Theodor Wolff
Pariser Tagebuch
Theodor Wolff

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Zwischen den Schlachten

(März 1904)

Zu den Opfern des Russisch-Japanischen Krieges gehören die Pariser Lokalreporter, die für ein geringes Honorar und oft mit wirklichem Talent die letzte Skandalaffäre, die Entführung einer Jungfrau oder die Ermordung einer Demimondaine schildern. Seit der Krieg in Ostasien begonnen hat, ist in den Blättern für die 157 Perlen der Lokalchronik kein Raum, und das Blut wird nur dann noch interessant gefunden, wenn es im Norden von Korea oder vor Port Arthur vergossen worden ist. Sind die Pariser Raubmörder, die verschmähten Liebhaber, die sonst so schnell zum Revolver greifen, und die »Apachen«, die in anderen Zeiten dem friedlichen Bürger auflauern, durch diesen Mangel an Beachtung etwas abgekühlt? Tatsache ist, daß sie ihre Arbeit beinahe eingestellt haben, daß sie ihre Dolchmesser und Revolver in der Tasche behalten, und daß sie dem Friedenszaren und dem Mikado mit der französischen Höflichkeitsformel zu sagen scheinen: »Après vous, s'il en reste« . . . »Nach Ihnen, wenn etwas übrig bleibt.«

Seit langer Zeit war Paris nicht so friedlich und ruhig wie in diesem Augenblick. Der Familienvater, der zur Freude seiner Kinder an einem dieser ersten Märztage zu Hause bleibt, um nach alter Pariser Sitte Körper und Seele durch ein natürliches Mineralwasser zu reinigen, liest in seiner Zeitung nur Geschichten aus dem fernen Osten und Namen, deren Aussprache ihm schwer fällt. Er liest, daß die Russen »tapfer und glänzend« vorgehen, daß die Japaner schon mutlos sind, daß selbst die Verbannten in Sibirien begeistert und dankbar zu den Fahnen des Zaren strömen, und daß der General Kuropatkin bereits ein Held ist, bevor er noch die transsibirische Bahn bestiegen hat. Er liest all diese Nachrichten mit tiefem Respekt, weil sie ihm aus fernen Gegenden zu stammen scheinen, ganz wie naive Gemüter das Rosenöl lieben, weil sie dabei an Persien und Indien denken. Wozu soll man ihnen sagen, daß heute Rosenöl in Sachsen fabriziert wird?

158 Aber selbst die falschen Nachrichten vom Kriegsschauplatze werden spärlich, denn wir sind heute, um mit Björnson zu sprechen, »zwischen den Schlachten«. Auch die Natur ist »zwischen den Schlachten«, oder genauer gesagt zwischen den Jahreszeiten: zwischen dem Winter, der noch überall Influenza und Rheumatismus zurückgelassen, und dem Frühling, der durch ein leichtes Sonnengeplänkel sich ankündigt. Ein alter, liebenswürdiger Herr, der Deputierte Rauline, der Alterspräsident der Kammer, ist in diesem Nachzugsgefecht des Winters gefallen. Er war zweiundachtzig Jahre alt, konservativ und stets musterhaft gekleidet, hatte einen prächtig gepflegten weißen Backenbart und war einer jener lebensfrohen, gut erhaltenen philosophischen Greise, die in Paris so zahlreich sind. Noch vor zwei Monaten saß er bei der Kammereröffnung in seinem tadellos geschnittenen Frack auf dem Präsidentenstuhl, und während die Deputierten ihre Schriftführer wählten, beäugelte er durch ein Opernglas die hübschen Damen auf den Galerien. Entschieden ist diese Zeit vor der Ankunft des Frühlings den lebenslustigen alten Herren besonders gefährlich. Wie Moses sterben sie gewöhnlich, wenn das Gelobte Land ganz nahe ist.

Als ich eben von der Spärlichkeit der Ereignisse gesprochen, hatte ich beinahe vergessen, daß der Kassationshof die Revision des zweiten Dreyfus-Prozesses begonnen und eine neue Untersuchung angekündigt. Aber diese Verhandlung, die für die Republik notwendig war wie das Bitterwasser für den Pariser, hat niemanden ernstlich aufgeregt, und ich glaube nicht, daß ein einziger Pariser die langen Sitzungsberichte gelesen hat. Dieses Drama, 159 dessen Held nicht der Hauptmann Alfred Dreyfus, sondern ein ganzes, wie Othello im Lügennetz gefangenes Volk gewesen ist, hat in jedem Augenzeugen große, unzerstörbare Erinnerungen hinterlassen, aber die Welt hat immer andere und immer neue Probleme zu lösen. Die heilsame Wirkung des Kampfes dauert fort, die Idee ist lebendig, aber die Geschichte des »Bordereau« zwingt den Geduldigsten zum Gähnen.

Und dann: die Persönlichkeit, deren Name die unerhörte Ehre gehabt hat, zu einem Symbol und Feldgeschrei zu werden, gehört wirklich nicht zu denjenigen, die stets aufs neue die Phantasie und die Gedanken der Mitwelt beschäftigen können. Ich erinnere mich, daß ich in Rennes während der Prozeßwochen zahlreiche Briefe aus Deutschland erhielt, von denen die einen mich töricht schalten, weil ich an eine zweite Verurteilung zu glauben wagte, während die anderen bedauerten, daß ich in dem Hauptmann Alfred Dreyfus zwar einen unschuldig Verurteilten, aber keine Lichtgestalt sehen mochte. Über Sympathiefragen läßt sich bekanntlich nicht streiten, aber wie man den früheren Bewohner der Teufelsinsel auch beurteilen mag: heute geht es ihm gut, er lebt angenehm in Paris und hat unser Mitgefühl nicht mehr nötig. Vor einigen Monaten, am Todestage Emile Zolas, pilgerten auf der Landstraße, die nach Médan führt, zweihundert Männer und Frauen zu dem Landhause, das der große Kämpfer bewohnt hatte, und das nun wie ein verlassener Tempel am Seinerande steht. Diese Männer und Frauen, die zumeist nicht gerade mit Glücksgütern, aber mit einem Schatz von Idealismus und Begeisterung gesegnet waren, 160 marschierten mit einem gläubigen Eifer zu ihrem Mekka, und vor ihnen, über der weißen Landstraße, spielte und flog etwas Undefinierbares, Ungreifbares: die Idee. Da kam trompetend und fauchend ein Automobil hinter ihnen hergerast, das gleichfalls nach Médan wollte und die Fußgänger zwang, zur Seite zu treten. Und es fehlte nicht viel, so hätte das wunderschöne Automobil, das Alfred Dreyfus zum Hause seines Befreiers trug, die ganze Idee – die Idee der anderen – über den Haufen gefahren.

 


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