Auguste Supper
Die Mädchen vom Marienhof
Auguste Supper

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Sechstes Kapitel

Marie trug Trauerkleider, der Bruder den Flor am Ärmel.

Am Feierabend gingen die beiden, oder öfter noch Marie allein, hinüber nach dem uralten, einsam im Gelände liegenden Friedhof von Kolbenhart.

Der Erdarbeiter Kaspar Maltova aus einem Dörflein am Ritten in Südtirol, der schon viele Jahre da drinnen schlief, war so lange und durch so vieles von seinem Sohn, seinem einzigen Kind, getrennt gewesen, daß es zuletzt aussah, als gehöre Blut nicht mehr zu Blut.

Die Erde aber, diese hundertmal umgewühlte Kirchhoferde von Kolbenhart, in der es von morschen Knöchlein und Knochentrümmern wimmelte wie auf den anderen Äckern von Steinen, diese Erde brachte wieder zusammen, was so weit auseinander gekommen war.

Marie war der Ansicht gewesen, der Vater müsse neben der Mutter seinen Platz finden, dort, wo die Exzellenzen und die Leute mit Titeln und Namen schliefen.

Aber Hannes sagte, es sei des Vaters Wille, hier oben zu ruhen.

Wann er das bestimmt habe, wollte Marie wissen.

Der Bruder sah ihr ins blasse Gesicht, das zu ihm aufschaute.

»Später einmal«, sagte er still und abschließend, als sei jetzt nicht die Zeit, davon zu reden.

Einmal traf Marie das Pächtermädchen auf dem Friedhof, wie sie ein ungepflegtes, stein- und kreuzloses Grab begoß. 139

Bang fragte sie: »Liegt deine Mutter da?«

Ria schüttelte den Kopf. »Des Schultheißen Gottfried«, entgegnete sie kurz.

Dann schritt sie einen schmalen Weg voran, um vor ein anderes Grab zu treten.

Hier standen auf derbem, übergroßem Sandsteinblock die Worte:

Christiane Luise Horch, Tochter des verstorbenen Oberlehrers Schmid von Weißbach, Werkmeistersgattin, geb. 1. Februar 1872, gest. 2. März 1920.

Darunter: Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.

Marie stand und las die vielen Worte und hatte doch das seltsame Gefühl, dieses Grab schweige tiefer als jenes namenlose.

Vielleicht war das, weil die, die darin schlief, keine Sehnsucht, keinen Wunsch, keinen Willen, keine Regung inneren Lebens mehr kannte, als man sie, übermüdet und todesreif, wie sie war, hier einbettete.

Um nicht ganz still zu bleiben, fragte Marie mit enger Kehle: »Hast du den Spruch ausgewählt?«

Da waren die Augen der Ria plötzlich angefüllt mit dunkler Feindseligkeit.

»Mein Vater«, antwortete sie kurz.

»Er ist schön.«

Es blieb so still, daß man das Knistern des sonnenheißen Sandes hörte, über den ein Laufkäfer eilte.

Dann stieß Ria hervor: »Zu einem schönen Spruch für die Oberlehrerstochter und Werkmeistersgattin hat's gerade noch gereicht.« 140

Abgrundtiefe, wissende Bitterkeit hatte sich entladen. Der blühende Rosenstrauch auf dem Grab nickte, als verstehe er.

Marie spürte, daß sich da etwas Dunkles und Schweres auftürmte; sie wagte keine Frage zu tun.

Ria brach eine Rosenknospe ab und steckte sie an ihre Brust.

»Nehmen Sie auch eine«, sagte sie dabei leise und ganz veränderten Tons, »sie wachsen auf gutem Grund.«

Und dann, nach einer Weile, als sei die Wärme schon wieder verflogen, voll Härte: »Das ist ja gut, daß Rosenstöcke keine Sprüche machen.«

Marie brach sich eine Knospe. Benommen fragte sie: »War sie lang krank?«

Ria zog die Brauen zusammen. »Wohl solang sie verheiratet war.«

»Was fehlte ihr denn?«

Die andere griff nach der Gießkanne. »Ich glaub am Herzen«, kam es hart.

Sie schritten nebeneinander zwischen den Gräbern hin, die weißen Lilien schickten ihren betäubenden Duft in den Abend, in der Tannenhecke, die den stillen Ort einfriedigte, sang eine Grasmücke selig und berauscht, und draußen über den Äckern trillerten die Lerchen.

Die beiden hätten nicht so jung, nicht so voll unverbrauchter Lebenskraft sein müssen, wenn sie das Bedrückende nicht unter sich gebracht hätten.

Auf dem Heimweg griff Ria in die Tasche und zog eine Mundharmonika hervor.

»Soll ich?« fragte sie kurz. 141

Marie schaute sie an und sah das scheue Gesicht aufblühen zu einer fremden Schönheit, die nicht allein von der Glut der in der Ferne hinabgehenden Sonne kommen konnte.

Eine Bangigkeit, die sie noch nicht verstand, tastete nach ihr, als laure irgendeine Gefahr in Rias kurzer Frage.

Sie nickte stumm.

Dann klang ein getragenes leises Lied in den Abend, eines von den schwermütig süßen, die damals in der Mondnacht unter der einsamen Tanne erklungen waren.

Marie blieb stehen. Und auch Ria stand jetzt.

Sie spielte ganz selbstvergessen, unendlich hingegeben, aus einem innersten Müssen, einem stärksten Überfließen heraus, und man konnte, nein, man mußte merken, daß auch sie, wie die Lerchen, die noch aus den Furchen schwirrten, nur gab, was sie als ein Geschenk des Schöpfers tief in der Brust trug.

Als sie geendet, hing ihr plötzlich Marie am Hals und schluchzte auf: »Ria, ach Ria!«

Die Erschrockene meinte, es sei das frische Leid um den Vater, das sie mit ihrem Spiel aufgerührt habe.

»Ach«, sagte sie traurig, »ich hätte nicht sollen.«

Die Fassungslose schluchzte stärker. »Ach Ria, du weißt ja nicht, wie mir ist! Ich kann nicht mehr, ich bin –«

Jammervoll nackt und hilflos kam ihr Leid daher, das die andere unmöglich richtig verstehen konnte.

Voll Mitleid und zum erstenmal das lang verweigerte Du gebrauchend, sagte sie: »Das meinst du jetzt. Nach meiner Mutter Tod hab' ich es auch gemeint. Aber 142 solang man muß, kann man. Und auf einmal merkt man, daß man auch wieder will.«

Marie berichtigte den Irrtum nicht, der in den Worten der Ria lag. Sie spürte es wie etwas Erschütterndes, daß die Verschlossene, um Zuspruch zu spenden, ein Stück des eigenen Lebens ausbreitete.

Sie richtete sich auf und strich sich die Haare aus dem verweinten Gesicht.

»Komm«, sagte sie leise und nahm wie ein Kind der andern Hand, um heimzugehen.

Als sie dort ankamen, wo die einsame Tanne nicht weit vom Waldrand in der Wiese stand, deutete Marie hinüber.

»Dort hast du einmal gespielt, und ich lag im Moos und weinte. Mein Bruder und ich haben damals gemeint, dein Liebster sei bei dir und spiele.«

Heftig zog Ria ihre Hand zurück.

Da lachte Marie. »Ich weiß ja jetzt, daß du keinen hast. Wär es denn gar so schrecklich?«

»Gut Nacht«, sagte kurz die andere, »ich geh hinten über die Wiesen.« Und schon verlor sich ihr Schritt.

 

Der Forstmeister Halldorf sprach vor, um den Geschwistern sein Beileid auszudrücken.

Schon bei des Vaters Beerdigung hatte Hannes wie im Traum die schlanke hohe Gestalt in der grünen Uniform bemerkt und sich flüchtig der nachbarlichen Aufmerksamkeit gefreut oder gewundert. Und nun war ihm der Besuch eine Beschämung.

»Sie kommen mir zuvor«, sagte er unfrei zu dem Gast 143 und ärgerte sich, daß er um so kleiner, nebensächlicher Dinge willen log; hatte er doch nie im Sinn gehabt, was er da andeutete.

Der Grüne winkte ab. »Ich weiß gut, daß man für Gesellschaftliches keinen Sinn hat, wenn ein Krankes im Hause liegt.«

Ohne Ahnung, daß Besuch da sei, trat Marie jetzt unter die Tür. In ihrem schwarzen Kleid, mit dem Ausdruck der Trauer und leiser Abspannung auf dem schmalen Gesicht, sah sie viel älter und gereifter aus als damals im Schankraum.

Beim Anblick des Mannes stieg ein jähes Rot in ihre Wangen, ein kurzer, feindseliger Strahl brach aus den dunklen Augen.

Dann ward sie ihrer Befangenheit Herr und begrüßte den Besucher so ruhig und damenhaft, daß in Hannes ein leises Verwundern aufstieg.

Der Grüne schien nicht zu bemerken, daß die Geschwister wortkarg und zurückhaltend waren. Er erzählte belebten Tones von der Jagd da oben, vom Wald, vom Wetter, von Holzverkäufen.

Auf einmal sprach er von dem Gewitter »neulich«.

Er sagte »neulich«, und Hannes stutzte an diesem Wort.

Fiel nicht das Gewitter so ganz untrennbar mit dem Todeskampf, dem Sterben des Vaters zusammen, daß man da unmöglich dieses beiläufige »neulich« sagen konnte? – Die Fremdheit, die Unbeteiligtheit des Besuchers grinste aus dem Wort, und Hannes fühlte sich wie zurückgeworfen in die Einsamkeit seines Leides. Er 144 hörte kaum recht zu, als der Grüne sich mit Marie unterhielt.

»Sie fürchten sich wohl sehr vor Gewittern? Meine Mutter hatte diese Furcht auch. Sie war schrecklich gequält damit. Jeder Sommer war ihr dadurch vergällt. Wenn ich bei ihr war, mußte ich ihr immer die Hand auf die Schulter legen, das beruhigte sie.«

Marie hob die Augen. »In der Stadt habe ich mich nie gefürchtet«, sagte sie halb abweisend, halb verwirrt.

Er nickte. »Ja, in der Stadt sitzt man unter einer Isolierglocke gegen alles ganz Gewaltige. Dort kommt nur das Menschengemachte recht an uns heran. Das Gewitter neulich war eine andere Nummer. Sie werden sich hier oben an Derartiges gewöhnen müssen. Die Herbststürme und der Winter können sich auch sehen lassen. Man muß da ein starkes Herz und ein festes Dach über dem Kopf haben.«

Hannes fuhr sich über die Stirn. Es fiel ihm soeben etwas ein, was in dem trüben und drängenden Geschehen der letzten Zeit ganz untergegangen war.

»Wie war das doch mit dem Blitzschlag in Kolbenhart drüben?« fragte er nachsinnend.

Der Grünrock spielte mit seinem Handschuh.

»Sie erinnern sich vielleicht an das blonde Mädchen, das mit mir und dem Meister Volz damals Unterschlupf bei Ihnen fand? – Melanie Kleinmann heißt sie. Sie ist die Stieftochter von Schultheiß Roser. Man nennt sie im Dorf nur die Melle.« Er lachte auf, als sei ihm Lustiges in den Sinn gekommen. »Ein Temperament, wie man selten eines findet. Sie ging ja damals mit mir 145 von hier weg. Nun – wir waren erst halbwegs Kolbenhart, erst dort in der Nähe von der großen Eiche – Sie kennen doch den Platz? – Nicht? – Nun, man sagt eben auf der ganzen Höhe: bei der großen Eiche. Der Baum mag seine sechshundert Jahre haben, wenn nicht mehr. – –«

Marie hob den Kopf und sah den Sprecher an. Warum redest du so viel? sagte dieser Blick, ich kann mir gut denken, wie du mit dieser Melle bei der großen Eiche warst.

»Nun ja, also«, unterbrach der Forstmeister seine eigene Schilderung, »dort kam uns ein Kolbenharter entgegen und sagte, der Blitz habe ausgerechnet in das kleine Häuschen geschlagen, in dem seit des Schultheißen schlechtem Streich seine Frau mit der Melle wohnt. –

Sie können sich denken, wie wir da den Weg unter die Füße nahmen! In meinem Leben bin ich noch nicht so rasch von der großen Eiche nach Kolbenhart gekommen. Die Melle rannte nur immer so nebenher.«

»Ja – und dann?« fragte jetzt Marie in einem so kühlen, so hochmütigen Ton, als wolle sie ausdrücken: das alles sind doch Belanglosigkeiten, die mich nicht kümmern. Machen Sie Schluß damit!

Der Forstmeister zeigte langsam seine unbehandschuhte rechte Hand her. Es war eine tiefgebräunte, kräftige Hand, der man ansah, daß sie zupacken konnte. Ein goldener platter Reif blinkte daran, und auf der inneren Fläche war ein Pflaster aufgeklebt.

»Hier«, sagte er, »diese Schramme trage ich mit mir herum. Sonst würde ich sagen: Der Blitzstrahl hat keinen 146 Schaden angerichtet. Es rauchte zwar beträchtlich im Dachstuhl, als wir ankamen; aber ein paar Dachsparren waren schnell herabgerissen und damit der Gefahr ein Ende bereitet.« –

In Hannes tauchte schattenhaft die Erinnerung auf, daß ihm am Beerdigungstag irgend jemand erzählt hatte, der Forstmeister sei derjenige gewesen, der den Brand am Jakobitag gelöscht habe. Die Kolbenharter hätten nur geschrien und gejammert, weil kein Wasser da sei.

Marie blickte auf die ausgestreckte Männerhand. Irgend etwas war daran, was sie zugleich quälte und beruhigte.

Auch die Augen von Hannes blieben an der Hand hängen. Wenn dieser Mann eine Frau hat, warum bringt er sie dann nicht mit, wenn er bei uns Besuch macht? fragte ein unwilliger Gedanke.

Als hätte er ihn gelesen, sagte jetzt der Forstmeister: »Meine Frau hat immer so sehr unter der großen Einsamkeit hier oben gelitten. Sie würde sich über die neue Nachbarschaft sicher außerordentlich freuen. Leider ist sie schon bald ein Jahr im Lungensanatorium in B. Nach Davos konnte ich sie bei den heutigen Währungsverhältnissen nicht bringen.«

Die Geschwister wechselten einen erschrockenen Blick.

Dann kam ein Laut des Bedauerns auf.

Freier als sie seither gesprochen hatte, fragte Marie: »Kann man denn da oben in der herrlichen Luft auch krank werden?« 147

Ein Schatten glitt über des Mannes Gesicht. Es sah fast aus, als finde er diese Frage unziemlich.

Mit einem Achselzucken antwortete er: »Der Mensch lebt nicht vom Brot und nicht von der Luft allein. Meine Frau war früher an der Oper. Der Kontrast war zu groß, das Entbehren zu hart.«

Niemand sprach. Es lag wie Spannung über den stillen Menschen. Dann begann der Forstmeister wieder: »Wir hatten wohl viel zusammen musiziert; aber das reichte doch nicht aus.«

Hannes hatte ein Gefühl, als müsse er die Klinge zur Abwehr heben; aber schon fragte Marie elektrisiert: »Was spielten Sie?«

Das kam so aus dem Innersten heraus, daß der Forstmeister rasch dagegenfragte: »Sie musizieren wohl auch? –«

Die Belebtheit in dem schönen Gesicht wich plötzlich einer Müdigkeit, die erbärmlich anzusehen war.

Hannes, um den Frager von Marie wegzulocken, wie ein Vogel den Feind vom bedrohten Nest, sagte rasch: »Meine Schwester ist eine gute Pianistin; aber sie spielt nicht mehr.«

Der Forstmeister, als hätte er den Einwurf gar nicht gehört, fragte Marie: »Dann geigt wohl Ihr Herr Bruder mit Ihnen?«

Unfrei lachte Hannes. »Meine Instrumente sind jetzt Sense und Pflug.«

Marie, ohne zu ahnen, wieviel Gequältes um ihren Mund und in ihren Augen lag, sagte eintönig: »Wir haben unsern Flügel verkauft, weil wir so arm wurden.« 148

Der Forstmeister stand langsam auf. »Schade«, sagte er leise, und dann, wie sich verbessernd: »Ich meine, es ist schade, daß mein guter unbenützter Bechstein nicht bei Ihnen steht. Bei einem Flügel heißt es ja auch wie bei den Menschen: rast ich, so rost ich. Und mein Geigenkasten wundert sich auch schon lang, daß er nie mehr geöffnet wird.«

Er ging zögernd zur Tür, wendete sich noch einmal zurück und sagte zu Hannes: »Im Ernst, Herr Baldenius, würden Sie nicht gestatten, daß ich das Instrument herüberschicke?«

Und dann, in die befangene Stille hinein: »Meiner Frau wäre das sicher eine große Freude.«

Da hob Marie abwehrend die Hände. »Nein, bitte, nein! Jetzt nicht! Jetzt noch nicht!« rief sie erregt.

Der Besucher konnte unmöglich wissen, daß sie damit sagen wollte: ich werfe die Waffen noch nicht weg, ich will mich in meinem harten Ringen noch nicht überwunden geben.

Leise sagte er: »Auch die Trauerzeit geht vorüber. Die einsamen langen Winter da oben sind bös. Ein wenig Musik hilft über manches hinüber. Auch Ihr Vater würde das nur billigen.«

Als der Mann gegangen war, blieb es lange still in der weiten Stube. Es war, als liege irgendwo ein Zündstoff, den man meiden müsse.

Dann sagte Hannes nachdenklich, indem er der Schwester über das lockige Haar strich: »War das nun ein Besucher oder ein Versucher? –« 149

Marie blickte auf. Feindselig sagte sie ins Leere hinein: »Lassen soll er mich!«

 

Hannes arbeitete, bastelte und flickte auf dem Marienhof, wo immer er ankommen konnte.

Verstohlen fast mußte er sein Werk tun, denn der Pächter ließ es bei jeder Gelegenheit auf einen Zusammenstoß ankommen und tat, als schmälere ihm Hannes seine verbrieften und noch bis Neujahr währenden Rechte.

Hannes haßte und fürchtete die Auftritte mit dem verwilderten Mann. Aber nicht aus Feigheit wich er zurück, sondern wie aus dem geheimen Wissen heraus, daß jeder Sieg, den er diesem Menschen gegenüber erringen könnte, für das Pächtermädchen böse Stunden bedeuten würde.

Jetzt nahte die Erntezeit.

Zwar gab es auf dem Marienhof nur ein paar Roggen- und Haferäcker zu schneiden, weil das Gelände weithin als Ödland und Schafweide liegengelassen worden war; aber Hannes sagte sich doch, daß die Arbeit für Ria zuviel werden würde.

So gerne hätte er zugegriffen. Ihm schien, als mache die rauhe Luft und der Odem der Scholle einen unbändigen Hunger nach Arbeit, wie er ihn früher so drängend und quellend nie im Blut verspürt hatte.

Aber er scheute sich, dem Pächtermädchen seine Hilfe anzubieten.

Es gab für ihn, wie er sich auch bemühte, gar keine Möglichkeit, dieser Ria näherzukommen. Eine kalte 150 Fremdheit und Feindseligkeit schlug ihm entgegen, so oft ihre Wege sich kreuzten.

Marie verstand es viel besser mit dem Mädchen.

Die Freundschaft zwischen den beiden hatte wohl nichts Loderndes; aber sie dauerte doch an.

Manchen Abend sah Hannes die zwei nach dem Kirchhof wandern. Lieber als mit dem Bruder schien Marie den Weg dorthin mit Ria zu machen.

Von was sie da wohl miteinander redeten? Einmal sagte Marie: »Hannes, die Ria kennt alle Vögel und Pflanzen.«

Und als der Bruder lachend meinte: »Nun, einige wird sie wohl nicht kennen!« da war Marie beleidigt für die Freundin und erzählte von den Büchern, die das Pächtermädchen von ihrem Großvater her besitze, und von den vielen Dingen, die Ria von ihrer gebildeten kranken Mutter gelernt habe in den Jahren der Krankheit.

Hannes hörte gerne zu, wenn die Schwester derartiges erzählte. Es schien ihm dann immer ein wenig Licht einzuströmen in das harte Leben des Mädchens, dessen Schwere er immer mehr begriff, je deutlicher er Einblick bekam in den Tageslauf des Pächters.

Einmal erzählte Marie auch: »Die Ria hat Gottfrieds Grab gegossen.«

Hannes spürte, wie ihm das Blut zum Herzen strömte.

Dieses Grab! So einsam und verwildert lag es dort drüben! Er selbst scheute sich, hinzutreten an den Hügel, der des Freundes erste und letzte Feigheit hinauszuschreien schien. 151

Diese Ria scheute sich nicht. Sie war die Treuere.

Ob das Pächtermädchen oft von Gottfried rede, fragte er die Schwester, und ob sie wisse, daß er und Gottfried die besten Freunde gewesen seien? –

»Ach«, entgegnete Marie, »das hab' ich ihr schon ewig lang gesagt; aber reden tut die ja nicht viel.«

An einem Tag voll strahlender Himmelsbläue ging Hannes hinaus zu dem großen Roggenacker, an den nordwärts der Wald stieß. Er wollte nach der Reife der Ähren sehen und ob Ria vielleicht schon mit dem Schneiden begonnen habe.

Unsagbar schön, still und einsam war es da draußen. Nur das Gurren der Holztauben kam aus dem Wald, und manchmal der Schrei des Bussards aus der hohen Luft.

Hannes ging auf grasigem Wege, und er empfand es als Wohltat, daß seine Schritte in all der sonnigen Stille so lautlos waren. Ganz untertauchen, ganz aufgesogen hätte er werden mögen von der Herrlichkeit dieser tiefen Ruhe, und es kam ihm der Gedanke, warum man nur dort, wo der Lärm und der Betrieb ist, immer so krampfhaft, so um jeden Preis nach Geltung ringe? – So versunken grübelte er über diese Zusammenhänge, daß er, ehe er es gedacht, vor dem Acker stand, der noch unberührt in seiner ganzen reifen Herrlichkeit prangte.

Der Wind strich über die mannshohen Halme und lockte ein leises, hauchfeines Klirren daraus hervor, das nach der Sichel rief.

Zum erstenmal hörte Hannes diesen Laut, sah so nahe, so bewußt die ganze Pracht. 152

Betroffen, ja erschüttert stand er. Wo hatte er seine Augen gehabt, wo hatte all das Stadtvolk seine Augen, seine Ohren, daß dieses Heilige an ihm verloren war?

In einem Überwältigtsein, gegen das er sich nicht wehrte, erblickte er hinter den Millionen aufgereckter Halme und reifer Körner die schenkende Hand, die in unausdenkbarem Wunder Brot für die Menschen, Nahrung für alle Geschöpfe aus der Erde zaubert, und ein kindliches, ein unendlich wohltuendes Verwundern war in ihm, daß Gott so wirklich sei, so auf frischer Tat zu ertappen. –

 

»Hingenommen schaute er über das Ährenmeer, da sagte plötzlich eine Stimme neben ihm: »Gucken Sie auch nach des Werkmeisters Roggen?«

Erschreckt, denn er hatte niemand kommen hören, drehte Hannes den Kopf.

Ein schmächtiger, knapp mittelgroßer Mann stand neben ihm, und ein Paar klare, scharfe Augen, die für das kantige, unschöne Gesicht und den ganzen Aufzug des Unbekannten fast zu bedeutend, zu gebieterisch waren, schauten Hannes an.

Überrascht gab er zur Antwort: »Ja, Sie auch?«

Der Kleine nickte. »Gestern und heut. Ich meine, man könnte ihn schneiden.«

Also ein fremder Landarbeiter, dachte Hannes bei sich, und doch war er von dieser Lösung nicht ganz befriedigt, glaubte nicht recht daran.

»Kennen Sie den Werkmeister?« fragte er. 153

Der andere lachte kurz auf. »Gut genug, um zu wissen, daß er ein Lump ist.«

Hannes konnte den Blick nicht von dem Fremden lassen. Irgend etwas quälte ihn, ein Fernes, lang Verklungenes, das durch die Erscheinung, durch die Stimme dieses Unscheinbaren geheimnisvoll hervordrängte und doch nicht ganz ans Licht trat.

»So kennen Sie auch die Gegend?« fragte er prüfend.

»Die Gegend und nun wohl auch den jungen Herrn Baldenius, wie ich den alten gekannt habe«, gab tastend der Mann zurück und lächelte.

Mit einem Schlag sank der Schleier vor Hannes nieder. Gottfried, Gottfried Roser! Der Kleine mußte des Toten Vater sein. In der Stimme, dem Tonfall, der Sprechweise, in den Augen, in der ganzen Erscheinung, die mit der stattlichen des jungen Leutnants so gar keine Ähnlichkeit hatte, lebte eine geistige, eine ungreifbare Verwandtschaft, die nicht zu verkennen war.

Ehe Hannes seine Erschütterung niederzwingen konnte, sagte der Kleine: »Ich bin der frühere Schultheiß von Kolbenhart, Fritz Roser, am letzten Sonntag aus dem Gefängnis entlassen.«

Er sah dabei mit seinen machtvollen Augen auf den andern, als drohe er: Unterstehe dich nicht, Überraschung oder Entrüstung zu zeigen!

Hannes wollte der Atem stocken; aber als rede er von den gebräuchlichsten Dingen, fuhr der Kleine fort: »Sie sind der beste Freund von meinem Gottfried gewesen.«

Jetzt brannte ein greller Schmerz, eine bittere 154 Empörung in Hannes. Er hätte nichts sagen können, weil ein Stöhnen, ein Aufschrei daraus geworden wäre.

Der Schultheiß aber wiegte den grauen, unbedeckten Kopf und murmelte in die heiße Stille hinein: »Ja, ja, diese Nuß war meinem Sohn zu hart.«

Es brannte in Hannes, sich vor den toten Freund zu stellen gegen dessen eigenen Vater. Er atmete schwer und rang nach dem richtigen Wort.

Da machte der Kleine eine Handbewegung, als schiebe er schon das Ungesprochene weit von sich fort. Unbeteiligt und laut sagte er: »Die Ria will mich einstellen, daß ich ihr den Roggen schneide. Ich bin, wie Sie vielleicht wissen, ein Bauernsohn, wie der Werkmeister. Nur von einem anderen Kaliber. Ich hätte gern mit dem Pächtermädchen die ganze Ernte verakkordiert. Aber sie sagt, sie wolle erst sehen, was ich leisten könne. Alle Hochachtung! Die Ria kauft keine Katze im Sack. Ich glaube ja, daß der tiefere Grund für ihr Ablehnen die Angst vor ihrem sauberen Vater ist. Mir würde sie schon trauen; aber ihm traut sie nicht. Ihm kann's einfallen, daß er den Lohn für einen Akkord in ein paar Stunden durch die Gurgel jagt. Es gibt solche Väter.«

Hannes warf einen seltsamen, fast scheuen Blick auf den Kleinen. Woher nahm der den Mut, über schlechte Väter zu reden! Er sah in dem durchgearbeiteten knochigen Gesicht einen überlegenen, einen herrenhaften Ausdruck, der ihm das Wort von den Lippen scheuchte.

Der Schultheiß ließ jetzt langsam einen der hohen Roggenhalme durch die Finger gleiten.

»Neues Saatgut hat diesmal die Ria beschafft. Ich 155 hab's ihr angeraten, schon eh ich ins Kittchen kam. Die ist nicht so dickköpfig wie die Kolbenharter, von denen die meisten hist fahren, wenn man hott schreit. Nun, das hat ja jetzt ein Ende! – Übrigens, wenn der Werkmeister aus der Pacht ist, werden Sie dann allein wirtschaften?«

Hannes schaute weg. »Ich weiß noch nicht, wie alles sich gestalten wird«, sagte er unfrei und abweisend.

Da lachte der Kleine. »Aber Herr, niemand baut einen Turm, er sitze denn zuvor und überschlage die Kosten.«

Als sei er angegriffen worden, warf Hannes erregt hin: »Was ich nicht kann, das lerne ich.«

Der Schultheiß nickte. »Lernen, was man nicht kann, das ist der Sinn von der ganzen Kichweih. Davor hat mein Gottfried sich gedrückt.«

»So fassen Sie das auf?« stieß Hannes hervor.

Mit einem scharfen Blick fragte der Kleine: »Kann man es auch anders auffassen? Hatte Ihr Freund vielleicht die bessere Auffassung? Haha – dem seine hatte ich schon in der Untersuchungshaft! Nein, schon lang vorher, als ich mit Strick und Pistole liebäugelte –«

Hannes wagte nicht zu entgegnen. Zu furchtbar war, was ihm aus der Rede des Kleinen entgegenstarrte.

Auf einmal reckte sich der Schultheiß auf.

»Da sprach mein Gott zu mir: Willst du vielleicht den Feind mit Feigheit schlagen? –«

Es blieb ganz still. Die heiße, über dem Acker zitternde Luft selbst schien zu spüren, daß es hier um schweren 156 Ernst, nicht um ein Theater ging, wie so oft sonst, wenn von Gott die Rede ist.

»Ja, Gottfried«, sagte wie in eine Ferne hinein der Schultheiß, und er nickte dabei mit dem ergrauten Kopf, »so war's! Was brauchtest du davonzugehen, Knabe!« – Die Stimme klang plötzlich ganz rauh, als wolle sie versagen.

Hannes spürte dieses Rechten mit dem toten Sohn wie einen qualvollen Schmerz. Jene ganze fürchterliche Zeit nach Gottfrieds Sterben war wieder da. All die Dumpfheit, die Zerschlagenheit, das stiere Fragen: Warum, warum? – Er schluckte und rang nach Ruhe.

»Sie haben viel hinter sich«, sagte er schließlich leise in die große Stille hinein.

Der Schultheiß hob den Kopf. Als komme er von weit her zurück, schaute er sich um und sagte dann hell und kurz:

»Ja, aber noch mehr vor mir.«

Sie gingen langsam am Ackerrand gegen den Wald hin.

Auf samtenem Polster am Saum setzten sie sich und streckten die Füße ins Farnkraut, das in kleiner Vertiefung wuchs.

Nein, dachte Hannes bei sich, so hätte ich es mir nicht vorgestellt, das erste Zusammentreffen mit Gottfrieds Vater. Und er wußte selbst nicht, was ihn eigentlich so sehr überraschte. Vielleicht, daß er nicht stärkere Abneigung, stärkeren Zorn gegen den Entgleisten in sich aufbrachte? 157

Der Schultheiß sah einem Eichhorn zu, das hoch in einem Tannenast schaukelte.

»Ein Eichhorn hat mein Gottfried auch einmal gehabt«, sagte er versonnen. »Ganz zahm schien es; aber einmal hat es ihn dann doch tüchtig in den Finger gebissen.«

Auch Hannes blickte jetzt nach dem Tierlein, als sei es das des Toten. Da schlug des Schultheißen Rechte schwer auf seine Schulter.

»So ist's immer: Man denkt an nichts und meint, das Tier sei zahm. Dann kommt der Biß, und das Blut läuft davon –«

Sie saßen in tiefem Schweigen. Ein Rauschen ging oben durch die Wipfel, und auf dem nahen Acker neigten sich knisternd alle die stolzen Halme.

»Ach was«, sagte da seltsam frisch der Schultheiß, »das Hintersichdenken ist auch so ein Brauch, von dem ich sagen würde: er stammt vom Teufel, wenn ich noch an einen Teufel glauben könnte.«

In Hannes wollte das Wort auftauchen vom Völkchen, das den Teufel nie spürt; aber schon wußte er auch, daß es hier fehl am Ort wäre.

»Sie können das also nicht mehr?« fragte er unwillkürlich.

Der Kleine lachte leise. »Wenn einer einmal bei Gott gelandet ist, hat nichts anderes mehr daneben Platz.«

Nach langem Schweigen meinte Hannes: »Sie haben viel nachgedacht im« – er stockte – »in der letzten Zeit.« 158

»Sie meinen im Gefängnis«, verbesserte trocken der Schultheiß, »nein, da habe ich nicht mehr nachgedacht. Da war's vorbei damit. Nachdenken tut man, solang man noch an Auswege und Verstecke glaubt. Solang man nicht um die letzten Kniffe gebracht ist.«

Er nickte vor sich hin und fuhr dann fort: »Ist's aber soweit, ist man splitternackt ausgezogen, dann hält man verdammt wenig mehr vom Denken.

Dann lebt man von den Dingen, die zu einem herankommen. Von den Gedanken, die alles tragen und die etwas ganz anderes sind als unser Gedachtes.«

In Hannes war auf einmal Bestürzung. Ihm schien, als sei da auf einen weiten steilen Weg hingewiesen worden, der niemand locken konnte. Der Schultheiß blickte her. »Herr Baldenius«, sagte er betont, »ich will nicht Propaganda fürs Gefängnis machen; aber mir ist ein guter Dienst geschehen, als man mich einsperrte.«

Und dann setzte er schwer hinzu: »Auf den Tag, da ich ihm dies hätte sagen können, hätte mein Gottfried warten müssen. Dies, meine ich, wäre seine Sohnespflicht gewesen.«

Hannes senkte den Kopf. Er, der sich mit dem Freund immer solidarisch gefühlt hatte, er duckte sich jetzt vor einer Anklage.

Nach langer Zeit sagte er notvoll: »Draußen ist er immer so stark und tapfer und voll guten Glaubens gewesen.«

»Ja«, murmelte der Schultheiß, »draußen, draußen! In dem kleinen Krieg draußen gab es viele Helden; aber in dem großen drinnen? –« 159

Es wurde wieder sehr still. Die Männer sahen vor sich hin, und das Eichhorn hoch oben in den Tannen machte umsonst seine schönsten Sprünge, um sich die Bewunderung der zwei Menschen zu holen.

Auf einmal fing der Schultheiß wieder an: »Bei den Katholiken heißt's: Der Überschuß der guten Werke der Heiligen könne die Lücken bei den andern ausfüllen. Da wäre also ein bestimmtes Maß von Gutem da, das von irgendwem getan werden muß? – –«

Hannes blickte erstaunt auf den Fragenden, und der fuhr erregt fort: »Wenn's mit dem Guten so ist, kann's dann nicht auch mit dem Bösen so sein?«

Jetzt begriff Hannes, daß dieser Kleine, der so gelassen tat, einen harten Kampf in sich ausfocht. Er mühte sich um die rechte Antwort, aber der andere fuhr schon fort: »Das Böse könnte ein Sumpf sein, der ausgewatet und ausgeschöpft werden muß, damit der Weg sauber wird. Ist's nicht so? – –«

Hannes fühlte sich erschüttert. Nichts Rechthaberisches, keine Spitzfindigkeit sprach aus den Ausführungen des Mannes, nur eine nagende Reue, die Kühlung sucht für den innerlichen Brand.

Er forschte krampfhaft in sich nach einem Wort, das hier das richtige wäre. Dann sagte er: »Ich glaube gern, daß wir einmal durchschauen werden, daß auch alles Böse ein Rad treiben muß, das notwendig ist zum Gang des Ganzen.«

Der Schultheiß starrte ihn eine Weile an, dann deckte er die Hand vor die Augen.

Hannes mußte sich einer jähen Angst erwehren, es 160 möchte ein Schluchzen des Kleinen laut werden. Unerträglich wäre ihm das gewesen, er wußte nicht warum.

Aber der Schultheiß sagte jetzt so ruhig, als sei nie von Schwerem gesprochen worden: »Ein gutes Erntewetter braucht man jetzt. Ich bin froh, daß es die Ria mit mir wagen will an diesem, ihrem schönsten Acker. Dieses Mädchen, müssen Sie wissen, hat mehr Mut, als ihre Mutter damals hatte.«

Er deutete jetzt nach den Ähren hin, als raffe er sie zusammen.

»Der Bauernsohn in mir meint, ich solle diesen Prachtacker mit der Sichel schneiden. Ich werde es machen. Das gibt ein wunderbares Stroh. Davon werden im Winter Matten geflochten für die Gärtner. Das hab' ich los, so gut wie einer. Die Melle muß mir dabei helfen. Ich werde der Melle jetzt die Flötentöne beibringen. Ich werde sie in Zucht nehmen, sie ist verwildert.«

Sein Gesicht hatte sich verfinstert; aber es sah eigentlich mehr nach Schmerz, als nach Zorn aus.

Dem andern fiel auf einmal der Forstmeister ein, er wußte selbst nicht warum.

»Sie schreibt doch maschine, das trägt ja mehr ein«, sagte er tastend.

Der Kleine fuhr auf. »Trägt mehr ein! Der Teufel hol's! Sauber muß eine Arbeit sein, sagt der Hafner, wenn er in den Lehm fährt. Ich könnte auch einträglichere Dinge tun, als der Ria den Roggen schneiden, und erst noch mit der Sichel. Zu einem Winkeladvokaten in der Stadt, und zwar zu keinem schlechten, würd' 161 mir's immer noch reichen, und das nährt heutzutag seinen Mann. Aber ich will das« – er stockte – »das, was mich in die Pfütze stieß, nicht um seinen Sinn bringen. Aufstehen und den Kittel putzen, heißt's jetzt für mich. Ein Roggenacker hilft mir dazu eher als der fetteste Prozeß. So ist's mit der Melle und ihrem Maschineschreiben – –«

Nach einer Pause wiederholte er noch einmal hart: »Die Melle ist verwildert. Da muß Schluß sein! Mit der Mutter ist schon Schluß.«

»Fortgejagt?« fragte Hannes unwillkürlich.

Der Kleine lachte. »Wie man's nimmt. Ich hab' ihr nur gesagt, daß ich vorläufig als Bauernknecht hier oben leben und mich an der Erde wieder ehrlich und sauber schaffen wolle, da hat sie sofort ihre Koffer zu packen angefangen. Sie war keine Stunde da oben recht zu Haus. Ihre Tochter läßt sie da, bis sie in der Stadt das Richtige gefunden hat. Nun – für die Melle ist jetzt das Richtige eine gefestete Hand. Mir ist die meine gefestet worden –«

Er stand auf – viel mühseliger, als er sich vorhin hingesetzt hatte –, und Hannes trat neben ihn.

In den Wipfeln oben schrillte das Eichhörnchen in durchdringenden Tönen. Der Schultheiß blickte hinauf. »Freust du dich, oder jammerst du, daß wir gehen?« fragte er.

Und dann zu Hannes gewendet: »Sie haben's zu uns, wie wir mit Gott: es zieht sie beständig zu uns her, und doch läßt ihre Furcht sie nie getrost werden, nie volles Vertrauen zu uns fassen.« 162

Im Weitergehen meinte er: »Wenn diese Tierlein wüßten, mit was wir uns herumschlagen, sie würden dem Schöpfer danken, daß er sie nicht zu Menschen machte.«

Langsam gingen sie am Acker entlang dem einsamen, im Sonnenglast liegenden Weg zu.

Dort blieb der Schultheiß stehen. »Ich sage jetzt, wie schon einmal einer: willst du zur Rechten, so geh' ich zur Linken, willst du zur Linken, so geh' ich zur Rechten.«

»Ich werde noch nach des Werkmeisters Kartoffelacker sehen«, entschied sich Hannes.

Der andere lachte. »So inspiziere ich die Erbsen der Ria.«

Er ging Kolbenhart zu. Nach ein paar Schritten blieb er stehen und rief zurück: »Das, was ich da vorhin vom Menschsein sagte, ist falsch. Es ist eben doch eine große Sache.«

Hannes nickte. Lang sah er dem unscheinbaren Mann nach, der barhäuptig in der Sonne dahinschritt.

Dann ging auch er seines Weges in die Einsamkeit hinein. Aber die heiße Stille war ihm plötzlich nicht mehr leer.

»Gottfried«, sagte es in seinem Innern, »das mit deinem Vater verhält sich ganz anders, als wir meinten.

Du hättest dich keineswegs an ihm schämen müssen.

Dieser kleine Mann schläft mit den Kleidern am Leib und den Waffen an der Seite wie wir damals. –

Ich muß dir auch noch sagen, Gottfried: deines Vaters Fehltritt ist nicht Dutzendware. – 163

Etwas Besonderes ist dabei, das spüre ich. Aber erklären kann ich dir's nicht. Das läßt sich auch gar nicht erklären. Auf einmal weiß man es – –«

In tiefer Verträumtheit grübelte Hannes so vor sich hin. Endlich stand er vor des Werkmeisters Kartoffelacker.

Es war erbärmliches Feld, steinig, ausgesogen, bis aufs letzte erschöpft. Auch der verbissenste Fleiß konnte hier nichts Rechtes mehr herausholen.

Da dachte er an Ria, die er hier einmal hatte arbeiten sehen. Wie eine große Demütigung und Erniedrigung für das Mädchen kam es ihm vor, daß gerade sie in so viel Verwahrlosung hineingestellt war. Ein ganz anderer Platz hätte ihr gebührt und wäre ihr angestanden.

Ria auf dem steinigen Acker und Gottfrieds Vater, der Roggen schnitt mit der Sichel – irgend etwas stimmte da nicht ohne weiteres. Es mußte eine Erklärung, eine Deutung dafür gesucht werden und zu finden sein. –

Die heiße Stille brütete über den Äckern, und Hannes stand in seinen Gedanken verloren.

Da klang es plötzlich in ihm auf wie ferne Erinnerung oder wie eine Stimme aus der Weite her:

»Das ist's: die Führer herunter von den Pferden!«

Erschreckt schaute er sich um. Aber nur die Einsamkeit war ringsumher. 164

 


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