Paul Keller
Das letzte Märchen
Paul Keller

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Frühling.

Der April war gekommen.

Ich habe nie zu den Leuten gehört, die auf den April schimpfen. Es ist unrecht. Der Bursche benimmt sich so, wie sich einer benehmen muß, dem eben der erste Bart sproßt und der voll ungebändigter Kraft und voll unverstandener Triebe steckt. Die peinlich-süßen Lümmeljahre! Heute feierlich mild mit abgeklärtem Horizont wie ein Mann sonniger Reife, morgen ein ungezogener Junge, der mit Schmutz wirft.

April! Frühling droben! Hoch über mir, über diesem dunklen Himmel blühten nun die Veilchen, flogen auf milden Südwindsschwingen die Vögel heim zum kleinen Nest, klangen die Osterglocken, spielten frohe Kinder auf der Straße.

Schien die Sonne!

Von allem Menschenglück habe ich im fremden Land nichts so bitter entbehrt als den Sonnenschein. Denn Sonnenschein ist über alle Märchenpracht, ist das lieblichste Wunder, die holdeste Gabe. O, einmal hineinspringen können in seine glitzernden, warmen Wellen, mich einmal einspinnen lassen von seinem fliegenden Gold. Einmal die Mutter sehen, die große, gütige Allmutter!

Nun, da droben der Frühling kam, fühlte ich, daß ich in der Verbannung war, und meine Seele regte die gefangenen Schwingen wie der kleine Vogel im Käfig, wenn ihm sein unruhiges Herz sagt, draußen sei Lenz.

Ein rotes Plakat prangte an den Straßenecken der Hauptstadt.

»Wir Herididasufoturu von Gottes Gnaden König bestimmen auf Grund der §§ 51, 52 der Staatsverfassung und tun zu wissen, was folgt:

»In Anbetracht der Notlage verschiedener Gegenden und der uns zu Ohren gekommenen allgemeinen Frühlingssehnsucht ist der Winter für dieses Jahr um sechs Tage verkürzt und der Frühlingsanfang auf den fünfzehnten März festgesetzt.

Marilkaporta, den dritten März. Herididasufoturu Rex.

Gegengezeichnet Haschakilgeruff, Minister für öffentliche Wetterangelegenheiten.«

Mich machte der Gnadenerlaß nicht glücklich. Denn obwohl plötzlich am fünfzehnten März sämtliche Pelzmäntel unglaublich dünnen Gewandungen Platz machten und die Knaben auf allen Gassen die Kreisel springen ließen und goldene Spielmarken an die Wände warfen, ja, obwohl Stimpekrex erklärte, er habe den Schnupfen, was ihm immer passiere, wenn der Frühling käme, blieb mir die selige Lenzgewißheit aus. Auch im April noch, als von unserer Redaktion bereits sieben Wagenladungen Frühlingsgedichte nach den Schuttabladeplätzen fortgeschafft worden waren.

Da kam endlich auch mir eine Frühlingsfreude.

Am neunundzwanzigsten April wurden die Maikäfer zu Berge getrieben, das heißt hinauf auf die Welt.

Ich werde da zunächst einige aufklärende Bemerkungen über Maikäferwirtschaft machen müssen. Sie ist von der Kuhwirtschaft in einigen Dingen verschieden. Denn während sich bekanntlich die Kühe durch das Produzieren von Milch und das Hervorbringen von Kälbern beliebt und nützlich machen, sieht man es bei der Maikäferzucht mehr auf die Gewinnung von Eiern ab. Maikäfereter sind in Herididasufoturanien eine Delikatesse. Die Mandel hundertzwanzig Mark. Trinkeier teuerer.

Reiche Maikäferbauern halten bis zehntausend Stück Vieh. Mehr läßt sich im Kleinbetriebe nicht gut übersehen. Meine bedeutenden naturkundlichen Vorkenntnisse erleichterten mir das Verständnis der Maikäferwirtschaft sehr. Ich wußte nämlich, daß Maikäfer nicht lebendig zur Welt geboren, auch nicht von ihren Eltern aus Eiern ausgebrütet werden (was von einem Großstädter leicht vermutet werden könnte), sondern, daß sie sich in langwieriger, fast vierjähriger Metamorphose aus Ei, Larve und Puppe zum Insekt entwickeln. Also staunte ich nicht, in den Meiereien oft bis dreißigtausend Engerlinge anzutreffen. Diese gefräßigen Tiere verschlingen eine riesige Menge Futter. Ihr Nutzen ist gering. Aus der bei ihren zahlreichen Häutungen abgeworfenen Haut werden Portemonnais, Einbände von Photographiealbums und ähnliche Dinge gefertigt, aber das bringt nicht viel ein, denn das Leder ist billig.

Im November des vierten Jahres schlüpfen aus den Puppen die fertigen Maikäfer aus. Sie sehen anfangs grau aus und sind sehr weich und furchtsam. Da sie aber erst im April des nächsten Jahres zu Berge getrieben werden, bleibt ihnen Zeit, braun, stark und mutig zu werden. Auch werden sie in einem sechsmonatlichen Kursus auf ihre irdische Mission vorbereitet.

Da ich mich für den Maikäferaustrieb lebhaft interessierte und meine Frühlingssehnsucht sich bis zum schmerzlichen Heimweh gesteigert hatte, richtete ich an den König das untertänigste Gesuch, mir die Beteiligung bei einem Austrieb und einen kurzen Aufenthalt auf der Oberwelt zu gestatten.

Ich bekam die Erlaubnis, jedoch mit der Einschränkung, daß ich erst nach Sonnenuntergang die Oberwelt betreten dürfe und sie schon vor dem nächsten Sonnenaufgang bereits wieder verlassen müsse.

So konnte ich die Sonne nicht sehen. Der König war klug; er fürchtete wohl, ich würde nicht wiederkommen, wenn ich, ein Sonnenkind, das glänzende Gestirn des Tages erst wieder einmal gesehen hätte.

Aber der Trost war nahe am Leide.

Angelika ging mit. Sie war mit der Prinzessin nach Marilkaporta zurückgekehrt, erst vor wenigen Tagen, und ich hatte sie kaum einmal gesehen. Nun wollte die Prinzessin schon wieder fort, wollte hinauf auf die Welt. Das unruhige kleine Herz ließ sie nicht rasten.

Am Fuße des Kuckumontepetl, eines hohen Berges im Lande, versammelten wir uns alle am Morgen des neunundzwanzigsten April. Soweit das Auge reichte, Maikäferherden, Hunderttausende und Millionen runder, brauner, wohlgepflegter Tiere! Es war eine Lust, sie anzusehen; ich hatte nie zuvor einen so reichen Viehstand gesehen.

Es war auch dem weniger geübten Auge leicht erkennbar, daß die Regierung des Landes auf Rasse unter den Tieren hielt, und ich hörte, daß sich die herididasufoturanischen Maikäferzuchtbullen großer Berühmtheit erfreuten. O dieses ungeduldige, laute Brummen, dieses Hinundherschieben, Drängen, Stoßen, Ausweichen, dieses Getrappele von Millionen Füßen! Ein reizendes, vielgestaltiges Bild.

Dicke Maikäferbauern hasteten aufgeregt hin und her. Sie sprachen mit den Sennen, die grüne Hütlein mit runden Federn trugen, und schimpften auf die Hüterbuben, die vor lauter Übermut Dummheiten trieben.

Die Bäuerinnen gaben den Almdiandln die letzten Anweisungen. Diese Sennerinnen unterschieden sich von ihren menschlichen Kolleginnen nur dadurch, daß sie hübsche Gesichter hatten, sonst trugen auch sie grüne Röcke, schwarze Mieder, weiße Brusttüchel und silberne Anhängsel die schwere Menge. Eben als ich mich mit solch einem lieblichen Kinde ein wenig necken wollte, bekam ich einen großen Schreck. Ein Riesenstier stürmte auf mich zu. Er hielt die starken Hörner zum Angriff gesenkt, und seine Augen funkelten tückisch. Ich wich mit großer Eile aus, sonst wäre ich sicher verletzt worden, denn selbst das Diandl sagte, das sei der böseste Maikäferochse weit und breit. Der grimme Bulle bekam denn auch zu meiner Genugtuung einen schweren Klotz umgehängt, den er zwischen den Beinen schleppen mußte. Ich finde solche Maßregel allemal sehr lobenswert, denn sie erhöht dem Städter den Naturgenuß.

Ein paar Böllerschüsse wurden gelöst, – das Zeichen zum Aufbruch. Die letzten Ermahnungen, Segenssprüche, Abschiedsworte der Zurückbleibenden, ein millionenstimmiges, luftiges Brummen, die Glocken läuten, die Sennerinnen jodeln, die Sennen singen Schnadahüpfeln, und daß lange Bergschalmeien geblasen werden, ist selbstverständlich. So setzt sich der Zug in Bewegung und zieht langsam den Berg hinauf.

Ich ging mit einem älteren Hirten. Ich hatte mir eine Menge Zigarren eingesteckt; nun gab ich ihm ein Päckchen, um ihn gesprächig zu machen. Man mag über Zigarren denken, wie man will, jedenfalls gibt es kein öfter gebrauchtes Bestechungsmittel als dieses. Es ist billig, angenehm und beleidigt nicht. Man kann es in kleineren Dosen auch bei feineren Leuten anwenden.

Der Hirt erzählte. Das Almenleben droben dauere bloß einen Monat. Was nach Ende Mai noch an Maikäfern auf der Erde sei, das seien verstiegene Tiere. Das Hüteramt sei neuerdings sehr schwer, denn die Menschen stellten den Rasern unglaublich nach.

»Hühnerfutter machen sie aus unseren Käfern. Denken Sie, lieber Herr, was das für ein Schade ist! Ein Weibchen hat ungefähr vier Mandeln Eier in sich, die Mandel zu l20 Mark; macht also 480 Mark Verlust auf ein Tier. Milliarden werden so vergeudet.«

Er senkte schmerzlich das Haupt. Ich suchte nach einem Entschuldigungsgrund für das gewissenlose Gebaren meiner Mitmenschen, aber ich fand keinen. Der Hirt begann wieder:

»Wir haben schon immer wegen eines Maikäfer-Schutzgesetzes mit Ihrer Regierung verhandelt, aber bis jetzt hatte die Sache keinen Erfolg. Können Sie nicht was tun, lieber Herr? Sie spielen doch bei Ihrer Regierung gewiß eine Rolle.«

Ich sagte verlegen, das solle er nur nicht so ohne weiteres annehmen; im übrigen könne ich ihm leider keine große Hoffnung machen. Das Singvogel-Schutzgesetz mit der italienischen Regierung käme z. B. auch nicht zustande, und Singvögel hätten doch auch etwas für sich.

Diese Mitteilung machte den Hirten so melancholisch, daß ich ihm ein zweites Päckchen Zigarren spendieren mußte, um ihn gesprächig zu erhalten.

Er war ein alter Hirt, voll medizinischer Geninalität. Vertretene Füße, gebrochene Beine, lädierte Flügel waren noch die leichteren Fälle. Aber wenn eine rauhe Nacht kam, dann hatte er viel zu tun, durch geschickte Massage die erstarrten Tiere am Leben zu erhalten.

»Und sehen Sie, lieber Herr, die Fliederblätter, die fressen sie nu mal so gern; aber sie kriegen leicht die Ruhr davon. Da muß man dann sehen, wie man rasch ein paar Eichen auftreibt; denn Eichenblätter stopfen. Wenn Sie bei Ihrer Regierung was für die Vermehrung der Eichbäume tun könnten, lieber Herr! Es ist jetzt eine Plage damit droben in Deutschland.«

Ich sagte, ich würde mein möglichstes tun, denn ich sei schon immer sehr für die Eichen gewesen.

»Aber sagen Sie mir, lieber Freund, wo stecken Sie eigentlich? Ich habe noch nie einen der Ihrigen gesehen.«

Er lächelte.

»Wir sitzen auf dem obersten Wipfel eines Baumes, dort, wo kein Menschenknabe hinklettern kann und wohin keiner schaut, ganz im grünen Lichte versteckt. Haben Sie uns auch nie spielen gehört?«

Er zog eine Flöte aus der Tasche, die aus einem hohlen Grashalm kunstvoll gefertigt war, und begann zu spielen. Es war ein schlichtes Hirtenlied, heimlicher als fernes Grillenzirpen, leiser als der fächelnde Abendwind, es war zart wie ein liebkosender Lufthauch, der durch die Rispen blühender Gräser geht.

Ein ferner Tag stieg vor meiner Seele auf.

Ich saß an einem Maiabend vor einem Hause unter vielen Leuten. Ich war noch ein Kind. Die Leute schwatzten und lachten. Aber auf eine Minute kam der große Friede des Frühlingsabends auch über sie, und sie schwiegen. Es wurde ganz still. Ich starrte in das junge Grün eines großen Baumes, der in der Nähe war, und hörte deutlich eine feine Melodie.

»Wo starrst du hin, Junge?« fragte mich eine Frau.

Ich zeigte erregt auf den Baum.

»Dort spielt jemand auf einer Flöte,« sagte ich.

Da lachten alle laut auf, und einer sagte, ich sei ein sehr dummer Kerl. –

Bergauf ging es, immer bergauf. Am Abend rasteten wir, am nächsten Tage zogen wir weiter.

Zuletzt kamen wir auf dem Gipfel des hohen Berges an. Dort traf ich mit der Prinzessin und Angelika zusammen.

Der Himmel war nahe über uns, wohl nur hundert Meter noch entfernt.

Eine schwere Aufregung kam über mich. Es war, als ob ein tödlicher Schwindel mich anfalle auf diesem hohen Berge.

Aufflogen Millionen Tiere in wirbelndem Reigen. Sie klammerten sich mit ihren Füßen droben an die braune, weiche Erde.

Eine große Gondel sank vom Himmel herab, in die stiegen wir ein und fuhren langsam zur Höhe.

Da tönten Kanonenschläge im Tal, Freudenfeuer brannten auf den Hügeln, und im ganzen Lande läuteten die Glocken.

In Marilkaporta stand der König auf der Zinne seines Palastes und sah den Hirten nach, die zum Himmel stiegen. Wunderfarbige Raketen flammten vom Herrscherschlosse auf, den Hirten zum Gruß, sie stiegen empor in leuchtenden Goldlinien, bildeten in der Höhe flammende Kronen und zerrannen im Blauen.

Und die Hirten ließen bunte Fahnen flattern und viele kleine Luftschifflein fliegen, die mit Süßigkeiten für die Kinder gefüllt waren.

Langsam stieg die Gondel empor; noch ein letzter Blick über das rätselvolle Land, in dem die roten Vulkane lodern und die bunten Ströme rauschen, und wir waren im Finstern. Die mütterliche Erde hatte uns aufgenommen.

In langen, dunkeln Gängen stiegen wir empor; die Hirten nur trugen kleine, gelbbrennende Fackeln.

Ich faßte Angelika fest an der Hand.

Nun ging es heim.

Die ganze schwere Erregung der Heimkehrenden kam über uns: die heilige Freude, die quälende Ungeduld, die bange Scheu.

Dort, wo der Weg sich bog, legte sie den feinen Kopf an meine Brust, und ich küßte sie auf die Lippen.

Dann gingen wir schweigend weiter.

Da ein großes, großes Summen vor uns, eine plötzliche Erregung unter den Tieren.

Sie sind dem Ausgang nahe.

O Gott, wie das Herz schlägt!

Jetzt dringt mir etwas in die Brust mit starker Wonne. Ein Strom des Lebens bricht über mich herein, eine süße Welle des Glücks tränkt meine Seele.

Ich atme Erdenluft!

Der Fuß eilt, das Auge glüht, das Herz pocht, das Blut jagt. Ein blasser, silbergrauer Stern geht vor uns auf, hundert Schritte, noch hundert, und ich bin auf der Welt.

Ihr Menschen, dieses sage ich euch, als ich fern von euch gewesen war und auf eure Erde zurückkam, glaubte ich, ich sei in den Himmel gekommen.

Vor den tausend überraschenden Wundern, die sich vor mir auftaten, waren mir im Anfang die Augen blind. Ich atmete nur in schweren, andächtigen Zügen die Luft eurer Lande, diese Luft, durch die alle Tage die goldnen Gnadenströme des Sonnenlichts fluten, diese Luft, die den Atem von Millionen grüner Bäume und lichter Blumen trinkt, diese Luft, die so riesenstark ist, daß sie die Lasten der Meere über eure Fluren trägt und die doch auch mütterlich zart das Lachen eines Kindes auf ihre Schwingen nimmt.

Und ich sah euren Himmel!

Ich habe bitterlich geweint in diesem Augenblick, da ich euren Himmel sah. O ihr reichen Menschen! Millionen Sonnen und Welten, unerforschbar in ihrer Größe, unbestimmbar in ihrem Reichtum, mühen sich ab, euch Lichtlein zu sein in dunkler Nacht. Über euren Häuptern ist immer die Unendlichkeit, und eure Augen schauen dorthin, wo keine Grenze liegt. Über allen Grenzen liegt eure Hoffnung, und in goldenen Unermeßlichkeiten wißt ihr eine Heimat.

Wir armen Zwerge stehen, den Hut in der Hand. Wir haben nichts als Gold und flimmernde Steine, als nahe Farben, schmale Ziele und enge Gedanken. Wir Zwerglein kommen aus einem armen Lande und stehen erschüttert vor euren Gütern.

Als mich die anderen aus meiner Andacht rissen, schaute ich zuerst um mich. Ich stand auf einem kleinen Hügel. Eine Mühle, deren Maße mir erschreckend schienen, streckte zwei Arme zum Himmel, wie ein Priester, der um Brot betet.

Und drunten im Tal –

O nein, ich will es nicht sagen.

Es war ein Dorf mit einem aufragenden Kirchturm über vielen spitzen Dächern. Und zwischen den Häusern waren viele Gärten.

Es gibt viele solche Dörfer, es ist nichts Besonderes.

Den Kirchturm schaute ich an. Ich wünschte wohl, daß die Glocken geläutet würden. Es sind zwei Glocken dort, die kleine hat einen lieblichen Klang.

Aber das Feierabendläuten ist vorbei, die Sonne ist längst zur Ruhe. Dort über dem eingesattelten Berge ist sie untergegangen. Dort ist Westen.

Es ist ganz still um mich geworden, die Hirten sind fortgezogen mit ihren Herden Nur Angelika ist da. Sie steht zwischen zwei gelben Maiblumen, die schauen mich an wie zwei große, träumende Sonnenrosen.

Die Geliebte kommt zu mir, und ihr leises Zittern und ein lichter Tropfen in ihrem Auge erzählen mir von ihrem Glücke.

Über uns leuchtet der Mond. Es ist wieder das liebe, freundliche Gesicht, das uns beiden Zuversicht gab, als wir in kalter Winternacht von der Erde schieden.

Nun ist Mai, und wir sind zu den Ferien gekommen, und der alte Freund freut sich, daß wir da sind.

»Wollen wir in den Wald?« fragt Angelika leise.

Ich schüttelte den Kopf.

»Da hinunter ins Dorf!«

Wir treten eine stille Wanderung an. Das Gras ist noch nicht hoch, aber wir sind klein und gehen durch das Gras wie durch ein hohes, rauschendes Getreidefeld.

Unten im Dorfe singen ein paar Burschen:

»Der Mai ist gekommen.
Die Bäume schlagen aus.«

Wir beide bleiben stehen und lauschen. Seit langer Zeit hören wir die erste menschliche Stimme.

Dann gehen wir rascher. Es ist noch nicht spät, die Lichter brennen noch in den Stuben.

Wie wir auf die Dorfstraße kommen, befällt uns ein Zittern. Wir sind auf dem Wege der Menschen.

Wie groß, wie riesengroß ihre Häuser sind! Wie breit diese Straße, wie turmhoch die Zäune! Tritte hallen laut an unser Ohr. Hinter einem Straßensteine finden wir eine Zuflucht.

Ein junger Bursch geht mit seinem Schatz spazieren in der Mainacht. Er hat den Arm um ihre Schulter gelegt, und sie gehen langsam. Sie sprechen von Liebe und langem Glück.

Wie zwei eines Geschlechtes ragender Riesen schreiten sie an uns vorbei, aufrecht, stark, königlich. Wie zwei, die die Welt zerbrechen könnten.

Es ist wie ein Unglaube in mir, daß ich je zu diesen Großen und Starken gehört habe. Und wie ich sie so dahin gehen sehe, in der Fülle ihrer Riesenkraft, will ich es nicht begreifen, daß sie mit siebzig Jahren sterben müssen.

Eine Nachtigall beginnt zu singen. Der Klang ihres Liedes mischt sich mit dem Duft der Blumen und Gräser und eint sich mit ihm zu einem wonnigen Frühlingsgenuß.

Am Straßenstein blüht ein Blauveilchen, das pflückte ich ab und reiche es der Geliebten. Sie schmückt sich die Brust damit.

Dann erfasse ich ihre kleine, weiche Hand, und wir wandern weiter das Dorf hinauf durch den stillen Frühlingssegen.


Auf einer grünen Aue liegt ein kleines, weißes Haus. Es schaut freundlicher aus als alle anderen. Und der Garten blüht dort am schönsten.

Ich fasse die Hand Angelikas fester und führe sie über die grüne Aue. Die Gartentür steht ein Ritzlein offen, da schlüpfen wir hindurch.

Eine kleine Rabatte geht am Hause entlang, darauf blühen Hyazinthen, blaue Akelei und gelbe Narzissen. Und am weißen Giebel klimmen Weinranken hinauf, die die ersten zarten Blättchen tragen.

Wer vom Wichtelvolk ist, klettert leichter als ein Kätzlein. So klimmen wir eilig am Weinspalier hinauf und setzen uns aufs Fensterbrett. Wir sehen in eine freundliche, saubere Stube. Eine Hängelampe wirft ein trauliches Licht über gelbe Möbel.

Am Tische sitzen ein Mann und eine Frau, ältere Leute mit freundlichen Gesichtern. Die Frau näht, der Mann liest in einem Buche.

Wir sitzen lange, lange, indes die goldenen Sterne über uns ihre stillen Bahnen ziehen und in der Ferne die Nachtigall singt.

Von aller Erdenschönheit, von allem Frühlingsglück will ich nichts lieber sehen als das liebe, freundliche Bild da drinnen.

Aber die Tränen sind mir gekommen und rinnen nun unaufhaltsam, unaufhaltsam.

Und ich beuge mich zu der Geliebten und weise nach den zwei Leuten in der Stube ...

»Angelika, das sind meine Eltern!«


Ich sehe, wie sie erschrickt, wie sie beide Hände hebt, an die Scheiben zu schlagen.

Da fasse ich sie und ziehe sie rasch nach unten.

Und da höre ich drinnen meine Mutter sagen:

»Ich glaube, es war jemand am Fenster.«


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