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IV

Das Schuljahr war zu Ende. In den blankgeschliffenen, von frommen Wachsstöcken beträufelten Bänken der Hofkirche saßen, knieten und standen alle acht Klassen des Gymnasiums. Weihrauchwolken stiegen empor, Brokatgewänder funkelten im Glanz der Altarkerzen und feierlich tönte die Jubelweise des deutschen Tedeum aus Orgelpfeifen und Kehlen. Dann stand alles polternd auf und die strengen Klänge der Haydnschen Volkshymne hoben sich empor, majestätisch und unnahbar und mit wohlberechneten Worten unterlegt. Für Professor Karfreiter war dieser Tag ein Tag größter Aufregung. Er wußte, daß eine große Zahl von Schülern statt den vorgeschriebenen Texten das Lied »Deutschland, Deutschland über alles« zu singen pflegte und immer bei diesen drei kirchlichen Gelegenheiten des Jahres schoß er wie ein Habicht von einer Bank zur anderen, bei den Betschwestern rundum weidliches Ärgernis erregend. Aber nie gelang es ihm, einen der Frevler abzufassen und er erlitt nur schwere innere Anfälle von galligem Ärger, wenn Malzey bei seinem Näherkommen mit verdrehten Augen einen scheußlich meckernden Gesang hören ließ oder Spadini mit absichtlich falscher Baßstimme sich störend aus dem Chor hob. Einmal war eine Untersuchung die Folge solcher Scherze gewesen. Aber den beiden war es trotz ihrer Anrüchigkeit gelungen, glaubwürdig nachzuweisen, daß sie eben nicht anders singen könnten.

Für lange Zeit sollte nun das Klassenzimmer mit den grün und ockergelb gestrichenen Bänken einsam bleiben. Manche der Schüler schnitzelten noch schnell Inschriften zu Ende, die ihren Namen kommenden Geschlechtern übermitteln sollten, oder legten für diese »Dokumente«, eng beschriebene kleine Zettel in Aushöhlungen am Rand der Bank, die mit einem kunstvoll herausgeschnittenen, knapp passenden Deckelchen verschlossen waren. Dann kam der feierliche Augenblick der Zeugnisverteilung, der rasch vorüberging. Vitus war eben noch durchgekommen. Gefallen waren nur ein völlig unbegabter Bierbrauerssohn aus dem Unterinntal und Malzey, der zudem die schlechteste Sittennote bekommen hatte.

Es war für keinen eine Überraschung und dennoch tat er allen leid. Man schüttelte ihm bewegt die Hand und Plöchhammer, der auffallend stärker hinkte als sonst, zog ihn rasch mit sich fort.

Vitus hatte sich bei Kluibenschild seit jenem Nachmittag nicht mehr sehen lassen. Als er nach der Zeugnisverteilung in das Elternhaus kam, gab ihm die Mutter arglos eine Postkarte. Er las sie und war starr über die List und Kühnheit des roten Mädels, das mit ganz unverstellter Schrift an ihn geschrieben hatte.

»Lieber Vitus! Wann hilfst Du mir, wie versprochen, die Käfersammlung ordnen? Warte schon mit Sehnsucht auf Dich. Am besten gegen Abend, da ist es nicht so heiß und wir können im Garten sein. Dein treuer G. Kluibenschild, stud. gymn.«

Er zerriß das steife Blättchen in tausend Fetzen, grub mit dem Absatz ein Loch in die Erde eines Beetes und stampfte die Papierstückchen hinein. Und eine ungeheure Lebenslust überkam ihn. Er stand vor einer rosa spiegelnden Gartenkugel, in der eine kleine blendende Sonne das Himmelsgestirn nachäffte und sog den Tee- und Tabakgeruch gelber Marschall-Niel-Rosen ein. Alle die Farben und Düfte vereinten sich zu einer wundervollen Harmonie, die Erde, der Rasen, den sein Fuß trat, der blaugoldene Himmel, die lichtgrünen und dunkleren Büsche, die Blumen und Vögel, das alles war so gütig gegen ihn, so voll Freude und Liebe, daß sich ein noch nie gekanntes Glücksgefühl über ihn ergoß. Und das Leben begann ihm hold zu sein, ihm köstliche Dinge anzubieten, wie jenes kleine rothaarige Elfchen, nach denen andere in stummem Weh die Hände rangen.

Im Hause herrschte gute Laune. Professor Venloo war von dem Zeugnis seines Sohnes nicht gerade entzückt, aber es genügte ihm im Grunde, daß Vitus in die siebente Klasse aufsteigen konnte. Die Mutter war mit den Reiseeinkäufen sehr zufrieden, lobte das »Judenjüngelche«, Vitus' Schulkameraden Isidor Geduldig, der sie im väterlichen Geschäft erkannt und ihr eine ganz besonders gute Bedienung und Stoffauswahl besorgt hatte. »Siehst du, Vitusche,« sagte sie, »ech hab immer jesaacht, Jüde sein dankbar!« Und in längerer, die kleinen mundartlichen Verirrungen ausmerzender hochdeutscher Rede setzte sie Vitus auseinander, daß dies alles geschehen sei, weil er den armen Jungen gegen die rohen Bengel Altböck und Petrsil verteidigt habe.

Susanne, die Vitus ohne jedes Verlangen, aber nicht ohne Sorge beobachtet hatte, war in letzterer Zeit weniger seltsam, sprach manchmal ganz unbefangen mit ihm und schien zu wünschen, daß jene Nacht von ihnen beiden vergessen sei und bleibe. Dagegen hatte sie sich angewöhnt, täglich ihren Morgenschlaf zu opfern, um in die Frühmesse zu gehen und über ihrem Bett sammelten sich allerlei wundertätige Gnadenbilder und geweihte Rosenkränze mit besonderen Ablaßkräften. Ihr Gesicht war schmäler und strenger geworden. Professor Hemmerling, der öfters den Vater besuchte, sagte einmal so laut, daß Vitus es hören konnte: »Wissen Sie, Herr Kollega, daß dieses Mädchen eine klassische Schönheit ist?« Und der Vater antwortete: »Alte gute Rasse wahrscheinlich.«

Mit Herucker war Vitus viel beisammen und sie besprachen meist die bevorstehende Abreise nach Vernauts. Vinzenz Plöchhammer ging es wieder schlechter. Er humpelte mit schmerzverzogenem Gesicht zwischen seinen Modellen herum und lag oft halbe Tage in einem Streckstuhl, den der alte Schmied fürsorglich so in die Sonne stellte, daß das Haupt des Ruhenden im Baumschatten lag. »Gelt, Buabele, du tuascht dein alten Vatter nit verlassen?« fragte er oft kummervoll und legte die schwarze Hand auf des Sohnes Stirne. Vitus traten die Tränen in die Augen, als er einmal Zeuge eines solchen Auftrittes war und das herzzerreißende Lächeln des von wütenden Schmerzen Gepeinigten sah. Im August sollte eine neue Operation an dem Fuß des armen Freundes stattfinden. Malzey, verwahrlost und grimmig, war fast immer da. Über seine Zukunft war noch nichts beschlossen worden. Am Tage vor der Abreise ins Oberinntal ging Vitus langsam das ansteigende Sträßlein hinauf, kletterte über die niedrige Mauer und setzte sich, nicht ohne Beben, in Kluibenschilds Gartenhäuschen. Sehr rasch kamen kleine Schritte über den Kies und Grete flog auf ihn zu, erhitzt und wild. Sie war stärker geworden, aber nicht schöner, denn der Sommer hatte ihr Gesicht mit vielen braunen Flecken gezeichnet. Ihre feuerrote Kattunbluse, die nach unten ein schwarzer Lackledergürtel abschloß, erinnerte Vitus unangenehm an jene Weiber, die abends wartend in matt erleuchteten Haustoren standen.

»Du hast mir geschrieben –«

»Ja, weil du nicht gekommen bist,« sagte sie und warf den dicken rotgoldenen Zopf zurück.

Er erging sich in Ausreden, stammelte verwirrt und erwartete ihre Küsse. Ein unbestimmbares Gefühl sagte ihm, daß dieses blutjunge Mädel ihm weit überlegen sei und einen Augenblick lang beherrschte ihn verschwimmend und undeutlich der Gedanke, als ob sie der Mann und er der weibliche Teil wäre. Da raffte er sich auf, zwang sich zu kühlerer Art und versuchte den Sieger zu spielen. Aber sie sah ihn, scheinbar hingegeben, mit ruhigen katzengrauen Augen an, nahm seine Hand und legte sie auf ihre junge Brust, herausfordernd und bestimmend. Vitus verlor sich rasch, knöpfte ungeschickt an ihrer Bluse herum, küßte den weißen Nacken, der sich willig bog, und mit fliegenden Händen, toll unter den Schauern dieses Beisammenseins, in ihren Röcken, unsicher über die Natur der glatten und rauhen Stellen, die seine Fingerspitzen zitternd berührten. Aber auf einmal fuhr er im höchsten Schreck zusammen. Schritte näherten sich. Grete ordnete flüchtig die verschobenen Kleider und sah gleichmütig dem Bruder entgegen, der auf die Laube zukam.

»Du bist es, Vitus?« grinste Theodor Kluibenschild verlegen. »Kommst du dann herauf?«

»Ja – natürlich – ich wollte ja zu dir. Wenn du willst, so –« Grete unterbrach ihn.

»Er wird dann schon kommen. Wirst es schon erwarten können.« Theodor sah sie mit einem schiefen Blick an, scharrte unschlüssig mit der Fußspitze in den Steinchen, dann zuckte er die Achseln, wendete sich und ging pfeifend den Weg ins Haus zurück.

»Aber Grete!« wisperte Vitus in großer Angst. »Wenn er jetzt deiner Mutter sagt, daß wir –?«

Sie sah ihn unter halb geschlossenen Lidern an.

»Ich fürchte mich nicht vor ihr«, sagte sie kurz.

»Nicht? Aber warum –?« Vitus war verwirrt.

»Warum? So halt!« Sie wurde dunkelrot.

Aber sie kamen über die Störung nicht mehr hinweg. Zudem schien es Vitus, als ob der Bruder nicht ins Haus gegangen sei, sondern sie von irgendwo belausche. Es knackte leise in den Büschen, eine erschrockene Amsel flog schrillernd und zeternd auf und der Kies knirschte. Sie saßen nicht mehr so nahe beieinander und Grete zeichnete mit der rosigen Fingerspitze allerlei auf den runden Steintisch.

»Und morgen fährst du wirklich?« sagte sie dann.

»Ja, – mit dem Herucker nach Vernauts.«

»Geh, mit dem langweiligen Herucker! Ist dir der lieber als ich?« »Aber Gretl!« beteuerte Vitus, »es ist nur – weil ich es schon zu Hause gesagt habe. Wegen seiner – – Ah!« Er machte eine geringschätzende Gebärde.

Da krähte laut und hell ein Hahn im Nachbargarten und Vitus dachte an den Herrn Jesus, den der treueste seiner Zwölfboten verraten hatte.

»Du schreibst mir aber bestimmt. Und getrocknete Edelweiß mußt du in den Brief legen. Bring mir was mit, gelt? Was machst du denn für ein Gesicht? Im Winter mußt du mit mir eislaufen, mit mir allein natürlich. Wenn ich dich mit einer anderen seh, mach ich dir einen Skandal, meiner Seel! Glaub ja nicht, daß ich mich vielleicht vor meiner Mutter fürcht; die traut sich eh nicht, mir was zu sagen. Sie weiß schon warum. Wenn sie mit mir schimpft, frag ich sie bloß, wie es dem schönen Rittmeister von den berittenen Landesschützen geht. Dann läßt sie mich gleich in Ruhe. Ich – ich hab sie gesehen mit ihm, da in diesem Häusel. Und ich hab zugeschaut. Meine Mama ist halt noch eine schöne Frau, das muß man sagen. Ganz weiß ist sie und Haare hat sie bis zu den Knien. Aber mein Haar ist auch schön und es wird vielleicht noch länger als das ihre. Aber einen Offizier möcht ich nicht. Wenn du Doktor bist, heiratest du mich sowieso und wir richten uns sehr elegant ein. Mein Zimmer muß ganz weiß sein. Die Schlafzimmer sind natürlich getrennt und einen Diener müssen wir auch haben. Es ist ein wahres Glück, daß du reich bist – –«

Gesang unterbrach ihr Geplapper. Sie gingen beide zur Mauer und blickten auf die Straße.

Sehnsüchtig lauschte Vitus den verwehenden Klängen, die im Rauschen des Bergstromes rasch erstarben. Ein Handwerker stand in Schlapfen, die fleckigen Arme in die Hüften gestemmt, vor seinem Hause und schalt mit dem Lehrbuben, der mit dem gefüllten Bierkrug stehen geblieben war, um die singenden Burschen zu bewundern.

»Leb wohl, Gretl,« sagte Vitus kühl und voll Sehnsucht fortzukommen. »Ich muß jetzt gehen!«

»Schad,« sagte sie und machte ein Mäulchen. Vitus bezwang den Widerwillen, der bei den Reden Gretes in ihm aufgestiegen war und heuchelte Abschiedsschmerz. Nun ging es schon in einem! Den Freund hatte er verraten und nun tat er so, als ob er wirklich in dies verderbte rothaarige Ding verliebt sei; sein ganzes Leben bestand aus Lügen. Er versprach ihr was sie wollte, küßte sie ohne jedes wärmere Gefühl, winkte ihr zurück so lange er ihr Tüchlein wehen sah und ging dann sehr langsam und niedergedrückt durch die Anlagen am Inn nach dem Hause zu.

Ja, so war alles häßlich, wenn man ihm nahe kam. Wie dieses Mädel von der Mutter sprach – – Vitus scheuchte mit aller Gewalt widerliche Vorstellungen, die über das reine Bild seiner eigenen Eltern kriechen wollten –. Vielleicht war die schöne Adelheid Weinschenk, die unnahbare Königin seines Herzens auch nicht anders, erlaubte heimlich den Offizieren und Doktoren, mit denen sie auf Bällen tanzte, unanständige Berührungen und Küsse. Und er, Vitus, war dann für sie das, was der arme Herucker für die rote Grete war, die so sittsam an der Seite ihrer schönen Mutter ging, daß kein Mensch an etwas Unpassendes zu denken wagte, an der Seite der Mutter, die mit einem Rittmeister – – Grauenhaft war das alles. Er erinnerte sich deutlich an einen Ausspruch seines Oheims Otto Marlemont. Man hatte Vitus, der als kleiner Kerl in einen Festungsbau vertieft war, nicht beachtet und über Paris gesprochen. Die Mutter entsetzte sich über Geschehnisse, die sich dort zugetragen haben sollten, mit Frauen. Auch von einem Buch wurde geredet. Onkel Otto hatte gelacht und gemeint, das sei überall gleich, nirgends besser und nirgends schlimmer, nur sei man in Paris aufrichtiger in diesen Dingen. Der Vater hatte ihm rechtgegeben und die Mutter war plötzlich zu Vitus geeilt und hatte ihn gefragt, ob er schön gespielt habe, gerade als ob sie geahnt hätte, wie aufmerksam er auf die Gespräche am Tisch der Großen lauschte. Schon damals hatte er sich verstellen können.

Als er sich dem Elternhause näherte, überkam ihn eine tiefe, hoffnungslose Traurigkeit. Immer fester wurde die Überzeugung in ihm, daß er ein schlechter und verkommener Mensch sei, ein Lügner und Betrüger. Aber war nicht die Susanne selbst zu ihm gekommen? Hatte nicht Grete ihn in die Laube bestellt? War er denn wirklich allein schuld an diesen Dingen, die nun sein Herz bedrückten? Mit einem einzigen Menschen hätte er darüber sprechen können. Mit Herucker, mit dem Freunde, den er verleugnet hatte ohne große Not.

In der Nacht fuhr er öfters aus dem Schlaf, immer mit dem Gefühl, als schleiche jemand in sein Zimmer. Als er am Morgen, für die Reise gekleidet und mit Schlaf in den Augen, ins Frühstückzimmer kam, deckte Susanne den Tisch. Da sie ihn sah, nestelte sie an ihrer Brust herum und reichte Vitus einen kleinen geweihten Pfennig, der noch warm von ihrer Haut war.

»Bitte, nehmen Sie das, Herr Vitus,« sagte sie in ihrem sonderbaren Hochdeutsch. »Das wird Sie beschützen vor Feuer- und Wassernot und vor jähem Sündentod. Alle Engel werden für Sie streiten, die Mutter Maria wird Sie geleiten, wohl in das Himmelreich, wo sind alle Menschen gleich, dort wird uns die schwerste Sünd vergeben und wir gehen ein ins ewige Leben, niemand kennt uns mehr an, was wir Schlechtes haben getan. Amen.« Rasch und fest hatte sie diese Worte gesprochen und Vitus mit glänzenden Augen und verzückt lächelnd angeblickt. Dann war sie hinausgelaufen. Als Vitus von seinen Eltern Abschied nahm, klang noch immer ihre einförmige Stimme in ihm nach.


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