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Achtes Kapitel.

Indem er das Rätsel von Sally Dormeys Tod und dem vergifteten Tee gelöst, hatte Frank Yardley einen Vorsprung vor Inspektor Haney gewonnen.

Seit mehreren Jahren beobachtete er eine mystische, oder vielmehr abergläubische Unterströmung, und erst seit kurzem hatte Yardley sie bis zu dem Häuschen Mutter Whipples verfolgt. Diese betagte Witwe führte ohne ersichtliches Einkommen ein sehr behagliches Leben und war nicht einmal um eine Witwenunterstützung eingekommen. Sie besaß einen Garten, in dem sie viele Kräuter zog, und außerdem einen kleinen Teich, der von Fröschen wimmelte. Dabei erfreute sie sich offenbar großer Beliebtheit, obgleich Yardley nicht begreifen konnte, weshalb die jungen Mädchen aus dem Dorfe beständig bei ihr aus und ein liefen.

Yardley erinnerte sich, daß auch Sally Dormey in jener Nacht, als sie das Herrenhaus verschlossen fand, bei Mutter Whipple gewesen war. Daraufhin beschloß er, die Witwe aufzusuchen und sie offen verbotener Hexenkünste zu bezichtigen.

Diese Aufgabe wurde ihm dadurch erleichtert, daß die Alte vor Schreck über die Wirkung ihres Liebestranks auf Sally geradezu gelähmt war.

Als Yardley bei der Witwe erschien, war sie offenbar auf einen solchen Besuch vorbereitet. Gern hätte sie einen Teil ihrer Schuld anderen zugeschoben, aber Yardley ließ nicht locker, bis er festgestellt hatte, daß nicht die Dunkan die Sally zu Mutter Whipple geführt hatte, sondern umgekehrt. Die treue, alte Dienerin hatte sich verleiten lassen, der Alten einige Mittel gegen böse Geister abzukaufen. Als Kathleens Liebesgeschichte in die Brüche ging und auch die Sache mit Sir Edwin nicht nach Wunsch verlief, versuchte sie, beides wieder in richtige Bahnen zu leiten.

Unter Tränen legte die Dunkan ein umfassendes Geständnis ab. Es stellte sich heraus, daß Dora Givens sie aufgesucht und ihr gesagt hatte, Kathleens Unwohlsein rühre von einem Amulett her, das sie von Seminow erhalten habe und an einer Kette um den Hals trage. Die arme Kathleen könne nicht gesund werden, so lange sie dieses Amulett trage.

»Ihre Augen standen voll Tränen, Sir«, beteuerte die Dunkan schluchzend, »und sie sah aus wie ein Gespenst. ›Nehmen Sie es ihr fort, Dunkan!‹ sagte sie. ›Aber es muß heimlich geschehen. Und vor allem: behalten Sie den Stein keine Sekunde länger als nötig. Werfen Sie ihn in den Teich, wo er am tiefsten ist.‹ Und das tat ich, Sir, obgleich es mir fürchterlich war, mitten in der Nacht hinaus zu müssen – jetzt, wo hier so viele unheimliche Sachen vorgehen. Darauf können Sie sich verlassen, Sir: nie in meinem Leben geh‹ ich wieder zu der schrecklichen Frau!«

Nach dieser Beichte begab Yardley sich in den Gasthof zum Stern, um dem Inspektor Bericht zu erstatten, der ihn mit kühlem Dank und gezwungenem Lachen entgegennahm.

»Wie ich sehe, haben Sie mich auf meinem eigenen Gebiet geschlagen, Herr Yardley«, sagte er. »Aber leider bringt alles dies uns der Lösung des geheimnisvollen Mordfalles nicht näher.«

Yardley kniff die Augen zusammen. »Dessen bin ich nicht so ganz sicher. Ich würde das an Ihrer Stelle nicht sagen.«

»Danke«, versetzte Haney steif. »Sehr verbunden!«

Yardley stand auf und ging zur Tür. Dort wandte er sich noch einmal um.

»Falls ich zufällig noch etwas Weiteres erfahren sollte, wird es Ihnen wohl recht sein, wenn ich's für mich behalte?« fragte er mit einem Anflug von Zorn.

Der Beamte wurde rot. »Ich bitte Sie um Verzeihung, Sir. So habe ich es nicht gemeint. Sie haben viele Mühe an diese Sache verwandt und mir mehr geholfen, als ich zu sagen vermag, obwohl alles dies ziemlich verwirrend ist. Ich meine, dieses sonderbare Metall und Thomsons Aussagen. Es tut mir sehr leid, wenn ich Ihnen eben unhöflich vorgekommen bin, Herr Yardley. Das war unverzeihlich. Und nachdem Sie sich so viele Mühe gegeben haben, halte ich mich für verpflichtet, Ihnen etwas mitzuteilen, was mir mehr Kopfzerbrechen verursacht als alles übrige.«

Yardley schloß die Tür und kehrte ins Zimmer zurück.

»Entschuldigungen sind nicht nötig, Haney. Das Ganze ist ja ein Spiel, wie Sie natürlich selbst sehr gut wissen, obwohl Sie es als Arbeit bezeichnen. Ich gestehe offen, daß ich gern alles wissen möchte.«

Der Inspektor lächelte. »Um die Wahrheit zu sagen: ich bin mit dieser Schimpansengeschichte nicht ganz zufrieden. Sie kommt mir, offen gesagt, sehr, sehr faul vor. Sie waren nicht zugegen, als ich verhinderte, daß das Tier begraben wurde. Die Sache war überaus sonderbar. Der Affe war so – so ungemein tot, und das Fell ganz mit Stroh verfilzt. Daß man ihn durch das Farnkraut geschleppt hat, nachdem er tot war, möchte ich beschwören. Aber es gelang mir nicht, irgend etwas aus diesem jungen Roget herauszuquetschen. Die Französin erklärte, sie habe das Messer nicht an ihn verkauft –«

»Ja – aber der Affe!« fiel Yardley ihm ins Wort. »Sie sagten, er wäre Ihnen so sehr tot vorgekommen –«

»Jawohl, und als ich einen Tierarzt holen ließ, erklärte der, daß der Schimpanse schon seit zwei oder drei Tagen tot sei. Was sagen Sie dazu?«

Yardleys Gesicht verzog sich zu einem Netzwerk von Fältchen. »Und Sie haben völliges Vertrauen zu seinem Ausspruchs fragte er und zog seine Pfeife hervor.

»Ja – wenn er sich als richtig bestätigt!« sagte der Beamte gedehnt.

Yardley lachte. »Haha – sehr richtig! Ich habe mir das Tier nämlich angesehen, bevor es auskniff.«

Haney spitzte die Ohren.

»Wirklich? Und –?«

»Bullett führte mich nach dem Schuppen, wo der Affe halb begraben im Stroh in der Ecke lag. Roget war bei ihm und erklärte, er sei arg erkältet und sehr schlechter Laune. Lebendig war er aber! Das steht fest, obwohl er sich nicht interviewen lassen wollte. Ja, und auch später war er noch lebendig. Wir begegneten ihm im Park – gerade, als wir entdeckt hatten, daß mit Seminow etwas los war. Er stürmte über den Rasen und verschwand im Gemüsegarten. Roget rannte mit einer Latte hinter ihm her und flehte uns an, in Deckung zu gehen.«

»Dann hat der Tierarzt sich also geirrt?« fragte Haney.

Yardley lachte. »Ich glaube nicht, daß zwei Affen vorhanden waren«, sagte er. »Wenn es aber der Fall war, so muß einer von ihnen verschwunden sein – spurlos verschwunden.«

»Sehr richtig, Sir!«

»Der Zirkus hat sein Winterquartier in Maidstone bezogen«, setzte Yardley hinzu. »Das wird Ihnen bekannt sein.«

Haney nickte; Yardley aber beschloß, am nächsten Tage nach Maidstone zu fahren.

Aber der Inspektor kam ihm zuvor. Er fuhr schon am Nachmittage hin.

Herr Bullett hatte sein Lager auf einem Feld aufgeschlagen, das durch sumpfiges Marschland von der Landstraße getrennt lag. Haney versank bis an die Knie im Morast, weil er nicht den rechten Weg kannte, und wurde von einem der Zirkusleute mit Hilfe eines langen Brettes aus seiner gefährlichen Lage befreit.

»Was wollen Sie hier?« fragte der Mann ziemlich unwirsch. »Herr Bullett ist nicht da. Er ist in Geschäften nach London gefahren.«

»Das tut mir leid. Dann möchte ich Roget sprechen«, sagte Haney.

»O, der ist weg! Ueber alle Berge! Bei Nacht ausgerückt! Und dabei schuldet Herr Bullett ihm einen halben Monatslohn.«

Das war eine Enttäuschung. Haney blickte ärgerlich auf die Zelte und fuhr heftig zusammen. Zwei weibliche Gestalten kamen ihm langsam entgegen, ohne ihn zu bemerken.

Es waren Dora Givens und Bulletts Pflegetöchterlein Cissie.

Rasch ging der Beamte auf sie zu. Erst heute morgen hatte Fräulein Givens Madder Grange verlassen. War sie hergekommen, um sich nach dem jungen Ding zu erkundigen, das sie gesund gepflegt hatte?

Aber als Dora Givens den Inspektor erblickte, erblaßte sie vor Schreck. Es mußte also ein anderer Grund sie hergeführt haben.

»Guten Abend«, sagte Haney und nahm den Hut ab. »Ich höre zu meinem Bedauern, daß Herr Bullett nicht hier ist.«

»Nein, Väterchen ist nach London gefahren«, erwiderte Cissie, die übrigens erbärmlich blaß und verfroren aussah.

Fräulein Givens hatte eine hochmütige Miene aufgesetzt und sagte nichts.

»Könnte ich Sie einen Augenblick unter vier Augen sprechen?« bat der Inspektor höflich.

Sie nickte. »Geh voran, Cissie! Ich komme gleich nach. Es ist zu naß und kalt für dich. Gehe rasch nach Hauses und wechsle sofort Schuhe und Strümpfe.«

Darauf wandte sie sich Haney zu. »Kommen Sie, sagte sie gebieterisch.

Sie betraten Bulletts Zelt, das auf einem Bretterunterbau stand und durch einen eisernen Behälter voll glühender Kohlen erwärmt wurde. Fräulein Givens ließ sich auf einem Feldbett nieder und deutete auf einen Stuhl.

»Nun?« fragte sie kühl. »Was wünschen Sie?«

Haney war sehr enttäuscht, daß sie so fremd tat.

»Vor allen Dingen möchte ich nicht, daß Sie einen Feind in mir sehen«, erwiderte er freundlich. »Ich hatte nicht erwartet, Sie hier zu treffen. Vielleicht ist es Ihnen nicht bekannt, daß man mir von dem Male an Cissies Arm erzählt hat?«

Dora Givens preßte die Hände zusammen und lachte bitter. »Wer hat es Ihnen gesagt?« fragte sie.

»Herr Yardley. Frau Cornish –«

»O ja, ich war dabei, als sie es entdeckte. Und was wollen Sie von mir wissen, Herr Inspektor?«

»Nichts, was Ihnen schwerfallen dürfte.«

Haney ging immer sanft mit ihr um. Unverschuldet war sie in Schande und Verzweiflung geraten.

Das bedauerte der Inspektor, und wünschte, ihr zu helfen, weil er ihren Beistand nötig hatte. So versuchte er denn einen anderen Schachzug.

»Dieses kleine Mädchen ist Ihre Tochter«, sagte er sanft. »Sie wissen vielleicht gar nicht, wie sehr sie Ihnen gleicht. Ich wäre vielleicht trotzdem nicht auf den Gedanken gekommen, wenn jenes Mal nicht wäre. Jetzt jedoch möchte ich gern wissen, wie es kam, daß dieser Zirkus sich gerade zur Zeit von Seminows Ermordung in Larke Minnis befand. Können Sie mir das sagen?«

Dora wurde totenblaß, aber Plötzlich ganz ruhig.

»Das habe ich veranlaßt«, sagte sie.

»Und zu welchem Zwecke?«

»Um mein Töchterchen sehen zu können. Großer Gott, Sie ahnen ja nicht, was ich durchgemacht habe!«

»Sagen Sie mir, bitte, nur, wie Sie es fertig gebracht haben, diesen Plan zu verwirklichen«, fuhr Haney mitleidig fort.

»Ich wußte, daß der Zirkus von Le Havre aus herüberkommen würde. Sie werden begreifen, daß ich ständig mit Herrn Bullett in Verbindung stand.«

Nun schlug sie plötzlich einen anderen Ton an und erzählte, wie alles zugegangen war. Bevor es ihr gelang, selber aus Seminows orientalischem Palast zu entfliehen, hatte sie die Flucht des Kindes bewerkstelligt. Seminows Frau und Wung Lu waren ihr dabei behilflich gewesen und hatten jenem eingeredet, das Kind sei gestorben. Zweihundert Meilen weit hatte Wung Lu das Baby durch pfadlose Steppen und Urwälder getragen und es dann einem Engländer übergeben, der mit seiner Frau herübergekommen war, um wilde Tiere für seinen Zirkus zu erstehen.

»Ich hatte Wung Lu einen Brief mitgegeben, worin ich die Leute anflehte, sich meiner kleinen Tochter anzunehmen – und den hat er getreulich abgeliefert. Ich mußte sie fortschaffen. Manchmal war ich nicht mehr klar bei Verstand. Möglicherweise hätte ich sie umgebracht – sie und mich selbst.

Als Wung Lu zurückkehrte, war Seminow verreist, und bald darauf kehrte auch ich nach England zurück, hielt mich Cissie aber immer möglichst fern, weil ich fürchtete, Seminow könne sie finden und seine Macht geltend machen. Jetzt ist Frau Bullett tot; aber ihr Mann liebt das Kind und ist auch immer gut und freundlich gegen mich.

Als ich nach Madder Grange kam, war ich entschlossen, meine Rolle durchzuführen; aber wie schwer das sein würde, erfuhr ich erst, als Sir Edwin mir erzählte, welchen berühmten Gast er erwartete. Da wurde mir klar, daß Seminow mich endgültig zugrunde richten wollte. Ich klammerte mich immer noch an die Hoffnung, daß er nichts von Cissie wisse. Und dann – dann brachte irgend jemand ihn um!

Nun habe ich nur eine Bitte«, fuhr Dora nach einer kleinen Pause fort. »Seien Sie so gut, und sagen Sie in Madder Grange nichts von Cissie. Ich habe Sir Edwin viel eingestanden, aber das – das konnte ich nicht. Ich werde das Kind jetzt zu mir nehmen, und habe schon eine Wohnung hier gemietet, um in der Nähe ihres Pflegevaters zu bleiben, den sie zärtlich liebt.«

Haney versprach es, ließ sich dann noch ihre Wohnung angeben, und fuhr nach Larke Minnis zurück. Seine Reise war nicht vergeblich gewesen. Er hatte viel erfahren, aber zuweilen dachte er: »Ist es möglich, daß Dora Givens Seminow ermordet hat?«

Als er sich abends umgezogen hatte und behaglich aus seinem Zimmer aß, erschien ein Polizei-Sergeant und meldete, daß Frau Whipple nach Ablegung eines umfassenden Geständnisses in einen so hysterischen Zustand verfallen sei, daß man sich genötigt gesehen habe, sie nach dem Krankenhause überzuführen. Es sei sogar sehr fraglich, ob sie je imstande sein werde, vor Gericht zu erscheinen, um sich wegen fahrlässiger Tötung zu verantworten.

Als er wieder allein war, dachte der Inspektor über sein Gespräch mit Dora Givens nach. Eigentlich tat es ihm leid, daß er versprochen hatte, den Bewohnern von Madder Grange gegenüber mit Bezug auf Cissie Schweigen zu bewahren. Indessen – gehörte denn Herr Yardley streng genommen zu den Bewohnern von Madder Grange?

Innerlich gestand er sich ganz offen ein, daß er eifersüchtig auf Yardley war.

Zwischen Berufsleuten und Amateuren besteht meistens bittere Feindschaft. Persönlich war Yardley dem Inspektor sehr sympathisch, aber als Fachmann mißtraute er ihm. Der Mann war darauf aus, ihn in seinem eigenen Spiel zu besiegen.

Haney kicherte vor sich hin. Nun, jetzt war er durch Zufall hinter etwas gekommen, wovon Yardley nichts wußte. Fast wünschte er, es ihm sagen und sich an seiner bestürzten Miene werden zu können. Anderseits hätte er seinem Nebenbuhler auch wieder gern ein paar Meinungsäußerungen entlockt.

Gerade, als er so an ihn dachte, ertönten unten auf dem Hofe Stimmen, unter denen er die Frank Yardleys erkannte. Er stand auf und öffnete das Fenster.

Ja, er war es – er unterhielt sich mit einigen aus der Schenkstube herausgekommenen Männern. Als das Fenster aufging, blickte er auf.

»Hallo! Schon wieder aus Maidstone zurück?« rief er aus. »Darf ich auf einen Augenblick zu Ihnen hinaufkommen? Oder haben Sie zu tun?«

»Kommen Sie nur!« erwiderte der Inspektor. »Es wird mich sehr freuen.«

Gleich darauf kam Yardley die schmale Treppe heraufgerannt.

»Sie sind mir also doch zuvor gekommen«, sagte er. »Morgen wollte ich selbst nach Maidstone. Na, immerhin haben Sie mir eine Mühe erspart. Und es wird ein ehrlicher Tauschhandel sein, denn ich habe Bullett gesprochen! Den haben Sie verfehlt.«

Haney bemühte sich, ein freundliches Gesicht zu machen. »Seine Leute behaupteten doch, er sei in London!« rief er aus.

»Mag sein; aber ich traf ihn ganz unerwartet in Ashford. Er hatte den jungen Roget im Schlepptau, der sich aus dem Staube gemacht hatte, weil er Angst vor Ihnen hat. Er behauptete, seine Kameraden neckten ihn damit, daß Sie hinter ihm her wären und ihn verhaften würden, und das stehe ihm bis an den Hals. Sie nennen ihn beständig »Mörder« und dergleichen. Daß er das nicht liebt, kann man ihm nicht verdenken, nicht wahr? Ich traf die beiden auf dem Bahnsteig, und Bullett redete ihm zu wie ein Vater. Auch ich sprach väterlich mit ihm – sagte ihm, Sie seien so harmlos wie ein neugeborenes Täubchen, und kriegte ihn wirklich so weit, daß er es schließlich glaubte.«

»Sehr nett von Ihnen!« warf Haney ein und bückte sich, scheinbar um Kohlen aufzulegen, aber in Wirklichkeit, um seine Gefühle zu verbergen.

Yardley reckte sich nachlässig in einem nicht ganz sauberen, aber behaglichen Lehnstuhl, preßte die ausgebreiteten Fingerspitzen gegeneinander und starrte zu einer an der Zimmerdecke herumkriechenden, halbtoten Fliege empor.

»Haney«, begann er schließlich nach einer längeren Pause, »ich möchte fast auch glauben, daß dieser junge Roget etwas auf dem Herzen hat. Kann sein, daß er Seminow nicht erstochen hat und die Wahrheit spricht, wenn er beschwört – wie er es mir gegenüber tat –, daß der Affe nicht tot, aber schon krank war, als der Zirkus hierherkam. Aber irgend etwas lastet ihm auf der Seele.«

»Und was mag das sein, Sir?« fragte Haney.

»Nun – er machte mir gegenüber eine Bemerkung – eine ganz geringfügige Bemerkung, die mir zu denken gab! Als der Zug einfuhr und ich ihm die Hand schüttelte und zu ihm sagte, daß brave Jungens die Argus-Augen der Scotland Yard-Götter nicht zu fürchten brauchten, grinste er verlegen und sagte: ›Ich fürchte niemand und nichts – für mich selbst!‹ Der Junge beschirmt irgend jemand.«

Haneys Gesicht nahm einen Ausdruck erhabener Genugtuung an, und er bemerkte herablassend:

»Er denkt, daß er seinen Bruder beschirmen muß. Ich habe Ihnen das nicht gesagt –«

»Nein, das taten Sie nicht«, fiel Yardley ihm ins Wort. »Aber Sie müssen denken, daß ich mit verstopften Ohren und Augen herumlaufe, wenn Sie sich einbilden, daß ich das nicht weiß. Jener Mann, jener Alphonse de Roget, der aus dem französischen Gefängnis entfloh, seine ehemalige Verbindung mit Seminow, die Broschüre über Heliogon, die ich Ihnen zeigte, und die ich, nebenbei gesagt, gern wiederhaben möchte, wenn Sie damit fertig sind – denken Sie etwa, daß ich nicht Verstand genug besitze, um einzusehen, daß alle diese Umstände miteinander verkettet sind?

Auch ich lese die Zeitungen und schmeichle mir, daß mein Gedächtnis nicht schwächer ist als das anderer Menschen. Sie haben das Ihrige wohl aus den Archiven von Scotland Yard aufgefrischt; ich hatte das zufällig nicht nötig: das Verhör von Alphonse de Roget ist mir besonders wegen seiner Broschüre erinnerlich – und überdies bin ich der Ueberzeugung, daß dieser Mann entweder ein begabter Wahnsinniger war, oder – wie er behauptet – der Verfasser der Broschüre ›Die größte Erfindung der Welt.‹ Stimmt das, so ist er von ›dem reichsten Manne der Welt‹ betrogen worden.«

»Weshalb sagten Sie mir nicht, daß Sie das alles wissen?« murmelte Haney.

»Weil Sie mich ja auch nicht ins Vertrauen zogen. Ich dränge mich nicht gern auf, müssen Sie wissen.«

»Aber so hätte ich es doch niemals aufgefaßt.«

Yardley lachte heiter. »Bitte keine Heuchelei, mein Lieber! Ich gebe mich nicht für klüger aus, als ich bin. Ich tappe ebenso im Dunkeln wie Sie – besonders da Alphonse de Roget seine kurze Freiheit in Frankreich verlebt zu haben scheint. Dennoch besteht die Möglichkeit, daß das nicht der Fall ist.«

Haney beachtete nicht den lebhaft fragenden Blick, der ihn traf.

»Da er einen gestohlenen Paß bei sich trug, ist das wohl ausgeschlossen«, sagte er. »Es war ein amerikanischer Paß ohne englisches Visum. Ueberdies wurde in allen Hafenstädten auf Alphonse de Roget gefahndet.«

»Ah!« rief Yardley aus, und dieses Wörtchen hatte eine tiefe Bedeutung. Er war höchst verwundert, daß Haney diese kleine Einzelheit der Paßgebräuche so völlig übersah. Aber er sagte nichts darüber – bei dieser Gelegenheit nicht. Alle Welt wußte es, und Haney konnte unmöglich der einzige Unwissende sein. Er fragte: »Haben Sie Fräulein Givens heute nachmittag vielleicht getroffen?«

Der Inspektor fing an, etwas gereizt zu werden. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen – Ach ja, jetzt begreife ich: Bullett hat es Ihnen gesagt.«

»Bullett hat Ihren Namen gar nicht erwähnt«, erwiderte Yardley. »Er ist ein Gentleman – und Sie sind es auch, Haney. Die unglückliche Frau!«

Jetzt siegte die Neugier über Haneys Empfindlichkeit. Ihm fiel plötzlich ein, daß es doch vielleicht Zeit sei, seine Eifersucht zu begraben.

»Woher wußten Sie, daß Fräulein Givens sich in Maidstone aufhält, Sir?« fragte er.

»Weil alle Anzeichen darauf hindeuten. Die Frau ist in Seminows Vergangenheit verwickelt gewesen, und das kleine Zirkusmädchen ist ihre Tochter. Man braucht sie nur anzusehen, um das zu merken. Fräulein Givens dehnte ihren Aufenthalt im Herrenhause länger aus, ohne dazu aufgefordert zu werden. Sie pflegte und umsorgte das Kind wie eine Mutter. Macht sie Ihnen den Eindruck, als ob sie sich sonst um fremde Menschen bemühen würde? Bullett hätte eine Pflegerin annehmen oder Cissie ins Krankenhaus bringen können; aber Fräulein Givens ließ es nicht zu. Alles das ging sozusagen unter der Oberfläche vor sich. Niemand beachtete es, außer mir. Seminow stand zu sehr im Mittelpunkt der Begebenheiten.

Als ich vor einigen Tagen über den Dorfanger ging, sah ich Bullett mit Fräulein Givens sprechen, und hörte ihn sagen: ›Ich werde mich gleich nach einer passenden Wohnung umsehen.‹ Da wandte Fräulein Givens sich an mich und äußerte: ›Ich habe eben Herrn Bullett gesagt, daß Cissie zu zart ist, um in einem Zelt zu schlafen, und mit seiner Erlaubnis habe ich wollene Sachen für sie bestellt.‹

Ja, so kam es, Haney. Es ging nicht etwa aus ihren Worten hervor, sondern – nun, aus der Art, in der sie das sagte. Ich wußte, daß sie dem Zirkus nachreisen würde, und wahrhaftig – sie tat es!«

An jenem Abend trennten sich die beiden Männer als Freunde. Sie hatten über Fräulein Givens listige Verabredung mit Bullett gesprochen, über die Macht, die Seminow über sie besessen hatte, über die Furcht, die er ihr bis zum Augenblick seines Todes eingeflößt hatte, und von der wichtigen Entdeckung, daß der Zirkus nicht zufällig nach Larke Minnis gekommen war.

Und da hatte Yardley gesagt: »An ein solches Zusammentreffen von Umständen glaube ich nicht. Ich sage wie jener Bauer, der zum ersten Male ein Kamel sah: ›So was gibt's nich!‹«

Mit diesen Worten gewann er Haneys Herz.


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