniṣaden, welcher Individual- und Weltseele ist.

Denn der Gott ist allverbreitet, alles hat in ihm seinen Ursprung und seinen Vergang, alles ist in ihm, und doch ist er jenseits von allem. Schafft er nun diese Welt? Ja und nein. Vermöge seiner Natur ( prakṛti) schafft er sie, aber seine Natur ist eben die Prakṛti des Sāṃkhya, deren naturgesetzliche Umwandlungen alles Materielle darstellen, und so ist sein Schaffen im Grunde ein Geschehenlassen dessen, was geschehen muß (9, 8). Eine andere Stelle (14, 4 f.) stellt das Brahman im Sinne der causa materialis als den Mutterschoß aller Wesen dar, der von Gott als dem zeugenden Vater befruchtet wird. Dieser an alte, uns schon bekannte Vorstellungen anknüpfende Gedanke taucht naturgemäß auch in späteren populär-religiösen Werken immer wieder auf. Wieder eine andere Wendung (15, 16 f.) spricht von zwei Puruṣas -- der eine umfaßt alles Gewordene und heißt daher »vergänglich« (die Produkte der Prakṛti sind gemeint), der andere ist unveränderlich und unvergänglich (die Seele im Sāṃkhyasinne) --, während ein dritter, der höchste Puruṣa, der höchste Ātman, die Welt als ewiger Herrscher ( īśvara) durchdringt und erhält. Eine solche Zusammenordnung der drei Faktoren ist uns schon in der Śvetāśvatara-Upaniṣad entgegengetreten, sie findet sich auch an anderen Stellen des Epos und vielfach in den sektarischen (viṣṇuitischen und śivaitischen) Systemen der folgenden Zeiten.

Für die Geschichte des Sāṃkhya ist weiterhin eine Stelle (13, 5 fg.) von Interesse, in der -- wohl zum erstenmal für unsere Kenntnis -- die vierundzwanzig Prinzipien zusammengestellt werden, freilich ohne die ausdrückliche Nennung einer Zahl und vermehrt um eine Reihe fremder Faktoren. Wir haben da das Unentfaltete (d. h. die Urmaterie ohne Rücksicht auf ihre Evolutionen), Buddhi, Ahaṃkāra, die zweimal fünf sinnlichen Vermögen (Auge, Ohr usw. und Hände, Füße usw.) nebst dem inneren Sinn Manas und ihren fünf Objekten (Form oder Farbe, Ton usw.), sowie die großen Elemente (Erde, Wasser usw.); diese vierundzwanzig -- freilich in unsystematischer Reihenfolge und vermehrt um Begierde und Haß, Lust und Schmerz, das Körperaggregat, Bewußtsein und Ausdauer, so daß wir einunddreißig Faktoren erhalten -- werden zusammen als »das Feld« ( kṣetra) bezeichnet, und der Bewohner des Leibes heißt »der Kenner des Feldes« ( kṣetrajña). Beide, Prakṛti und Puruṣa, sind anfanglos; die Umwandlungen gehören der Prakṛti an, ebenso wie die drei Guṇas Sattva (das Helle, Freudige), Rajas (das Leidenschaftliche) und Tamas (das Starre). Nur die Prakṛti verursacht alles Geschehen, der Geist wohnt als tatenloser Zuschauer im Leibe, die Guṇas, die er genießt, bestimmen seine Neuverkörperungen. Auch hier geht daneben und damit verbunden die Idee des höchsten Brahman einher, für den kritischen Beschauer ein Widerspruch, doch eine natürliche Assoziation für den Gītāverfasser, der das Eingehen zu dem persönlichen Gott gern die Erreichung des Brahmanirvāṇa nennt. Im Lichte der jüngeren Upaniṣaden, deren Atmosphäre in so vieler Hinsicht der Gītā gleicht, muß man den »Gesang des Heiligen« betrachten, dann wird man nicht glauben mögen, daß die Brahman-Ātman-Idee einem ursprünglich theistischen Gedicht mit Sāṃkhya-Grundlage durch eine nachträgliche Ueberarbeitung künstlich aufgepfropft worden sei [R116]. Alles was groß und heilig und tief schien, ist in diesem hinreißenden Lied vereinigt worden, nicht um einer Philosophenschule als Lehrbuch zu dienen, sondern um das Gemüt weitester Kreise zu befriedigen. Die Tendenz, die scharfen Konturen verschwimmen zu lassen, alles Wertvolle zum Gemeinbesitz zu machen, ist ja von je, wie wir sahen, dem indischen Geiste eigentümlich gewesen; in den Hymnen des Ṛgveda, im großen Epos, in den späteren Kommentaren der metaphysischen Systeme finden sich Belege dafür.

Eigentümlich ist in der Gītā das uns bekannte Wort Yoga gebraucht. Namentlich in den ersten Gesängen hat es nicht den technischen Sinn, den wir aus den jüngeren Upaniṣaden kennen, sondern wird sehr allgemein im Sinne von Tätigkeit mit moralischer Schattierung verwendet. Erst allmählich kommt der spezielle technische Sinn zur Anwendung. Ganz ähnlich steht es mit dem Terminus Sāṃkhya, der anfangs meist in der ganz allgemeinen Bedeutung »Theorie« im Gegensatz zur »Praxis« (Yoga) gebraucht wird, um dann allmählich die Philosophie zu bezeichnen, die in der Gītā vorgetragen wird. So zeigt der Gebrauch der Begriffe Yoga und Sāṃkhya wiederum den populär-unsystematischen Standpunkt der Gītā.

Mit einem Worte soll zum Schluß noch auf eine interessante Einzelheit hingewiesen werden. Im letzten Gesange (18, 14) wird der Versuch unternommen, die Ursache für das Zustandekommen des menschlichen Handelns aufzuspüren. Der Körper, die Seele, die verschiedenen Sinnesorgane, die verschiedenen Arten der Betätigungen und das Schicksal werden in diesem Sinne aufgezählt. Hier haben wir einen schüchternen Anlauf zur Auseinanderlegung eines kausalen Vorgangs, wie es später in der Scholastik noch oft in sehr verschiedener Weise unternommen worden ist [R117].

Damit müssen wir unsere Gītābetrachtung als beendigt ansehen. Die Kürze des zur Verfügung stehenden Raumes ist hier besonders verhängnisvoll, da sich das Hin und Her der Gedanken, ihr Schweben zwischen verschiedenen Begriffen, nur durch eingehende Analyse des Einzelnen hinreichend deutlich machen läßt. Was aber hier dem historischen Betrachter Schwierigkeiten bereitet, hat gerade die Beliebtheit des Gedichts in Indien gefördert. Der Mann des praktischen Lebens, der an den vedischen Vorschriften Hängende, der zur Weltflucht Geneigte, der Dualist und der Monist -- sie alle finden in der Bhagavadgītā, was sie brauchen, verklärt durch die milde Wärme eines weitherzigen Theismus und vorgetragen in einfacher, zu Herzen gehender, poetischer Sprache.

Die Schwierigkeiten, welche die Gītā einer kurzen Darstellung ihrer Gedanken entgegensetzt, finden sich in noch höherem Grade bei den anderen philosophischen Teilen des Mahābhārata. Ihre Hauptmasse -- einige kleinere Stücke sind im dritten, fünften und vierzehnten Buche eingesprengt -- ist in einem Teil des zwölften Buches zusammengefaßt, welcher den Namen » Mokṣadharmaparvan«, d. h. Abschnitt über die Erlösungslehre, führt. In buntem Durcheinander werden hier in ungefähr 7500 Versen philosophische Erörterungen über Metaphysik, Psychologie, Ethik und Kosmologie in den verschiedensten Variationen von Männern vorgetragen, die weder rechte Dichter noch geschulte Denker sind. Sie bedienen sich dabei eines einfach gebauten Verses, der sich leicht dem Gedächtnis einprägt und dem Ausdruck nur geringen Zwang auferlegt. Trotzdem helfen sie sich noch vielfach mit unnützen Vokativen und abgegriffenen Beiwörtern, wenn ihnen gerade ein paar Silben fehlen, und scheuen sich nicht, gelegentlich gegen die Grammatik zu verstoßen. Diesem äußeren Stil entspricht der innere. Die Dialogform ist nur ganz äußerlich gewahrt, die Gedankenfolge entbehrt der festen Ordnung, Abschweifungen sind häufig, Angekündigtes wird nicht behandelt, manche Stücke erscheinen an verschiedenen Stellen in verschiedenen Redaktionen usw. [R118]. So trübe aber auch diese Quelle ist, so verdient sie doch unsere Aufmerksamkeit, denn sie zeigt uns, wenn auch wie durch einen Schleier, eine Fülle von Variationen der Gedanken, die wir in den systematischen Werken des Sāṃkhya, des Yoga und des Vedānta wiederfinden werden.

Das wichtige und schwere Problem dabei ist nun die Frage des Verhältnisses unserer Quelle zu jenen Systemen [R119]. Zwei Antworten sind es vor allem, welche die Forschung darauf gegeben hat: die Philosophie des Mahābhārata wird entweder als eine Uebergangsphilosophie oder als eine Mischphilosophie dargestellt. Wir müssen versuchen, den Inhalt dieser Schlagworte zu verstehen. Faßt man die epischen Philosopheme als einen Uebergang auf, so betrachtet man sie als eine Weiterentwicklung der in den jüngeren Upaniṣaden enthaltenen Lehren und als eine Vorbereitung zu den Systemen, die sich aus dem Durcheinander des epischen Denkens kristallisiert haben sollen. In dieser Anschauung ist Aufzeigbares und Hypothetisches miteinander verbunden. Der Zusammenhang der epischen Gedankengänge mit der Gedankenentwicklung, die wir in den jüngeren Upaniṣaden kennen gelernt haben, ist an vielen Stellen nachweisbar; direkte Anlehnungen, manchmal in Zitatenform, besonders an Kāṭhaka in der Gītā, an Maitrāyaṇa an anderen Stellen des Epos sind belegbar, entferntere Zusammenhänge mit älteren Upaniṣadgedanken vielfach deutlich. Natürlich erkennt die Uebergangstheorie die Fortgeschrittenheit der epischen Lehren gegenüber den Upaniṣaden an, sollen sie doch zu den fixierten Systemen führen. Hier setzt nun die Hypothese ein. Einmal werden die Systeme als zeitlich nachfolgend angenommen, eine Annahme, die angesichts unserer Unsicherheit in der Datierung sowohl der systematischen Grundwerke als auch der Mokṣadharmatexte eine sehr schwache Grundlage hat; ferner aber wird vorausgesetzt, daß die offenbar wenig geschulten Wortführer des Epos den Boden für die Logik der systematischen Denker geschaffen haben. Das dünkt mir wenig wahrscheinlich und wird auch dem unbefangenen Leser der »Vier philosophischen Texte des Mahābhārata« (vgl. Bibl. Wegw.) kaum einleuchten. Hier tritt der Gedanke einer Mischphilosophie in seine Rechte. Nach dieser Theorie stehen die fertigen Systeme gleichsam hinter den epischen Darstellern, die aus diesem gegebenen Material eklektisch nach Gutdünken geschöpft hätten. Damit ist dem sichtlich sekundären Charakter der Mokṣadharmastücke gebührend Rechnung getragen, aber eine Schwäche liegt in der Annahme, daß gerade jene Sāṃkhyaform, die wir aus der Kārikā (vgl. unten Kap. 8) kennen, jene Yogaform, die uns Patañjali überliefert, jener Vedānta, den Bādarāyaṇa zusammengefaßt hat (vgl. unten Kap. 10), die Quellen für die epischen Darstellungen gebildet hätten. Denn diese systematischen Werke sind erst nachträglich zur Dignität von Grundwerken der Systeme herangewachsen, in Wirklichkeit sind sie nur weitere Etappen auf einem schon länger beschrittenen Wege, wie sie selbst ausdrücklich bezeugen. Dieser Weg wird weder ein geradliniger noch ein einfacher gewesen sein, vielmehr müssen wir uns vorstellen, daß mannigfache Schulmeinungen des Sāṃkhya, Yoga, Vedānta nebeneinander bestanden, bis sich durch innere Kraft oder äußere historische Umstände eine bestimmte Richtung festsetzen konnte, die für unsern Blick nun Vertreterin des betreffenden Systems ist.

Ich möchte daher einen vermittelnden Weg zwischen den beiden Theorien für den wahrscheinlichsten halten. Der Zusammenhang der epischen Philosopheme mit der Gedankenwelt der Upaniṣaden ist unzweifelhaft. Aber die epischen Denker sind nicht originelle Köpfe, sondern Popularisierer von Ideen, deren vollen Gehalt sie oft nicht ganz erkennen. Weil sie aber einen sekundären Eindruck machen, setzen sie etwas Primäres voraus. Dies Primäre sind örtlich und zeitlich verschiedene Philosophenschulen des Sāṃkhya, des Yoga, des Vedānta, die in vielem differiert haben werden, ehe sich allmählich eine klassische Form bei jedem festsetzte. Von diesen Schulen sind unsere epischen Stücke entfernte Wirkungen, daher muß ihr Zeugnis in jedem einzelnen Falle vorsichtig abgewogen werden. Viel Einzelnes wird dem Einfall des jeweiligen Textverfassers zugeschrieben werden müssen, anderes aber wird doch Rückschlüsse auf bestehende strengere Schulen im Hintergrunde gestatten. Die Rekonstruktion der systematischen Lehren, die im Epos nur unvollkommen zum Ausdruck kommen, wäre also das ideale Ziel. Aber eine solche Untersuchung kann natürlich im Rahmen dieses Buches nicht unternommen werden; wir begnügen uns mit dem Versuch, einen Eindruck der schwer darstellbaren Schwankungen zu geben, indem wir die verschiedenen Stellungen zu den Hauptpunkten im großen Durchschnitt kurz darlegen.

Die Sāṃkhyaprinzipien, die wir in Kāṭhaka und Śvetāśvatara in ihrem allmählichen Aufkommen und in Maitrāyaṇa in einiger Vollständigkeit kennengelernt haben, bilden ein natürliches Gerüst für unsere Skizze, denn sie sind das systematische Rückgrat der meisten metaphysisch-psychologischen Spekulationen im Epos. Es wird bei Benutzung der Sāṃkhyareihe praktisch sein, für den Augenblick die beiden obersten Prinzipien (Materie und Geist) zurückzustellen, weil gerade ihr Verhältnis besonders wichtige Varianten zeigt.

Das erste Produkt der Prakṛti war, wie wir sahen, die Buddhi. Sie ist es auch hier und stellt auch hier das obere geistige Vermögen dar, welches den von den untergeordneten Organen gelieferten Wahrnehmungsstoff zur Ausübung der Willensakte, zur Entscheidung und Auswahl benutzt. Diese psychologische Seite der Buddhi steht im Epos durchaus im Vordergrunde, während ihre kosmische Bedeutung eine sehr geringe Rolle spielt. Das kosmogonische Interesse ist hier nicht stark, es ist zurückgedrängt durch die Psychologie, die ihrerseits hauptsächlich aus ethisch-metaphysischen Gründen behandelt wird. Immerhin ist in Weltschöpfungsskizzen der Buddhi ihr Platz nach der Urmaterie als deren erste Entfaltung gesichert; in diesem Sinne heißt sie oft »der Große« oder »der große Ātman«, eine Bezeichnung, deren Ursprung wir oben kennengelernt haben.

Auf die Buddhi folgt nun als weitere Emanation, wie wir ebenfalls gesehen haben, der Ahaṃkāra, kosmisch das Prinzip der Individuation, in dieser Eigenschaft wenig hervortretend, psychologisch aber die Quelle für den Ichwahn, dessen ethische Bedeutung sehr groß ist. Der Ahaṃkāra hat ja in psychologischer Hinsicht zwei Seiten: Einmal eine sozusagen systematische, die im Sāṃkhya auf die Wesensverschiedenheit von Geist und Materie begründet ist. In diesem Sinne lernten wir aus Maitrāyaṇa, daß er den Puruṣa veranlaßt, die von dem aus der Materie stammenden psychischen und körperlichen Apparat ausgeführten Taten für die seinen zu halten, sich mit dem ihm wesensfremden Materiellen fälschlich zu identifizieren und so der Bindung anheimzufallen, statt sich durch Erkenntnis abzusondern und zu befreien. Andererseits hat der Ahaṃkāra aber auch eine allgemeine, von systematischen Grundlagen unabhängige Bedeutung als der Drang des Menschen sein gegebenes Ich zu betonen, statt an Höheres oder Bleibenderes zu denken. Diese Bedeutung des Ahaṃkāra, die man wohl wegen ihrer Einfachheit und wegen der Etymologie des Wortes (»Ich-Machen«) als die ursprüngliche ansehen darf, fanden wir im Buddhismus. Beide Seiten treten im Epos hervor, doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Ahaṃkāra keinen so festen Platz in der Evolutionsreihe hat wie die anderen Prinzipien. Er wird manchmal ausgelassen, wo er stehen müßte, tritt dafür aber des öfteren in mehr ethischen Zusammenhängen auf, den Willen des Menschen zum sinnlichen Leben darstellend.

Aus dem Ahaṃkāra entwickeln sich nun meistens die übrigen 22 Prinzipien, und zwar einerseits die fünf großen Elemente ( mahābhūtāni) mit ihren Objekten, andererseits die zehn Sinnesorgane mit ihrer Zentrale, dem Manas. Hierbei findet gewöhnlich eine enge Entsprechung der Elemente, der Objekte und der der Wahrnehmung dienenden Sinnesorgane statt:

 

Große oder grobe Elemente >Qualitäten der Elemente oder Objekte Sinnesfunktionen oder Organe
>Aether
Luft (Wind)
Feuer
Wasser
Erde
Ton
Tastempfindung
Farbe oder Form
Geschmack
Geruch
Gehörsinn oder Ohr
Tastsinn oder Haut
Gesichtsinn oder Auge
Geschmacksinn oder Zunge
Geruchsinn oder Nase

 

Aus den fünf Elementen ist alles Materielle gebildet; sie heißen »groß«, weil sie in verschiedenen Mischungen alles ausmachen; sie heißen »grob« ( sthūla) im Gegensatz zu ihren feinen Qualitäten, Ton usw. Diese sind einerseits »Qualitäten« ( guṇa) der Elemente; als solche charakterisieren sie die Elemente und heißen deshalb ihre »Besonderheiten« ( viśeṣa). Andererseits sind diese »Besonderheiten« dasjenige, was der wahrnehmende Mensch an den Elementen erfaßt; in diesem Sinne sind Ton usw. die »Objekte« ( viṣaya, artha) der Sinne. Diese Sinne werden nun bald mit Ausdrücken, welche die Funktion bezeichnen, bald mit Wörtern, die auf das körperliche Organ gehen, benannt, und es ist mir keine Stelle des Epos bekannt, die den Begriff indriya (Sinnesorgan) klar definiert. Offenbar empfand man hier kein Problem und legte auf den Unterschied von Funktion und Organ kein Gewicht. In den klassischen Systemen hat man sich ausdrücklich für den Begriff der Funktionen entschieden, obwohl der Wortgebrauch auch dort nicht streng ist. Daß diese Auffassung auch schon in den hinter dem populären Epos stehenden Philosophenschulen galt, ist wahrscheinlich, zumal auch das Epos den Eindruck macht, den Funktionsbegriff zu bevorzugen.

Bei einem anderen Problem der Divergenz zwischen den klassischen und den epischen Darstellungen vermögen wir Bestimmteres zu sagen. Das klassische System läßt aus dem Ahaṃkāra zuerst feine Elemente ( tanmātra) hervorgehen, aus denen sich dann die groben Elemente entwickeln; erstere heißen dort aviśeṣa (ohne Besonderheiten), letztere viśeṣa (Besonderheiten). Das Mahābhārata dagegen kennt im allgemeinen den Begriff jener Feinstoffe nicht, sondern läßt, wie dargelegt, die großen Elemente direkt aus dem Ahaṃkāra hervorgehen, und aus diesen die Reihe Ton usw., welche den Namen »Besonderheiten« ( viśeṣa) tragen. Eine Bestätigung, daß diese epische Darstellung in weiten Kreisen der Zeit als die zutreffende galt, gewinnen wir aus einem Werke des bedeutenden buddhistischen Dichters Aśvaghoṣa (1. Jahrh. n. Chr.) [R120]. In einer poetischen Darstellung des Buddhalebens beschreibt er den Besuch des Bodhisattva bei einem Meister des Sāṃkhya-Yoga [R121], in dessen kurzer Darstellung des Sāṃkhyasystems offenbar der Standpunkt des Mahābhārata, nicht der der Kārikā vertreten wird [R122]. Eine weitere Parallele in dieser Hinsicht bietet das erste Kapitel des Śarīrasthāna der Carakasaṃhitā. Dieses medizinische Lehrbuch will dem Arzte auch eine philosophische Grundlage geben und trägt zu diesem Zwecke die Skizze eines philosophischen Systems vor, welches in Prinzip und Ausdruck gewissen Mokṣadharmalehren sehr nahe steht [R123]. Auch hier fehlt der Tanmātrabegriff. Andererseits benutzen Maitrāyaṇa-Upaniṣad (3, 2) und Praśna-Upaniṣad (4,8) den Tanmātrabegriff, der damit also ebenfalls für die Zeit des Epos gesichert ist. Diese Verhältnisse zeigen an einem einzelnen Problem die Wahrscheinlichkeit der oben dargelegten Hypothese von dem Vorhandensein divergierender Philosophenschulen in vorklassischer Zeit.

Neben den genannten fünf Sinnesvermögen oder Sinnesorganen, die der Erkenntnis dienen, werden von den zu Aufzählungen so geneigten Poeten regelmäßig noch fünf Tätigkeitsorgane genannt: Hände, Füße, Zeugungsorgan, Entleerungsorgan und Rede; auch werden den zehn Sinnesorganen gelegentlich noch entsprechende Schutzgottheiten zur Seite gestellt.

Ein wichtiges Organ bleibt noch zur Betrachtung übrig, welches regelmäßig neben den fünf Erkenntnissinnen erscheint: das Manas. Seiner Funktion nach gehört es in die Nähe der Buddhi, denn es hat das von den Sinnen gelieferte Material der Buddhi vorzulegen, so daß man es mit Recht den »Zentralsinn« genannt hat. Aus diesem Grunde hat es einmal in der Gītā (7, 4) seinen Platz in der Aufzählung direkt neben Buddhi. Insofern es ein höheres Vermögen ist, gehört es jedenfalls mit Buddhi und Ahaṃkāra zusammen, mit denen es das sog. »Innenorgan« bildet, welches der Yoga gern »Citta« nennt; weit häufiger aber wird das Manas mit den Sinnen zusammen gruppiert. Ist so die allgemeine Funktion des Manas als Zentralsinn und Vermittler zwischen Buddhi und Erkenntnisorganen bei der Wahrnehmung und zwischen Buddhi und Tätigkeitsorganen beim Handeln hinlänglich deutlich, so herrscht hinsichtlich seiner Funktionen im einzelnen eine ähnliche Unsicherheit wie bei seiner Placierung in der Evolutionsreihe. Ob diese Verschiedenheiten bestimmten Schulen oder der mangelnden Disziplin der einzelnen Verfasser zuzuschreiben sind, läßt sich nicht sagen.

Die 23 Prinzipien der Sāṃkhyareihe, wie wir sie soeben unter vorläufiger Weglassung des 24. und 25. Prinzips (Prakṛti und Puruṣa) im Fluge betrachtet haben (nämlich Buddhi, Ahaṃkāra, fünf große Elemente mit fünf Qualitäten, zehn Sinnesorgane nebst Manas) bilden für eine große Anzahl von Stücken das gegebene Gerüst. Um aber von dem Charakter der im Epos zu Worte kommenden Lehren einen einigermaßen adäquaten Begriff zu geben, müssen wir noch einen schnellen Blick auf die mannigfachen Variationen werfen, denen die Prinzipienaufstellung unterworfen ist. Kleinere Abweichungen bestehen darin, daß Begriffe, die eigentlich unter eines der Hauptprinzipien gehören, von ihnen absplittern und selbständig in der Reihe auftreten. So finden wir neben der Buddhi einmal das Wissen ( jñāna) als besonderen Faktor, oder der zweite Name der Buddhi »der Große« ( mahān) tritt selbständig neben ihr auf, entweder mit dem Gedanken an die Seele im Körper ( mahān ātmā) oder mit Anspielung auf den Prāṇa; neben dem Ahaṃkāra taucht gelegentlich selbständig seine Funktion auf, der Wahn ( abhimāna); zwischen Sinne und Manas tritt die Wahrnehmung (citta); neben die Tatorgane die Kraft ( bala) u. a. m. [R124]. Größer werden die Abweichungen vom Grundschema, wenn der Kreis der einbezogenen Begriffe sich ausdehnt. Ein Beispiel dafür haben wir in der Gītā kennengelernt: zu den 24 Prinzipien treten dort sechs andere Faktoren, welche zusammen das »Feld« ausmachen, dem als 31. der »Kenner des Feldes« gegenübersteht. Offenbar ist hier eine Vervollständigung des Sāṃkhyaschemas angestrebt, man hängt an, was zu fehlen scheint. Aber auch kühneren Verbesserungsversuchen begegnen wir an einigen Stellen des Mokṣadharma, die Ordnung des Schemas wird verlassen. So lesen wir (320, 95 f.), daß der Leib 30 Teile habe, nämlich: 1-10 die Sinne und ihre Qualitäten, 11 Manas, 12 Buddhi, 13 der gute Guṇa Sattva, 14 Ahaṃkāra, 15 die Gesamtheit der Summe der einzelnen Teile, 16-18 eine Art Aggregat, in welchem die Urnatur und die Einzelnatur befaßt sind, 19 die Vereinigung der Gegensätze (von Lust und Leid, Alter und Tod usw.), 20 die Zeit, 21-25 die großen Elemente, 26-27 das Wesen von Sein und Nichtsein, 28-30 der moralische Existenzgrund, die Zeugung und die Kraft. -- Eine andere beliebte Zahl ist 17, und Hopkins hat gezeigt, wie verschieden sie ausgefüllt wird; hier nur ein Beispiel (275, 28): die 8 Erkenntnissinne (Wahrnehmung, Summe der fünf Sinne, Manas, Buddhi), die 6 Tatsinne (die oben genannten nebst Kraft) und die 3 Guṇas machen 17, und die ewige Seele ist der 18. usw. Diese Beispiele zu vermehren wäre nur zweckmäßig, wenn der Raum ein näheres Eingehen auf ihren Zusammenhang untereinander und mit dem Hauptschema zuließe. So begnügen wir uns mit diesen Andeutungen, die zeigen sollen, in welcher Art und Richtung die systematischen Anschauungen im Epos variiert werden.

Zwei Faktorengruppen haben in der regelmäßigen Sāṃkhyareihe keinen Platz, wenn sie auch bei den Variationen gelegentlich ganz oder teilweise hinzugezogen werden: die drei Guṇas und die fünf Prāṇas.

Die drei Guṇas mit ihren Namen Sattva, Rajas, Tamas sind uns schon in den jüngeren Upaniṣaden als die Konstituenten der Prakṛti begegnet. In der Frühzeit freilich, d. h. in Kāṭhaka und im Buddhismus, werden sie nicht erwähnt, und es bleibt merkwürdig, daß sie auch in Aśvaghoṣas Darstellung der Sāṃkhyalehre nicht figurieren, während wir andererseits in dem sehr alten Śvetaketu-Abschnitt der Chāndogya-Upaniṣad eine der Grundlagen ihrer Konzeption erkennen konnten. Im Mahābhārata spielen sie eine große Rolle. Sie bilden hier die Prakṛti oder stammen aus ihr. Die Art, wie die objektive Welt auf den Menschen wirkt, hat in den drei Guṇas ihren Grund: Sattva ist das Erfreuliche, Rajas das Aktive, Tamas das Starre. Subjektiv angesehen stellen sie die moralischen Charaktere der unerlösten Menschen dar. Die Leidenschaft des Rajas und die Dumpfheit des Tamas sind immer Erlösungshindernisse, während das helle, freudige, dem Geistigen zugewandte Sattva oft nicht als ein Hindernis angesehen wird, obgleich es konsequenterweise als Repräsentant der Prakṛti auch abgeschüttelt werden muß. Die charakteristischen Tendenzen jedes Guṇas werden natürlich oft weiter analysiert, wodurch sich die verschiedensten Eigenschaftsreihen für die aufzählungsfreudigen Poeten ergeben. Der alte Farbencharakter der Guṇas (vgl. die weiß-rot-schwarze Ziege, oben Kap. 4) tritt im Epos wenig hervor, und auch sonst ist die symbolische Verwendung von Farben nicht allzu häufig. Gelegentlich werden den vier Kasten im Hinblick auf ihren absteigenden Wert die Farben Weiß, Rot, Gelb, Schwarz beigelegt. Einmal hören wir auch von einer seelischen Farbenskala, welche von Schwarz beginnend über Grau, Blau, Rot, Gelb bis zu Weiß als der besten Farbe reicht. Der Weg der Seele durch die Weiten ihrer dann ausführlich beschriebenen Wanderung ist durch ihre jeweilige Farbe bestimmt, und diese wiederum durch die Zeit, d. h. durch die moralische Vergangenheit. Man wird dabei an die im Jinismus gelehrte Leśyatheorie (vgl. Kap. 5) denken dürfen, die auch dem Makkhali Gosāla zugeschrieben wird.

In weit höheres Altertum als die Guṇas reichen die ausführlichen und verbreiteten Spekulationen über den Prāṇa (Hauch, Atem) zurück. Wir begegneten dem Prāṇa schon in den Brāhmaṇatexten in Konkurrenz mit dem Ātman um die Stellung als Zentralsymbol für die Wesenheit des Menschen. Die fünf Prāṇas spielen ebenfalls schon dort, auch zu mystischen Opferdeutungen verwendet [R125], ihre Rolle als die Winde des Körpers, welche die treibenden Kräfte des physiologischen Lebensprozesses darstellen. In diesem physiologischen Sinne sind sie den Mokṣadharmaverfassern vor allem lebendig. Doch finden sie sich auch gelegentlich (Anugītā) in alter opfersymbolischer Verwendung, und auch die Vorstellung des Prāṇa als Zentralsymbol kennt unser Epos, wenn es an zwei parallelen Stellen im Mokṣadharma und im dritten Buche in Anlehnung an Maitrāyaṇa [R126] den Prāṇa mit Puruṣa, Manas, Buddhi usw. identifiziert. Die übliche Zahl dieser Lebenshauche ist fünf, doch begegnen auch einzelne Stellen, die von zehn Prāṇas reden, ohne jedoch die Glieder der zweiten Fünferreihe mit ihren späteren Namen zu bezeichnen. Daß gelegentlich bei der Beschreibung des menschlichen Wesens auch zwei oder sieben aufgezählt werden, ist im Epos nicht überraschend. Neben den genannten Prāṇatheorien steht natürlich die Behandlung des Atems in der Yogapraxis, einerseits die Regulierung des Ein- und Ausatmens, andererseits die Benutzung der Atemkräfte im Zusammenhang mit dem dem Haṭhayoga eigentümlichen System der Körperkanäle.

Wir wenden uns nun zu den beiden obersten Faktoren der Sāṃkhyareihe, welche als 24. und 25. Prinzip die besprochenen 23 Prinzipien krönen. Bei all den mannigfachen Variationen, welche uns die Mokṣadharmastücke hinsichtlich des Verhältnisses von Geist und Materie zeigen, lassen sich doch gewisse Grenzen erkennen, die nicht überschritten werden: Die Materie als solche wird niemals als eine Illusion angesehen, wenigstens nicht in dem erkenntnistheoretisch-metaphysischen Sinne, daß ihr keine Realität zustehe und die Realität allein dem geistigen Absolutum zukomme, wie wir es später in der streng monistischen Richtung des Vedānta kennenlernen werden. Wenn die Materie und ihre Produkte gelegentlich als Illusion bezeichnet werden, so ist das ethisch gemeint, d. h. die Seele läßt sich über ihre wahre Natur täuschen und hält das Materielle für ihr eigenes Wesen. Aber auch die Vedānta-Anschauung vom Brahman als causa materialis wird im Mokṣadharma nicht ernstlich vertreten, obwohl natürlich gelegentlich ein diesbezüglicher Ausspruch unterläuft, was sich aus der Bekanntschaft mit der Upaniṣadphraseologie leicht erklärt, während die Dinge in der Bhagavadgītā und im Sanatsujātaparvan (5. Buch) anders liegen.

Im Mokṣadharma haben wir also weder Māyālehre noch Brahman als Weltstoff, im übrigen aber eine reiche Mannigfaltigkeit von Anschauungen über Materie, Geist und ihr Verhältnis zueinander. Diese nebeneinanderstehenden Anschauungen aber so zu ordnen, daß sie eine Entwicklungsreihe vom Standpunkt der älteren Upaniṣaden zu einer immer klareren Sāṃkhyalehre darstellen, scheint mir eine willkürliche, durch die Sachlage nicht gerechtfertigte Operation zugunsten der Uebergangshypothese.

Eine große Anzahl von Stellen betont den Gegensatz von Puruṣa und Prakṛti. Die ungeistige Urmaterie läßt ihre an sich ungeistigen Evolutionen aus sich hervorgehen, und die Seele steht daneben und beleuchtet sie, d. h. erfüllt sie mit Geist. Diese Grundauffassung ist nun vielfach abgestuft: bald ist die Seele vollkommen unbeteiligt und die Spendung des geistigen Lichtes ist das Einzige, was sie mit dem Prozeß zu tun hat; bald ist sie eine Art von Aufseher, der das psychische Geschehen entweder nur beaufsichtigt oder doch auch in gewissem Sinne lenkt und bestimmt. Man sieht wohl, wie die künstliche Lehre von der absoluten Unbeteiligtheit des Puruṣa den Verfassern vor Augen steht und wie es ihnen doch schwer wird, daran festzuhalten, daß Buddhi (Vernunft) und Manas (Denkorgan) als Abkömmlinge der Prakṛti eigentlich feinmateriell und ungeistig sind. Die völlige Verschiedenheit des materiellen und des geistigen Prinzips ist ihnen dagegen durchaus natürlich. Hübsche Bilder illustrieren den Gegensatz: wie die Feigwespe in der Feige, wie der Fisch im Wasser usw. wohnt der Puruṣa in der Prakṛti. In diesem Sinne wird es abgelehnt, die Verbindung von Puruṣa und Prakṛti der Paarung von Mann und Weib zu vergleichen, denn das würde ja gemeinsame Produktion des Materiellen bedeuten, aber wie könnte dem Organlosen, Samenlosen, Substanzlosen, wie können diesem großen Ātman Eigenschaften zugeschrieben werden, da er doch eigenschaftslos ist! Daß also die Prakṛti den ganzen kosmisch-psychischen Apparat aus sich hervorgehen läßt, ist im allgemeinen eine feststehende Tatsache, aber gelegentlich nimmt man Anstoß an dieser Schaffenstätigkeit der ungeistigen Materie und stellt ethische Faktoren (die Begierde, tarṣa, und den Egoismus, ahaṃkāra) als die Anreger dieses Prozesses hin, während die Zeit ( kāla) zwischen der nichterkennenden Ursache ( prakṛti) und den nichterkennenden Wirkungen (den Evolutionen) vermittelt. Immerhin sind Ueberlegungen dieser Art recht selten, im allgemeinen begnügt man sich mit Aufzählungen, welche die Sāṃkhyareihe schematisch wiedergeben, ohne mehr als das ganz Uebliche über den näheren Sinn und Zusammenhang mitzuteilen, denn das Interesse an Ethik und Erlösung steht im Vordergrunde.

Viel variabler als das Verhältnis der Seele zur Materie ist die Stellung der Seele selbst. Oefters wird der Element-Ātman ( bhūtātman) von dem höheren absoluten unterschieden (vgl. Maitrāyaṇa); es lag ja sehr nahe, den verstrickten und den erlösten, absoluten Puruṣa mit zwei verschiedenen Namen zu belegen. Dann aber wird der Seele im Körper auch die psychische Aktivität übertragen, so daß die Scheidung der Funktionen von Prakṛti (Tätigkeit) und Puruṣa (Geistigmachung) gefährdet ist. Der Ausweg aus dieser Gefahr wird dadurch gefunden, daß man die verkörperte Seele zusammen mit Prakṛti und ihren Umwandlungen dem reinen Geist gegenüberstellt. Das war ja in alten Lehren fundiert, wo das Brahman, über den individuellen Seelen und ihnen wesensverwandt, das Ziel des Verkörperten bildete. In diesem Sinne wird gelegentlich von dem, was höher als Prakṛti und Puruṣa ist, gesprochen. Dies Höhere zeigt dann nicht selten die Tendenz, als ein persönlicher Gott, z. B. Viṣṇu oder Nārāyaṇa, begriffen zu werden, wobei dann natürlich der Gedanke nicht fehlt, daß der Gott die Materie schafft. Diese Zusammenhänge führen abseits vom philosophischen Thema ins Gebiet mythischer Kosmogonie und stehen dann in Parallele zu dem an alte Brāhmaṇaideen anknüpfenden Schöpfungsbericht, der das Gesetzbuch des Manu einleitet. Andererseits finden sich auch Wendungen, in denen der Gottesname mehr äußerliche Dekoration bleibt, tatsächlich aber der Begriff des reinen Geistes im Sinne der Sāṃkhyaphilosophie erhalten ist. In solchen Fällen hat man es wohl als Schwierigkeit empfunden, daß innerhalb der 25 Prinzipien nur vom Puruṣa schlechthin die Rede war, und so finden wir neben dem 25. Prinzip, das man nun als die gebundene Seele ansieht, ein 26., welches die absolute Seele ist. Die Forschung pflegt diesen 26. dem Yoga zuzurechnen. Nun ist nicht zu leugnen, daß manchmal, aber sehr selten, in unsern Texten der Yoga mit der Gottesvorstellung ( īśvara) in Verbindung gebracht ist; im allgemeinen aber trifft das nicht zu.

Ueber das Verhältnis von Sāṃkhya und Yoga wird im Mokṣadharma öfter gesprochen. Die beiden werden als zwei uralte Systeme bezeichnet, die im Grunde eins seien und nur in der Methode verschieden. Wir können das dahin präzisieren, daß das Sāṃkhya ein philosophisches System ist, welches das Ziel der Erlösung von der Seelenwanderung durch Erkenntnis des Weltaufbaus im Lichte der grundlegenden Verschiedenheit von Seele und Materie anstrebt, während der Yoga eine Methode der Versenkung und der praktischen Abwendung von dem Nichtgeistigen ist. Diese methodische Verschiedenheit, welche eine gegenseitige Ergänzung natürlich macht, ist zweifellos der grundlegende Gesichtspunkt unserer Texte hinsichtlich des Verhältnisses von Sāṃkhya und Yoga. Dagegen tritt die Antithese Atheismus-Theismus gänzlich in den Hintergrund. Der Gottesgedanke stammt offenbar nicht aus einer bestimmten Philosophenschule, denn in diesen macht er durchgehends den Eindruck einer den Grundplan mehr oder minder störenden Konzession, vielmehr strömt er aus den Tiefen des gesamten Volkstums in die philosophischen Stücke des Epos und erfüllt sie teils innerlich, wie wir es in der Gītā gesehen haben, teils scheint er nur äußerlich hinzugefügt, ja manchmal geradezu nachträglich durch Einschiebung eines Verses hineingezwängt.

Bei aller Buntheit der Seelenauffassung, die wir angedeutet haben, steht unsern Texten doch der Seelenbegriff als solcher aufs sicherste fest. Man verteidigt ihn energisch gegen die, welche ihn leugnen wollen. Eine solche Widerlegung gewährt uns einen Einblick in die Argumentation der Materialisten [R127]: Die Beobachtung zeige schon beim Sterben, daß es nichts Höheres als den Körper gibt. Der Ātman, d. h. das Selbst sei durchaus körperlich. Der Tod des Selbstes ist sein Aufhören, wie ja Leiden, Alter und Krankheit schon teilweiser Tod sind, da sie das Selbst nur in geringerem Maße als jener negieren. Wollte man aber behaupten, die empirisch nicht beweisbare Seele existiere doch, so verläßt man den Boden vernünftiger Argumentation, denn die sinnliche Wahrnehmung ist die Grundlage jedes Denkergebnisses und jeder Tradition, und keins von beiden ist von Gewicht, wenn es der Wahrnehmung widerstreitet. Also fort mit den Schlußfolgerungen! So gibt es also nach der Lehre der Nāstikas, d. h. derjenigen, welche nāsti »es ist nicht« sagen, keinen Unterschied zwischen Seele und Körper.

In diesen Ausführungen wird also von den Mitteln zu richtiger Erkenntnis nur die sinnliche Wahrnehmung ( pratyakşa) als maßgebend anerkannt, während Folgerung oder Denkergebnis ( anumāna, kŗtānta) und Ueberlieferung ( āgama, aitihya) keine selbständige Geltung beanspruchen können. Dieser Standpunkt wird uns in einer zusammenfassenden Darstellung der philosophischen Systeme aus dem 14. Jahrhundert (Sarvadarśanasaṃgraha) als der materialistische bestätigt. Zugleich zeigt uns die Stelle, daß die Erkenntnismittel, welche im Gesichtskreis der epischen Denker lagen, nach Zahl und Art mit den im klassischen Sāṃkhya anerkannten übereinstimmen. Aehnlich wie hier ist in dem zeitlich nahestehenden Gesetzbuch des Manu (12, 105) von Wahrnehmung, Schlußfolgerung und Ueberlieferung als der Dreiheit die Rede, die der Brahmane kennen soll.

Nach Widerlegung dieser Materialisten, die eine vom Körper unabhängige Seele leugnen und das Seelische als Funktion des Körpers erklären, wendet sich unser Stück gegen andere Leugner des brahmanischen Seelenbegriffs. Nun ist zwar auch eine materialistische Richtung bekannt, welche die Seele im Körper nicht leugnet und nur ihr Fortleben nach dem Tode bestreitet [R128]; der Kommentator unserer Stelle hat aber vielleicht recht, wenn er sie auf die Buddhisten bezieht, da mit den Begriffen Nichtwissen ( avidyā), Durst ( tṛṣṇā) und Tat ( karman) operiert wird. Jedenfalls wird auch diese Meinung, daß die Seele nicht ewig sei, auf Grund des bekannten Arguments bekämpft, daß damit die aus der Seelenwanderungslehre abzuleitende moralische Erklärung des Einzelschicksals hinfällig werden würde. Wenn dabei auch das Argument einfließt, daß bei Leugnung der Persönlichkeitsidentität in der Existenzenreihe die guten Taten zwecklos würden, so wird gegen diese orthodox-brahmanische Tradition über die guten Werke doch schließlich auch Stellung genommen, indem das Streben nach unvergänglicher Lust im Himmel u. ä. vom Standpunkt der asketischen Abwendung als unzureichend verworfen wird.

Nachdem wir so ein gewisses Bild von der Physiologie, Psychologie und Metaphysik des didaktischen Epos gewonnen haben, wenden wir uns zur Betrachtung der Erlösung, um derentwillen im Grunde all die verschiedenen Lehren vorgetragen werden, wie ja schon der Name unseres Abschnittes Mokṣadharma, d. h. Erlösungslehre, besagt. Der Begriff der Erlösung in seinem negativen Sinne ist eindeutig und allgemein angenommen: es gilt das Seelisch-Geistige von dem leidvollen Materiellen loszulösen, und so die Wiedergeburt zu verhindern. Komplizierter liegen die Verhältnisse, wenn wir nach dem positiven Inhalt der Erlösung fragen, denn dieser Inhalt hängt naturgemäß von den so verschiedenen spekulativen Anschauungen ab, die wir im Vorangehenden kennengelernt haben. In manchen Stücken ist die Absolutheit des Puruṣa das Ziel, in anderen das Eingehen der Einzelseele zu der höchsten, die dann oft als der höchste Gott aufgefaßt wird oder im Sinne der alten Upaniṣadlehre als Brahman erscheint, ganz abgesehen von solchen Stellen, in denen im Sinne des oft bekämpften, aber keineswegs besiegten Opferkultus himmlischer Lohn verheißen wird.

Die Wege zu diesen Zielen lassen sich leicht in theoretische und praktische scheiden. Den theoretischen Weg zur Erlösung führt die Erkenntnis, das Wissen um die philosophische Wahrheit. Darum werden ja all die Schemata über den Aufbau des Makrokosmos und Mikrokosmos aufgestellt (wobei der Mensch bei weitem bevorzugt ist), damit man sein wahres Wesen realisiere, das vergängliche Nicht-Ich von dem ewigen Ich scheide und so zum Ziele gelange. Aber selten genügt solche Erkenntnis allein, die praktische Seite muß ergänzend hinzutreten. Wer erkennt, der gelangt dadurch zu der moralischen Verfassung, welche, ausgestattet mit all den Tugenden, die wir schon aus Upaniṣaden und Buddhismus kennen, besonders durch Milde und Gleichmut charakterisiert ist. In dieser ethischen Atmosphäre bedarf es dann vielfach der Erkenntnis als besonderen Faktors gar nicht: Entsagung führt zur Erlösung. Solche Weltabwendung wird in allgemeinen Sprüchen gepredigt und gepriesen, sie wird aber auch häufig eingehender methodisch im Yoga gelehrt. Methodisch können freilich die Yogalehren des Epos nur im Gegensatz zu den allgemein gehaltenen Moralpredigten genannt werden; mit einer Methodik, wie sie im Buddhismus hervortrat und später oft systematisch ausgebildet wurde, können die diffusen, popularisierenden Produkte der epischen Poeten nicht aufwarten. Daß aber mehr und geordneteres Yogawissen hinter diesen Stücken steht, zeigt sich in sehr zahlreichen Einzelheiten, deren Aufzählung und Betrachtung hier zu weit führen würde [R129]. Nur auf eine Einzelheit sei hier noch hingewiesen. Ein Vers des Mokṣadharma (195, 15) lautet: »Dann entsteht Ueberlegung, Sichabsondern und Erwägung der Reihe nach bei dem Muni, welcher sich in das erste Dhyāna versenkt.« Dazu stelle man [R130] die Prosaworte des buddhistischen Kanons: »Sich absondernd von den Lüsten, sich absondernd von allen unreinen Zuständen, erlangt der Mönch das mit Ueberlegung und Erwägung verbundene, aus der Abgeschiedenheit geborene, freudenreiche, lustvolle erste Jhāna.« Mehr als unsere kurzen Ausführungen vermögen, zeigt die auffallende Parallelität dieser beiden Beschreibungen des ersten Dhyāna die Kontinuität der altindischen Yogatradition durch die Jahrhunderte. Wie hier und auch sonst Mahābhārataverse nach rückwärts weisen auf jene brahmanischen Schulen, denen der Buddhismus seinen Yoga verdankt, so weisen die Yogastücke des Epos nach vorwärts in die Zeit der Zusammenfassung durch die Yoga-Sūtras.

Zurückblickend auf die epischen Philosopheme versuchen wir ihre historische Stellung im indischen Geistesleben zusammenfassend darzulegen. Es war schon die Rede von ihrem sekundären Charakter, der die Annahme systematischer Schulen im Hintergrunde wahrscheinlich macht. Daß sie aber andererseits eine weitverbreitete Zeitatmosphäre repräsentieren, darauf weisen die Lehrmeinungen anderer Werke hin, die wir nach Sprache, Darstellungsart und anderen Indizien in die gleiche Zeit setzen dürfen. Die kosmogonischen Stücke zeigen Parallelität zu dem Gesetzbuch des Manu, dem die epischen Texte auch nahestehen, wenn sie den orthodox-brahmanischen Standpunkt (im Gegensatz zu dem häufigeren, freieren ethisch-asketischen) vertreten. Auch hinsichtlich der drei Erkenntnismittel: sinnliche Wahrnehmung, Schlußfolgerung und Ueberlieferung, konnten wir Uebereinstimmung konstatieren. Hinsichtlich des Fehlens des Tanmātrabegriffs in der Evolutionsreihe -- direktes Hervorgehen der großen Elemente aus dem Ahaṃkāra und Auffassung der spezifischen Objekte der einzelnen Sinne als Qualitäten der großen Elemente -- fanden wir die Masse der Mokṣadharmabelege in Uebereinstimmung mit der Yogalehre, die der Buddhist Ašvaghoṣa in seinem Buddhacarita gibt, und mit der philosophischen Exposition des unter dem Namen »Carakasaṃhitā« bekannten medizinischen Lehrbuches. Doch beschränkt sich die Uebereinstimmung hier nicht auf diese Einzelheit, vielmehr zeigt der ganze in Betracht kommende Abschnitt bei Caraka auffallende Aehnlichkeit mit der im Mokṣadharma (219) dem Pañcaśikha in den Mund gelegten Lehre, welche, auf ein erweitertes und verändertes Sāṃkhyaschema aufbauend, das Eingehen der erlösten Einzelseele in die Allseele unter Verlust des individuellen Bewußtseins lehrt, wie wir es im Bṛhadāraṇyaka bei Yājñavalkya kennengelernt haben.

So bestätigen uns zeitgenössische Werke den Wert der philosophischen Stücke des Mahābhārata für die Beurteilung einer Periode der indischen Philosophie. Diese Stücke und besonders die sektarisch-theistischen wie Bhagavadgītā und das den Mokṣadharma abschließende Nārāyạnīya sind aber auch gleichzeitig unsere ersten Zeugnisse einer durch mehr als tausend Jahre sich nun fortsetzenden, außerordentlich umfangreichen Literatur, welche, neben der streng systematischen Schulphilosophie einherlaufend, den religiösen und mystischen Bedürfnissen weitester Kreise Genüge zu tun unternahm. Indem ich hier auf die zahlreichen sektarischen Purāṇas, auf die Masse der viṣṇuitischen Āgamas und der śivaitischen Tantras hinweise [R131], ziehe ich die Grenzlinie für die Aufgaben dieses Buches. Wir haben nunmehr jene Werke zu betrachten, in denen die eigentliche philosophische Produktivität des indischen Geistes zum klassischen Ausdruck gekommen ist.


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