Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

12

Eine »Kehle« war in den Berg geschnitten, eine breite, grüne Rinne, in der da und dort ein Steinbrocken lag. Diesseits und jenseits trat der Wald zurück, als hätte Wildwasser sich Raum geschaffen, aber es fuhr nur manchmal im Winter ein sanfter, kurzer Schneerutsch die Rinne hinab; der alte Wald stand, wie ihn der Herrgott hatte wachsen lassen. Ueber der Kehle lag ein Block, ein haushoher Steinkerl, der irgendwo in der Höhe seinem Mutterfels abgesprungen, über den weichen Alpboden gehüpft war und mit dem letzten faulen Ruck sich nah an die Grasrinne herangewälzt hatte. So nah, doch nicht näher stak der Steinkerl da oben im Alpboden, daß des Gislers Hütte noch Raum hatte zwischen ihm und dem abschüssigen Rand. Angelehnt an den Stein und wie ein ängstliches Jungding bei ihm unterkriechend stand dort das, was der Gisler ein Haus nannte. Es war ein Gefüge von Balken und senkrechten Brettern, ein schiefes, halbes Schindeldach hing unter dem Felsen hervor. Die tannenen Bretter waren grau; wo sie im Alpgrund fußten, morschten sie übel, und keine Deckleiste schloß die Fugen zwischen Brett und Brett. Hoch oben, nah unterm Dach, war ein kleines, ganz sauberes Fenster; weil die Bretterwand schief gegen den Fels stand, war das Fenster nicht mehr dem weiten Taljenseits, sondern fast mehr nach oben, dem Himmel zugewendet, und da war es nun, daß es schien, als tue die armselige Wohnstatt aus dem Fenster einen offenen, gläubigen, fröhlichen Blick zum Himmel auf. Den Eingang in die Hütte hatte der Kehle-Gisler von der Westseite, da war eine fürnehme Tür. Ehemals war es eine Schranktür gewesen, das Verschlußbrett an einem so elenden Wackelgestell, daß der Dorfwaibel vom Isengrund es des Pfändens nicht wert gefunden, als er vor Jahren den Lätz um seine ganze Habe gebracht hatte. Jetzt stand es von außen angelehnt an die zwei Hüttenseiten, inwendig waren vier Nägel geschlagen, an denen Schnurschlingen hingen. Blies der Sturm, so hingen sie von innen die Tür fest, damit sie nicht fortgetragen wurde.

Der Gisler, als er mit dem Hansi daherkam, schob das Türbrett beiseite. »Komm, so komm,« sagte er, bückte sich und schlüpfte in den Bau. Dem Hansi verschlug es beim Eintritt den Atem; eine Stickluft strömte ihm entgegen. Als er zwischen den Türpfosten hindurchtrat, war ihm, er müßte die breiten Schultern einziehen, damit er sich durchzwänge. Als er drinnen war und die Augen sich an das sonderbare, vom Rauch gestörte Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel, gewöhnt hatte, fand er, daß der Gisler besser wohnte, als er erwartet hatte und als die vom Isengrund immer ihm nachlästerten.

»Komm und setz dich an den Tisch,« sagte der Lätz, »wenn du noch magst, kannst mit uns Imbiß haben.«

»Tag, Hansi,« sprach da jemand aus einem andern Hüttenteil, und während der Lätz, der eine lehnenlose Stabelle fand, um sich zu setzen, sich umwandte, sah jener wie die Hexe im Märchen die Claudi, das Buckeli, die mit der Severina zur Schule gegangen war, in einer Art Schlupfwinkel stehen. Dort stand ein roher, steingeschichteter Herd, dessen Töpfe nicht hoch sein durften, weil sie sonst an die Felswand stießen. Das Herdfeuer brannte. Ein rostiges, zwischen Herd und Steindach gezwängtes Blech wehrte notdürftig dem Rauch, in die Hütte vorzudringen, und ein ebenso rostiges Rohr half ihm nach hinten irgendwo ins Dunkel hinaus abzuziehen. Die Claudi rührte in einer Pfanne, stand in einem rotbraunen dünnen Rock, der am Halse offen war, in einem Dunstqualm und hatte das schmale Gesichtlein ihm zugewendet. Es war rosig von der Herdhitze, und das braune Haar hing feucht und wirr um beide Seiten, aus diesem schmalen, rosigen Rund mit dem Haargewirr darum schauten die Augen; wäre es noch dämmeriger gewesen, hätte einer meinen können, zwei Lichter schienen im Dunkel.

»Tag, Claudi,« sagte der junge Furrer ganz spät; er war fast verlegen und wußte doch, daß die vom Isengrund den Gisler, den »Lätz«, geringer achteten als ihr Rindvieh.

»Du bist, meine ich, noch gar nie bei mir gewesen, solang wir uns schon kennen,« sagte der letztere jetzt, saß am Tisch und sägte mit seinem Sackmesser an einem Roggenbrotlaib. Der Tisch stand da wie auf Gichtbeinen, war klein, wackelig, tannen; aber er war sauber wie die beiden Stühle. Viel andres enthielt die kleine Hütte nicht, nur an Schnüren und Stangen hingen und auf Bretterregalen lagen eine Unmasse neue, herrliche Dinge, warme Strümpfe, warme Kappen, Hosen, Röcke, feste Schuhe, ein paar neue Gletscherseile, ein halbes Dutzend Eispickel und dergleichen mehr. Auf denen fuhr jetzt des Hansis Blick herum, während die Claudi in der Pfanne die Suppe herbeitrug und sie in zwei Blechteller schüttete, die der Gisler aus der Tischschublade gezogen hatte.

»Beim Eid, noch nicht hier gewesen bist,« wiederholte dieser.

»Nein, nein,« sagte der Hansi. Daß du mir dem »Lätz« nicht nachlaufst, dem Gottlosen, der nie in eine Kirche geht, hatte ihn die Clari-Marie schon immer gewarnt.

»Willst jetzt Suppe?« fragte die Claudi; sie hielt noch einen Rest in der Pfanne zurück und sah den Hansi frei an. Wie sie jetzt dastand, erschien sie ganz groß gegen vorhin; sie wuchs auch wie die Severina und war schlank, von weichen Gliedern, nur der Kopf saß tief im Nacken, der Rücken hatte sich nicht ausgewachsen, der war hoch und gewölbt.

»Nein, dank',« sagte Hansi, die Suppe zurückweisend; da schüttete die Claudi dem Vater den Rest in den Teller und stellte die Pfanne hinten in die Steine. Gleich kam sie zurück an den Tisch und hob an mit dem Gisler im Zweitakt die Suppe zu löffeln.

»Ja, siehst jetzt,« sagte der Alte unterm Essen zu dem Hansi und wies auf die Regale und Stangen. »Da siehst, wie sie's gut meinen, die Stadtherren.«

»Bei Gott, ein ganzer Kaufladen,« sagte der Hansi.

»Gelt, er könnte das verkaufen, der Vater!« warf die Claudi ein, »es gäbe gerade ein schönes Stück Geld.«

»Das will ich nicht!« sagte der Gisler; dabei blitzten seine Augen ganz stolz. »Das sind so gut wie Zeugnisse, sind sie, die Dinger da; wenn sie nicht zufrieden gewesen wären, die Stadtherren, hätten sie nichts geschickt.«

Die Claudi tat darauf etwas Sonderbares, strich dem Gisler über die runzelige, graue Stirn, strich ihm die schwarzgelben Haarsträhne zurück und schmeichelte an ihm herum, als müßte sie ihm etwas abbitten. »Ja, ja,« sagte sie dabei. Den Hansi lächelte sie an, als wollte sie fragen: Gelt, das ist einer? Dann stützte sie sich mit beiden Ellbogen auf des Alten Schultern, daß sie wie eins mit ihm war und der Hansi sehen konnte, was die vom Isengrund schon alleweil sagten: Wie eine Klette hängt das Buckeli an ihrem Vater.

Jetzt kamen die Ziegen durch die Tür gestrichen, die Claudi fütterte sie mit ein paar Brotstücken, trieb sie dann wieder hinaus und hägte mit der Tür den Eingang wider sie ab.

Der Gisler war aufgestanden, kramte auf einem Wandbrett und holte ein in schwarzes, vergriffenes Leder gebundenes Buch herab. »Siehst, jetzt,« sagte er zutraulich, »das muß ich dir noch zeigen, da kannst lesen! Wenn ich schon das Patent nicht kaufen kann, sie sind eineweg gut wieder heimgekommen, die Herren.« Er blätterte in seinem Führerbuche. Seite an Seite war in Bleistift und Tinte beschrieben. Der Hansi sah in das Buch und las Zeugnis um Zeugnis. »Ja, ja,« sagte er. Das Staunen über all das Gute, das in dem Buche stand, klang in seiner Stimme. Des Gislers Gesicht war ganz von Freude durchzündet. Plötzlich lief er vor die Tür hinaus, stellte sich vor den Türpfosten, wo die Halde sich steil senkte und der Blick frei in alle Welt flog. Dort fing er an zu jodeln, schrill zuerst, fast wild, dann sanfter und schön, langgezogen und zart, daß die Töne waren wie singende Kindlein, die Hand in Hand in langer, stiller Reihe ins Blaue hineintrippelten, aufwärts an die eisweißen Berge, hin über Gletscher, hin über leuchtende Kämme ins Unendliche hinaus.

Die Claudi stand an ihrem Herd und reinigte die Pfanne, sah dabei mit den tiefliegenden Augen nach dem Hansi, der, ihr den Rücken wendend, befangen und unbeholfen dasaß.

Als der Gisler nicht zurückkam, erhob sich der Bub. »Ja, so will ich jetzt wieder an die Arbeit,« sagte er. Draußen erstarb just das Jauchzen.

»Gelt, er jodelt schön, der Vater?« sagte die Claudi und sah versonnen geradeaus.

»Ja,« sagte der Hansi, und dann: »Jetzt muß ich aber –« damit wendete er sich ab und ging hinaus.

»Willst wieder hinauf?« fragte der Gisler, als er über die Schwelle trat.

»Ja, jetzt will ich wieder,« gab er zurück, ging an dem Alten fast so demütig vorbei, als ob er ein Herr wäre, und wußte doch selber nicht warum. »Ade,« grüßte er, Schritt für Schritt sich drückend, »und Dank,« fügte er über die Achsel zurückblickend hinzu, dann bog er hinter dem Felsen ab dem hängenden Wald zu. Er vernahm, wie der Gisler die Ziegen lockte; nach einer Weile konnte er hören, wie er die Tiere in einer andern Richtung bergan wieder zur Weide brachte. Er selber machte Beine, daß er auf seinen Holzplatz kam. Ungestüm machte er sich an die Arbeit. Es wurde ihm warm, er öffnete das Hemd am Halse, krempelte die Aermel wieder zurück und fuhr sich mit der Hand über die Stirn und das dichte, wollige Haar. Nach einer Weile glitt sein Blick zufällig ins dunkle Unterholz unfern der Stelle, wo er stand; er stutzte einen Augenblick, dann arbeitete er, in sich hineinlachend, weiter. Es war ihm gewesen, als hätten aus dem gründunkeln Buschwerk zwei Augen gesehen, just so, wie in des Kehle-Gislers Hütte die der Claudi aus der Herdecke geleuchtet hatten! Die Splitter flogen vom Baume. Er schlug und schlug. »Beim Eid,« entfuhr es ihm dann plötzlich, und er ließ den Axtgriff fahren und ging auf einen Busch zu. »Bist es oder bist es nicht?«

Da sprang dahinter die Claudi wie ein Wetterhexlein auf und lachte.

»Was willst?« fragte er, drehte sich um und tat, als müßte der ganze Wald noch am gleichen Abend liegen.

»Ein wenig zuschauen habe ich wollen, wie du schaffst,« sagte die Claudi, trat auf den von Spänen besäten Platz und legte die Arme leicht übereinander. Er kümmerte sich kaum um sie, zog aus und schlug zu.

»Kraft hast denn noch,« sagte die Claudi. Da mußte er lachen, und ihre zutraulichen Augen machten ihm warm. Heimlich wunderte er sich, wie lang die Claudi noch dastehen würde. Die wiegte sich ein wenig hin und her, der alte Rock schlug ihr um die Beine, die blauen, mit schwarzer Wolle gestopften Strümpfe waren sichtbar darunter, der Rock reichte just bis an die knapp ansitzenden rauhen Schäfte der zerrissenen Schuhe. »Es ist jetzt schon ganz lang her, daß wir nicht mehr in die Schule gehen,« begann sie wieder. »Wie alt bist jetzt?« fragte sie dann.

»Einundzwanzig,« gab er zurück. »Dieses Frühjahr habe ich die Rekrutenschule gemacht.«

»Und ich fünfzehn,« plauderte die Claudi. Ihr Gesicht lebte, wenn sie sprach, und ihre ganze Gestalt redete gleichsam mit, denn es war Bewegung in jedem Gliede. Der Hansi konnte nicht helfen, daß sie ihn mit ihrem Schwatzen ansteckte.

»Jesses, weißt noch, der Tresch, wie der manchmal geflucht hat?« sagte sie jetzt. Als sie auf den Lehrer zu sprechen kamen, kamen beiden die Erinnerungen.

»Jesses, weißt das noch?«

»Und das?«

Allmählich wurden sie eifrig; er stützte sich auf das Beil. Nach einer kleinen Weile schielte er nach einer Sitzgelegenheit, ging zu dem dicksten der geschlagenen Stämme und ließ sich darauf nieder. Nicht einen Augenblick standen ihnen die Mäuler still derweilen, die Claudi besonders war wie aufgezogen, die lachte und lachte.

»Komm, setz dich auch,« sagte der Hansi. Sie sah den Stamm an, der ihr zu dünn zulief.

»Das ist mir zu niedrig,« sagte sie. Dann streifte ihr Rock sein Knie. Sie kicherte. »Ich kann mich ja dir aufs Knie setzen.«

»Komm nur,« sagte er ganz ernsthaft.

»Ah bah,« zierte sie sich.

»Komm,« wiederholte er und streckte den Arm nach ihr aus. Aber sie entwischte. Einen Augenblick schwiegen sie, sahen sich nur mit lustigen Augen an; aber die Claudi wußte gleich wieder Neues, und als sie sprach, kam sie unwillkürlich näher. Da faßte der Hansi zu und zwang sie, daß sie sich ihm aufs Knie setzte, sie stieß einen kleinen Schrei aus, er legte die Finger um ihren Arm und stützte sie. Dann fügte sie sich willig; eine Weile plauderten sie weiter. Warum ihnen die Worte seltener wurden, wußten sie nicht.

Die Sonne stand jetzt mehr westwärts; die Hitze des Tages wich aus dem Forst, ein leiser Wind rührte die Kronen, der Wald atmete wie in tiefen, friedlichen Zügen. Der würzige Atem strich den beiden an den heißgewordenen Wangen vorüber und kühlte ihnen das Blut. Sie wurden still und ernsthaft. Eine wohltätige Helle war in der Lichtung. Mit großen Augen sahen sie hinein, die Stirnen wurden frei und die Herzen groß; am Ende saßen sie ganz andächtig da.

Dann sank die Sonne tiefer. Nun brannte der Himmel hinter den Bäumen, und das Rotgold strahlte durch die Waldlücken, lag auf schwarzgrünen Aesten wie klebriges, träufelndes Blut und lag im Widerschein auf der Claudi stillem, rundem Gesichtlein. Der Hansi sah es von der Seite an. »Du brennst,« sagte er.

Sie lachte, und er bog ihren Körper etwas weiter zurück, um sie besser ansehen zu können. Dabei fiel ihm auf, wie klein und leicht sie war. Wie ein Vogel war sie in seinen festen Armen. Wie einen Vogel hob er sie dann, stand auf und stellte sie ab.

»Mächtig stark bist,« sagte sie; das Gefühl, wie fast verloren sie in seinen Armen gewesen war, kam ihr erst jetzt.

»Ja, gelt?« sagte der Hansi; in den Augen stand ihm der Uebermut. Dann packte er die Axt und das Seil. »Jetzt geh' ich heim,« sagte er.

»Ich auch, ade,« gab sie zurück, dann nickte sie flüchtig und trat in die Büsche.

Der Hansi staunte ihr nach, dann machte auch er sich auf den Weg. Im Hinabsteigen war ihm der Kopf ganz wirr. Er mußte sich besinnen, ob es wirklich gewesen, daß er da oben mit der Claudi im Holzschlag gesessen, oder – – nun lachte er. Gewesen war es! Hei, und nun sollte noch einmal einer übel von ihnen reden, von der Claudi und dem – dem Lätz!


 << zurück weiter >>