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VI

In den nächsten Tagen, nach dem geruhigen Sichwiederfinden in gewohntem Behagen des warmen Nestes, brachen schwere Unruhen in der sonst so stillen Bergstadt aus. Soldaten vom 11. tschechischen Infanterieregiment hatten Streit mit Handwerkern gehabt und ein Unbeteiligter war an einem Bajonettstich gestorben. Die gewohnte Weise, mit der man das buntscheckige Reich durch Einlegen stockfremder Truppenteile in anderssprachige Städte vor jedem Aufmucken einzelner und vor dem Bewußtwerden des Volkstums bewahren wollte, bestand seit langem nur mehr in einer künstlich genährten Feindseligkeit aller seiner Völker untereinander. So hatte man eine ziemliche Sicherheit, daß Ungarn auf Nichtungarn, Deutsche auf Nichtdeutsche, Tschechen auf Nichttschechen gegebenen Falles mit Begeisterung schießen würden und als köstlichen Besitz besaß man immer noch die neu aufgestellten bosnischen Regimenter, deren halbwilde Soldaten jederzeit die Rolle der Kroaten von 1848 übernehmen konnten.

Trotz des windgepeitschten Herbstregens waren die Straßen von Menschen erfüllt, von braven Tirolern, die nur den recht bescheidenen Wunsch hatten, mit der Bestrafung des betrunkenen Bajonetthelden eine kleine Genugtuung zu erhalten. Weiter gingen damals die Gedanken kaum. Die Aufregung, die jede Massenansammlung mit sich bringt, wurde freilich noch gesteigert durch hochmütige, befehlshaberische Erlasse des Korpskommandanten, dessen persönlicher Dünkel auch in gerechter Erregung Hochverrat und unerhörte Auflehnung witterte. Trotz aller Verbote trieb sich Vitus, fiebernd vor Erregung in den menschenerfüllten Straßen herum, hörte den Reden wütender Fleischhauerknechte und Schmiedegesellen zu und haßte mit ihnen den Hauptmann und die Offiziere, die vor den feldmäßig ausgerüsteten Kompagnien der Tschechen bedrohlich und mit jenem billigen Heldenmut, den bewaffnete Truppen unbewehrten Volksmassen gegenüber gerne zur Schau tragen, die Schnurrbärte streichen. Er sah in die gleichgültigen breitnasigen Slawengesichter der Soldaten mit ihren dunkelblauen Röcken und hellgrauen Aufschlägen und erkannte plötzlich in einem »feschen« (ein Wort, das ihm immer weh tat) Oberleutnant jenen verhaßten Menschen wieder, der mit überhöflich verdrehtem Oberkörper und spitzen Lackschuhen Sonntag an der Seite Adelheids und ihrer Mutter zu wandeln pflegte. Das Murren der Menge wuchs. Auf einmal, man wußte nicht woher, flogen Steine und Erdklumpen. Vitus bückte sich rasch, griff nach einem Brocken und warf. Das halbweiche Stück gelöschten Kalkes flog über die Köpfe der Vornestehenden und traf den lächelnden Oberleutnant, der sich zierlich auf die gebogene Klinge des Säbels stützte, kräftig unterhalb des Kragens auf die Brust und zerbrach dort als weißer Brei. Ein brausendes Gelächter ging durch die Angesammelten. Eine kreischende überschnappende Stimme schrie: »Fertig!« Rasselnd im Takt flogen die Gewehre von den Schultern und lagen wagrecht. Dumpfes Brausen verhaltener Wut dröhnte auf. Da sprang zwischen Soldaten und Volk ein Mann, hielt dem Hauptmann einen Zettel unter die Nase. Der zuckte wild die Achseln und schrie mit rotem Kopf neue Befehle. Die Gewehre wurden geschultert, die Linie schwenkte in Rotten ein und die Tschechen marschierten ab. Aber im Nu erschienen hinter den schwindenden Reihen hechtgraue Kaiserjäger und gleichzeitig stiegen begeisterte Rufe auf, die der einheimischen Truppe galten. Es kam zu nichts. Die Leute verliefen sich und die Jäger konnten sehr bald in ihre Kaserne abmarschieren. »Bravo, Vitus!« rief einer halblaut neben ihm. »Gut hast du den frisierten Affen getroffen!« Er wandte sich jäh. Ein rußiger Schlosser oder Schmied stand vor ihm, die Ärmel aufgestreift, einen schweren Pflasterstein noch in der Hand haltend. Dieser junge Schmied trug einen Zwicker und als ihn Vitus genauer ansah, war es Malzey.

Während sie im Zuge der sich zerstreuenden Menge der Triumphpforte zuschritten, erzählte Malzey, daß ihn sein Vater kurz nach Vitus' Abreise aus dem Hause gewiesen habe. Seinen sonderbaren Äußerungen nach war die Grundursache ein sehr häßliches Zusammentreffen von Vater und Sohn im Zimmer der dicken Köchin gewesen, dem ein nächtlicher Auftritt mit der herbeigeeilten Mutter folgte. Der Landesgerichtsrat versuchte mit wenig Glück das Ganze als einen planmäßigen und nunmehr geglückten Versuch darzustellen, den ungeratenen Sohn auf Abwegen, deren er längst verdächtig war, abzufassen. Aber in ihrem Schrecken hatte das heulende Mädchen Äußerungen getan, die in der empörten Hausfrau ganz andere Vermutungen hervorriefen. Nach langen, die halbe Nacht währenden Zänkereien und gegenseitigen höchst ekelhaften Vorwürfen hatte sich das Elternpaar dahin geeinigt, daß sowohl der Sohn als auch das Mädchen sofort das Haus verlassen mußten. Die verschüchterte und in ihrer Beschämung hilflose Köchin fügte sich wortlos und verschwand am anderen Morgen, ohne auch nur den gebührenden Lohn bekommen zu haben, was die Frau Landesgerichtsrätin in erheblich bessere Laune versetzte. Aber der Junge nützte seine verzweifelte Lage wenigstens so weit, daß er mit kalter Ruhe den Alten nötigte, wenigstens zu seinem Eintritt als Schmiedelehrling seine Einwilligung zu geben und sich zur Zahlung seines Lehrgeldes zu verpflichten. Und so war er endlich beim alten Plöchhammer im sicheren Hafen gelandet und befand sich wohl dabei. So sagte er wenigstens. Vitus, der anfangs heftiges Mitleid mit dem Freunde empfunden hatte, fühlte sich nun bedrückt durch die Gleichgültigkeit, mit der Malzey den jähen Sturz in eine tiefere Gesellschaftsschicht erlebte. Ihm erschien dieses Schicksal als etwas Furchtbares und geradezu Brandmarkendes und ein unbewußter Hochmut spannte sich zwischen ihm und dem angehenden Handwerker aus wie eine Scheidewand. Er begann nach rechts und links verstohlene Blicke zu senden, ob ihn wohl nicht Bekannte mit dem Burschen im Lederschurz und den vertretenen Schlapfen sehen könnten. Und bei der ersten Seitengasse verabschiedete er sich hastig, den sonst so schlagfertigen Genossen ganz verdutzt stehen lassend. Nicht einmal nach dem Befinden des kranken Vinzenz hatte Vitus gefragt. Im Hause warteten verdrießliche Gesichter auf ihn. Die Mutter hatte beim Wegräumen seiner Sachen den Zettel Moidls in seiner Westentasche gefunden und der Vater unterzog ihn einem Verhör, gleichzeitig einen scharfen Verweis wegen des Gassenlaufens bei den Unruhen aussprechend. Professor Venloo sprach erregt und kurzatmig. Auch mit den Mägden hatte es Verdruß gegeben. Die Köchin war ins Zimmer gekommen und hatte erzählt, entweder müsse Susanne aus dem Hause, oder sie, die Köchin, ginge. Sie könne nicht ihre halbe Nachtruhe opfern, weil die andere stundenlang mitten im Zimmer knie und Gebete plappere. Mühsam wurde die Sache beigelegt. Vitus sah aus einem Winkel, wie die Mädchen sich zögernd versöhnten, der Herrschaft zuliebe, und bemerkte, wie schmal und scharf die Züge Susannens geworden waren und wie dunkel ihre Augen aus tiefen Höhlen brannten.

An einem Novembertag, nach einer üblen Prüfung aus dem Griechischen, kam Vitus nach Hause. Er hatte sich nicht viel gedacht, als er nahe der Gartentür einen sonderbaren schwarzen Wagen stehen sah. Es war kalt und durch die entlaubten Bäume rieselte dünner Schnee. Als er ins Haustor trat faßte seine Mutter, die offenbar angstvoll auf ihn gelauert hatte, nach seinem Arm und zog ihn, bevor er noch eine Frage formen konnte, in die kleine Kammer, die zur Aufbewahrung allerlei Geräte diente, schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel um, so daß er gefangen war. Atemlos vor Schreck lauschte er schrillen jammernden Tönen, die aus dem ersten Stockwerk zu kommen schienen und bald in ein wildes tierhaftes Kreischen übergingen. Grobe dunkle Männerstimmen brummten dazwischen, Türen schlugen und Möbelstücke stürzten polternd, daß das Haus erbebte. Unsagbares Grauen vor dem Unbekannten und Furchtbaren, das da vorging, legte sich lähmend um seine Glieder. Dann kam es die Treppe hinunter, stapfend, mit großen Stiefeln, dazwischen ein häßliches Scharren, Schleifen und ersticktes Stöhnen.

Mehrere Menschen polterten an der Tür vorbei, er hörte die Mutter laut weinen und die Köchin aufschreien. Die Haustür ging. Alles war still und nach einer Weile fuhr ein Wagen eilig davon.

Da drehte sich der Schlüssel. Tränenüberströmt stürzte die Mutter herein und umschlang ihn mit beiden Armen. Die alte Köchin nahm seine Hand und küßte sie immerzu und der Vater stand mit aufgerissenem Kragen und schwer nach Atem ringend und sagte heiser: »Nun, nun – Gott sei Dank, daß es so abgegangen ist. Nun, beruhige dich doch, Liebchen!« Und dann erfuhr Vitus, was vorgegangen war. Susanne hatte sein Zimmer aufgeräumt, wie alle Tage. Als sie zu anderen Dingen benötigt wurde und übermäßig lange ausblieb, ging die Mutter hinauf. Die junge Magd stand verzerrten Gesichtes vor seinem, Vitus' Bett, mit einem großen, scharfgeschliffenen Fleischmesser in der Hand. Auf die entsetzte Frage der Hausfrau, was sie da mache, erklärte sie in seltsamen und gewundenen Ausdrücken, daß ihr nachts die Muttergottes erschienen sei und ihr befohlen habe, zu ihr in den Himmel zu kommen und Vitus mitzubringen, damit er von Sünden und Höllenstrafen erlöst sei. Vitus würde ja bald zurück sein, und dann müsse das Opfer vollbracht werden.

Die Muttergottes wolle es so. Die zu Tode Erschrockene hatte Geistesgegenwart genug, ruhig hinauszugehen und die Tür zu versperren. Dann lief sie zu ihrem Mann und die Köchin rannte, so schnell sie mit ihren Gichtbeinen konnte, ins Spital, um Irrenwärter zu holen. Bevor aber die kamen, begann Susanne zu toben, rüttelte an der Tür, schrie und heulte. Dann wurde sie ruhiger und fing an, wie man durchs Schlüsselloch sehen konnte, Kissen und Decken zu zerschneiden, indes sie Gebete murmelte und mit den Zähnen klapperte. Als die Männer kamen und die Tür öffneten, war sie zuerst ruhig, bis ihr ein Mutiger mit raschem Griff die Mordwaffe entwand.

Dann begann das wütende Ringen, in dem es den drei Männern und Professor Venloo nur mit äußerster Mühe gelang, das rasende Mädchen zu überwältigen und in die Zwangsjacke zu schnüren. Die Mutter wartete indessen mit wildpochender Angst auf den heimkehrenden Sohn, um ihn vor allem in Sicherheit zu bringen. Und jetzt war, Gott sei Dank, das Entsetzliche vorüber.

In den nächsten Tagen mußte der Vater das Bett hüten und Doktor Hundertpfund hatte kopfschüttelnd die Zuziehung des Professors Dr. Nigg, eines Herzspezialisten, veranlaßt. Die Angst um den Vater, den die Aufregung niedergeworfen hatte, überwog die bangen Selbstvorwürfe, die auf Vitus einstürmten und sich bis zum drückendsten Schuldgefühl verdichteten. Mehrmals war er im Begriff der Mutter alles zu gestehen, was zwischen ihm und dem Mädchen vorgegangen sei. Erst eine zufällig erlauschte Äußerung des Arztes, daß die Untersuchung erbliche Belastung durch geisteskranke Vorfahren und eine seit langer Zeit schon dauernde frühe Erkrankung der Magd ergeben habe, brachte ihm etwas wie Befreiung von stummer Selbstqual. Es dauerte lange, bis er ohne Angst und ohne Schreckbilder einschlafen konnte, und mehr als einmal fuhr er auf beim eingebildeten Geräusch schleichender nackter Füße und leisen Kleiderrauschens in seinem Zimmer.

Als der Vater wieder auf war, widerfuhr es Vitus, daß der alte Arzt ihm einen heimlichen Wink gab. Beklommen folgte er ihm in den Garten.

»Junger Herr,« sagte der weißhaarige Doktor und nahm eine Prise aus der Schildpattdose. »Es hört uns doch niemand? Nein? Der Frau Mama mag ich nichts sagen. Also sag ich's Ihnen. Der Vater ist leider schwer, sehr schwer krank.«

»Gefährlich, Herr Doktor?« stammelte Vitus angstvoll. Der Arzt wiegte den Kopf.

»Es ist ein schlimmes Herzleiden, eines von jenen Leiden, bei denen unsere Kunst machtlos ist. Aber es kann wohl noch eine Weile dauern. Das, was ich Ihnen sagen möchte, ist dies: denken Sie in jeder Minute daran, Ihrem guten Vater nur Freude zu machen. Mit jedem Kummer, und sei er noch so geringfügig anzuschauen, den Sie ihm bereiten, schlagen Sie ihm einen Nagel in seinen Sarg. Und das würde Ihnen, wenn Ihr Vater einmal nicht mehr ist, bitter weh tun. Das kehrt dann alles wieder und peinigt und jede Reue kommt zu spät. Haben Sie mich gut verstanden? Nun, weinen Sie nicht – seien Sie ein Mann, denken Sie daran, daß die Zeit kommen kann, in der Sie schon Ihrer edlen Mutter zuliebe – ein ganzer und reifer Mann sein müssen. Über Nacht vielleicht, Herr – Vitus heißen Sie, nicht wahr?« Vitus wischte mit der Hand die Tränen fort, die ihm unaufhaltsam über die Wangen rannen. Er konnte nicht sprechen.

»Seien Sie nicht zu traurig und lassen Sie ja nichts merken – vor der Mutter schon gar nicht. Der Herr Vater – leider! der weiß nur zu gut, wie es mit ihm steht. Und wenn er es nicht weiß, er fühlt es, wie jeder Schwerkranke es schließlich fühlt. Trocknen Sie Ihre Tränen. Am Ende eines jeden Lebens, es sei nun schön und reich oder armselig und trüb gewesen, steht der Tod. Omnes eodem cogimur – – Denken Sie manchmal an den Trost, den einzigen, den Ihnen ein alter Mann und Arzt geben kann. Leben Sie wohl und seien Sie recht tapfer. Es ist Ihre Pflicht, tapfer zu sein!« Er nickte freundlich und ging.

Vitus setzte sich in das dürre Gerank der Geißblattlaube, die so süß duftete in den vergangenen Sommertagen und sah stumm und tränenlos zur Erde. Auch hier war Tod. Ein kleiner Buchfink lag mit erloschenen Äuglein und schiefem Kopf, die zierlichen Zehlein verkrampft, auf dem Kies. Die Eule fiel ihm ein, die nach seinem Schuß in Vernauts ins Waldmoos gefallen war, und wieder hörte er die sanfte Stimme Christians, der von der Verwandlung sprach und sagte, daß es keinen anderen Trost gebe als den des Wissens um die Auflösung im All. Schneesternchen setzten sich als zierliche, von der Hand des großen Gottes gesandte Gebilde auf seinen Rock und frierende Spatzen im Strauch trauerten um Baldurs Tod. Schon jagte der Hetzhund des nahenden Winters, der kalte Nord, winselnd und vor Mordlust heulend durch elende Rutenbesen, auf denen weiß und blau, betäubende Düfte aussendend, Fliederkerzen und frischgrünes Laub gewesen waren. Im Springbrunnen, der so verträumt in Sommertagen sang und plätscherte mit fallendem Strahl, lag Stroh gehäuft und Stroh deckte die Rosenkronen, die zur Erde gebeugt waren. Und aus schönen traurigen Augen fragend kam langsam und wedelnd die schwarze Hündin Miß geschlichen und legte den feinen Kopf auf seine Knie. Der Winter, der grausame Winter war nahe. Vitus grub ein Loch in das Beet vor der Laube und bettete den kleinen Leichnam hinein. In der Schule wurde sein verändertes Benehmen zuerst offenbar. Er war fleißig und genau und vermied die Gesellschaft der Hercynen. Allmählich zogen sich die ehemaligen Freunde von ihm zurück und Spadini beehrte ihn mit Witzen, die sein in diesen Kreisen nicht sehr hoch geschätztes Musterknabentum bespöttelten. Dagegen stieg er in der Gunst des Professors Karfreiter und des Direktors. »Sehr brav ist er jetzt, der Vitus, sehr brav!« meckerte der Krax, als er Professor Venloo im »Deutschen Kaffeehaus« traf, »bin recht zufrieden.« Der Vater hatte ihn mit offensichtlicher Freude belobt und sein Taschengeld bedeutend erhöht, die Mutter ließ ihm zu Ehren seine Lieblingsspeisen bereiten. Einiges Mißtrauen in seine neue Lebensweise schienen nur der Religionslehrer Zeindl und Dietlieb der »Fuchs« zu setzen. Dietlieb sagte ihm wenigstens einmal, bei ihm brauchte er sich nicht so furchtbar anzustrengen, er urteile nicht nach Äußerlichkeiten und auf Schularbeiten in Schönschrift lege er weniger Wert als auf Persönlichkeit. Und Zeindl sah ihn des öfteren lang und forschend an.

Eine neuerliche Annäherung fand nur zwischen ihm und Fritz Hochschreck statt, der sich aus unbekannten Gründen mit dem neuen Schuljahr sehr der Lebensanschauung seines Vaters genähert hatte. Er kleidete sich sorgfältig, besaß eine Zigarettendose mit seinem Wappen und sprach viel von einem Tanzkränzchen, das jeden Samstag in einer anderen adeligen Wohnung stattfand. Auch Fritz war aus der Gymnasialverbindung ausgetreten. Er hatte mit dem Sohn des Korpskommandanten Strumpfner Edlen von Waffentanz zusammen Reitstunde und konnte nicht genug von den Gefahren berichten, denen er sich durch das Bändigen wilder Rosse aussetzte, bis Vitus einmal zufällig in die Reitschule geriet und den Freund bügel- und zügellos an der Leine im Kreise traben und unter der Leitung des Stallmeisters die Anfangsgründe des Sitzens erlernen sah. Auf die Frage nach der dicken Mali, die dem jungen Freiherrn ein übles, jetzt so ziemlich überwundenes Geschenk hinterlassen hatte, zuckte Hochschreck nur verächtlich die Achseln und sprach dann andeutungsweise von zarten Beziehungen zu der schönen Frau eines reichen und angesehenen Bürgers, die durch ihre vornehme Kleidung und gesellschaftliche Zurückhaltung einen Ring von Neid, Haß und bösartigen Klatschgeschichten um sich geschaffen hatte.

Trotz des anderen Wesens, das seit den sommerfrohen und einfachen Tagen gemeinsamen Lebens in Vernauts bei Vitus zum Vorschein kam, zeigte ihm Herucker unverminderte Anhänglichkeit. Wie immer stand dem kühler gewordenen Gefährten sein großes gutes Herz ohne Rückhalt offen und alle kleinen und großen Sorgen seines Lebens vertraute er ihm bedingungslos an. Vitus, der sich um Grete Kluibenschild überhaupt nicht mehr gekümmert, ja, eine der ersten Karte ähnliche Aufforderung nicht einmal beachtet hatte, erfuhr, daß der Vandale Höllbarth des öfteren das Häuschen über dem Inn umlauerte und mehrmals mit dem rothaarigen Mädel zur Dämmerstunde gesehen worden war. Herucker schien unter diesem Umstand unsagbar zu leiden und seine völlige Hilflosigkeit brachte Vitus mehr als einmal nahe an das Geständnis seiner eigenen Erfahrungen im Gartenhaus. Aber er brachte es nicht über sich, das Mädchen zu verraten.

Unverändert blieb auch die Feindschaft zwischen Vitus und Altböck. Der Tscheche Petrsil, der seit den Straßentumulten, die sein heimatliches Regiment verschuldet hatte, seine Volkszugehörigkeit weniger zur Schau trug als früher, hatte sich Venloo mehrmals zu nähern versucht, war aber trotz aller grinsenden Liebenswürdigkeit abgelehnt worden. Altböcks kleine, aus verschwollenen Lidern tückisch blinzelnde Augen verrieten in jedem Blick, der auf Vitus fiel, unversöhnlichen Haß, wenn auch der Sohn des Paramentenhändlers als neugewählter Präses der marianischen Kongregation keinen Raufhandel mehr wagte. Die Mehrzahl der Marianer bestand aus schüchternen, harmlosen und fleißigen, meist sehr armen Gymnasiasten, gegen die eigentlich keine besondere Abneigung bestand. Ja, sie genossen sogar seit einem Vorkommnis erhöhte Achtung. Es hieß, daß der übereifrige Kaplan Nechleda sie mit der häßlichen Verpflichtung hatte belasten wollen, ihm, als dem Protektor der Kongregation, alle jene Fälle anzuzeigen, in denen Lehrer oder Mitschüler abfällige oder verdächtige Äußerungen über Glaubensdinge, Geistliche oder Religionsübungen getan hatten. Dieser Auftrag war, wie man sich im Gymnasium erzählte, mit allen Stimmen gegen die einzige des Pius Altböck entrüstet zurückgewiesen worden. Tatsache war, daß Nechleda das Protektorat niedergelegt und Professor Zeindl es übernommen hatte. Ein einziges Mal war Vitus bei Vinzenz Plöchhammer gewesen, den er elend aussehend fand und der sein krankes Bein in einem blanken Schienengerüst nachschleppte. Auch der alte Schmied war sichtlich verfallen, hockte stundenlang bei seinem Sohn und ließ den Altgesellen mit Malzey in der Werkstatt wirtschaften. Vitus saß mit schmerzlicher Reue über seine eigene Teilnahmslosigkeit bei dem Leidenden, der, manchmal leise stöhnend an einer kleinen Straßenlokomotive feilte und arbeitete. Aber seine schönen klugen Augen strahlten trotz allen körperlichen Elends, als er Venloo sein halb vollendetes Werk wies. Ein Wagen sollte das sein, der nicht der Schienen bedürfte, sondern auf allen Landstraßen fahren konnte, von einem Führer gelenkt, mit bequemen Sitzen für vier Personen. Mittelst einer vorne angebrachten Lenkstange konnte das vordere Räderpaar beliebig gedreht werden. Eine kleine Dampfmaschine unter dem Kasten besorgte den Antrieb. Das machte ein häufiges Anhalten, Wassernachfüllen und Heizen notwendig. Aber schon formte sich in Vinzenz' Erfinderkopf der Plan, einen elektrischen Akkumulator zu entdecken, der an bestimmten Stellen rasch ausgewechselt werden sollte, wie ehemals die Relaispferde der Post. »Mei armes Bübele! Hoscht wieder rechte Schmerzen?« fragte der alte Schmied traurig und streichelte mit der eisenschwarzen Hand den Haarschopf des Sohnes, der herzzerreißend lächelte. Nach einer guten Weile, zur Feierabendzeit, kam Malzey leidlich gewaschen und mit knallrotem Schlips herein und sprach erregt von einer Versammlung, in der ein berühmter Redner aus Wien sprechen würde. Der Alte schüttelte den Kopf.

»Für solche Sachen, da muaß man jünger sein als i,« murmelte er. »Und a freies Herz ghert aa dazua!«

»Na, Vitus – oder muß ich recht sagen Herr Venloo?« sagte Malzey.

»Du bist ein Schafskopf –« lachte Vitus verlegen.

»Ich mein nur, weil du jetzt manchmal schlecht siehst auf der Straße. Erzähl mir nichts – ich begreif das sogar bis zu einem gewissen Grad, während ich es unerhört finde, daß der Landesgerichtsrat Johann Nepomuk Malzey sich in eine Auslage mit schamlos ausgestopften Miedern und Damenstrümpfen verschaut, damit er die herrlich ausgereifte Frucht seiner ehelichen Pflichten nicht ansehen muß. Und doch könnte ich ihm die Wohnung unserer ehemaligen dicken Köchin mitteilen, die sicherlich wissenswert für ihn wäre. Ich glaube, er ahnt nicht einmal, daß er sich in den Händen jener Huldgestalt befindet, die der braven und temperamentvollen Kunigunde in gewissen hervorgerufenen Augenblicken an seiner Statt erschien und ihre Wonnen ins Ekstatische erhob, dank der Zauberkraft ihrer Phantasie!«

»Red koan Stiefel,« knurrte der Schmied und drückte die Pfeifenglut mit dem Zeigefinger nieder. »Verstehn, wenn man den narrischen Kerl tat! I amal nit!«

Malzey lachte. »Wer Ohren hat, der höre. Übrigens wird die Zeit kommen, in der man die ganze Schwindlerbande, als da sind Landesgerichtsräte, Hofräte, Geheime Räte, Statthalter, Korpskommandanten, Fürsten, Könige und Kaiser in ihrer scheußlichen Blöße – –«

»Hiazt bischt still!« rief Plöchhammer und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Den Kaiser laß mir gehn, du Lotter du! Majeschtätsbeleidigungen gibt's da bei mir net. Und merk dir das!« Er sah zornig aus.

»Aber Vater, er meint's ja nicht so –« entschuldigte Vinzenz den Freund, der zusammengefahren war beim Schall des harten Schlages.

»Einschperrn werdens di, wennschd dei Dreckschleuder nit halten kannscht. So gschtudierte Lehrbuabn, des hat mir no gfehlt.«

Aber sein Zorn schien doch nicht ganz echt zu sein, denn bald darauf ging über sein ehrliches Gesicht ein Schmunzeln und, zu Vitus gewendet, sagte er, daß man sich oft zu Tod lachen müsse über den »lateinischen Schmied«, wie Malzey in der Zunft genannt wurde.

Und der Abend endete friedlich und fröhlich damit, daß Malzey mit rußigen Fingern die Saiten der Gitarre zu zupfen begann und das »Räuberlied« sang, dessen Schlußstrophe dem derben Späßen wohlgeneigten Schmied vor Lachen die Tränen in die Augen trieb, obwohl er sie oft genug gehört hatte –

»Und will man uns fangen
Und uns aufhangen,
Sind wir schlauer als die Polizei.
Erst wird sie ganz verhunzt
Und dann noch – –«

Es wurde Bier geholt und nach dem dritten Glas stieg die Laune des Handwerkers so, daß er Vitus ins Ohr flüsterte, das mit dem Kaiser sei auch so eine Sache. Wenn man reden dürfte – Aber die Leute seien halt so viel dumm. Vinzenz hatte sein Modell in der Hand und sah ins Leere, in ein unbekanntes Land. Der Blick erinnerte Vitus erschreckend an die Augen Heruckers, der mit Bluttropfen auf den Lippen am Fuße des »Alten Mannes« zusammengesunken war.

Seit jenem Tage war er nicht mehr bei Vinzenz gewesen. Häufig machte er an freien Tagen einsame Spaziergänge. Einmal begegnete er Höllbarth mit Grete auf einem Waldweg. Er grüßte höflich und der Korpsstudent hob die rosa Mütze. Grete sah Vitus höhnisch ins Gesicht und erwiderte seinen Gruß nicht. Ein anderesmal traf er Isidor Geduldig auf dem Berg Isel und ging ein Stück mit ihm. An einer Wegstelle blieb Vitus hingerissen stehen und sah in die von weißem Wasserstaub erfüllte, tief verschneite Sillschlucht hinunter. Die Bäume trugen ein glitzerndes Kleid aus Rauhreif. Schwarze Krähen flogen ruhelos über dem dampfenden Wasser und über den Himmel zog ein blasses Orangenrot.

»Wie schön das ist!« sagte Vitus unwillkürlich.

»Wieso schön?« fragte Isidor. »Schön nennst du das! Ich weiß, daß ich kalte Füß hab von dem langen Herumstehen.«

Vitus sah ihn erstaunt an.

»Siehst du denn nicht, wie herrlich das ist? Das bleiche Rotgelb, die Christbäume, – ein Wald von Christbäumen –«

»Ich bin ein Jud,« lachte Isidor, »was gehn mich Christbäume an? Mir scheint's, du bist so ein Naturschwärmer – Mir ist kalt, weiter nichts.«

»Warum gehst du dann hierher?«

»Warum? Ob ich da geh oder wo anders! Ich soll gehen, hat der Doktor Schlachter gesagt, also geh ich. Jeden Tag eine Stund. No, kommst du, oder willst du selbst so ein Schneebaum werden?«

Da erkannte Vitus die andere Art des sonst so gutmütigen und gefälligen Genossen. Fast verstieß er ihn deshalb und gab kaum acht auf die rührenden und demütigen Anstrengungen des anderen, der sich auf dem Heimweg wieder bei ihm in Gunst zu setzen suchte. Er spürte es deutlich, wie tief die Dankbarkeit des Schwächeren, den er vor böswilligen Anschlägen beschützt hatte, ihm zugewandt war. Und Isidors scharfer Verstand hatte gut erfaßt, was sein Gefühl nicht begreifen wollte, daß die Andacht vor der Natur, die ihm versagt war, dem anderen etwas Heiliges war, an das er, Isidor, unbewußt, aber störend gerührt hatte. Dies tat ihm, dem Verlassenen und Angefeindeten, weher als Vitus ahnte. Dennoch schieden sie in gutem Einvernehmen. Aber Vitus dachte noch oft an diese für ihn erstaunliche Mangelhaftigkeit des Mitschülers.

In den folgenden strengen Wintertagen blieb er viel zu Hause, bemühte sich um den Vater, der sich übrigens völlig erholt zu haben schien und ließ sich von der Mutter verhätscheln, die »ihren guten alten Jung« wieder in kindlicher Unberührtheit sah. Unerschöpflich war der Schatz an Liedern, Reimen, Märchen und Geschichten, den diese Frau aus dem Rheinland besaß und sie konnte wieder jung werden im Hervorzaubern dieser Reichtümer. Vitus brauchte sich nur mit ein bißchen Kindlichkeit auszurüsten, nur ein paar bittende Augen zu machen und zu sagen: »Wie ich noch klein war, hast du einmal ein so schönes Lied gesungen – hast mir erzählt, wie die Wölfe vom Hohen Tenn gekommen sind und in der Nacht geheult haben – wie der alte Klas den Teufel im Kamin gesehen hat –« und allsogleich sprangen die Türen der Erinnerung auf. Manchmal verlangte ihn so heftig nach dem Schein jener glücklichen und unschuldsvollen Tage, daß er wirklich zum Kinde zu werden schien und sich zu Füßen der Mutter kauerte, die am Klavier saß und mit ihrem immer noch schönen Sopran Arien aus der »Weißen Dame« oder »Fra Diavolo« sang, oder kleine französische und niederdeutsche Liedchen.

Lütt Matten, de Haas
Der mackt sich en Spaß,
Er will dat probeeren,
Dat danzen to leren
Und dant ganz alleen
Up de achtersten Been.

Ach, und dann kam der Fuchs und bot sich als Dame an und die Krähe spielte die Fiedel dazu, wofür sie dann eines der Beinchen des armen Tanzschülers bekam. Nun, und wie schön, schöner fast als Hauff es geschrieben, konnte die Mutter die Geschichten vom »Wirtshaus im Spessart« erzählen, vom Räuber Orbasan und vom kleinen Muck und Zwerg Nase. Vitus saß mit geschlossenen Augen und lauschte entrückt. Wundervolle, traute, von aller Welt losgelöste Stunden waren das.

Bei Tage saß er oft lange auf einer bequemen Bank in seinem Zimmer und las wieder die Kinderbücher, die er hervorgesucht hatte. Der feine silberne Nordzauber der Märchen von Andersen, die ehrliche Seemannswelt des alten Sigismund Rüstig, die wilde und herbe Pracht der Lederstrumpfgeschichten tauchten noch einmal auf. Stimmen der Vergangenheit, Glocken aus Kindertagen – aller schweren, unbestimmbaren, geheimnisvollen Süße voll. – Ole Luk, Oui – Melusine – der tapfere Zinnsoldat – ach, und der alte einsame Herr, der sterben mußte – und der Chinese, der in Scherben fiel.

An manchen Tagen blieben sie lange auf und versonnene Worte kamen von der Mutter. Seltsame Dinge sprach sie manchmal aus Geschichten aus alter Zeit. Da war die Großmutter mit der Bänderhaube, die konnte nicht schlafen, weil es des Nachts auf der Treppe zu trommeln begann. Bis endlich der französische Tambour ins Haus kam, sich in der Trunkenheit auf der Stiege den Hals brach. Da hörte der Spuk auf, der ihn vorausgekündigt hatte, und der Dichter Hauff, der so jung sterben mußte, hatte in seinen »Memoiren des Satans« die scheußliche Geschichte vom Herrn Hasentreffer erzählt, der alle Jahre an einem bestimmten Tag im Gasthaus erschien und auf sein eigenes Haus zeigend fragte, wem dies gehöre. Die Kellner, mit seiner Schrulle vertraut, nannten ihm seinen Namen. Dann ging er hinaus und rief sich selbst. Aber das Haus blieb still. Doch einmal, als er wieder seinen Tag hatte, ging bei seinem Rufen drüben ein Fenster auf und ein gräßlicher Doppelgänger sah heraus und bedeutete ihm grinsend, zwecks Halsumdrehung herauf zu kommen. Und dann jagten die beiden am Fenster vorüber und als alles still war, fand man den armen Hasentreffer erwürgt auf einem gelbseidenen Diwan. Nun, dieser Hasentreffer war niemand anderer gewesen als der mit Hauff gut bekannte Henry Marlemont, ein entfernter Großoheim der Mutter, aber an der ganzen Hasentreffergeschichte war nur das eine wahr, daß Henry Marlemont, wie Hauff es vom Hasentreffer erzählt, einmal in jedem Jahre ein schauriges Abendessen mit erlesenen Speisen und feinen Weinen gab. Und die Gäste, mit denen er sich unterhielt, waren vergilbte Stammbuchblätter, die auf den Stühlen lagen und von denen jedes ein großes schwarzes Kreuz trug. Nach solchen Festen liefen die Dienstboten davon, nur ein alter Diener hielt bei seinem Herrn aus und der fand ihn eines Tages tot auf seinem gelbseidenen Sofa, mitten unter den verstreuten Blättern des alten Stammbuches. Alles andere hatte Hauff dazu gedichtet.

An solchen Abenden zog Vitus die Vorhänge an seinen Fenstern zu und stellte das Pendel der alten Holländeruhr ab, die in sein Zimmer gestellt worden war. Dieses Pendel hatte einen unfreundlichen dumpfen Schlag. »Wumm – Wumm« machte es und alle Stunden schlug die Uhr ein verstimmtes viermaliges »Gling – glang – glong« und die brummende Zahl. Mittags klappte oben ein Türchen auf, in dem ein segnender Christus erschien. Um Mitternacht jedoch zeigte sich ein kleines weißes Gerippe mit Sanduhr und Sense und nickte. Auf dem höchsten Zierat stand ein dickes falschlächelndes Weiblein auf einer Kugel, ein im Flattern erstarrtes blaues und goldgestirntes Tüchlein um die breiten Hüften und darunter stand » Vanitas vanitatum vanitas«. Des Nachts war diese Uhr nicht angenehm mit ihrem rasselnden Ausheben und knarrenden Zeigerrücken, mit dem heiseren Schlagwerk und dem Tödlein.

 

Kurz vor den Weihnachtstagen starb plötzlich der gütigste aller Lehrer, der stille und verkannte Professor Summerfeld. Traurig und von dumpfen Ahnungen gequält sah Vitus, in die Menge der Schüler und Lehrer eingekeilt, in das schwarze Maul des offenen Grabes, das als dräuendes längliches Viereck aus dem Schnee dunkelte. Weihrauch qualmte auf, das kirchliche Gerät knurrte leise, die murmelnde Stimme des Geistlichen verhieß dem Toten Frieden und das ewige Licht. Kollernd fielen die gefrorenen Erdklumpen auf den Sarg, schnurrend kamen die Seile empor. – Die krächzende, von Hustenstößen unterbrochene Stimme Karfreiters zerriß den düsteren Zauber.

Der Christbaum strahlte wie immer, von allem kindlichen und doch so wundersamen Beiwerk umgeben, an dem die Mutter festhielt. Das Pfefferkuchenhäuschen, lebkuchen- und schokoladebeklebt, die Rauschgoldfahnen und blitzenden Ketten aus Glaskugeln aller Farben, das wächserne Jesuskind mit dem roten Wachstropfen einer längst verbrannten Kerze auf der Brust, ein goldenes Gespinst, die gläsernen Glocken, Eiszapfen, Vögel, die Fülle von allerlei Leckerwerk aus buntem Zucker und Marzipan – nichts fehlte. Vitus war überreichlich beschenkt worden. Monate lang hatten die Eltern darüber nachgedacht, was ihm Freude machen könne. Ein stilles, seliges Glück lag auf dem einsamen Haus im verschneiten Garten. Die alte Köchin und das neue Stubenmädchen knixten und küßten der Hausfrau die Hand, mit ehrlicher Freude über die Geschenke und Gaben. An diesem einen Abend war Vitus wieder zum glücklichen Kind und sein Schlaf war selig und traumlos. Die Tage gingen wenig wechselvoll, die Semesterzeugnisse wurden verteilt. Vitus gehörte zu den guten Schülern, zu den »patentierten Eierwecken« wie Spadini sagte. Der Schirokko kam heulend über den Brenner, brach das Eis mit Backofenhauch und ließ Lawinen niederdonnern. Nachts heulte und schrie es in den Rauchfängen, der Inn grollte in den dunklen Nächten hochgeschwollen und bösartig, und in den Tanzsälen der Stadt entwickelte sich ein bescheidenes Faschingstreiben. Wisiak und Dörnle bekamen Karzer, weil sie, mit Eselsköpfen geschmückt, abends an der Wohnung des Naturgeschichtsprofessors geläutet, etwas Disteln aus seinem Herbarium und ihre naturwissenschaftliche Einteilung erbeten hatten. Die ganze kleine Stadt lachte über diesen unschuldigen Scherz und Professor di Grappa lächelte sauersüß mit und verwendete sich sogar für die beiden Sünder, die ein Wachmann eingefangen hatte. »Wegen lotterbübischen, überaus kecken, eines Septimaners gänzlich unwürdigen und geradezu thersitesartigen Benehmens nur drei Stunden Karzer, abzusitzen am nächsten schulfreien Nachmittag. Leider nur drei Stunden!« hatte Karfreiter verkündet und dabei den Kopf geschüttelt, die Nachsicht des betroffenen Kollegen mißbilligend. Altböck hütete mehrere Tage das Bett. Er war von einigen Schmiede- und Schlossergesellen, die aus einer Versammlung kamen, nach verschiedenen höhnischen Bemerkungen seinerseits windelweich geprügelt worden. Geduldig tanzte vor Freude und machte Malzey einen Besuch in Plöchhammers Werkstatt, um ihm seinen Dank auszusprechen. Aber der Alte empfing ihn sehr unfreundlich statt seiner. Es machte ihm wenig Vergnügen, daß sein brauchbarer Lehrling gerade in der Zeit, da ein großer Bauauftrag zu erledigen war, drei Tage im Polizeiarrest verbringen mußte. »Heißt eine Gerechtigkeit,« sagte Isidor empört und ging.

An einem der ersten Märztage hatte Vitus eine Begegnung, an deren Möglichkeit er nicht mehr gedacht hatte. Unter den abenddämmernden Lauben war plötzlich Grete Kluibenschild auf ihn zugetreten und hatte ihn hastig aufgefordert, mit ihr in eine der kleinen nur schwach beleuchteten Seitengassen zu gehen, sie habe Wichtiges zu sprechen. Vitus ging gleichmütig, höchstens schwach unangenehm berührt mit ihr. Zu seinem Staunen brach sie in Tränen aus, klammerte sich fest an ihn und fragte, warum er nichts mehr von ihr wissen wolle. Als er den Namen des Vandalen nannte, mit dem er sie auf dem Waldweg gesehen hatte, lachte sie schrill auf und sagte, sie habe das nur getan, um ihn, Vitus, zu ärgern, aber nun hielte sie es nicht länger aus. »Hast du mich denn gar nicht mehr gern?« fragte sie mit zärtlicher Stimme, in der ein schluchzender Ton klang und blickte ihm von unten in die Augen. Sie sah mit ihrer schwarzen Sealmütze und dem dunkelgrünen Kleid in dem schwachen Licht des Gäßleins reizend aus. Rotgoldiges Wuschelhaar quoll unter dem schwarzen Fellchen der Mütze hervor und auf der vollen Wange glänzte noch eine Träne. Vitus fühlte sein Blut erwachen und wie damals im Garten küßte er sie auf den Mund, der sich feucht und gierig auf seine Lippen drückte. Aus dem offenen vergitterten Fenster eines gewölbten Magazines kamen betäubende Düfte von allerlei eingelagerten Gewürzen und die Wirkung dieser seltsamen starken und erregenden Düfte gab dem Augenblick etwas Traumhaftes und Unwirkliches. Er legte seinen Arm um sie. »Ös fangt's bei Zeiten an!« kicherte giftig ein altes Weiblein, das noch die pilzförmige große Fozzelhaube der alten Bürgertracht trug und humpelte gebückt an seinem Stock vorbei, den Rosenkranz um die rechte Hand geschlungen. Da gingen sie noch weiter, mitten durch die dunkle Friedrichstraße, über der schwach das Goldene Dachl leuchtete, bogen gegen den Inn ein und fanden sich unter den uralten knolligen Baumstämmen der Chotekallee wieder. Vitus fühlte die junge straffe Brust an seinem rechten Arm und lauschte dem Plappern des Mäulchens, das ihm Wahrheit und Lüge geschickt mischend ein ganzes romantisches Märchen von ihren verzweifelten Bemühungen erzählte, ihn durch häufiges Beisammensein mit dem Korpsstudenten eifersüchtig zu machen. Die Erregung und das Verlangen seiner Triebe, mit dem ihn dieser junge holde Körper und ihr demütiges Entgegenkommen erfüllte, hinderte ihn völlig, diese unwahrscheinlichen und öfters verworrenen Erklärungen aufzufassen. Aus all dem Gezwitscher, das da neben ihm wie das singende Plätschern eines Brünnleins oder wie Bienensummen auf blühender Sommerwiese klang, hörte er nur den eigentlichen Sinn, den Lockruf des Weibchens, die verschämte Aufforderung zu gemeinsamer Lust, von der sein junges Leben erst gekostet hatte und nach der es immer wieder heimlich verlangte. Er küßte sie wieder und wieder. Der Wind sauste in den Bäumen, der Bergstrom grollte, von den Häusern, die am anderen Ufer lagen und den Berg hinanstiegen, sahen glühende Fensteraugen nieder. Ein Schauer ging über ihn, indes er die Hand an die biegsame Körpermitte des Mädchenleibes legte und die zarten Streifen der Rippen fühlte unter der zitternden Rundung der Brust. Sie sprachen kaum mehr und ihre Schritte wurden schneller. Bald waren die finsteren Anlagen, die häßliche Straße mit dem Laden des Fleischhauers, das steile Gassel neben dem Gießbach überwunden. Und ehe sich's Vitus recht versah, schritt er von einer kleinen feuchten Hand geleitet zwischen entblätterten Büschen, über knirschenden Kies jenem Sommerhäuschen zu, unter dessen Dach ein hoher Haufen trockenen Laubes geschichtet lag. Und alles, was Vitus Venloo erlebt hatte in der Umarmung zweier Frauen ward zur blassen und armseligen Erinnerung. Hier in diesem winterlichen lichtlosen Garten loderte eine dunkelrote Flamme auf, überfielen ihn nie gekannte lasterhafte Küsse, sog ein Mund an seinem Leben. Zum erstenmal fühlte er jene Erschütterung, die süß und schaurig, jenseits von Lust und Schmerz, die Verschmelzung von Mann und Weib zur zeugenden Gottheit bedeutet.

Der Sturz zur Erde war ernüchternd und jäh. Eine schrille Stimme, die knarrende Tür im Hause zerriß die bunten schillernden Schleier, die über den Dingen lagen. Gretl lief mit einem leisen Gute Nacht davon und Vitus kletterte eilig und schuldbewußt über die Mauer. Ein Glasscherben ritzte schmerzend seine Hand und aus schwarzen Wolkenballen fielen schwere kalte Tropfen nieder.

Im Schlafgemach kehrte die Erinnerung zärtlich zurück und das rote Gesicht unter dem Pelzmützchen lächelte süß und gewährend bis in den traumlosen Schlaf.


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