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Mein erster Adler

Ich war dreizehn Jahre alt und aus der Stadt zu den Sommerferien nach Hause gekommen. Wir hatten einen neuen Forstaufseher bekommen, und er empfing uns, meinen Bruder und mich, mit den Worten: »Ich weiß einen Schreiadlerhorst, und einer von euch darf einen Adler schießen.« Es gab genug Wunder in unsren Wäldern, aber es dauerte eine Weile, bis wir dieses Wunder begriffen. Wir sahen einander an, mein Bruder und ich, und in diesem Blick fühlten wir, daß Böses und Schmerzliches unter diesem Wunder lag: einer von uns mußte verzichten. Keiner würde es freiwillig tun, denn für einen Adler würden wir unsre Seligkeit verkauft haben. Wir sprachen nicht miteinander, aber mit jedem Blick wußten wir, was der andere dachte.

Am zweiten Tag mußten wir losen. Mit Grashalmen, wie sich das im Walde gehörte. Und ich verlor. Ich starrte auf meinen Halm und dann auf den meines Bruders: es war kein Zweifel, daß ich verloren hatte. Es war selbstverständlich, daß ich weinte. Und heute, wenn ich die fünfunddreißig Jahre zurückblicke, ist es mir auch selbstverständlich, daß ich mich gegen mein Schicksal auflehnte. Ich wußte damals nicht, daß jedes Schicksal gut ist. Ich saß auf meinen Lieblingsplätzen in den Wäldern und grübelte. Drei Tage lang. Und am vierten nahm ich einen großen weißen Bogen aus dem Schreibtisch meines Vaters und schrieb: »Ich verspreche und gelobe bei meiner heiligen Ehre …« So fing es an. Und dann folgte die Liste aller Dinge, Besitztümer, Privilegien und Gerechtsame, die ich auf meinen Bruder übertrug, wenn er mir den Adler überließe.

Es waren vier Bogenseiten. So reich ist ein Kind. Von zwei Zauberringen, die ineinanderzuschieben und wieder zu lösen waren, bis zu dem unbeschränkten Recht auf die Führung meines gezogenen Teschings, sechs Millimeterkaliber, belgisches Fabrikat, Fleckschuß auf hundert Meter mit der drei Zentimeter langen Winchesterpatrone, fehlte nichts. Ich war ein Bettler nach diesem Vertrag, ein waffenloser Krieger, ein Steinzeitparia. Aber ich würde eine Adlerfeder an der Mütze tragen!

Und mein Bruder verkaufte seine Erstgeburt. Um mehr als ein Linsengericht, aber er verkaufte sie. Ich glaube, daß er es mehr aus Güte tat als aus Lust an meinem Besitz, und ich schämte mich ein wenig. Nicht so sehr, daß es quälend war, aber ganz unten in meiner Seele war eine dunkle Kammer, an der ich scheu vorüberging. Erst viele Jahre später habe ich sie aufgemacht.

Und dann gingen wir eines Julimorgens los, der große Jäger und ich. Um halb vier Uhr, und ich hatte nicht mehr als eine Stunde geschlafen. Es war weiter als eine Meile. Betaute Wälder, über denen die Sonne sich hob und in denen jede Spur und jede Stimme mir vertraut war. Ich trug meines Vaters Doppelflinte und seine Jagdtasche, und mein Herz schlug schon, als ich über die Schwelle unsres Hauses trat. Auch die Eroberung Amerikas kann nicht viel anders gewesen sein. Ein Gang mit dem großen Jäger war nicht leicht. Vieles mußte gewußt werden: jeder Vogelruf, jeder Vogelflug; was es bedeutete, daß die Kiefernzapfen weit geöffnet auf dem Moos lagen und daß der Tau auf den Spinngeweben funkelte; Windrichtung und jede Fährte im Sand; das Alter der Bruchstelle an einem geknickten Zweig und das Alter der Schonung, durch die wir gingen. Es war schwer, aber heute will mir scheinen, als ob ein Mensch in zwei solchen Stunden mehr hätte lernen können als in einem ganzen Jahr der Untertertia.

Der Horst lag an unsrem zweiten See, abseits der sumpfigen Ränder, in einer Verborgenheit, die ich noch niemals betreten hatte. Kraniche riefen von den Uferwiesen, Bäume waren übereinandergestürzt, Porstbüsche wucherten, und die Luft war schwer und fremd, die Dschungelluft eines andern Erdteils. Lautlos schleiche ich in der Spur des großen Jägers. Wir hören den Adler schreien und lauschen. Es ist ein andrer Schrei als der des Fischadlers, aber auch er ist klagend, traurig fallend und ergreifend. Der Wald steht wie ein finsteres Gewölbe und fängt den Schrei auf. Seltsam ist alles, wie ein verbotener Weg, ein Einbruch in ein gebanntes Heiligtum.

Aber der Jäger winkt und der Adlerschrei ist verstummt. Wir stehen unter dem Horst, gedeckt von einem Lindenbusch, unbeweglich, eine halbe Stunde lang. Noch einmal ruft in der Ferne der Adler, und über uns, aus dem riesigen Horst, antwortet die klagende Stimme des Jungen, hoch und ängstlich wie die Stimme eines Rehkitzes. Ein weißer Kopf schiebt sich über den Horstrand, fahl und häßlich wie der Kopf eines Moorgespenstes.

Mahnend hebt der Jäger die Hand. Und dann pflückt er ein junges Lindenblatt, hebt es an die Lippen, und nun ruft es von unten herauf wie ein junger Adler, klagender noch und wie in Not. Meine Augen fliegen durch den rötlich bestrahlten Wald. Mein Herz klopft, und ich sehe Adler überall. »Ruhig«, sagt der Jäger leise. »Ganz … ruhig …«.

Und dann ist er da. Lautlos. Zuerst ein Schatten, der dunkel und groß über die Wipfel jagt. Und dann er selbst. Die riesigen Schwingen, der herabschießende Leib. Etwas Dunkles fällt in den Horst, eine unerkennbare Beute. Sekundenlang das Bild des Vogels auf einem grauen Eichenast, sich öffnende Schwingen … der Ast, der hinter ihm erbebt … der Donner des verstörten Schusses … Widerhall … Schweigen … vorbei …

Was hilft es, daß der Jäger mich tröstet? Wir gehen zurück. Jeder Schritt ist ein Schritt durch ein Meer von Schande, Schmerz und Verstoßung. Vorbei. Der erste Adler vorbei. Mein Bruder lächelt nicht, aber in der Nacht, in unsrer Oberstube, als er mich leise weinen hört, sagt er ruhig: »Wenn du willst, kannst du noch einmal gehen«. Er hat seine Erstgeburt verkauft, aber nun verschenkt er sie. Ich weiß, daß er besser ist als ich, und ich liebe ihn sehr. Es ist dunkel, und er kann es ja nicht sehen, und so brauche ich mich nicht so sehr zu schämen.

Zwei Wochen später habe ich den Adler geschossen. Aber es hat mich nicht mehr gefreut. Er starb vor mir auf dem Moos, und die kleinen dreieckigen Federn in seinem Nacken bebten leise in seinem Tod. Es war die erste große Erfahrung meines Lebens: daß die Sehnsucht besser ist als der Besitz. Ich habe keine Adler mehr geschossen, und wenn ich heute den großen und traurigen Schrei noch einmal höre, dann stehe ich lange still und lausche, und aus dem dunklen Tal der Erinnerung steht eine zweite Stimme auf, eine tiefe und ernste Stimme, die sich mit der hellen des Vogels verflicht: »Wenn du willst, kannst du noch einmal gehen …«

Aber ich weiß nun, daß es nicht gut ist, noch einmal zu gehen.


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