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II.
Die Zeichen mehren sich.

Vor einem mit weißen Gardinen und den farbensatten Blumen des Herbstes geschmückten Fenster saß ein zartes, blondes Mädchen und blickte, die Handarbeit lässig im Schoße haltend, träumerisch dem scheidenden Tagesgestirne nach. Dort unten am Horizont zuckten noch rötliche Lichtstrahlen auf, und das zarte, duftige Gewölk erglänzte in blaßrotem Schimmer. Allmählich verblaßten die Lichtreflexe in matteren Farben und graueren Tönen, bis nur einzelne hoch im Zenith dahinsegelnde, metallisch glänzende Wölkchen wie ein letzter Scheidegruß des sinkenden Gestirnes sichtbar blieben. Doch die eintretende Dämmerung wollte der Nacht nicht weichen. Ein fahler Schein, von blitzartig aufzuckenden und wieder verschwindenden roten Lichtstrahlen begleitet, dehnte sich allmälig über das ganze Firmament hin. Alle Gegenstände der Erde waren in diesen seltsamen Schimmer getaucht und zeigten eine Farbenabtönung, die vorher nie eines Menschen Auge geschaut.

Das Mädchen wendete den Blick von der Straße, in die es erwartungsvoll hinuntergespäht, und sah nach der Thür des Nebenzimmers, aus der eben eine silberhaarige Greisin heraustrat.

»Ist Dir in deiner Stube zu bange geworden, Großmütterchen?« sagte das Mädchen und klingelte. »Ich werde gleich Licht bringen lassen. Vater wird bald kommen, und auch Karl hat mir versprochen, zu kommen.«

»Ich halte es nicht aus in dem unheimlichen Licht,« sagte die alte Frau. »Mein lieber, alter Hausrat blickt mich darin so fremd und kalt, fast möchte ich sagen feindselig an. Ich hab' in meinem ganzen langen Leben kein solches überirdisches, düsterdrohendes Licht gesehen. Doch ja, in meiner Jugend einmal; da machte mein Bruder den Spaß und ließ uns Alle um den runden Tisch herumsitzen, in Leintücher eingehüllt, und nachdem er eine Spiritusflamme entzündet und die übrigen Lichter verlöscht hatte, streute er ein Pulver in die Flamme, wodurch sich ein Lichtschein verbreitete, der unsere Gesichter leichenhaft färbte. Wir waren anfangs darüber entsetzt, dann lachten wir und ergötzten uns daran, wenn neu eintretende Personen über die Gespensterversammlung erschraken. Daran gemahnt mich der fahle Schein, den dieses furchtbare Gestirn allnächtlich verbreitet. Ich sehe nichts als Leichen um mich. Selbst der Hausrat erschreckt mich. Die Möbelstücke scheinen alle selbst zu leuchten, wie morsches Holz im nächtlichen Wald. Mich fröstelt. Wie kindisch der Mensch wird! Ich habe mich doch schon längst vertraut gemacht mit Sterben und Tod, ich weiß, daß ich an die äußerste Grenze gelangt bin und in kurzer Zeit den Tribut alles Lebens zahlen muß. Das hat mich nie geschreckt. Es war für mich keine Vernichtung. Wenn ich auf die Straße sah, wo die Schuljugend ihre munteren Spiele trieb, so überzeugte ich mich, daß alles das, was ich für schöne Erinnerung hielt, auch wieder lebendige, greifbare Gegenwart ist und immer sein wird von Geschlecht zu Geschlecht. Doch jetzt hört man furchtbare Dinge. Der Tod, der all die Jahrtausende nur ein mildes, erlösendes Spiel getrieben, hie und da ein frisches, grünendes Reis zertretend, aber sonst wie ein emsiger Gärtner im Menschheitsgarten waltete, das Welke und Dürre, das Faule und Entartete mit sorgender Hand entfernte, damit der Garten selbst in immer erneuten Reizen blühen könne – der milde, befreiende Tod will jetzt ein Ende machen mit Allem, was da lebt. Das ist die Vernichtung, gegen die der Hingang jedes Einzelnen nur ein freundliches Spiel mit Knospe, Blüte und Frucht am Baume des Lebens ist.«

Die alte Dame neigte sinnend das Haupt, und die Enkelin sank leise schluchzend vor ihr auf die Kniee und barg ihr blondes Lockenhaupt in dem Schoß der Greisin.

Ein Mädchen trat ein, brachte Licht, ließ die Jalousien herunter und meldete die Ankunft des Herrn Rates.

Dieser, ein stattlicher Fünfziger mit braunem Vollbart und einem Ausdruck von Bonhommie und Lebensmut im Antlitz, kam in Gesellschaft eines jungen Mannes, dessen Äußeres den Künstler verriet. Ein Apollohaupt, die Stirn von braunen Locken umrahmt, mit großen, dunklen, lebensprühenden Augen, Mund und Kinn mit einem blonden, unten spitz zulaufenden Bart geschmückt, saß auf einem schlanken, kraftvollen Körper. Der junge Mann näherte sich der alten Dame, küßte ihr ehrerbietig die Hand und hob dann das Antlitz des Mädchen zu sich empor, das sich mit einem glückseligen, durch Thränen schimmernden Blick an ihn anschmiegte, während ein krampfhafter Seufzer ihre Brust von der Qual der letzten Stunde befreite.

»Aber Mütterchen,« fing der Rat zu sprechen an, »du, unsere weise Lehrmeisterin in der Kunst der Resignation, die starke, kampfesmutige Seele, die uns so oft erhoben in Tagen des Kummers, bist wieder einmal schwach geworden? Sind wir nicht alle vereint, lieben wir uns nicht? Und wird uns diese Liebe nicht beisammen finden, mag kommen, was will?«

»Ich bin schon wieder ruhig,« versetzte die Greisin. »Es hat mich nur so überkommen. In eurem Kreise verschwindet alles Bangen.«

»Was sollen wir fürchten?« versetzte der Sohn mit seiner ruhigen, sonoren Stimme. »Im schlimmsten Falle werden wir gleichzeitig den Preis bezahlen, der bis jetzt von allen Lebenden unnachsichtlich eingetrieben worden ist.«

»Dafür wird es uns aller Voraussicht nach beschieden sein,« bemerkte der jüngere Mann, »die Zeugen eines über alle Vorstellung erhabenen Schauspieles zu sein. Es ist noch nichts entschieden; aber die Vermutungen gehen dahin, daß unser Erdball nicht das Opfer eines plötzlichen Zusammenbruchs, einer brutalen Katastrophe werden wird, sondern daß sich sein Sterben allmählich vollziehen wird – ja daß sogar Jahre vergehen werden, bevor das letzte Leben auf ihm erloschen sein wird.«

»Und auch ein Erfreuliches haben wir euch mitzuteilen,« unterbrach ihn der Rat. »Erwin hat seinen Zyklus: »Das goldene Zeitalter« ausgestellt, wie ihr wißt. Noch vor Kurzem, als alle Welt nur von dem bevorstehenden Kriege der fünf Großmächte sprach, fanden die Bilder fast keine Beachtung, und jetzt, wo die Menschheit von den Fieberschauern der Todesahnung durchrüttelt wird und alles Interesse für das öffentliche Leben erloschen ist, wächst der Besuch dieses Bildercyklus von Tag zu Tag. Die Menschen drängen sich vor dieser Darstellung einer besseren Welt, als ob ihnen dabei die Augen aufgingen über das ungeheuere Versäumnis. Und wie der Sterbende oft mit Reue zurückblickt auf ein verlorenes Leben, und seine sehnsüchtige Phantasie sich ein neues Leben aufbaut, ohne Reue, ohne Mißklang, ein Leben der Liebe und des Selbstgenügens, so stehen die Menschen jetzt vor diesen Bildern, und alles, was der Idealist und Menschenfreund ihnen darin darstellt, erscheint ihnen so wahr, so echt, so nachahmenswert. Worüber sie früher mitleidig die Achseln gezuckt, was sie als die Ausgeburt einer nebelhaften Schwärmerei bezeichnet hätten, das erscheint ihnen als das selbstverständliche Gebot der Menschlichkeit. Mit Begierde versenken sie sich in die dargestellten Scenen der Nächstenliebe, des friedlichen Verkehrs, des hilfreichen Opfermutes. Wie aus einem tausendjährigen Taumel erwacht, sehen sie jetzt die Verwirklichung dieser Ideale als wünschenswertestes Ziel vor sich. Niemand denkt mehr an Krieg, an rücksichtsloses Ringen nach Vorteil und Auszeichnung. Nur der eine heiße Wunsch lodert in allen Herzen auf, daß die waltende Allmacht der Menschheit ihren herrlichen, trauten Wohnsitz belassen möge, auf daß er der vom tausendjährigen Wahne erlösten Menschheit das werde, wozu er vom Anbeginn bestimmt war, eine Stätte des Glückes, des Friedens und der brüderlichen Eintracht.«

Die Greisin hatte aufmerksam zugehört, und als ihr Sohn geendet hatte, sagte sie kopfschüttelnd: »So erhebend der Gedanke ist, daß das Werk unseres Erwin die Herzen der Menschen zu so hohen Idealen entflammt, so wenig kann ich die Vorstellung bannen, daß diese Gefühle nur unter dem Einflusse der mächtigen Eindrücke erstanden find, die jetzt die Menschheit erfüllen. Überall in der Welt, auch an anderen Orten, wo dieser Anlaß nicht gegeben ist, wird der Gedanke erwachen: Es geht zu Ende, und wir sind von dem Ziele noch so weit! Es ist das Hellsehen der Sterbenden, das ihnen so klar und scharf den Weg beleuchtet, den sie durch all das Wirrsal des Kampfes und Hasses nie gefunden haben. Nutzlos gelebt, das Dasein vergeudet und verthan in sinnlosem Streite, während uns das allerhaltende Licht seit Äonen mit jedem erglimmenden Tage gelehrt: Ich spende allen meine Gaben; ich schüttle mein Füllhorn so reich und unablässig über alle aus, damit ihr alle sie genießt und glücklich seid; das ist der spätgeborene Gedanke in diesen unheilvollen Tagen.«

»Es ist so,« erwiderte der Herr Rat. »Der großen Masse hat sich eine dumpfe Verzweiflung bemächtigt; der denkende Teil irrt mit dem qualvollen Gedanken herum: Wir werden vorzeitig abberufen; wir können nicht mehr die Lösung unserer Aufgabe den späten Enkeln übertragen; wir gehen mit der Erbsünde unserer Selbstsucht beladen ins große Nichts. Das ungeheuere Totenfeld, mit dem die Erde in wahnsinniger Hast durch den Äther eilen wird, braucht nur einen einzigen Leichenstein mit den Worten: »Besser so!«

In diesem Augenblick drang ein wirrer Lärm von der Straße herauf. Erwin trat ans Fenster und öffnete es. Die übrigen Personen folgten ihm. Ein fahles Licht ohne Wärme, ohne Glanz erleuchtete Straßen und Plätze und ließ die dichtgedrängte, auf und ab hastende Menge in scharfen Umrissen erkennen. Zahlreiche Zeitungsausrufer verteilten Flugblätter unter die Menge. Man hörte ihre schrillen Stimmen rufen: »Kein Winter mehr für unsere Zone! Stellung der Erdachse senkrecht auf die Ebene der Bahn! Neue Hypothese des Professors Brown! Allgemeine Abrüstung!«

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