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Fünftes Kapitel

»Mutter, Mutter, ich bin ja so glücklich«, flüsterte das Mädchen und barg ihr Gesicht im Schoße der verblühten, müde aussehenden Frau, die den Rücken gegen das grell eindringende Licht gekehrt, in dem einzigen Armstuhl saß, den ihr armseliges Wohnzimmer enthielt. »Ich bin so glücklich,« wiederholte sie, »und du sollst auch glücklich sein.«

Mrs. Vane wurde unruhig und legte ihre dünnen, wismutweißen Hände auf den Kopf der Tochter. »Glücklich,« hallte es wider, »ich bin nur dann glücklich, wenn ich dich spielen sehe, Sibyl. Du darfst an nichts anderes denken als an dein Spiel. Mr. Isaacs ist sehr gut gegen uns, wir sind ihm Geld schuldig.«

»Geld, Mutter!« rief sie aus. »Was liegt an Geld! Liebe ist mehr als Geld!«

»Mr. Isaacs hat uns fünfzig Pfund Vorschuß gegeben, daß wir unsere Schulden zahlen und anständige Kleidung für James kaufen können. Das darfst du nicht vergessen, Sibyl. Fünfzig Pfund ist sehr viel Geld. Mr. Isaacs ist sehr anständig gewesen.«

»Er ist kein Gentleman, Mutter, und ich hasse die Art, wie er mit mir spricht«, sagte das Mädchen, stand auf und ging zum Fenster hinüber.

»Ich wüßte nicht, wie wir ohne ihn weiterkämen«, zankte die alte Frau.

Sibyl Vane schüttelte den Kopf und lachte: »Wir brauchen ihn nicht mehr, Mutter, der Märchenprinz bestimmt nun unser Leben.« Dann schwieg sie. Eine Blutwelle ließ ihre Adern erbeben und färbte ihre Wangen dunkelrot. Der rasche Atem öffnete die Lippen, daß sie erzitterten; ein Sturm heißer Leidenschaft fegte über sie hin und bewegte die zierlichen Falten ihrer Kleider. »Ich liebe ihn«, sagte sie schlicht.

Wie aus dem Munde eines Papageien flog ihr die Antwort entgegen: »Törichtes Kind, törichtes Kind!« Die Bewegungen knöcheriger mit falschen Ringen gezierter Finger machten diesen Ausruf noch grotesker.

Das Mädchen lachte wieder. In ihrer Stimme lag etwas wie die Freude des Vogels im Käfig. Ihre Augen fingen die Melodie dieses Lachens auf und wiederholten sie in ihrem Glanze, dann schlossen sie sich einen Augenblick, als wollten sie ihr Geheimnis verbergen, und als sie sich wieder öffneten, lag der Nebelschleier eines Traumes auf ihnen.

Aus dem abgenützten Stuhl kamen die Worte der Weisheit von dünnen Lippen, mahnten zur Besinnung, teilten aus jenem Buch der Feigheit mit, dem sein Autor den falschen Titel »Gesunder Menschenverstand« zugelegt hat. Sie hörte nicht zu. Im Gefängnis ihrer Leidenschaft war sie frei. Ihr Prinz, der Märchenprinz war bei ihr. Sie hatte das Gedächtnis angerufen, um ihn neu zu schaffen. Sie hatte ihre Seele auf die Suche nach ihm geschickt, und die hatte ihn ihr gebracht. Sein Kuß brannte wieder auf ihrem Munde. Ihre Augenlider waren warm von seinem Atem.

Dann änderte die Weisheit ihre Methode und sprach von Erkundigungen und Nachforschungen. Es mochte ja sein, daß dieser junge Mann reich sei; wenn, dann müßte man ans Heiraten denken. An der Ohrmuschel des Mädchens brachen sich die Wellen weltlicher Schlauheit. Die Pfeile der List sausten an ihr vorüber. Sie sah, wie sich die dünnen Lippen bewegten, und lächelte.

Plötzlich fühlte sie das Bedürfnis zu sprechen. Das nichtssagende Geschwätz der Alten verwirrte sie. »Mutter, Mutter!« rief sie aus. »Warum liebt er mich so? Ich weiß, warum ich ihn liebe. Ich liebe ihn, weil er so ist, wie die Liebe selbst sein muß. Aber was findet er an mir? Ich bin seiner nicht wert. Und doch – warum ist es, kann ich nicht sagen – ich spüre, wie tief ich unter ihm bin, aber ich fühle mich nicht gering. Nein. Ich bin stolz, schrecklich stolz. Mutter, hast du meinen Vater so geliebt, wie ich den Märchenprinz liebe?«

Die alte Frau wurde bleich unter der dicken Lage Puder, die ihre Wangen bedeckte, und ihre trockenen Lippen erzitterten in zuckendem Schmerz. Sibyl lief zu ihr hin, schlang ihre Arme um ihren Hals und küßte sie. »Verzeih mir, Mutter, ich weiß, es schmerzt dich, an meinen Vater zu denken. Aber es schmerzt dich nur, weil du ihn so geliebt hast. Sei nicht so traurig. Heute bin ich so glücklich, wie du vor zwanzig Jahren warst. Ach, wenn ich doch immer so glücklich sein könnte!«

»Mein Kind, du bist viel zu jung, um an Liebe zu denken. Und dann, was weißt du von dem jungen Mann? Du weißt nicht einmal seinen Namen. Die ganze Sache ist höchst unpassend, und ich muß wirklich sagen, in einer Zeit, wo James nach Australien geht und ich an so viele Dinge zu denken habe, hättest du mehr Überlegung zeigen sollen. Immerhin, wie ich schon vorhin sagte, wenn er reich ist …«

»O Mutter, Mutter, laß mich glücklich sein!«

Mrs. Vane blickte sie an und schloß sie mit einer jener verlogenen theatralischen Gesten, die dem Schauspieler so oft zur zweiten Natur werden, in die Arme. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und ein junger Mensch mit struppigem, braunem Haar kam ins Zimmer. Er war von untersetzter Gestalt, seine Hände und Füße waren groß und bewegten sich nur unbeholfen. Er war nicht so fein gebaut wie seine Schwester. Man hätte kaum die nahe Verwandtschaft, die zwischen beiden bestand, erraten können. Mrs. Vane richtete ihre Augen auf ihn und verstärkte ihr Lächeln. In ihrem Geiste erhob sie ihren Sohn zur Würde eines Publikums. Sie war überzeugt, daß die Szene interessant war.

»Du könntest dir einige Küsse für mich aufheben, Sibyl«, sagte der junge Bursch mit gutmütigem Knurren.

»Jim, du hast doch aber Küsse gar nicht gern!« rief sie ihm zu. »Du bist ein greulicher alter Bär!« Dann lief sie durchs Zimmer und hätschelte ihn.

James Vane sah zärtlich ins Gesicht seiner Schwester. »Ich möchte mit dir spazierengehen, Sibyl. Ich glaube nicht, daß ich das schreckliche London je wiedersehe. Ich mache mir auch gar nichts daraus.«

»Mein Sohn, du solltest so schreckliche Dinge nicht sagen«, flüsterte Mrs. Vane, während sie ein geschmacklos ausgeputztes Theaterkostüm seufzend aufnahm und es auszubessern begann. Sie fühlte eine kleine Enttäuschung, weil er sich nicht der Gruppe angeschlossen hatte. Das hätte die malerische Wirkung der Szene erheblich vermehrt.

»Warum nicht, Mutter? Es ist mein Ernst.«

»Du kränkst mich, mein Sohn. Ich habe das Vertrauen, daß du von Australien mit Glücksgütern zurückkehrst. Ich vermute, es gibt dort keinerlei Gesellschaft, wenigstens nichts, was ich Gesellschaft nennen würde; wenn du also ein Vermögen erworben hast, mußt du zurückkommen und dich in London zur Geltung bringen.«

»Gesellschaft«, murmelte der junge Mann. »Ich will nichts davon wissen. Ich möchte so viel Geld verdienen, um dich und Sibyl vom Theater wegzunehmen. Ich hasse es.«

»O Jim,« sagte Sibyl lachend, »wie schlecht von dir! Aber, willst du wirklich mit mir spazierengehen? Das ist schön. Ich habe schon Angst gehabt, daß du dich bei deinen Freunden verabschiedest – bei Tom Hardy, der dir die gräßliche Pfeife geschenkt hat, oder bei Nell Langton, der dich auslacht, weil du sie rauchst. Es ist sehr lieb von dir, daß du mir deinen letzten Nachmittag schenkst. Wohin sollen wir gehen? Wollen wir in den Park?«

»Dazu bin ich zu schäbig«, antwortete er geärgert. »Nur die feinen Leute gehen in den Park.«

»Unsinn, Jim«, flüsterte sie und streichelte den Ärmel.

Er zögerte noch einen Augenblick. »Gut,« sagte er schließlich, »mach' nicht zu lang mit dem Anziehen.«

Sie tanzte zur Tür hinaus. Man konnte sie singen hören, während sie hinauflief. Ihre kleinen Füße trippelten oben. Er ging zwei- oder dreimal durch das Zimmer, dann wandte er sich zu der schweigsamen Gestalt im Sessel.

»Mutter, sind meine Sachen fertig?« fragte er.

»Alles in Ordnung, James«, antwortete sie und hielt die Augen auf ihre Arbeit gerichtet. Seit einigen Monaten fühlte sie sich schon unbehaglich, wenn sie mit ihrem rauhen, ernsten Sohn allein war. Ihre im Grunde oberflächliche Natur wurde beunruhigt, wenn ihre Augen sich trafen. Sie fragte sich schon seit langer Zeit, ob er einen Verdacht habe. Das Schweigen, das entstand, da er nichts mehr sagte, wurde ihr unerträglich. Sie begann also zu klagen. Frauen verteidigen sich, indem sie angreifen, gerade so, wie sie durch jähes und merkwürdiges Nachgeben angreifen. »Ich hoffe, James, dein Seefahrerleben wird dich befriedigen. Hoffentlich wirst du glücklich in deinem Beruf auf dem Meer, James. Du mußt immer daran denken, daß es deine eigene Wahl war. Du hättest in ein Anwaltsbureau eintreten können. Anwälte sind ein sehr respektabler Stand und werden auf dem Lande oft in den besten Familien eingeladen.«

»Ich hasse Bureaus und ich hasse Schreiber,« antwortete er, »aber du hast ganz recht, ich habe mir mein Leben gewählt. Alles, was ich sage, ist: Gib' auf Sibyl acht, ihr soll kein Unglück zustoßen. Mutter, du mußt über sie wachen!«

»James, du hast eine merkwürdige Art, mit mir zu reden. Natürlich wache ich über sie.«

»Ich höre, ein junger Mann kommt jeden Abend ins Theater und geht hinter die Bühne und spricht mit ihr. Ist das wahr? Wie verhält sich's damit?«

»James, du sprichst über Dinge, von denen du nichts verstehst. Wir in unserem Beruf sind gewöhnt, eine Menge höchst angenehmer Aufmerksamkeiten zu empfangen. Ich selbst habe in früheren Zeiten viele Blumen bekommen. Es war zu einer Zeit, wo man vom Spielen noch etwas verstand. Was Sibyl anbelangt, so kann ich im Augenblick nicht entscheiden, ob ihre Neigung ernst ist oder nicht. Es ist aber kein Zweifel darüber, daß der junge Mann, der in Frage steht, ein vollendeter Gentleman ist. Er ist immer ungemein höflich zu mir. Er sieht auch aus, als wär' er reich, und die Blumen, die er schickt, sind entzückend.«

»Bei alldem weißt du seinen Namen nicht«, sagte der junge Mann scharf.

»Nein,« antwortete die Mutter mit gelassenem Gesichtsausdruck, »er hat uns seinen wirklichen Namen noch nicht verraten. Ich finde das sehr romantisch. Wahrscheinlich ist er von Adel.«

James Vane biß sich auf die Lippen. »Gib' auf Sibyl acht!« schrie er. »Gib auf sie acht!«

»Mein Sohn, du kränkst mich ungemein. Sibyl steht unaufhörlich unter meiner besonderen Obhut. Natürlich, falls dieser junge Gentleman vermögend ist, sehe ich keinen Grund, weshalb sie nicht eine Verbindung mit ihm eingehen soll. Ich bin fest überzeugt, er gehört zum hohen Adel. Er sieht ganz so aus, muß ich sagen. Es könnte eine brillante Heirat für Sibyl sein. Sie würden ein entzückendes Paar sein. Seine Schönheit ist wirklich ganz außerordentlich. Jedermann bemerkt sie.«

Der junge Mann murmelte etwas in sich hinein und trommelte mit seinen derben Fingern gegen die Scheibe. Er hatte sich gerade umgewandt, um etwas zu sagen, als die Tür aufging und Sibyl rasch hereinkam.

»Was macht ihr beide denn für ernste Gesichter!« rief sie aus. »Was ist denn los?«

»Nichts«, antwortete er. »Man muß doch auch manchmal ernst sein. Adieu, Mutter. Ich will um fünf Uhr essen. Alles ist gepackt bis auf die Hemden, du brauchst dich also um nichts zu sorgen.«

»Adieu, mein Sohn«, antwortete sie mit einer Verbeugung von gemachter Würde.

Sie ärgerte sich sehr über den Ton, den er ihr gegenüber angeschlagen hatte, und in seinem Blicke lag etwas, das ihr Angst machte.

»Gib mir einen Kuß, Mutter«, sagte das Mädchen. Die blütengleichen Lippen berührten ihre verwitterten Wangen und wärmten ihre Kälte.

»Mein Kind, mein Kind!« rief Mrs. Vane aus, zur Decke aufblickend, als suchte sie eine Galerie, die nur in ihrer Einbildung bestand.

»Komm, Sibyl«, sagte der Bruder ungeduldig. Er konnte die Posen seiner Mutter nicht ausstehen.

Sie gingen nun hinaus in den schimmernden, windbewegten Sonnenschein und schlenderten die öde Euston Road hinab. Die Leute blickten verwundert auf den finsteren, schwerfälligen jungen Mann in den groben schlecht passenden Kleidern, den ein so anmutiges fein aussehendes Mädchen begleitete. Er glich einem Gemüsegärtner, der, eine Rose in der Hand, dahergeht.

Jim runzelte von Zeit zu Zeit die Stirne, wenn er den forschenden Blick eines Fremden bemerkte. Er hatte die Abneigung dagegen, angestarrt zu werden, die geniale Menschen erst so spät im Leben bekommen und die den gewöhnlichen Mann nie verläßt. Sibyl dagegen wußte nichts von der Wirkung, die sie hervorbrachte. Ihre Liebe zitterte lachend auf ihren Lippen. Sie dachte an ihren Märchenprinzen und, um besser an ihn denken zu können, sprach sie nicht von ihm, sondern plauderte in einem hin von dem Schiff, auf dem Jim wegfahren sollte, von dem Gold, was er sicher finden würde, von der geheimnisvollen Erbin, deren Leben er schlechten, rotblusigen Buschräubern entreißen sollte. Denn er sollte nicht Matrose bleiben oder Verfrachter oder was er sonst jetzt werden würde. O nein! Das Dasein des Matrosen war zu schrecklich. Man denke nur, in ein schreckliches Schiff hineingepreßt sein, wenn die rohen, buckeligen Wellen immer eindringen wollen und ein schwarzer Wind die Maste niederwirft und die Segel zu langen, klatschenden Streifen zerreißt. Er sollte in Melbourne vom Schiff weggehen, dem Kapitän höflich Adieu sagen und sofort zu den Goldfeldern wandern. Bevor noch eine Woche vergangen war, werde er auf einen großen Goldklumpen stoßen, auf den größten, der je entdeckt worden sei, und ihn zur Küste schaffen in einem großen Wagen, den sechs berittene Polizisten bewachen würden. Die Buschräuber würden sie dreimal überfallen und nach einem ungeheueren Gemetzel zurückgeschlagen werden. Oder nein: er sollte überhaupt nicht zu den Goldfeldern gehen. Das wären schreckliche Plätze, wo die Leute sich betrinken und einander in Kneipen totschießen und schrecklich fluchen. Er sollte ein netter Schafzüchter werden, und eines Abends, wenn er nach Hause ritte, würde er der schönen Erbin begegnen, die gerade von einem Räuber auf einem Rappen entführt würde, ihm nachsetzen und sie befreien. Natürlich würde sie sich in ihn verlieben und er in sie. Er würde sie heiraten, nach Hause kommen und mit ihr in einem prachtvollen Hause in London leben. Ja, entzückende Dinge warteten auf ihn, aber er müsse auch sehr gut sein, nie zornig werden und nie sein Geld vergeuden. Sie sei nur ein Jahr älter als er, aber sie wisse so viel mehr vom Leben. Er müsse ihr auch ganz gewiß an jedem Posttag schreiben und jede Nacht beten, bevor er schlafen gehe. Gott sei sehr gut und werde über ihn wachen. Auch werde sie für ihn beten, und in ein paar Jahren werde er reich und glücklich nach Hause zurückkehren.

Der junge Mann hörte ihr brummig zu und gab keine Antwort. Ihm tat das Herz weh, weil er von der Heimat weg mußte.

Aber es war nicht das allein, was ihn düster und mürrisch stimmte. Obwohl er gar keine Lebenserfahrung hatte, empfand er doch sehr lebhaft die Gefahr, die mit Sibyls Stellung verbunden war. Dieser junge Stutzer, der ihr den Hof machte, konnte nichts Gutes bedeuten. Er war ein vornehmer Mann, und das trug ihm Jims Haß ein, diesen Haß, der aus einem sonderbaren Rassegefühl kam, für den er keinen bestimmten Grund angeben konnte und der gerade darum um so stärker in ihm war. Er kannte auch die Oberflächlichkeit und die Eitelkeit seiner Mutter und sah darin eine ungeheuere Gefahr für Sibyl und Sibyls Glück. Kinder fangen damit an, ihre Eltern zu lieben; wenn sie älter werden, urteilen sie über sie; manchmal vergeben sie ihnen auch.

Die Mutter! Seit Tagen brütete eine Frage an sie in seinem Gehirn. Der Gedanke an etwas, was er lange schweigsame Monate hindurch mit sich herumgetragen hatte. Ein zufälliges Wort, das er im Theater aufgeschnappt hatte, ein hingeflüsterter spöttischer Scherz, der eines Abends, als er an der Bühnentüre wartete, an sein Ohr gedrungen war, hatte eine Folge schrecklicher Gedanken in ihm entfesselt. Er erinnerte sich daran, als wäre der Hieb einer Reitpeitsche über sein Gesicht gegangen. Seine Augenbrauen kniffen sich zu einer keilförmigen Furche zusammen, und in einem plötzlichen schmerzlichen Krampf biß er in seine Unterlippe.

»Du hörst kein einziges Wort, das ich sage, Jim!« rief Sibyl aus, »und ich mache die entzückendsten Pläne für deine Zukunft. Sag, doch was!«

»Was soll ich sagen?«

»Daß du ein guter Bruder sein wirst und uns nicht vergißt«, antwortete sie und lächelte ihn an.

Er zuckte die Achseln. »Es ist eher wahrscheinlich, daß du mich vergißt, als daß ich dich vergesse.«

Sie errötete. »Wie meinst du das, Jim?« fragte sie.

»Du hast einen neuen Freund. Wer ist er? Warum hast du mir nichts von ihm gesagt? Er bringt dir nichts Gutes.«

»Hör' auf, Jim,« rief sie aus, »du darfst nichts gegen ihn sagen. Ich liebe ihn.«

»Ach was, du weißt nicht einmal seinen Namen«, erwiderte er. »Wer ist er? Ich habe ein Recht, es zu wissen.«

»Er heißt der Märchenprinz. Ist der Name nicht schön? O du dummer Bub, du sollst ihn nie vergessen! Wenn du ihn nur ein einziges Mal sehen würdest, müßtest du ihn für den wundervollsten Menschen auf der Welt halten. Eines schönen Tages wirst du ihn kennen lernen, wenn du von Australien zurückkommst. Du wirst ihn sehr lieb haben. Jeder Mensch hat ihn lieb, und ich … liebe ihn. Ich wollte, du könntest heut' abend ins Theater kommen. Er wird kommen und ich soll die Julia spielen. Oh, wie ich sie spielen werde! Denk' nur, Jim, lieben und die Julia spielen. Wissen, daß er dasitzt. Zu seiner Freude spielen. Ich fürchte, ich werde die Gesellschaft erschrecken, sie erschrecken oder entzücken. Lieben heißt sich selbst übertreffen. Der gräßliche Mr. Isaacs wird seinen Kumpanen an der Bar zuschreien, ich sei ein Genie. Er hat mich ihnen als ein Dogma gepredigt, heute nacht wird er mich als eine Offenbarung verkündigen. Ich fühle das, und all das ist sein Werk, nur sein, des Märchenprinzen, meines wunderbaren Geliebten, dieses Gottes der Musen. Aber ich bin ein armes Ding an seiner Seite. Arm, was liegt daran? ›Schleicht die Armut in ein Haus, fliegt die Lieb' zur Tür hinaus.‹ Die alten Sprichwörter müssen umgeändert werden. Sie sind im Winter erfunden worden und jetzt ist's Sommer. Für mich Frühling, ein Tanz der Blüten unter blauem Himmel.«

»Er ist ein vornehmer Mann«, sagte Jim finster.

»Ein Prinz!« rief sie mit melodischer Stimme. »Was willst du mehr?«

»Er wird dich knechten.«

»Ich erschrecke bei dem Gedanken, frei zu sein.«

»Du sollst dich vor ihm hüten.«

»Ihn ansehen, heißt ihn anbeten, ihn kennen, heißt ihm vertrauen!«

»Sibyl, er hat dich verrückt gemacht.«

Sie lachte und nahm seinen Arm. »Mein lieber, alter Jim, du sprichst so, als wärest du hundert Jahre alt. Einmal wirst du selbst lieben, und dann wirst du erst wissen, was das ist. Sieh mich nicht so brummig an! Du solltest dich freuen, wenn du daran denkst, daß du mich glücklicher zurückläßt, als ich je vorher gewesen bin. Das Leben war bisher für uns beide hart, furchtbar hart und schwer. Aber jetzt wird's anders. Du gehst in eine neue Welt, und ich habe eine neue gefunden … Da sind zwei Stühle, wir wollen uns hinsetzen und die eleganten Leute vorbeigehen sehen.«

Sie setzten sich mitten in einen Haufen von Zuschauern. Die Tulpenbeete längs des Weges flammten wie zuckende Feuerringe. Ein weißer Dunst wie eine zitternde Wolke von Irisstaub hing in der gleißenden Lust. Die hellfarbigen Sonnenschirme tanzten auf und ab wie riesengroße Schmetterlinge.

Sie brachte ihren Bruder dazu, daß er von sich, seinen Hoffnungen und seinen Plänen sprach. Er redete nur zögernd und mühsam. Sie sprachen zueinander, wie die Spieler sich bei einem Spiel die Points ansagen. Es drückte Sibyl nieder. Sie konnte ihm ihre Freude nicht mitteilen. Ein leichtes Lächeln, das seinen finsteren Mund bog, war all die Antwort, die sie erhielt. Nach einiger Zeit wurde sie ganz schweigsam. Plötzlich erblickte sie einen Schimmer von goldenem Haar und lachende Lippen, und in einem offenen Wagen fuhr Dorian Gray mit zwei Damen vorbei.

Sie sprang auf die Füße. »Da ist er!« rief sie aus.

»Wer?« fragte Jim Vane.

»Der Märchenprinz«, antwortete sie und blickte dem Wagen nach.

Er sprang auf und faßte sie rauh beim Arm. »Zeige ihn mir. Welcher ist es? Zeige ihn mir, ich muß ihn sehen!« schrie er. Aber in diesem Augenblick fuhr das Viergespann des Herzogs von Berwick vorbei, und als die Aussicht wieder frei war, hatte der Wagen den Park schon verlassen.

»Er ist fort«, murmelte Sibyl traurig. »Ich wünschte, du hättest ihn gesehen.«

»Ich wünschte es auch. Denn so gewiß ein Gott im Himmel ist, wenn er dir je ein Leid antut, bringt ich ihn um!«

Sie sah ihn erschreckt an. Er wiederholte seine Worte. Sie schnitten durch die Luft wie ein Schwert. Die Leute ringsherum fingen an, sie anzustarren. Eine Dame, die nahebei stand, kicherte.

»Komm fort, Jim, komm fort«, flüsterte sie ihm zu. Er ging ihr nach mit störrischer Miene, als sie die Menge durchschritt. Er war zufrieden, daß er dies Gelübde getan hatte. Als sie bei der Achillesstatue war, drehte sie sich nach ihm um. In ihren Augen lag Mitleid, das auf ihren Lippen zu einem Lachen wurde. Sie schüttelte den Kopfüber ihn. »Du bist verrückt, Jim, ganz und gar verrückt. Ein böser Bub', sonst nichts. Wie kannst du so etwas Entsetzliches sagen? Du weißt ja gar nicht, wovon du sprichst. Du bist einfach eifersüchtig und unfreundlich. Ich möchte, daß du dich verliebtest. Liebe macht die Menschen gut. Und was du gesagt hast, war schlecht.«

»Ich bin erst sechzehn,« gab er zur Antwort, »aber ich weiß, was ich zu tun habe. Die Mutter kann dir nicht helfen. Sie weiß nicht, wie man für dich sorgen muß. Ich wünschte jetzt, daß ich überhaupt nicht nach Australien zu gehen hätte. Ich denke sehr daran, die ganze Sache zu lassen. Ich täte es, wenn meine Papiere nicht schon unterschrieben wären.«

»Du sollst nicht so ernsthaft sein, Jim. Du bist wie einer von den Helden aus den dummen Melodramen, in denen die Mutter so gern gespielt hat. Ich will mich mit dir nicht streiten. Ich habe ihn gesehen, und ihn sehen ist ein vollendetes Glück. Wir wollen nicht streiten. Ich bin ganz überzeugt, daß du nie jemand, den ich liebe, etwas antun wirst.«

»Nicht, solange du ihn liebst«, war die finstere Antwort.

»Ich werde ihn immer lieben!« rief sie.

»Und er? …«

»Mich immer.«

»Das ist sein Glück!«

Sie schrak vor ihm zurück. Dann lachte sie und legte die Hand auf seinen Arm. Er war ja doch nur ein Bub'.

Am Marble Arch nahmen sie einen Omnibus, der sie bis dicht zu ihrer schäbigen Wohnung in Euston Road brachte. Es war schon fünf Uhr vorüber, und Sibyl mußte sich noch ein paar Stunden niederlegen, bevor sie auftrat. Jim bestand darauf, daß sie es tat. Er sagte, er würde von ihr leichter Abschied nehmen, wenn die Mutter nicht dabei wäre. Sie würde sicher eine Szene machen, und er haßte Szenen aller Art.

Sie nahmen in Sibyls Zimmer Abschied. In dem Herzen des Jünglings brannte Eifersucht und ein grimmiger, mörderischer Haß auf den Fremden, der, wie ihm schien, zwischen sie getreten war. Als dann aber ihre Arme sich um seinen Hals schlangen und ihre Finger durch sein Haar fuhren, wurde er weich und küßte sie mit wahrhafter Zärtlichkeit. Als er hinunterging, standen Tränen in seinen Augen.

Die Mutter wartete unten auf ihn. Als er eintrat, murrte sie über seine Unpünktlichkeit. Er gab keine Antwort und setzte sich zu dem mageren Mahle. Die Fliegen summten um den Tisch herum und krochen über das fleckige Tischtuch. Durch den Lärm der vorbeirollenden Omnibusse und das Klappern der Wagen auf der Straße hindurch konnte er das Dröhnen hören, das jede Minute, die ihm noch übrig blieb, verschlang.

Nach einer Weile schob er seinen Teller weg und stützte den Kopf in die Hände. Er fühlte, daß er ein Recht habe, alles zu wissen. Wenn die Dinge waren, wie er vermutete, hätte er es längst erfahren sollen. Bleischwer vor Furcht, beobachtete ihn die Mutter. Die Worte tröpfelten ihr mechanisch von den Lippen. In den Fingern zerknüllte sie ein zerrissenes Spitzentuch. Als die Uhr sechs schlug, stand er auf und ging zur Tür. Dann drehte er sich um und sah sie an. Ihre Blicke begegneten sich. In ihren Augen las er eine inbrünstige Bitte um Mitleid. Das brachte ihn außer Fassung.

»Mutter, ich habe eine Frage an dich«, sagte er.

Ihre Augen irrten im Zimmer herum. Sie gab keine Antwort.

»Sag' mir die Wahrheit. Ich habe ein Recht, sie zu erfahren. Warst du mit unserem Vater verheiratet?«

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Es war ein Seufzer der Erleichterung. Der schwere Augenblick, vor dem sie sich Tag und Nacht seit Wochen und Monaten geängstigt hatte, war endlich gekommen, und dennoch hatte sie keine Furcht. Ja, es war gewissermaßen eine Enttäuschung für sie. Die gemeine Deutlichkeit der Frage verlangte eine deutliche Antwort. Die Situation war nicht in langsamer Steigerung herbeigeführt worden. Es war roh. Es erinnerte sie an eine mißlungene Probe.

»Nein«, antwortete sie, erstaunt über die brutale Einfachheit des Lebens.

»Dann war mein Vater ein Schuft!« schrie der junge Mann, die Faust ballend.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich wußte, daß er nicht frei war. Wir haben uns sehr geliebt. Wenn er am Leben geblieben wäre, hätte er für uns gesorgt. Sage nichts gegen ihn, mein Sohn, er war dein Vater und ein vornehmer Mann. Er hatte wirklich vornehme Verbindungen.«

Ein Fluch kam von seinen Lippen. »Meinetwegen ist es ja gleich … aber laß Sibyl nicht … Es ist ein vornehmer Mann, nicht wahr, der sie liebt? Oder er sagt es wenigstens. Auch mit den besten Verbindungen, vermute ich.«

Einen Augenblick lang kam ein schreckliches Gefühl der Erniedrigung über die alte Frau. Ihr Kopf sank herab. Mit zitternden Händen wischte sie sich die Augen. »Sibyl hat eine Mutter,« flüsterte sie, »ich hatte keine.«

Der Jüngling war ergriffen. Er ging zu ihr hin, beugte sich zu ihr und küßte sie. »Es tut mir leid, wenn ich dich durch eine Frage nach meinem Vater gekränkt habe,« sagte er, »aber ich konnte nicht anders. Jetzt muß ich fort. Leb' wohl! Vergiß nicht, daß du jetzt nur noch ein Kind hast, um das du dich sorgen mußt, und glaub' mir: wenn dieser Mann meiner Schwester ein Leid tut, werde ich herausfinden, wer er ist, werde ihn verfolgen und ihn töten wie einen Hund. Ich schwöre es!«

Dieser tollaufgeregte Schwur, die leidenschaftlichen Bewegungen, die ihn begleiteten, die wahnsinnigen, melodramatischen Worte schienen der alten Frau das Leben endlich bewegter zu gestalten. Diese Atmosphäre war ihr vertraut. Sie atmete nun freier, und zum ersten Male seit vielen Monaten bewunderte sie ihren Sohn. Sie hätte gern die Szene auf demselben Gefühlsniveau fortgesetzt, aber er unterbrach sie kurz. Man hatte die Koffer herunterzubringen und Decken zu beschaffen. Die Magd des Logierhauses rannte geschäftig hin und her. Mit dem Kutscher wurde gehandelt. So ging der Augenblick durch gemeine Einzelheiten verloren. Mit einem erneuten Gefühl der Enttäuschung schwenkte sie das zerrissene Spitzentaschentuch vom Fenster herab, als ihr Sohn wegfuhr. Sie war überzeugt, daß eine große Gelegenheit verschwendet worden sei. Sie tröstete sich damit, daß sie Sibyl sagte, wie trostlos ihr Leben nun sein werde, da sie jetzt nur ein einziges Kind habe, für das sie sorgen müsse. Dieser Satz war ihr in der Erinnerung geblieben. Er hatte ihr gefallen. Von seinem Schwur sagte sie nichts. Er war lebendig und dramatisch zum Ausdruck gekommen. Sie hatte das Gefühl, daß sie eines Tages alle darüber lachen würden.


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