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X

Wird man mir glauben, wenn ich sage, daß ich diesen Gang nur zögernd und langsam antrat? Ich hatte ein böses Vorgefühl. – Ich hätte doch eilen müssen. Ich tat es nicht.

Ich mußte, wenn ich die Krankenzimmer im zweiten Stockwerk erreichen wollte, auch jenen Korridor im Souterrain durchschreiten, wo sich das Tiermaterial befand. Es war gegen Morgen, das elektrische Licht brannte, die meisten Tiere lagen ruhig da und schliefen. Die Affen hatten sich, da ihre Käfige nebeneinander standen, so hingelagert, daß die Köpfe auf beiden Seiten an die trennenden Gitterwände gelehnt waren und einige hatten sogar die Krallen in den Wänden des Nachbargelasses stecken. Auch die Hunde (einige sehr hübsche darunter), die einzeln untergebracht waren, schliefen Wand an Wand. Die kleineren Tiere waren in gemeinsamen Käfigen gefangen. Sie waren durch kleine, viereckige Blechmarken gekennzeichnet, die an den Ohrknorpeln mit Zwecken befestigt waren. Die Meerschweinchen, nur noch zu zweit in einem sehr geräumigen Käfige, waren erwacht, sie knabberten an den Überresten ihres Futters, sahen sich neugierig nach mir um mit ihren kleinen glitzernden Äugelchen und fielen dann stumm wieder in ihren Schlummer zurück. Sie lassen ihre pfeifenden Töne in der Gefangenschaft bloß selten hören. Ein Hund heulte mit hohlem, unterirdischem Ton auf, aber dieses Jaulen war kein Ausdruck des Leidens, denn das Tier lag in tiefem Schlaf und meldete sich so, wie es träumende Hunde tun. Ein Rhesusaffe reckte den Kopf mit der flachen, nackten, braunen Nase, und den sichtbaren breiten schwarzen Nasenlöchern, er hob den linken Hinterlauf und kratzte sich flink ein Ungeziefer vom Nacken. Dabei heftete er seinen seltsamen, in so merkwürdiger Weise an Menschenblick mahnenden Blick aus den kreisrunden, bernsteinklaren Augen auf mich. Wir hatten ihm vor einiger Zeit eine schmerzhafte, aber folgenlose Einspritzung gemacht. Aber er schien dies vergessen zu haben oder erkannte mich nicht als einen seiner Quälgeister wieder. (Ich war nur dabeigestanden, – aber unterscheidet das ein Tier?) Schläfrig senkte er, während die langen nackten Zehen seiner Hinterpranke mit den hornigen, längsovalen Nägeln nach einem anderen lästigen Insekt tasteten, um es dann zu zerknacken, seine kreisrunden, gegen das dunkle braune Gesicht hell abstechenden Augen nieder. Er drehte und wendete seinen Hals und Nacken so geschmeidig, daß er wieder an die Käfigwand zu liegen kam. Und mit einem wohligen Seufzer, der sich in nichts von dem Seufzer eines müden Schulkindes unterschied, schickte er sich wieder zur Nachtruhe an. Er zog die schwere heiße Luft der Kellerkorridors langsam und tief durch seine Nüstern. So verließ ich die Tiere alle in Ruhe und Schlaf, bloß ein paar Ratten, von ihrer bekannten Unruhe getrieben, rumorten in ihren drahtvergitterten Käfigen und rannten plötzlich hinter mir in ihrem Gefängnis im Kreise, kratzten und bissen wütend an den Drähten.

Aus den Fenstern des Krankenzimmerkorridors erblickte man tief unter sich die Altstadt, den Palmen- und Pisangsaum am Ufer der ruhelos wogenden See, die Häuser mit ihren roten, flachen Dächern, auch sie durch Alleen von Bäumen voneinander geschieden. Alles in dem perlmutterartigen, opaleszierenden Dämmern, wie es in den Tropen kurz vor Sonnenaufgang herrscht. Denn der Übergang von der Nacht zum Tage vollzieht sich hier sehr schnell. Weiter entfernt von der Stadt sah man die Batterien am Strande, umgeben von den mit blinkendem Blech gedeckten Baracken der Wachmannschaften. Und jetzt, als sich das Licht von Osten her mit plötzlich sich steigernder Röte füllte, gewahrte man im steigenden Nebel im Innern des Landes am Rande der ungeheuren Waldungen die gewaltigen Siedlungen, die Barackenlager der Camps, wo die Sträflinge zu Hunderten und Tausenden mehr oder weniger friedlich im Schatten der geladenen Gewehre hausten. Nach der Seeseite sah man, nun schon hell besonnt, eine felsige Insel aus schwarzem, matt schimmerndem Gestein.

So kurz die Zeit gewesen war, angefangen von meinem Aufstehen von der Seite Marchs bis zu dem Erreichen des Krankenkorridors, hatte ich doch dies alles gesehen, die Ruhe der Tiere und die Ruhe der Inselwelt und das schieferblaue, zum Ufer leise hinbrandende Meer, die Häuser am Hafen, die Inselkette in der nebelhaften Ferne – ahnte ich, daß ich mich auf einen fürchterlichen Anblick vorzubereiten hatte?

Nicht schrecklicher war der Anblick Monikas jetzt morgens als am Abend der des am Y. F. erkrankten Kanalarbeiters. Aber was soll ich sagen? Es war schauerlicher als der Tod. Worte versagen.

Das Mädchen hatte das bekannte kurze Intermezzo der dramatisch gesteigerten Krankheit Y. F. hinter sich, in dem bei fast allen Fällen das Fieber auf (leider nur) kurze Zeit nachläßt, die Schmerzen sich trügerisch besänftigen, die klare Besinnung wie zum Hohn wiedergekehrt und die Temperatur gesunken ist. Der Himmel empfängt seinen Dank. Denn da glaubt sich der Patient gerettet.

Das war der Augenblick gewesen, wo sie ihre Arme nach mir ausgestreckt hatte. Sie hielt sich für geheilt, war mit ihrem Herzen bei ihrer Mutter, bei ihren Pensionatsfreundinnen, bei ihren Puppen gewesen, was weiß ich? Wer will eine impulsive Geste deuten? Hatte sie an ihre törichte, äffisch liebende Mutter gedacht, aus deren Armen man sie ein paar Tage vorher mit Gewalt hatte fortreißen müssen? Oder hatte sie sich doch an mich anklammern wollen, im Vertrauen auf meine Hilfe? Denn mit meinem Erscheinen war der jähe Wechsel zum Besseren erfolgt.

Nur zu jäh, zu kurz. Nur zu mephistophelisch war der Naturverlauf. Das Fieber war jetzt wieder in unbesiegbarem Aufstieg, es war höher als vierzig. Die Leiden setzten wieder ein.

Als ich die Quecksilbersäule über jenem roten Strich sah, der den vierzigsten Grad bezeichnet, wußte ich, daß nichts mehr zu hoffen war – als ein Wunder.

Aber jetzt an Wunder glauben können, wenn man es Tag seines Lebens nie gekonnt hat? Ich hatte ja gewußt, hatte es gelernt und nicht vergessen, wie das typische Y. F. verläuft, wie man daran zugrunde geht. Und doch wollte ich es jetzt nicht glauben. Statt der Wissenschaft nahm ich, nicht der erste und nicht der letzte, zu dem Kinderglauben meine Zuflucht. Aber schon hatte das erste Erbrechen sich eingestellt, das bloß Wasser heraufbrachte. Das Kind verstand es nicht. Es hatte eben gegen den üblen Mundgeruch Pfefferminztabletten eingenommen, und nun stieg eine helle Flüssigkeit mit starkem Pfefferminzgeruch ihr die Kehle hoch. Sie wollte nicht brechen, sie wehrte sich dagegen, sie schämte sich, gut erzogen wie sie war, vor ihrer Amme und – vor mir. Sie hatte kaum eine Minute Ruhe. Noch hatte ihr die alte Negerin mit einem Seidentüchlein die jetzt auffallend blassen Lippen, die aus dem kanariengelben Gesichtchen hervorstachen, nicht ganz abgetrocknet, als der Würgreiz von frischem begann. Nicht! Nein! Nicht! Sie wollte tief atmen und ausruhen, von nie gefühlter, schmerzensvoller Mattigkeit ergriffen. Es ließ sie nicht. Dem Erbrochenen waren bald dünne Blutstreifchen, dann schwarze Krümelchen beigemischt, und nach sehr kurzer Zeit sah ich, daß sie bereits fast reines Blut von sich gab.

Sie konnte nicht klagen, nur wimmern – ohne richtige Worte zu bilden. Welcher Mensch hätte denn auch mit einer blutenden, geschwollenen Zunge Worte zu bilden vermocht?

Ich tat, was mir der Chefarzt des Lazaretts gestern als Hilfe, als Therapie angegeben hatte. Diese Therapie konnte aber nur mildern, helfen nicht. Ich wäre selig gewesen, wenn sie wenigstens gemildert hätte. Aber selbst daran konnte ich nicht glauben.

Es hätte jedem, aber auch jedem noch nicht völlig entmenschten Herzen weh getan, einen niederträchtigen Satan, einen Soliman zum Beispiel, so leiden zu sehen, wie jetzt dieses blühende, liebreizende, unschuldsvolle, kindliche Wesen –. Ich biß die Zähne zusammen. Die furchterfüllten, saugenden, verzweifelten Blicke des verlorenen Wesens von seinem Leidenslager beantwortete ich mit einem tröstlich sein sollenden Lächeln, aus dem aber nur eine häßlich grinsende Grimasse wurde.

Da es sich um ein in die Blutbahn eingedrungenes Gift handelte, mußte man darnach trachten, es durch möglichst intensive Durchspülung des Nierensystems nach Kräften wieder auszuscheiden. Das Erbrechen war durch Serum? nein, durch Medizin? nein, nur durch horizontale Körperlage zu bekämpfen. Das war die Therapie! Und wenn sich auch immer wieder der schwellende Leib im Bette emporkrampfte, wenn immer wieder neue Würgreize ihn aufbäumen ließen, ich hielt das Kind mit den Händen sanft in der gepriesenen, einzig richtigen horizontalen Lage fest. Welcher Hohn! Y. F. mit zweiundvierzig Grad – und die hauptsächlichste Hilfe soll die horizontale Körperlage und das Eisstückchen-Schlucken sein!!

Ich redete dem Kind gut zu. Ich sparte nicht mit Versprechungen, von denen ich wußte, daß sie lügnerisch waren. Die Mulattin, deren Gesichtsfarbe unter diesen schauerlichen Eindrücken so fahl geworden war, als es bei einer Farbigen nur möglich ist, wollte das Kind nicht verlassen. Ich drängte sie zur Tür hinaus, jagte sie in die Küchenräume des Krankenhauses hinab, damit sie eisgekühlte Limonade heraufbringe. In den Küchenräumen hatte man zu diesem Zwecke Gefäße mit doppelten Wänden, deren Zwischenräume mit kleingehacktem Eis gefüllt waren. War es doch nicht der erste, nicht der letzte Fall dieser Art. Das Kind mochte nicht. Ich schickte die Amme, die noch nicht richtig verschnauft hatte, wieder hinunter, ließ Champagner aus dem Privatkeller des Direktors kommen und schnitt mit einem Taschenmesser den Draht durch, der den Stöpsel festhielt. Der Champagner schmeckte dem Kind ebensowenig wie die Limonade. Vielleicht verursachte die Kohlensäure beim Sekt, die Zitronensäure bei der Limonade eine neue Reizung der entzündeten, offenliegenden Mund-, Rachen- und Magenwände. Die Amme mußte nochmals hinunter. Sie murrte und sah mich mit ihren braunen Hundeaugen gehässig an. Diesmal ließ ich Fruchteis kommen und flößte es dem Kinde geduldig ein, nachdem ich den Löffel der ungeschickten Amme hatte aus den Händen nehmen müssen. Ich versuchte, ihr das Eis so zu geben, daß der Löffel nach Möglichkeit weder die Lippen noch die geschwollene Zunge berührte.

Ich wurde zu dem anderen Kranken, dem Erdarbeiter, gerufen, dem es jetzt etwas besser, aber immer noch elend genug ging. Ich kam nicht. March stellte sich ein, wollte mich zum Frühstück begleiten, ich lehnte ab, er ging und kam dann (das Kind!) wieder mit Früchten und mit einem frisch gewaschenen Taschentuch. Ich schickte ihn fort. Ich dachte an nichts und konnte an nichts denken als an das kleine Wesen, dessen Händchen und Füßchen sich kalt anfühlten, obwohl das Fieber immer noch im Steigen begriffen war. Über dreiundvierzig Grad.

Irgend etwas schien sich die kleine Portugiesin zu wünschen, wir, die Mulattin und ich, vermochten das gestammelte Wort, das die blutende Zunge hervorbrachte, bei dem dauernden Würgen und Brechen nicht zu verstehen. Die farbige Frau hing dem Kind ihren silbernen Rosenkranz um das Hälschen und darüber noch die kostbare Perlenkette der Frau Mama, ein Schmuckstück, welches die alberne, von Gott verlassene Mutter dem Opfer ihrer Affenliebe in das Lazarett mitgegeben hatte. Aber nichts von diesen Dingen war das, was das Kind sich gewünscht hatte. Ein letzter Wunsch – und unerfüllbar wie alle echten Wünsche!

Oder ist es nicht so?


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