Pierre Loti
Auf fernen Meeren
Pierre Loti

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Brief Pierre Lotis an Aziyadé.

An Bord des »Tonnerre«.
Lorient, 8. März 1878.

O meine vielgeliebte Aziyadé.Brief in türkischer Sprache.

Ich habe Deinen verzweifelten Brief erhalten. Und ich antworte auf Deinen Ruf.

Nein, ich habe an nichts vergessen. Nicht an Dich, die ich mehr liebe als Leben und Sonnenlicht, noch an Stambul, noch an meinen heiligen Schwur.

Was ich Dir gelobte, gelobe ich aufs neue, beim Christengott und dem der Muselmanen, bei meiner Seele und der Seele meiner toten Eltern: was ich Dir gelobte, werde ich halten. Du hast nur zu sprechen, und ich bin zu gehorchen bereit ...

Aber der Augenblick ist ernst und schrecklich für uns beide. In diesem folgenschweren Augenblick, in dem Du unser Schicksal schmieden sollst, höre, eh' Du noch sprichst und ehe Du mich rufst, den Rat, den Dir meine Liebe gibt.

Solange jener Greis, der Dich sehr geliebt hat, und dem Du Achtung schuldest, auf Erden weilt, – o Du, solange bleibe bei ihm und erwarte, was uns die Zukunft noch geheimnisvoll verbirgt. Wir sind jung und ein langes Leben breitet sich vor unserm Blick ...

Wenn er aber stirbt, wenn er fällt, dann, wenn er stirbt, Geliebte, vernimm auch dies, was ich Dir voll heißen Herzwehs sage, weil es mir die Hälfte meines Lebens nimmt: wenn er stirbt, o Du Geliebte, dann heirate Osman Effendi!

Auch er ist jung, ist reich und liebt Dich! Mit ihm wirst Du glücklich sein: Vergiß Loti, der das Unglück jener ist, die ihm nahen. Osman Effendi wird Dir Sklavinnen geben, Gärten voller Pracht, die erste Stelle unter den Frauen des Landes und Deinen Platz als Gattin in der verschwiegenen Welt des Harems.

Bei mir hingegen! ... Und wären selbst alle Unmöglichkeiten überwunden, hast Du daran gedacht, was es für Dich hieße, mein Weib zu sein?

Allein, als Flüchtige, kämst Du in fernes Land, wo niemand Deine Sprache spricht. Unverschleiert gleich einer »fränkischen« Frau müßtest Du meine Not teilen, müßtest schwere Hausarbeit leisten, wie es nur Dienerinnen tun, und müßtest allein bleiben durch lange Jahre, indes ich ferne Meere durchkreuze. Durch lange Winter hindurch, die länger sind als die Winter in Stambul, sähest Du in dem Lande, das dem Polarstern näher liegt, den blauen Himmel nicht mehr, und Deine Heimat nicht, nicht Deinesgleichen und hörtest nimmer eine Freundesstimme ...

Doch willst Du das hinnehmen, meine Geliebte, liebst Du mich so sehr, daß Du all dies ertragen kannst, und willst Du fliehen, – dann komm, ich liebe Dich, und ich erwarte Dich.

Vertraue Dich Kadidja an und meinem Freunde Pogarritz, der über Deine Ehre und Dein Leben wachen wird. Ruf mich zu Dir, wenn Du mich bei Dir willst. Ich habe alles für Deine Flucht vorbereitet, und meine Freunde sind verläßlich.

Komm, Du Geliebte, nach Frankreich, und ich schwöre Dir bei Deinem Gott und bei dem der Christenheit, daß Du mein Weib sein wirst: mein vor den Menschen und vor den Gesetzen meiner Heimat.


Der achte März war in Lorient ein recht düsterer Wintertag. Der Regen, der tags zuvor eingesetzt hatte, währte ohne Unterbrechung bis zum Abend.

Seit sechs Uhr morgens schrieb ich Briefe. Um elf Uhr war der Himmel so bedeckt, daß es ganz finster war. Da schloß ich meine Fensterläden, entzündete Kerzen und schrieb an meinem Schreibtisch weiter.

Als meine drei Briefe beendet waren, war es fünf Uhr geworden. (Der türkisch geschriebene Brief an Aziyadé hatte allein über den halben Tag in Anspruch genommen.)

Da riß ich meine Fenster auf: fahles, düsteres Dämmerlicht drang in mein Zimmer ein. Noch fiel der Regen in der grauen leeren Gasse, Lange stand ich noch am Fenster und sog die feuchte Luft in langen Zügen ein.

Ich hatte eine Entscheidung getroffen und hatte gehandelt, wie ich es für notwendig befunden hatte. Erleichterung füllte mich ganz, ich mußte nur noch warten.

Als meine drei Briefe im Postkasten lagen und alles unwiderruflich war, holte ich Yves ab und verbrachte den Abend mit ihm.

 

Brief Pierre Lotis an seine Mutter.

Lorient, 22. März 1878.

Geliebte Mutter!

Heute morgen bin ich nach Lorient zurückgekehrt, wo ich Deinen Brief vorfand. Es wird Dich überraschen, daß ich nicht aus Paris komme, wohl aber aus Plounès-en-Goëlan, einem bretonischen Dörfchen, etwa vierzig Meilen von hier, nahe von Paimpol.

Ich hatte vor, am Sonntag nach Paris zu reisen, als ein Brief von V. L. eintraf, der mir meldete, daß aus der Sache nichts würde (die Publikation von Aziyadé). Da schien es mir unnütz, hinzureisen, da ich doch ohnehin bald auf dem Wege nach Rochefort vorüberkomme. Blieb mein Urlaubsschein, den ich ausnützen wollte. Mein Matrose Yves reiste gerade zum Besuch seiner alten Mutter ab und bestand darauf, mich mitzunehmen. Dein blaues Trikot kam gerade zurecht: ein roter Gurt und eine Kappe ergänzten ein Kostüm, das den Umständen angemessen war.

So sind wir denn alle beide am Sonntag nach Plounès gefahren, woselbst Yves' Rückkehr gefeiert ward, gleich der des verlorenen Sohnes. Als »ein Bruder von der Küste« eingeführt, verbrachte ich vier Tage fischend und umherstreifend in einem malerischen Land. Charakteristische bretonische Bauernhäuser, gute, alte Mütterchen aus der Vorzeit mit Rad und Spindel, Krabben, Apfelwein und mildes Frühlingswetter.

Nach vierundzwanzigstündiger Fahrt kehrten wir heute morgen zusammen zurück. Für alle anderen Leute komme ich aus Paris, nur nicht für meine bucklige Freundin, die die Sachlage kennt.

 

Paris, März 1878.

Für zwei Tage in Paris. Berufung durch ein Telegramm zu Michel Lévy, dem Verleger. Zwei recht bewegte Tage, die wenigstens den Vorteil hatten, mich meinem düstern Grübeln zu entreißen.

V. L. und Delguet wetteiferten miteinander, meine wenigen freien Augenblicke recht festlich zu gestalten.

Bei Delguet fand ich ein Wesen wieder, dem mehrere Seiten meiner früheren Aufzeichnungen gelten: die »Fratine«.

Die kleine Fratine in verbesserter Auflage, als elegante Dame voller Charme, die mir die Honneurs »ihres Hauses« machte.

Heute abend gab sie ein Diner für V. L. und für mich, und wir haben in Gemütlichkeit alte Erinnerungen aufgefrischt. Als aber die Rede auf Annecy kam, war die Fratine so verwirrt, als glühte ihr Gefühl für mich noch immer in ihrem Herzen. Sie senkte das Haupt und küßte ihr kleines Kind, das neben ihr saß.

 

Brief Pierre Lotis an Madame X in Paris.

Lorient, April 1878.

... Wenn ich Dir weh getan habe, verzeihe mir. Du weißt, ich habe meine bösen Tage. Da ist mein Herz eiskalt und bleibt für alle verschlossen. Auf jener letzten Reise sah ich Dich wohl in anderem Lichte, aber es war, im Gegenteil, ein weitaus sympathischeres ... Bis dahin hatte ich in Dir nur einen Menschen im Glück gesehen, mit einer gewissen positivistischen Philosophie begabt, die Dir zu genügen schien; ich glaubte Dich relativ ruhig, zufrieden in jenen Kälteregionen. Ich trug es Dir sogar ein wenig nach, daß Du eine Art Frieden fandest jenseits aller Ideen von Erlösung und ewigem Leben, welchen ich trotz meiner tiefen Ungläubigkeit doch mit dem Herzen verbunden bleibe ...

Im Gegenteil, als ich kürzlich mit Dir sprach, empfand ich manches voraus, was Du nun so erschütternd niederschriebst. Da sah ich, daß Dein Herz auch voller Wirrnis ist, gequält und verzweifelt wie das meine. Das gleiche Chaos, die gleiche Not, um nichts mehr, um nichts besser, die gleiche furchtbare Leere. Wir brauchen uns gegenseitig nicht mehr zu beneiden. Doch fühlen wir beide zu sehr nach der nämlichen Richtung hin, um wirklich befreundet sein zu können ...

Siehst Du, ich, ich bin doch noch jung, aber ich merke schaudernd, daß ich bald dahin gelangen werde, wo Du jetzt bist. »Sich ausstrecken, um das Ende zu erwarten« – der Wunsch steigt manchmal in mir auf.

Und dennoch gibt es etwas, was alles im Leben bedeutet. Die Liebe. Ich habe reizende Mätressen gehabt und werde zweifellos noch viele haben. Es sind Frauen unter ihnen gewesen, die ich sehr anbetete. So, daß ich furchtbaren Schmerz empfand, dachte ich daran, daß eines Tages der Tod uns scheiden könnte, und daß dann alles in Staub vergeht ... Ich träumte davon, man möge uns im gleichen Grab begraben, damit unserer beider Asche sich menge.

Und diese Frauen habe ich vergessen. Ich habe andere geliebt und habe ebenso geträumt. Die Zeit vergeht, die mich von hinnen trägt, und bald, bald kommt das Alter.

An Freunde glaube ich kaum. Und dennoch habe ich ihrer mehr gehabt als sonst wohl jemand auf Erden ... Oft stieß ich auf Zuneigung, auf blinde Ergebenheit. Ich klaubte Seeräuber in den Straßen auf und nahm sie an mein Herz. Bei ihnen fand ich mehr Jugend und Leben, und mächtigere, weniger banale Gefühle als bei meinesgleichen ... Aber alles geht unaufhaltsam vorüber.

Wenn die späten Jahre da sein werden, mit Leiden vielleicht, mit Falten und grauen Haaren, wenn mir keine andere Liebe mehr blüht als jene, die käuflich ist, wenn ich wie ein altes, schadhaftes Gerät zur Seite gelegt sein werde, – was, guter Gott, bleibt mir dann außer Selbstmord?

Jene, die Du und ich als Einfältige verachten, die anbetend Christus zu Füßen liegen, jene, versichere ich Dir, sind die Glücklichen dieser Erde. Die Not der Zeit, die vorübergeht, die Not des Einsamseins, das Grauen vor dem nahenden Nichts – all dies ist ihnen unbekannt. Sie gehen dahin voll Ruhe und Vertrauen. Mein Leben gäbe ich darum, ihre leuchtende Illusion zu besitzen; würde sie mir selbst nur mit der Geistesverfassung von armen Tollhäuslern, die in dem Glauben leben, die Reichen und Mächtigen der Erde zu sein.

Und wenn dieser Glaube fehlt, – wenn wir dann wenigstens nach etwas anderem blicken könnten, nach einem Hoffnungsstern, einer Unsterblichkeit ... Doch nichts! ... Denn außer der noch strahlenden Christusgestalt ist alles Schrecken und Finsternis ...

 

Brief Pierre Lotis an Plumkett.

Lorient, April 1878.

Ich verbringe recht traurige Tage, mein lieber Plumkett, unendlich langsam entschwindende Tage mit düsteren, sterbensbangen Abenden.

Zwar habe ich noch Bruder Yves bei mir, aber er ist nicht mehr der tolle Junge, der Sprünge macht: Unsere Freunde, die »Brüder von der Küste«, sind alle verstreut, haben sich eingeschifft; der »Lamotte Picquet« hat unsere letzten nach der Südsee entführt.

So gibt es denn keine Seeräuberbande mehr, keine nächtlichen Tumulte, und Mutter Hollichon wird nicht mehr der Ehre teilhaftig, uns in ihrer Herberge bewirten zu dürfen.

An manchem Abend, wenn die Stadt in die noch kalten Nebel des April versank, hat man uns beide, Yves und mich, im Matrosengewand die dunkle Straße hinabwandern gesehen; wir bogen zum Kai ein und überschritten die Brücke des Kanals. Dann betraten wir sein Heim und saßen dort den Abend lang vor dem flackernden Feuer, während Marie, seine Frau, ihre breiten weißen Kragen plättete und kleine Häubchen nähte für ihr kommendes erstes Kind.

Seit dem tragischen Schreiben, das ich am 7. März erhielt, bin ich ohne Nachricht von Aziyadé, und jetzt, da Achmet tot ist, ist auch jede Verbindung zwischen uns abgeschnitten.

Ich habe es mit einer Menge von Mitteln versucht, schrieb eine Menge türkischer und französischer Briefe an eine Menge von Leuten, und erhielt keinerlei Aufschlüsse.

Ich hatte meine letzte Hoffnung auf einen, namens Pogarritz gesetzt, einen tapferen Jungen, meinen dortigen treuen Freund. Doch habe ich erfahren, daß er in ein Bataillon ungarischer Freiwilliger eintrat, und daß auch er von einer russischen Kugel getötet worden ist.

Die Zeit vergeht, ich weiß nicht mehr, was tun. Ich träume davon, nach dem Orient zurückzugehen, und der Boden brennt mir unter den Füßen ...

Wehe Angst schnürt mir das Herz zusammen, wenn ich »ihrer« gedenke. Ich liebe sie tief, das schwöre ich Ihnen, – ich liebe sie anders als in den ersten Tagen. Ich würde freudig Jahre meines Lebens darum geben, könnte mich noch einmal einer ihrer kleinen Briefe erreichen, die so schwer zu entziffern waren und so unleserlich ... Ich würde vor Freude weinen, wenn ich einen erhielte ...

 

An Bord des »Tonnerre«.
Cherbourg, Mai 1878.

Einen Monat in Cherbourg verlebt. Ich hätte es vorgezogen, dies Land nicht wiederzusehen, das für mich so viel schmerzliche Erinnerungen birgt. Erinnerungen an Jean, an unser beider Leben, Erinnerungen an den Krieg, an die acht trüben Monate, die ich im Jahre 70 hier verbringen mußte, acht Monate einer qualvollen Existenz, acht Monate, während welcher wir viel gelitten haben. Und dann Erinnerungen an Jeans Abreise an Bord des »Petrel«, im Juni 1873.

Ich hatte mir vorgenommen, mit keinem Fuß dieses Land mehr zu betreten; während dreier Wochen hielt ich Wort und bin an Bord geblieben, bis ich eines Morgens eine Vorladung zum Bahnhof bekomme. Eines Koffers wegen, den ich gezwungen bin, selbst abzuholen.

Ich lasse mich von Yves in seiner Dampfschaluppe hinüberführen und lande an der Stelle, an der ich vor fünf Jahren mit traurigem Herzen Jean zum letztenmal umarmte, bevor er, und ohne mich, nach dem Senegal abging.

Heute wieder ist ein so schöner Frühlingstag, einer der ersten heißen Tage des Jahres. Die Gärten stehen voll blühender Fliederpracht, doch trotz des blauen Himmels ist Cherbourg, dies geschmacklose kleine Nest, öde und langweilig.

Ich laufe durch die Stadt, blicke weder nach rechts noch nach links, trachte nur, so rasch als möglich, wieder heimzukehren. Dennoch erweckt mir jeder Stadtteil, jede Straßenecke, jeder Geschäftsladen, eine Flut von Erinnerungen. Unsere Pension, unser Zimmer, das Haus, in welchem Emma wohnte, der Zeitungskiosk, wo allabendlich die Nachrichten vom Kriegsschauplatz erschienen, und die breite grüne Eiche am Bahnhof, so selten in ihrer Art, unter deren Krone wir oft saßen im Gedenken an Fontbruant und die Limoise.

Jetzt ist alles zu Ende zwischen Jean und mir, und noch suche ich die Auflösung des düstern Rätsels, das ihn unwiederbringlich von mir entfernt hat.

Nein, man kann gewaltsam keine Zuneigung töten, wie ich sie für diesen verlorenen Bruder empfand, ohne daß tiefe, schmerzende Wunden zurückbleiben müssen. Die fliehenden Jahre üben ihre Heilkraft, leise legt sich Vergessen über die Dinge und bald wird zweifellos das Erinnern an Jean in meinem Herzen erstorben sein. Doch heute abend steigt sein sanftes Antlitz wieder vor meinem Blick empor, und da verzeihe ich ihm alles, was er mir einst getan.

 

Brief Pierre Lotis an Yves.

Brest, 9. Juni 1878.

Mein lieber Yves!

Es ist durchaus notwendig, daß Du heute abend ans Land kommst. Geh und sag' dem wachhabenden Offizier, daß ich Dich um sechs Uhr brauche: Mach Dein Denken klar. Ich habe große Pläne, und wir werden einige Straßen auf den Kopf stellen. Es sei Dir erlaubt, ausnahmsweise ein wenig trinken zu dürfen. Ich bin fürchterlich traurig und brauche Lärm. Du sollst mich dazu verleiten, Lärm zu schlagen.

Du brauchst diesen Brief nur dem wachhabenden Offizier zu zeigen, wer immer es sei.

Verfehlst Du das Boot um halb sechs Uhr, so sende ich Dir ein anderes.

Gleich nach dem Landen komme zu mir, hüll' Dich rasch ins Kleid des Bürgers und triff mich um halb sieben Uhr im »Kabarett zur grünen Tinte«.

Wir werden unser vier sein; der lange Barada kommt, der ohnehin Dein Freund ist, und ein neuer; er ist Kapitän auf einem amerikanischen Walfischfahrer. Er ist ganz nach unserm Schlag und wird Dir gefallen. Des bin ich gewiß.

Leb' wohl, Bruder. Mach Dein Denken klar!

 

Brief Pierre Lotis an Plumkett.

An Bord des »Tonnerre«.
Brest, 20. Juni 1878.

Mein lieber Plumkett!

Seitdem ich aus dem tristen Lorient heraus bin, geht es besser; der Lenz ist gekommen, die Dinge rings um mich sind weniger dunkel und ich finde vielfach ins Leben zurück.

Ich hatte zwei Geliebte. Die erste war die Gattin vom Kapitän eines Küstenschiffes; sie verließ mich, da sie in ihre Heimat fuhr. Sie war einundzwanzig Jahre alt, war verliebt, war leidenschaftlich. Der Typus der schönen bretonischen Rasse aus dem Norden. Sie weinte als sie von mir Abschied nahm, und doch, seltsamerweise, hatte sie nie aufgehört, einen zu lieben, und liebte ihn über alles in der Welt: es war ihr Gatte, der Kapitän des Küstenschiffes.

Die zweite war die kleine Yvonne, die Sie kennen. Sie teilte einige Zeit hindurch ihre Gunstbezeigungen zwischen Allain, einem Quartiermeister von den Kanonieren, und mir, Ihrem ergebenen Diener Loti; und dann hat sie sich vorgestern entschieden und hat mich verlassen, da Allain sie heiratet. Auch sie war ein echtes Kind der Bretagne, blond, rosig, mit ernstem Blick. Sie überragte die Allgemeinheit, – die Grisetten, ihresgleichen – und wenn sie durch die Straßen ging, das Haupt gesenkt unter den Flügeln ihrer weißen Haube, so waren alle Blicke auf sie gerichtet.

»Yves der Seeräuber« ist recht vernünftig geworden, wie ich Ihnen bereits sagte und betrinkt sich fast niemals. Ich bewohne mit ihm zusammen ein sauberes nettes Logis in der Vorstadt Recouvrance bei einer guten alten Bretonin. Sie sagen an Bord, ich hätte mein Eyoub in Brest nochmals gefunden (aber ach, wie anders ist es, als mein Eyoub in Stambul war!).

Wir füllen unsere freie Zeit aus, indem wir Ecarté spielen. Dabei sitzen wir ganz ernst in irgendeinem sehr anständigen Winkel. Aber trotzdem sehen wir dabei ein wenig wie zwei Seeräuber im Ruhestand aus. Manchmal besuchen wir auch Ablaßfeste und die Jahrmärkte von Finistère.

An langen Juniabenden, wenn die Nebel, grauen Schleiern gleich, den bretonischen Himmel bedecken, gehen wir durch das grüne Gras, die hochbestandenen Wiesen voll rosenroter Blumen, die nur in diesem Lande wachsen, den ländlichen Festen entgegen. Die Luft ist lau und dufterfüllt.

An den Rennen und an Seiltänzerproduktionen freuen wir uns, als wären wir Kinder des Volkes. Schlägt es aber elf Uhr, sind wir wieder in unserem bescheidenen Heim in Recouvrance. Dort erwartet uns der Schlaf, der gütige Vermittler, – der ruhige Schlaf des Gesunden, der traumlos ist und in einem Zug vom Heute zum Morgen leitet.

Im Laufe von zehn Jahren habe ich mich wohl verändert. Welch Unterschied zwischen dem »Ich« von heute und dem zarten achtzehnjährigen Knaben, der, ein sentimentaler Träumer, alle Freuden mied, sich vom Frohsinn der Jugend fernhielt und seine »poetische Traurigkeit« über dieselben Pflastersteine von Brest schleppte, über welche ich nun meine Lebensfreude spazierenführe.

Der Frühling ist eine köstliche Zeit, besonders hier in der Bretagne. Lenze des Nordens, spät im Erscheinen, ein wenig umschleiert und ungewiß zuerst. Und dann mit einemmal, nach drei Sonnentagen, ein Blütenüberfluß, belaubte Bäume, warme Abende und Vogelsang.

Es ist Überraschung und Verzauberung. Und es beut um so innigeren Genuß, als der Winter länger und finsterer war. Und man ist durchdrungen von Wohlgefühl, von Frühlingszauber, frischer Wiesenluft und dem Duft der wilden Rose. –

Seit meiner Kinderzeit drang mir kein Junimond so berauschend ins Blut als dieser; nie hat der Frühling sich mir so als physisches Erlebnis offenbart, als Erneuerung alles Lebens im Steigen des Saftes und in der mächtigen Wiederkehr aller ewigen Kräfte in der Natur.

Glauben Sie mir, mein lieber Freund, gegen alle seelischen Schmerzen gibt es kein besseres Mittel als körperliche Übungen. Gegen alle ungesunden Träumereien gibt es kein wirksameres Narkotikum als Gesundheit und Kraft. Es gibt keine gesünderen Freuden als die des Volkes. Und es gibt keine verläßlichere Zuneigung als die des rohen, ungebildeten Mannes, der rückhaltlos und unberechnet liebt.

»Intellektuelle Freundschaft« gibt es nicht, dieser Begriff ist das Gespinst kranker Hirne. Freundschaft ist einfach Freundschaft, – etwas, das der Liebe gleich, die Herzen füllt und nicht zu definieren ist.

Sie und ich, wir werden nie vollkommene Freunde sein, denn wir sind wandelbar, ohne jede Konsistenz und ohne Überzeugung. Bauen wir nicht zu fest einer auf den andern; denn nur zu sehr sind wir Kinder unseres Jahrhunderts, zu raffiniert, zu skeptisch. – außerdem aber kennen wir uns zu genau, wir sehen zu hell, unser Blick reicht zu weit. Und finden wir Freude daran, tiefinnere Gedanken zu tauschen, so ist das aber auch alles. Auch gleichen wir ein wenig jenen Auguren, die, ohne lachen zu müssen, einander nicht ins Gesicht sehen konnten. Was könnten wir uns gegenseitig zu erzählen haben, mein Lieber, ohne es wohlbekannt, verbraucht und abgeschmackt zu finden?

Aber noch ist das Leben schön, und Gesundheit und Jugend sind die höchsten Güter dieser Erde.

 

Brest (Recouvrance), Juni 1878.

An einem schönen Frühlingstage saß ich, zwei Uhr mochte es gerade sein, in trägem Halbschlummer in einem Lehnstuhl meines lichten Zimmers und wartete auf Yves, der von Bord kommen sollte.

Plötzlich ließ eine Stimme, die von der Straße heraufdrang, mich jäh aufschrecken. Ein Bettler war es, der mit leisem Laut einige trübe Töne sang, so trüb, daß sie in die Seele drangen. Was aber daran so seltsam war: Dies Lied rief mir ein anderes wach, ein anderes, das ich vergessen hatte ...

Fern dort, im Orient, in Pera, wo ich wohnte, wanderte in den heißesten Stunden des Tages oft ein Bettler an meinen Fenstern vorüber, der so wie dieser sang. In gleicher Klangfarbe, mit fast denselben traurigen Tönen. Nur war er, der dort sang, ein Jüngling asiatischen Blutes, ein Blinder, mit mageren, regelmäßigen und melancholischen Zügen, aus welchen zwei weitaufgetane, weiße Augen blicklos ins Leere schauten ...

An jedem Punkte des Bosporus, in Beiros, in Skutari, in Therapis, hörte ich später dann dies gleiche klagende Lied. Und sah denselben Jüngling, wie er, in seinen weißen Burnus gehüllt, durch Nacht und Tag vor sich hin wanderte, mit regelmäßigem, unbeirrbarem Schritt. Sein Stock suchte den Boden ab, und seine Stimme sang die schwermütige Weise.

Noch später, als der Winter kam und als Aziyadé bei mir weilte, hörten wir den blinden Bettler an unseren Fenstern in Eyoub vorübergehen. Am Abend war's, beim Sinken der Nacht, und wir schauerten beim Klang seiner Stimme.

»Loti,« hatte Aziyadé gesagt, »versprich mir, daß Du ihn stets beschenkst, wo immer Du ihn findest. Es brächte uns Unglück, ließen wir ihn vorüberziehen, ohne ihm eine Gabe zu reichen!«

Und sie selbst brachte mir oft ihre Spenden für ihn; kleine weiße Münzen, die sie ihm zugedacht hatte. Dann ging ich hinab, um sie in seine Hand zu legen. (Im Orient wirft man ein Almosen nicht hin, sondern gibt es.)

Eines Morgens hatte sie große Angst. Es war im Februar, noch ein wenig vor Tag, die Stunde, wo das Lied der Muezzin erschallt, da ging sie allein fort, in ihren grauen Féredjé eingehüllt. Hoch lag leichter, lichter Schnee auf dem Grund, es schien, als sei ein blendend weißes Tuch über Eyoub gebreitet.

Am schmalen Ausgang der Moschee, wo sonst nie jemand zu sehen war zu dieser schweigsamen Stunde, ragte einsam ein menschlicher Schatten.

Und in der fahlen Dämmerung, wie sie dem Wintermorgen vorausgeht, erkannte sie den Bettler, der ohne Regung stand, das Haupt zum Himmel erhoben, wie wenn ein Mensch still im Gebet verweilt.

Um zu ihrer Betbank zu gelangen, war sie gezwungen, den Burnus des Blinden zu streifen und an dem leeren Blick seiner weißen Augen vorbeizugehen ...


Jener jedoch, der unter meinen Fenstern in Recouvrance gesungen hat, war ein alter Bretone in der Tracht der Bauern von Plouegastel ... Und ein Zufall hat es gefügt, daß diesen beiden Männern, dem Bretagner wie dem Tataren, an beiden Enden Europas, von tiefer Not das gleiche Singen eingegeben ward ...

 

Brest, 10. Juni 1878.

Heute morgen hielt ich auf der großen Brücke von Brest Gildas Kermadec, Yves' Bruder, eine lange Standpauke, denn er hatte mir gestern seinen Bruder totbetrunken heimgeschickt. Ich war sehr erbost gegen den langen Seeräuber und habe ihn sogar ein wenig gezaust.

Aber er hat es fertig gebracht, daß ich plötzlich alle Haltung verlor und ihm lachend die Hand entgegenstreckte, die er herzlich drückte.

Auch hierin hatte die alte Bretonin recht gehabt: er hatte einen harten Kopf, ihr Sohn Gildas, aber er war gut und war treu wie Gold.

Am Abend dieses selben Tages, des 16. Juni, wanderten wir zu dreien, alle mit Kerzen in der Hand, einen Waldweg nahe Brest entlang. Drei Freunde: de R., Yves und ich.

De R., ein Schiffsfähnrich, war uns acht Monate hindurch ein guter Freund gewesen, und er verdient es wohl, daß ich ihn in diesen Blättern erwähne: Ein nobler Bretone, vielleicht ein wenig zu sehr auf hohem Piedestal, ein wenig zu stolz gegen seinesgleichen, – uns ausgenommen – im übrigen der Vertraute aller unserer Unternehmungen und der beste Junge der Welt.

Knapp ehe er nach Japan abgehen sollte, hatte er uns ein Abschiedsessen gegeben.

Das hatten wir eben in einem Waldrestaurant absolviert, das reizend am Wasser gelegen war, von grünen Laubkronen überwölbt, in welchen Finken und Nachtigallen schlugen. Und nun gingen wir drei über lenzgrüne Pfade zurück. Der Schein unserer Kerzen überstrahlte die Heckenrosensträucher, die sich schier bogen unter ihrer hellen duftenden Blütenlast, kleine Vöglein und braune Maikäfer schwirrten allenthalben umher.

Lind, schwarz und lichtlos war die Nacht. Von keinem Hauch ward die Luft bewegt. Selten nur hatte das Bild des Lebens sich mir in so sanften Farben gewiesen, als an diesem schönen Juniabend.

Unmöglich können Worte den Zauber wiedergeben, der die Natur gefangen hielt. Wir schritten singend dahin, und so oft ein Wirtshaus am Wege stand, kehrten wir ein, um auszuruhen.

Wie schön war das Leben! Wie gut war's doch, so jung zu sein und doch als alte Freunde durch die blühende Bretagne zu schreiten, oder, gute Zigaretten zur Hand, vor einem Glase süßem Most zu sitzen.

Zum Teufel mit allen trüben Träumereien, allen Schwermutsgedanken trauriger Poeten. Noch gibt es schöne Tage im Leben, frohe Stunden voll von Jugendglück und Leidvergessen, noch schlagen gute Herzen unter der Sonne und treue Freunde gibt es auf der Erde.

 

Brest, Juni 1878.

Es gibt Melodien, die in meinem Gedächtnis von Situationen und Epochen meines Lebens nicht zu trennen sind. Und ihnen ist es seltsam eigen, vergangene Eindrücke neu aufleben zu lassen – und wären es die, die am längsten zurückliegen, die am tiefsten vergessen sind!

So ersteht mir die qualvolle Zeit, die ich im Frühling 1870 in der Reede von Salonique verlebte, vollkommen wieder, wenn Opheliens Lied erklingt:

Blond ruht und bleich
Im Wasserreich
Die Willis mit dem Blick voll Glut.
Hab' jeder acht,
Der unbedacht
Zu lang weilt an der Wasserflut.

Den Winter in Eyroub zaubert mir das Lied des Muezzin zurück: »Allah illah Allah! ve Mohamed recoul Allah.«

Das bretonische Lied von den »Drei Matrosen von Groix« charakterisiert für mich den tristen Aufenthalt in Lorient.

Den heurigen Frühling in Brest malt mir dieses Lied, das hier im hohen grünen Gras gesungen wird:

Unterm span'schen Himmelszelt
Ohne Trunk und Speisen Reisen,
Sonst nichts haben auf der Welt
Außer Durst und Hungerspein,
Ist nicht fein!
Usw. ...

 

Recouvrance, 19. Juni 1878.

Sturmnacht. Es bläst, als wollte es die Häuser umreißen.

Ich bin ein wenig besorgt, wie es wohl an Bord zugehen mag und ob meine Abwesenheit nicht auffällt.

Die ganze Nacht hindurch schüttelt der Wind unser altes Haus in Recouvrance. Die Katze meiner Hausfrau miaut vor unserer Tür, bis der Morgen kommt, – klägliche Musik, klägliche Situation.

Yves verläßt mich um vier Uhr morgens. Ich bin recht besorgt, wie seine Rückkehr an Bord sich gestaltet. Es regnet in Strömen, und immer stärker heult der Wind.

Um sieben Uhr stehe ich bei der großen Brücke. Rings wütet fessellos der Sturm. Aber Yves ist da. Er ist gekommen, mich mit der Schaluppe abzuholen. Viel Leute füllen die Brücke und die Kais, – Matrosen und Weiber, und alle sehen voll Angst auf die Reede hinaus, der ganz weiß ist vor Schaum und Gischt.

Yves, der sehr aufgeregt ist, läuft mir entgegen:

»Man räumt den Tonnerre,« sagt er. »Eben kam die Depesche aus Paris, und morgen müssen wir im Hafen sein!« –

20. Juni Der »Tonnerre« liegt im Hafen von Brest. Wieder ein beendeter Feldzug. Den ganzen Morgen habe ich Bordwache. Der Regen strömt weiter.

Am Nachmittag erwarte ich Yves in der Wohnung von Recouvrance, die wir bald für immer werden räumen müssen. Doch kommt er erst um ein halb sechs Uhr: »Verspätung wegen Ausladen des Schiffsraums« erklärt er.

Da ich ein Bild von ihm haben möchte, führe ich ihn zu Bernier, dem Photographen. Yves macht beim Aufnehmen sehr viel Umstände. Sein Gesicht ist ihm zu schwarz und seine Haltung scheint ihm schlecht.

Am Abend kommen wir bei strömendem Regen an Bord zurück: Yves in Zivil, was streng verboten ist. –

21. Juni. Bewegter Tag. Schöner und glücklicher Tag für Yves. Ich gehe schon um acht Uhr morgens ans Land und suche den Divisionskommandanten auf.

Um zwei Uhr versammelt sich der hohe Rat, der über Avancements zu entscheiden hat, an Bord des »Tonnerre«. Stürmische Debatte. Für Yves stimmen natürlich alle Offiziere, voran ich, – gegen ihn der zweite Kommandant, der von der Mannschaft der »Medée« unter der Hand bearbeitet worden ist.

Der Chefkommandant sagt kein Wort in die Diskussion hinein, die voller Leidenschaft und heftig fortgeführt wird. Dann aber wendet er sich lächelnd zu mir: »Kermadec wird trotzdem fünf Stimmen haben, denn er bekommt auch meine.«

Die Schlacht ist gewonnen. Yves ist in die erste Klasse seines Ranges vorgerückt.

Eine Stunde später erhalte ich noch unerwartet die Erlaubnis für meinen Freund, den »Tonnerre« sofort verlassen zu dürfen. Nun bleibt ihm nichts zu wünschen übrig. Schon morgen kann er nach Toulven abreisen, wo sein kleiner Sohn auf ihn wartet.

Um fünf Uhr verlassen wir das Schiff. Yves, der glücklich ist wie ein König, führt seinen Reisesack mit sich.

Rendezvous nach Tisch auf dem Jahrmarkt von Brest. Zum letztenmal Ringelspiel, Holzpferde usw. Yves, der sonst so ernste, ist heute heiter wie ein Kind. Er hat eine Menge urkomischer Einfälle und hält jeden zum besten.

22. Juni. Abschied an Bord des »Tonnerre«. Alle Welt zerstreut sich, und das Schiff ist gewesen.

Große Inspektion, bei welcher die gestrigen Vorschläge und Avancements verkündet werden.

»Yves Kermadec in die erste Klasse seines Ranges vorgerückt.«

Nichts für die Herren von der »Medée«.

Dann hat ein alter Dienstmann meine zweihundert Kilo Gepäck geholt und hat sie schlecht und recht nach Recouvrance expediert. Das Wetter war strahlend schön. Nach den bangen Tagen voll Regen und Kummer, die eben vorüber waren, war ein jeder neu belebt, und Yves ward nicht müde, das immer wieder zu versichern.

Um zwei Uhr ist mein lieber Yves abgereist, glücklich, weil er nun bald Weib und Kind umarmen sollte, weil er im Rang vorgerückt war, und weil er all dies mir verdankte. Beim Abschied von mir war er aber recht traurig, und auch ich hatte ein schweres Herz, auch ich, ich will es gestehen. Wir armen Matrosen wissen nicht, ob das blinde Geschick uns je wieder zusammenführt!

Ich habe ihn, Yves Kermadec, sehr liebgehabt. Gar schnell ist unsere Zuneigung gewachsen. Mag sein, daß dies kam, weil ich ihn vor mancher Gefahr bewahrt habe.

Jetzt bin ich bald mit dem Kofferpacken in unserer Wohnung in Recouvrance zu Ende. Acht Uhr ist's, ein schöner Juniabend; aber es ist noch schmerzlicher für mich, an einem schönen Abend im Juni allein zu sein: solch lange Abendstunden locken Träume herbei und wecken all meine lieben Erinnerungen aus vergangener Zeit. –

Fröhlich kommen Menschen vom Spaziergang heim und Matrosen gehen singend an meinen offenen Fenstern vorüber. Durch den Äther schießen flinke Schwalben, und der Sommer duftet überall.

Auf den Möbeln dieses Zimmers, das er nicht mehr betreten wird, liegen noch Yves' Reisesack, seine silberne Quartiermeisterpfeife und seine Mütze mit dem Zeichen 2091 P.

Ein Abschnitt unseres Daseins hat unwiederbringlich geendet.

 

Paris, Juni 1878.

Montag, am 23. Juni, Abfahrt von Brest. Immer noch ist das Wetter herrlich. Grün und in Blüte steht die Bretagne.

In Lorient zehn Minuten Aufenthalt. Meine Freunde, die ich verständigt hatte, warten auf dem Kai. Ein flüchtiger Gruß nur gilt der grauen Stadt, wo ich so tödlich bange Tage verbrachte.

In Redon Zusammentreffen mit einem amerikanischen Ingenieur, der mir bis Paris Gesellschaft leistet. Der gute Mann spricht englisch, ich antworte türkisch. Daraus ergibt sich eine originelle und recht bewegte Konversation.

Als ich beim nächsten Tagesgrauen erwachte, hatte sich das Antlitz der Landschaft verändert, und die alte Bretagne war weit. Keine mächtigen Wälder, keine grauen Felsen, keine alten Granitkirchlein, weder Moos noch Moosflechte, kein hohes Gras voll rosa Blüten, nichts als die albern ebene Umgebung von Paris, und die Befestigungen.

Mit tiefem Widerwillen streifte mein Auge nun wieder diese menschlichen Bienenkörbe aus Ziegel und Backstein, die Fabrikschlote, empfand ich die dumpfe, ungesunde Luft, dies Element der Vorstädte.

Die kleine Hütte, die Yves in Toulven besaß, stand recht einfach, recht arm und wie verloren am Waldpfad fern in der Bretagne. Aber um sie her waren Frische und rechtschaffenes Leben ...

Zwar hat der Jardin du Luxembourg lauschige Winkel, mächtige Bäume, gut gepflegte, leuchtend grüne Rasenflächen und Bänke, auf welchen man zur Sommerszeit am frühen Morgen stundenlang träumen kann, ohne von Spaziergängern gestört zu werden. In diesem Garten weben frühe Erinnerungen meines Lebens: mit siebzehn Jahren habe ich sehr oft hier gesessen ...

Hier war es also, nahe dem Medicibrunnen, daß ich heute morgen, am 24. Juni, als ich den Zug verlassen hatte, der mich aus der Bretagne hierher gebracht, mir zwei Stunden tiefinnerer Einkehr gewährte, ehe ich es schicklich fand, bei Freunden vorzusprechen.

Seltsam schimmernd zog mein ganzes Leben an mir vorbei, mit allen Menschen, die es durchkreuzt, mit allen Situationen, die ich durchlebt und mit den Bühnenbildern von sämtlichen Ländern der Erde, – eine lange Folge, trüben Schauens voll, das mit den Jahren immer trüber wird, und bald durch nichts mehr froh gestimmt werden kann. Ungeheure Sehnsucht nach Frieden, Seelenruhe und Einsamkeit überkam mich da: und selbst des Klosters Stille hätte ich in diesem Augenblick dem lauten Lärmen von Paris vorgezogen.


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