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XIX

Frau Ullrich war in einem viel schwereren Falle. Sie fand kaum noch Gelegenheit, sich mit ihrem Manne über seine Berufssorgen auszusprechen.

Er war mit seiner neuesten Marotte, der Sanftmut, nun völlig unerträglich geworden. Man konnte nichts mit ihm anfangen. Jetzt schlief er sogar nachts auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer; er war urplötzlich dahin übergesiedelt.

Je ausschließlicher er zu Hause blieb – und er ging bald nur noch ins Theater, und das nur, wenn er zu spielen hatte –: um so weniger zeigte er sich. Er sperrte sogar ab, wenn er im Arbeitszimmer rumorte. Außer der kleinen Elvira gestattete er keiner Menschenseele den Eintritt. Die kleine Elvira freilich mußte ihm, jeden Tag länger und eifriger, Gesellschaft leisten. – Es war Frau Ullrich nicht verborgen geblieben, daß er zu Hause oft eine graue Perücke trug, die er in die Schreibtischlade schloß, wenn er das Haus verließ. –

Aus Elvira war nichts herauszubekommen. »Was hat er dir gesagt?« – »Er hat mich gefragt, was ich damals in seinem Zimmer suchte, als er mich erwischte, wie ich hineinschlüpfen wollte.« – »Nun, und was hast du geantwortet?« – »Den Radiergummi, Mama.« – »Und er?« – »Papa hat mich gefragt, wozu ich einen Radiergummi brauchte?« – »Nun, und wozu hast du ihn gebraucht?« – »Weil ich doch zeichne!« – »Und Papa?« – »Papa wollte meine Zeichnungen sehen.« – »Hast du sie ihm gezeigt?« – »Ja, Mama.« – »Was hat er gesagt?« – »Er hat gesagt: das ist modern, das verstehe ich nicht.« – Kein Zweifel, der Mann war krank, krank. Eine tiefe, tiefe Sorge.

Ob Elvira es merkte, daß ihr Vater krank war? Dieses schüchterne Kind hatte eine verschlossene Seele; sie war ein Eigensinn, diese kleine Frauensperson. Ganz bestimmt nahm sie jetzt für den Vater Partei, und das machte sie so eigentümlich diskret. Sie waren zwei Spießgesellen geworden, diese beiden!

»Sag mal, mein Kind, trägt Papa immer die neue Perücke, wenn du bei ihm bist?« – »Ich weiß es nicht!« – »Denk nach!« – »Doch, ja – ich glaube, Mama.« – »Und was macht er?« – »Er kramt im Schreibtisch herum.« – »Und?« – »Er liest viele Briefe, und dann zerreißt er sie und stopft sie in den Papierkorb.« – »Ja, das stimmt, das weiß ich. Und du?« – »Ich sitze und zeichne. Oder ich lese ein Buch.« – »Spricht er nicht mit dir?« – »Nein. Ich weiß nicht, Mama.« – »Niemals sagt er etwas zu dir? – Denke nach!« – »Er ruft mich –« – »Und dann?« – »Ich gehe hin –« – »Und dann? Und dann?« – »Oh Mama! Ich küsse ihn.« – »Das will er?« – »Ich tu' es von selbst.« – »Und was sagt er da?« – »Ich – ich soll ihn streicheln …« – –

Frau Ullrich hörte zu fragen auf. Das Herz wurde ihr plötzlich so dumpf, so schwer und so leer.

Aber in der Nacht konnte die Frau nicht schlafen; wie in so mancher Nacht in der letzten Zeit. In dieser Nacht aber fühlte sie einen merkwürdigen Impuls. Sie stand auf und ging durch den langen Gang zum Kinderzimmer hin. Und vor der Türe des Kinderzimmers blieb sie stehen und horchte. Kein Zweifel, Elvira weinte! Ganz laut weinte sie, mitten in der Nacht!

Frau Ullrich drückte die Klinke nieder und trat ein. Da hatte das Weinen plötzlich aufgehört. Es war verstummt. Hatte sich die Mutter getäuscht, vorhin? Sie trat an das Bett und beugte sich hinunter.

Das Kind lag auf dem Gesicht, das Gesicht im Kissen. Man hörte nicht einmal die Atemzüge. Es war unheimlich, wie das Kind regungslos dalag, den schwarzen Schopf zu oberst.

Aber Frau Ullrich wagte nicht, Elvira anzurühren. Vielleicht schlief sie wirklich, und das mit dem Weinen war nur eine Täuschung gewesen. –

Die Mutter wußte sich keinen Rat. Sie war den Weg nachts ins Kinderzimmer zu selten gegangen, um für solch einen Fall Übung zu haben. – Leise ging sie fort, leise schloß sie die Tür. Sie horchte draußen. Nein, nun weinte dadrinnen ganz bestimmt nichts mehr.


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