Fedor von Zobeltitz
Der Telamone
Fedor von Zobeltitz

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Siebzehntes Kapitel

»Hôtel Svend« hieß das kleine Gasthaus, in dem Krey und Carmella wohnten. Fritz hatte sich gleich am folgenden Tage dorthin auf den Weg gemacht. Ein schmutziger Hausknecht wies ihn über den Hof nach dem Quergebäude, in dem er drei knarrende Holztreppen hinaufsteigen mußte, ehe er die Zimmernummer Vierzig fand. Carmella öffnete ihm selbst, sie hatte ihn augenscheinlich bereits erwartet. Sie war in einen abgetragenen Schlafrock gehüllt und sah blaß aus; die Augen lagen tief in den Höhlen, das Gesicht war gepudert, eine Nachhilfe, die sie sonst zu verschmähen pflegte.

Sie preßte beide Hände Fritzens in den ihren und führte ihn zum Sofa. Dann ließ sie sich ihm gegenüber auf einem Stuhle nieder und erzählte von ihrem Jammer.

Krey war seit ihrer Verheiratung wie umgewandelt. Er, der sie vordem mit Schonung und Liebe behandelt, wenn er sich im Jähzorn auch wohl einmal vergessen hatte, war jetzt nur noch roh, hartherzig, oft gewaltthätig. Sein Kalkül war ein falsches gewesen. Er hatte geglaubt, die Kölpins würden seiner Heirat wegen erst in grimme Wut geraten und dann alles daran setzen, die schmähliche Mißverbindung wieder zu lösen, – aber die Kölpins 304 ließen nichts von sich hören, sie kümmerten sich gar nicht um ihn . . . Krey war außer sich. Er zerfiel immer mehr mit sich selbst, beschränkte sich auf den Verkehr mit dem Bühnenproletariat, in dessen Kreise er hineingezogen wurde, und begann zu trinken. Er fühlte sehr wohl, daß er tiefer und tiefer sank, aber in seiner verzweiflungsvollen moralischen Mutlosigkeit dachte er nicht an ein tapferes Widerstreben. Der Wahnsinn herostratischer Selbstvernichtung kam über ihn; mit wildem Jauchzen warf er alles über Bord, was noch aus besseren Zeiten in ihm lebte . . .

»Ich habe viel zu ertragen von seiner Roheit,« sagte Carmella, und ihre starken dunklen Augenbrauen zogen sich zu dichter Linie zusammen und ihr düster glimmender Blick nahm einen unheimlichen Ausdruck an. »Es ist fast an die zehn Jahre her, daß wir uns kennen, und ich habe immer geglaubt, daß er mich lieb hätte, wie ich ihn, aber nun hab' ich an meinem Glauben verzweifelt. Und was hab' ich ihm nicht zum Opfer gebracht im Leben, – du lieber Gott, mein ein und alles, – mein alles! – Sie wissen, ich bin eine Bauerntochter aus Welsch-Tyrol und soll dermaleinst, wie ich so sechzehn, siebzehn Jahr' war, sehr schön gewesen sein. Da logierte einmal das damalige Fräulein von Krey, die jetzige Gräfin Kölpin, bei der Sie gedient haben, Fritz, als Sommergast mit ihrem Vater bei uns im Dorfe. Und der gefiel ich; sie malte und zeichnete mich in meinem Sonntagsstaate und in den bunten Kostümen, die sie mir gab, und nahm mich mit nach Monsthal, ihrer väterlichen Besitzung an der bayrischen Grenze. Da wurde ich 305 Kammerjungfer bei ihr, und ich hätt' es recht gut haben können, wär' mir Leopold nicht in den Weg getreten, und hätt' sich nicht der Satan in mein Herz geschlichen und mir tausend dumme Gedanken aufgeredet, so daß ich vor toller Liebe glaubte den Verstand verlieren zu sollen! Krey hatte sich damals schon mit seiner Cousine versprochen, – und ich war wütend eifersüchtig auf sie, und in meiner Eifersucht ließ ich einmal ein Briefchen, das mir der Leopold geschickt und in dem er mir schrieb, ich sollt' mich zu dem und dem Tage frei machen und ihn in seiner Garnison besuchen, – die lag nur drei Stunden mit der Bahn von Monsthal –, ließ ich den Brief also offen liegen, so daß die Gnädige ihn finden und die Handschrift erkennen und ihn lesen mußte. Ich that's aus Eifersucht, die mir am Herzen fraß, und ohne Überlegung, was wohl d'raus werden würde, – ich wollte, die Gnädige sollte erfahren, daß der Leopold nicht sie liebte, – nicht sie, sondern mich! Erst, wie die Verlobung auseinander ging und Leopold mir bittere Vorwürfe machte meiner Unachtsamkeit halber, kam ich zur Besinnung zurück. Nun half's nichts mehr, und weil ich mich vor Leopolds Jähzorn fürchtete, log ich, es sei wirklich nur ein Versehen gewesen, nichts anderes, daß der Brief so offen in meiner Kammer liegen geblieben sei. Dann jagte man mich zum Hause hinaus, und auch daheim im Dorfe wollte man nichts mehr von mir wissen, – aber all' das war mir gleich; im Herzen war ich doch seelensfroh, daß es so gekommen, daß Leopold nichts mehr mit der Gnädigen zu schaffen hatte und daß er wieder frei war, denn ich dummes Ding dachte, nun hätt' ich 306 allein ein Anrecht auf ihn . . . Später einmal, als ich in einer Jammerstunde zur Beichte ging, hat mir der geistliche Herr vorgehalten, wie sündhaft ich mich benommen hätt'! Das aber hab' ich selbst gewußt; ich wußte, daß ich sündhaft handelte, und ich hätt's doch zum zweitenmal gerad' so gemacht!« –

Als Carmella dies sagte, färbte eine Purpurglut ihre Wangen und ein eigner Glanz trat in ihr Auge. Sie stieß einen tiefen Atemzug aus, der fast wie ein Schluchzen klang, und dann wiederholte sie noch einmal:

»Gerad' so hätt' ich's gemacht, – und wenn sie mich ins Gefängnis geworfen und mir den Kopf abgehackt hätten! Ich wußte ja auch, daß ich Vater und Mutter verlieren würde um meiner Schande willen, – was galt's mir! Ich hab' ihn so rasend geliebt, wie keinen Menschen auf der Welt, – mir war alles gleich, wenn ich bei ihm war! . . . Dann ging er fort, – nach Amerika. Er hatte mir kein Wort davon gesagt, – er war eines Tages verschwunden, – er mußte wohl fliehen, um sich vor seinen Gläubigern zu retten! Da kam eine wilde Verzweiflung über mich, – und in einer Abendstunde lief ich davon, lief meilenweit ins Gebirge hinein, ohne Zweck und Ziel, – in halber Verrücktheit, nur immer seinen Namen kreischend, bis ich zusammenbrach und mir die Sinne vergingen. Ein Waldhüter fand mich und schaffte mich in die nächste Stadt; da lag ich wochenlang krank im Siechenhause, – ein Gehirnfieber war bei mir ausgebrochen und ich stand am Rande des Grabes. Aber ich gesundete wieder und wurde stärker und kräftiger als zuvor; die Gemeinde entließ mich, – ich sollte mir Arbeit 307 suchen. Ich ging nach Innsbruck, wo ich mich als Magd verdingte und dann in eine Wirtschaft als Kellnerin. Da übernachteten einmal umherziehende Schausteller, – Leute, die eine kleine Menagerie mit sich führten und auf Jahrmärkten ihre Kunststücke zeigten. Die überredeten mich, mit ihnen zu gehen, – ich könne bei ihnen mehr Geld verdienen und besser leben wie als Kellnerin. Das hörte sich gut an, und da ich mich um keinen Menschen zu kümmern hatte, so sagte ich Ja und zog heimlich mit. Nun ging's durch ein mächtig Stück Welt, – durch ganz Bayern, kreuz und quer durch Preußen und bis oben ans Meer. Ich trat zuerst als Tyrolerin auf, weil ich noch eine alte Tracht bei mir hatte, und sang Jodellieder, und dann wurde ich Akrobatin und Athletin. Es war ein ganz lustiges Leben so bunt herum im Lande; – es behagte mir gerade, und ich vergaß allmählich Kummer und Schmerz. Man kam wenig zu sich selbst bei dem ewigen Wechsel, aber das war gut so . . . Und dann, – in Hamburg, in St. Pauli, wo wir über ein Vierteljahr festsaßen – sah ich Leopold wieder. Ich stand vor meiner Bude, und er ging vorüber. Er sah kläglich aus, war ärmlich gekleidet und heruntergekommen. Er hatte nichts geschafft in Amerika und wollte es von neuem in Europa versuchen. Ich erkannte ihn sofort wieder und rief ihn an. Und von nun ab trennten wir uns nicht mehr. Er blieb bei uns, und als ein paar Tage nach seinem Eintreffen der Italiener, der unsere dressierten Hunde vorführte, an einer Blutvergiftung starb, trat er an dessen Stelle. Später schaffte er sich eine eigne kleine Meute an, mit der er sich unter dem Namen Kreströhm 308 allein produzierte; wir trennten uns von unsrer alten Gesellschaft und nahmen an besseren Theatern Stellung an, – zuerst in Lübeck, ich erinnere mich dessen noch genau – dann auch in größeren Städten. Aber es wollte uns nicht gut ergehen, – Krey verstand nicht zu wirtschaften und ich damals ebensowenig. Und dennoch war ich zufrieden und glücklich; ich hatte ihn wieder, – weiter wollte ich nichts. Daß er nicht glücklich war, merkte und spürte ich wohl und ich dachte manchmal, es gehe ihm wohl im Kopfe herum, daß er seine schöne Stellung in der feinen Gesellschaft verloren habe und sich nun so elend durchs Leben schlagen müsse. Aber er war doch immer noch gut und lieb zu mir, – ach, und ich entbehrte so gern seinetwegen und versagte mir manches, um ihm eine Freude nach seiner Art zu bereiten! Am schlimmsten wurde es, als ich ein Engagement bei den Reichshallen in Berlin fand. Er trug sich mit allerhand Plänen, wieder zu Gelde zu kommen, versuchte, mit dem Grafen Kölpin, der ihn schon nach Amerika hin und wohl auch noch später vielfach unterstützt hatte, eine neue Verbindung anzuknüpfen und – – aber Sie wissen ja selbst, wie das ausging und wie sich alles fügte, waren ja auch bei unserer Hochzeit zugegen und« . . .

Sie brach plötzlich ab und lauschte. Wuchtige Schritte ließen sich auf der Treppe hören und das helle Gekläff eines Hundes.

Carmella stand auf, die Hand am Herzen; sie war blaß geworden.

»Das ist er,« sagte sie leise. »Wenn er nur nicht böse ist, daß ich Ihren Besuch empfangen habe« . . .

309 Die Thür wurde aufgerissen und Krey trat ein, von zwei Pudeln gefolgt, die lärmend im Zimmer umherjagten. Krey trug eine graue Lodenjoppe und Kniestiefel; sein Gesicht war gedunsen, der prächtige Vollbart verwildert, das Auge, dessen eigenartig leuchtender Blick in früheren Tagen von so besonderer Schönheit gewesen, erschien verglast und verschwommen. In seiner ganzen Erscheinung prägte sich eine krasse Brutalität aus; auch der Gang hatte an Elastizität, sein Sichgeben und Wesen an Eleganz verloren. Er war in drei Monaten ein völlig anderer geworden, eine Ruine seines früheren Ich.

Er stutzte, als er den ihm Entgegentretenden sah, dann lachte er rauh auf und streckte Fritz die Rechte hin.

»L'ami Fritz – sieh' da! Hatte schon gehört, daß Sie in diesem Nordpolneste Gold und Lorbeern einheimsen, – gratuliere! Gilt Ihr Besuch mir oder meiner – aha! – meiner Frau? Nehmen wir an: allen beiden! Ruhig Köter! Behalten Sie Platz, Kollege Fritz! Wein, Carmella! Klingle dem Lümmel von Kellner! Den Teufel, in den ersten drei Tagen wird man uns doch wohl nicht den Kredit versagen! Morgen bekomme ich Vorschuß! Reich 'mal die Cigarretten vom Spieltisch, Eheweib! Du, das ist eine Spitzbubenbande, das ganze Gesindel vom Ravnsborg-Theater, – zudem auch ein scheußliches Lokal! 310 Ein Tingel-Tangel, nichts weiter! Die Bühne ist so groß wie die Stube, – weiß gar nicht, wo ich mit meinen Kötern hin soll! Gieb 'mal die Streichhölzer her, Carmella! . . . Ein tolles Leben, ami Fritz, und ich Esel könnte heute an der Stelle Ihres früheren Dienstherrn sein, – na ja, das könnt' ich! Wenn man das denkt!« . . .

Und er schlug mit der Faust auf den Tisch und räsonnierte weiter, bis ein Kellner in fettiger Jacke und Morgenschuhen und mit unverschämter Miene eine Flasche dickflüssigen roten Weins und mehrere Gläser vor Krey niedersetzte. Das Getränk war kaum zu genießen, – – trotzdem goß Krey Glas für Glas hinunter – derselbe Krey, der ehemals keinen Tropfen Leoville trinken zu können glaubte, wenn er nicht nach allen Regeln der Gourmandise temperiert war und der mit geschlossenen Augen nach der üppigsten Libation und dem ersten Schluck Cliquot von Heidsieck zu unterscheiden vermochte. Ah ja, die Zeiten waren andere geworden! –

Fritzen hielt es nicht lange. Das Wesen Kreys stieß ihn ab. Was war aus dem geworden! Wie es in seinem Gesicht nervös zuckte und wie es in den stahlblauen Augen seltsam irrlichterte! Wie er Wort um Wort hastig und abgebrochen hervorstieß und plötzlich mitten im Satze schwieg, um mit der Hand auf den Tisch zu schlagen und dann unmotiviert auf Gott und die Welt zu schimpfen! Der Mann machte einen unheimlichen Eindruck.

Carmella saß still neben ihm am Tische. Sie sprach kein Wort, unterbrach ihn nicht ein einzigmal; sie hielt den Blick gesenkt, als fürchte sie sich, ihn anzusehen, 311 und nur wenn er mit einem kurzen Worte irgend etwas verlangte, Feuer, eine neue Cigarre, den Aschbecher, – sprang sie hastig empor und suchte nach dem Gewünschten. Sie hatte etwas sklavenhaft Geducktes, Scheues und Demütiges in seiner Gegenwart.

»Kommen Sie 'mal 'raus nach dem Storn Ravnsborg, ami Fritz,« sagte Krey bei der Verabschiedung; »müssen doch 'mal sehen, wie ich meine Köter zusammengeschwänzt habe! Sacra – ich sage Ihnen, das Teufelszeug pariert nach dem Blicke! Wird Ihnen Spaß machen, – verstehen ja auch so etwas von Sport und Dressur! Und im übrigen: hätte noch mancherlei mit Ihnen zu beplaudern, das Sie interessieren dürfte! Sachen von Wichtigkeit! Grüß' Sie, m'ami, und auf Wiedersehen!« –

Fritz war froh, daß er in den nächsten Wochen keine Gelegenheit fand, mit Krey von neuem zusammen zu treffen; der Mann war ihm in hohem Grade unsympathisch geworden. Durch die Zeitungen erfuhr er, daß »Kapitain Kreströhm,« – unter diesem, schon früher von ihm benutzten Namen trat Krey in Storn Ravnsborg auf – mit seiner prächtig dressierten Meute dem Publikum sehr gefalle. Es war also anzunehmen, daß er im Engagement verblieb, und das freute Fritz um Carmellas willen.

Sie sprach öfters einmal in der Wohnung der beiden Freunde vor, doch immer nur für wenige Minuten und in einer gewissen ängstlichen Hast. Krey blieb sich in seinem Benehmen ihr gegenüber, wie sie erzählte, nach wie vor gleich, er war viel außer dem Hause und verkehrte in allerhand anrüchigen Kneipen mit den 312 Mitgliedern des Ravnsborg-Theaters, besonders mit einem gewissen Friebe-Tachinger, einem Komiker, der sich ehemals einer großen schauspielerischen Berühmtheit in Virtuosenrollen erfreut hatte, dann nach und nach, als das Publikum seiner Mätzchenmachereien müde wurde und ihn fallen ließ, sank und schließlich in Tingel-Tangeln und Spezialitäten-Theatern unterging. Da Krey die Rechnungen im Hôtel indessen pünktlich bezahlte und Carmella wenigstens nach dieser Richtung hin keine Unannehmlichkeiten zu erdulden hatte, so schwieg sie zu dem Lotterleben ihres Mannes. Sie kam den ganzen Tag über nicht aus ihrer kleinen, dumpfen Stube im Hofgebäude des Gasthauses, schlief lange, lag träumend auf dem Sofa und las alte Leihbibliotheken-Romane. An die Zukunft dachte sie nicht.

Eines Abends, – es war schon in den ersten Apriltagen, und der nahende Frühling kündete sich bereits in brausenden Sturmfluten an, – stürzte sie mit fieberhaft gerötetem Antlitz und in sichtbarer Erregung in das Gemach der Freunde, um Fritz zu erzählen, daß sie einer Entdeckung auf die Spur gekommen sei, die sie um den Rest ihres Lebensglücks bringe. Ihr Zimmermädchen im Hôtel habe ihr erzählt, daß Krey jeden Abend nach dem Theater mit einer verschleierten Dame die Straße hinabgehe und dann in einer der Nebengassen verschwinde, – und sie selbst habe sich in aller Heimlichkeit davon überzeugt, daß es sich in der That so verhalte, wie das Mädchen gesagt. Fritz und Tom versuchten die in ihrer nagenden Eifersucht sich völlig verzweifelnd Geberdende zu trösten und zu beruhigen, und Fritz versprach ihr, 313 eingehende Erkundigungen einzuziehen, um festzustellen, ob nicht doch ein Mißverständnis vorwalte, – ›wie ich glaube,‹ fügte er hinzu, aber in Wahrheit glaubte er nicht an ein solches.

Er hielt sein Versprechen, besuchte an einem der nächsten Abende das Ravnsborg-Theater und blieb nach beendeter Vorstellung im Schatten der Häuser in der Nähe des Ausgangs, um Krey beim Verlassen des Bühnenhauses zu beobachten. Die Vorführung Kreys war, wie immer, mit tosendem Applaus belohnt worden, und in der That zeigte seine Meute eine bewundernswerte Dressur; sie gehorchte auf jedes Wort, jeden Peitschenschlag, jeden Blick ihres Herrn. Das Theater entleerte sich nach und nach. Fritz hatte sich in den dunklen Portikus eines Nachbarhauses gestellt, und von hier aus bemerkte er, daß auf der entgegengesetzten Seite von der Straße, dicht an der Häuserflucht, eine elegant gekleidete und tief verschleierte Dame, die er schon während der Vorstellung in einer Loge bemerkt zu haben glaubte, auf- und niederschritt. Endlich erschien Krey, begrüßte die Dame, reichte ihr den Arm und ging mit ihr die Ravnsborggade hinab. In diesem Augenblick trat Fritz aus seinem Versteck hervor mitten auf den Macadam in das helle Licht der Gaslaternen und begrüßte Krey, indem er den Hut vor ihm zog und ihn gleichzeitig scharf fixierte. Krey stutzte in augenscheinlicher Verlegenheit und erwiderte dann den Gruß in herablassender Weise.

Wenige Tage später erhielt Fritz ein Billet von Carmellas Hand, das die Bitte um sofortigen Besuch in einer überaus wichtigen Angelegenheit enthielt. Er eilte 314 nach dem Hôtel Svend und fand dort Carmella in Thränen gebadet und in wildester Aufregung vor. Krey war in der vergangenen Nacht nicht nach Hause zurückgekehrt, – dafür hatte aber am Morgen ein Dienstmann einen Brief bei Carmella abgegeben, der tausend Kronen in Banknoten enthielt und folgenden Wortlaut hatte:

»Ich bin gezwungen, dich für längere Zeit zu verlassen. Forsche nicht nach mir, es würde nutzlos sein. Einliegend tausend Kronen; von Zeit zu Zeit werde ich dir weitere Summen in ähnlicher Höhe zugehen lassen, so daß du der Sorgen überhoben bist. Hinterlege beim Wechsel des Aufenthalts jedesmal deine neue Adresse bei den Bankiers Freesen & Reinert in Kopenhagen und bei Cilliers frères in Paris, Rue de Rôme 183. Ich hoffe auf Wiedersehn! Leopold.«

Auf der anderen Seite des mit Bleistift geschriebenen Zettels standen noch einige weitere Worte:

»Ich lasse dir meine Meute zurück, ich brauche sie nicht mehr. Verkaufe die Bestien, wenn du willst, aber laß' dir einen annehmbaren Preis zahlen, – sie sind ihn werth. L.« –

Carmella zweifelte keinen Augenblick daran, daß Krey mit der geheimnisvollen Verschleierten geflüchtet war, und sie drang mit hastigen Worten und flehenden Bitten in Fritz, den Namen dieses Weibes auszukundschaften. Fritz versprach es, so schwierig ihm die Erfüllung seines Versprechens auch schien. Er bat Carmella, in Ruhe das Weitere abzuwarten und sich nicht nutzlosen Aufregungen hinzugeben, die ihrem gegenwärtigen körperlichen Befinden leicht gefährlich werden könnten.

315 Im Ravnsborg-Theater, wo Fritz seine Erkundigungen über die verschleierte Dame zunächst begann, hatte das plötzliche Verschwinden Kreys einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen. Der Direktor drohte, den Flüchtling wegen Kontraktbruchs verfolgen zu lassen und wollte sich für den Verlust der im Falle einer Vertragsverletzung angesetzten Strafsumme durch den Verkauf der Meute entschädigt halten, was Fritz indessen zu Gunsten Carmellas zu verhindern wußte. Unter dem Personal des Theaters waren die Beziehungen Kreys zu jener Dame allgemein bekannt, d. h. es kursierten über dieselben allerhand Klatschgeschichten, die zum Teil so abenteuerlicher Natur waren, daß Fritz ihnen von vornherein keinen Glauben zu schenken geneigt war; die einen wollten wissen, die Verschleierte sei eine steinreiche russische Fürstin (als Russin mußte sie selbstverständlich auch eine Fürstin sein), die anderen hielten sie für eine flüchtige Nihilistin, noch andere für die bekannte »Dame mit dem Totenkopf« (weil sie ihr Gesicht stets verhüllt trug) und was des Unsinns mehr war. Der einzige, der über die Angelegenheit vielleicht hätte Aufklärung geben können, war der Komiker Friebe-Tachinger, der seit vorgestern auf unerklärliche Weise zu Gelde gekommen war, mit einer Anzahl hundert Kronennoten renommierte und geheimnisvoll lächelte, wenn man ihn fragte, woher er, der ewig Abgebrannte, plötzlich so sündhaft viel Mammon erhalten habe; es mochte nicht unrichtig sein, die Banknoten des alten Komikers mit dem Verschwinden Kreys und seiner Verschleierten in Verbindung zu bringen, – aber Friebe-Tachinger schwieg, er lächelte nur immer . . .

316 Man hörte von Krey nichts mehr, er blieb verschollen. Carmella erkrankte infolge der sie überstürmenden Aufregungen schwer. Sie war wochenlang bettlägerig und hatte das Lager noch nicht verlassen dürfen, als ihr Fritz, der sich ihrer in dieser Zeit warmherzig angenommen, den letzten Besuch vor seinem Abschiede von Kopenhagen machte. Carmella schluchzte herzbrechend, als ihr Fritz zum Gruße die Hand reichte und barg das fahle Gesicht, in dem nur noch die schwarzen lodernden Augen zu leben schienen, in die Kopfkissen. Mehr als sonst kostete es Fritz Mühe, das verlassene Weib zu beruhigen, und mehr als sonst fühlte er gerade in dieser Stunde sein Herz überquellen vor innigem Mitleid. Nichts anderes als Mitleid war es, das ihn bewegte, und in diesem Mitgefühl schien die heiße Leidenschaft, die ihn einst für Carmella erfüllte, völlig aufgegangen zu sein. 317

 


 


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