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Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Eine Zufluchtsstätte

Am Sonntag begleitete Peggy ihre Freundin zum Abendgottesdienst in St. Winifred, einer schönen alten Kirche mit herrlicher Orgel und bunten Glasfenstern. Auf dem Betstuhl knieend, die feierlichen Klänge und den Weihrauchduft in sich aufnehmend, dachte Peggy an den letzten Sonntag zurück, wo sie ihre Andacht in der St. Anna-Kirche in Dublin verrichtet hatte. – Nur acht Tage und welche Kluft in ihrem Leben! Damals eine Offiziersfrau, die über ein Haus, und Dienstboten verfügte, geachtet und selbstbewußt, mit vielen Kirchengängern persönlich bekannt war, heute Peggy Summerhayes, unbekannt, heimatlos und verlassen, eine Schiffbrüchige, die sich anklammerte an das Mädchen neben ihr, wie an eine Rettungsplanke.

Unmittelbar nach dem Gottesdienst machte »Fräulein Hayes«, wie Peggy sich nennen wollte, die Bekanntschaft des Herrn Potts, der die Damen am Ausgang erwartete. Er war sehr modisch und elegant gekleidet; doch Peggys geübter Blick erkannte in jedem Kleidungsstück eine billige Nachahmung von Gorings wirklicher Eleganz. Ein Paar freundliche Augen und ein unbefangenes Wesen nahmen für ihn ein, aber er sah blaß und kränklich aus, als ob ihm der Staub und Geruch seiner Perser zusetzten.

»Ich höre mit Vergnügen, daß Sie bei uns eintreten, Fräulein Hayes,« sagte er, zwischen den beiden Mädchen gehend, »und will nur hoffen, daß Sie die langen Arbeitsstunden und das Benehmen unsrer Herren Vorgesetzten ertragen werden.«

»Laß dir nicht bange machen, Peggy, so schlimm ist's auch nicht!«

»Nun, gestern sah ich, wie Harris einem Fräulein Townes die Leviten las, weil sie ein Paar grundschlechte, zerplatzte Handschuhe zurückgenommen hatte. – Das arme Ding zerfloß in Thränen.«

»Ach, mit häßlichen Mädchen geht Harris immer schlecht um, und die Townes ist auch wirklich zu gutmütig. Die läßt ihre Kunden immerzu umtauschen; bei mir untersteht sich's niemand! Wenn Peggy zu den Blumen kommt ...«

»Wird sie selbst die schönste Blume sein,« bemerkte Herr Potts, der Schmeicheleien jungen Damen gegenüber für unbedingt nötig hielt.

»Dummes Zeug, Tom,« ermahnte die Braut streng.

»Fräulein Hayes kommt unter Nixons Fuchtel,« fuhr Tom fort. »Er hat den Blumeneinkauf, ist sehr hübsch und spricht wie ein feiner Herr. Ein Liebling der Damen! ›Herr Nixon hier‹ und ›Herr Nixon da‹, und dann begleitet er sie zur Thüre wie ein Hofmarschall.«

»Ein harter Mann!« rief Nan. »Nur seinetwegen wurden die zwei Mädchen von den Bändern fortgejagt. Der hat hinten und vorn seine Augen.«

»Muß er auch,« verteidigte ihn Potts. »Die Gesellschaft ist hart, und ist ein Angestellter lax, so verliert er seinen Platz! Geld, Geld und wieder Geld wollen sie haben.«

»Aber man kann die Leute doch nicht an den Haaren herbeiziehen, daß sie kaufen?« fragte Peggy.

»Das An-den-Haaren-herbeiziehen besorgt die Reklame, aber sind sie einmal da, so ist's Sache des Verkäufers, daß sie kaufen. Geht einer mit leeren Händen fort, so wird der Verkäufer zur Rede gestellt, geschieht es zwei- oder dreimal, so muß er Strafe zahlen, und beim viertenmal heißt's – marsch! Wir arbeiten eben mit Dampf.«

»Aber ich bin gar keine Dampfmaschine!« rief Peggy beunruhigt. »Sie werden mich keine acht Tage behalten!«

»Wenn eine Dame sonstwo im Hause auch nur eine Fadenrolle gekauft hat, wäre das Mädchen gerettet – aber woher soll sie's wissen? Ist man gar zu aufdringlich, so ärgern sich die Kunden, und manche haben eben nicht das Talent zum Verkaufen, man braucht ein heiteres frisches Wesen dazu und festen Willen. Wir malen's dir jetzt so schwarz aus,« gestand Nan, »dann findest du's vielleicht angenehmer, als du denkst. Es sind sehr nette Mädchen im Geschäft, man ist doch nie allein, hat immer Abwechslung, und du bist unabhängig.«

»Ja, und das ist mein höchster Wunsch!«

»Und ich zweifle gar nicht, daß Fräulein Hayes im Handumdrehen einen Schwarm von Verehrern haben wird. Hm – Nan?«

Statt aller Antwort versetzte Nan dem Geliebten einen scharfen Rippenstoß, und da man an Peggys Wohnung angelangt war, verabschiedete sich diese, und das Brautpaar ging Arm in Arm weiter.

»Tom, du darfst ihr nicht mit Verehrern kommen! Sie hat eine entsetzliche Geschichte hinter sich!«

»Und darum hier?« sagte er mit einem Pfiff.

»Ja. – Was hältst du von ihr?«

»Sieht zart aus und ist, wenn mich nicht alles täuscht, eine Dame.«

»Natürlich, vom Wirbel bis zur Zehe! Findest du sie hübsch?«

»Nein, viel zu elend und verschüchtert. Mag einmal hübsch gewesen sein.«

»Gewesen! Sie ist gerade Zwanzig!«

»Willst du mir einen Bären aufbinden? Seit wann hat ein Mädchen von zwanzig Jahren solche Falten um den Mund?«

»Vor anderthalb Jahren war sie die Dorfschönheit und die Leute kamen von weither zur Kirche, um sie zu sehen.«

»Jetzt würde schwerlich einer deshalb über die Straße gehen.«

* * *

Am Montag früh wurde Fräulein Hayes ins Comptoir gewiesen, wo Herr Preedy, ein vierschrötiger Mann mit vorstehenden Augen und einer nicht zu übersehenden Uhrkette, die »Neue« in Augenschein nahm.

»Fräulein Hayes – eine Freundin von Fräulein Belt?«

Peggy verbeugte sich.

»Scheint ja eine Dame zu sein,« dachte der Dicke bei sich. »Sie wünschen in unserm Haus Verwendung zu finden?«

»Ja,« erklang es leise.

»Schon in Stellung gewesen?«

»Nein, mein Herr, aber ich habe eine gute Erziehung gehabt.«

»Klavierspielen und Singen nützt uns nicht viel, wir brauchen geriebene Verkäuferinnen. Schon früher verkauft?«

»Nur in einem Wohlthätigkeitsbazar.«

»Pah! Wie alt?«

»Im nächsten April werde ich Einundzwanzig.«

– »Sehen aus wie Fünfundzwanzig. Nun, wir wollen den Versuch machen. Fräulein Belt steht für Ihre Unbescholtenheit ein? ...«

Peggy wurde glühend rot. – Konnte man sie, die ihres Mannes Frau nicht gewesen war, unbescholten nennen? Zum Glück deutete der Gestrenge ihr Erröten nicht als Schuldbewußtsein, sondern als Empfindlichkeit.

»Nun, nun,« sagte er beschwichtigend. »Melden Sie sich bei Fräulein Scott in der Blumenabteilung, die wird Sie einleiten. Es wird Ihnen bekannt sein, daß der Anfangsgehalt sechzehn Pfund im Jahr beträgt mit freier Station? Fräulein Hayes – Vorname?« fragte er, eine Feder ergreifend.

»Margarete, in der Familie nennt man mich Peggy.«

»Werde Sie auch Peggy nennen. – Gebürtig?«

»In Nieder-Barton, Grafschaft Sandshire.«

»Gut. Gehen Sie gleich an die Arbeit – keine Zeit vertrödeln, nicht schwatzen, nicht kokettieren ... guten Tag.«

* * *

Die Vorsteherin der Blumenabteilung, die auch Federn, Fächer, Bandschleifen und andre »Phantasieartikel« umschloß, nahm Peggy nicht unfreundlich auf. Ach, wie viele junge Gehilfinnen mochten schon durch Fräulein Scotts Hände gegangen sein! Sie war eine liebenswürdige Dame von etwa vierzig Jahren mit sehr feinem Geschmack und sehr leerem Beutel, unaufhörlich gequält vom Gespenst ihres Alters, das ihr hier Entlassung eintragen und ihr andre Thüren verschließen konnte. Die Zeit ist grausam, namentlich im Geschäftsleben, wo ergraute Verkäuferinnen trotz aller Vortrefflichkeit verfemt sind. Fräulein Scott hatte schon Warnungszeichen erhalten, die sie im Innersten erschütterten. Das schlichte Fräulein Duke, seit Jahren in der Abteilung für Stickereien und erst Achtunddreißig, war eines schönen Tages aufs Comptoir beschieden und seither nicht mehr gesehen worden, und doch war sie die einzige Stütze einer bettlägerigen Mutter.

Fräulein Codd in der Aussteuerabteilung war allerdings Vierundvierzig, wurde sehr dick und gab sich nicht die geringste Mühe, ihr Alter zu verbergen, aber bei Unterkleidern, Flanellen und Baumwollstoffen stören graue Haare nicht, während man bei Rosenknospen, Flieder und weißen Federn unbedingt jung aussehen muß! Fräulein Scott that denn auch durch Puder, ja Schminke, Stirnlöckchen und sehr stark geschnürte Mieder ihr Möglichstes, die Illusion zu erhalten, verwendete viel Geld auf ihre Kleider und hätte im Grund unbesorgt sein dürfen, denn die Kundschaft hing treulich an ihr und würde sich gegen ihr Verschwinden aufgelehnt haben.

Bleich, aber ruhig und besonnen ließ sich Fräulein Hayes die Bandkasten zeigen und die Preiszeichen erklären, um dann, mit Abreißbuch und Bleistift versehen, ihr Amt anzutreten. Das Mittagessen war so unerfreulich, als Nan es geschildert hatte, und bestand für Peggy nur aus Brot und Kartoffeln, da ein sehr zähes Stück Fleisch erst fünf Minuten vor Ablauf der halben Stunde an sie gelangte.

Am Nachmittag war zufällig der Geschäftsbesuch sehr gut; es wimmelte von Kauflustigen. Peggy erschrak in tiefster Seele, als die erste Dame zu ihr trat, ihre Börse auf den Tisch legte und in schleppendem Ton Feldblumen zu sehen verlangte. Angstvoll brachte sie den betreffenden Kasten herbei, durfte aber nach einigem Hin- und Herreden ihren ersten Verkauf mit drei Schilling elfeinhalb Pence eintragen. Die nächste Kundin verlangte weißes und rotes Band, um einen Blumenkorb zu verzieren, und dann kam eine hübsche junge Dame, die ganz genau wußte, was sie haben wollte, und einen Reiher um siebzehn Schilling erstand. Ihr folgte eine verdrießliche alte Witwe, die wegen eineinviertel Meter Samtband um neun Pence drei Schachteln aufreißen ließ und laut erklärte, daß Ware und Bedienung bedeutend nachgelassen hätten, seit Grey & Lavender das Geschäft nicht mehr persönlich führten.

»Für den ersten Tag ist's ganz gut abgelaufen,« bemerkte Fräulein Scott aufmunternd. »Sie haben keinen Bandkasten fallen lassen und sich nicht in der Rechnung gestoßen.«

Die »Neue« mit den weißen Mausezähnchen und den scheuen Rehaugen hatte ihr Herz erobert.

»Ich sehe, daß Sie flink und willig sind, da wird sich's schon machen.«

»Das hoffe ich – und herzlichen Dank für Ihre Güte, Fräulein Scott.«

Diese Stimme und Aussprache. – Ja, der kleine Rekrut mit der beneidenswerten Schlankheit mußte einst bessere Tage gesehen haben, nicht die einzige dieser Art, die bei Grey & Lavender ihr Brot verdiente! In überraschend kurzer Zeit lernte Fräulein Hayes ihre Aufgabe begreifen und sich der Umgebung anpassen. Sie gab sich Mühe, ihre Handschrift und ihr Benehmen kaufmännisch zu bilden, begriff und achtete die Rangunterschiede unter den Angestellten, war still, bescheiden und gefällig. Die »Kolleginnen« erklärten sie einstimmig für »ein nettes Mädchen«, und das Gerücht, sie habe einen »schrecklichen Roman« erlebt, erhöhte noch ihre Teilnahme. Sie murrte auch nie, wenn man ihr einen in Unordnung geratenen Kasten zum Aufräumen gab, klatschte nicht, machte keiner ihr Essen streitig und hatte gar keine Augen für die jungen Herren.

Wenn Nan und Peggy sich einmal ordentlich aussprechen wollten, mußten sie vor den andern ins Schlafzimmer gehen. Das war heute geschehen und Nan eröffnete das Gespräch.

»Peg, du hast ja geradezu Erfolge! Man sagt mir geradezu Schmeicheleien über meine Freundin, die so ruhig und fleißig sei, daß nicht einmal Sharples etwas an ihr aussetzen könne. Wie ist dir's eigentlich zu Mut? Wenn dich jemand kränkt, so sag's nur mir; ich stecke ihr dann eine Hutnadel in den Leib!«

»Zu solch kräftigem Mittel ist keine Veranlassung da,« versicherte Peggy, die ihr langes Haar bürstete. »Es geht mir ganz gut.«

»Und wie gefällt dir das Verkaufen?«

»Ausgezeichnet! Ich finde es sehr interessant, sich so in die Menschen hineinzudenken und ihren Willen zu beeinflussen.«

»Es heißt, Nixon sehe dich immer an?«

»So? Ich habe es nie bemerkt.«

»Jedenfalls darfst du's nicht mit ihm verderben. – Am Sonnabend will uns Potts ins Theater führen, was sagst du dazu?«

»Daß es sehr freundlich ist von ihm und von dir, daß ich aber nicht mitgehen werde. Ihr unterhaltet euch viel besser ohne mich und du brauchst nicht zu denken, daß ich Trübsal blase! So merkwürdig, ja so herzlos es klingen mag, ich fühle mich nicht unglücklich. Ich lese, übe mich im Rechnen, gehe in die Kirche und mache lange Spaziergänge, habe keine Sorgen um meinen Haushalt, keine Angst vor Rechnungen, oder vor – irgend jemand. Von Rechts wegen hätte ich doch nach meinen Erlebnissen Gehirnentzündung oder sonst eine schreckliche Krankheit bekommen und sterben müssen, statt dessen bin ich gesund und wohl! Es ist beinahe eine Schande, so zäh zu sein und sich gar nicht elend zu fühlen!«

»Dann bist du eben leicht zufrieden!« rief Nan, sich auf dem Bettrand niederlassend, um ihre Schuhe abzustreifen.

»Es scheint so, und das größte Glück ist, daß ich keine Zeit zum Brüten und Grübeln habe und abends immer so todmüde bin, daß ich gleich einschlafe. Als ich am ersten Morgen hier aufwachte und euch alle in euren Betten schlafend sah, war mir's, als ob ich wieder in der Pension wäre. Ich kann mich satt essen, bin unter fröhlichen jungen Menschen, manche von den Mädchen nennen mich sogar Liebling und geben mir Süßigkeiten. O Nan, manchmal ist mir's, als ob ich eine arme Motte wäre, die lang um ein blendendes Licht herumgeflattert ist und sich die Flügel verbrannt hat, aber in Dunkelheit und Frieden wieder auflebt!«

»Du redest wie ein Buch, mein Kind, und zwar wie ein sehr moralisches! Wenn du so befriedigt bist, Peg, bin ich's doppelt. Uebrigens ist ein junger Mann vom Linoleum-Departement sterblich in dich verliebt und will dir vorgestellt werden. Ich weiß es von Tom.«

»Bitte,« rief Peggy mit leidenschaftlicher Gebärde, »laß mich mit solchen Geschichten in Ruhe, die sind für mich abgethan! Und sage deinem Tom, wenn er mir je junge Herren vorstelle, sei's um unsre Freundschaft geschehen.«

»Wenn dein Männerhaß bekannt wird, dann bist du vollends umlagert. Möglicherweise stellen sie dich sogar in ein Schaufenster als Sehenswürdigkeit mit der Bezeichnung Unicum.«

»Kannst du ihnen nicht andeuten, ich hätte viel Schweres durchgemacht?«

»Das schreckt nicht lange ab. – Peg, du blühst wieder auf, deine hohlen Wangen füllen sich aus, und bald wirst du wieder eine Schönheit sein. Uebrigens – hat dir niemand geschrieben, niemand nachgeforscht?«

»Nein. An Frau Hesketh schrieb ich einmal und sagte ihr nur, daß es mir gelinge, mein Brot zu verdienen. In der Zeitung las ich, daß – er – seinen Abschied bekommen hat und das Regiment von Dublin wegverlegt worden ist. Ich hoffe, man wird mich bald vergessen haben.«


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